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Anmerkungen

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Ozonos Earth

Die Erde in naher Zukunft.

Umweltverschmutzung, Raubbau und nicht zuletzt der vom Menschen geschaffene Klimawandel haben die Erde zugrunde gerichtet. Landstriche sind überflutet, fruchtbare Böden sind zu kargen Wüsten geworden, Wälder gerodet und abgebrannt. Die Sonne scheint so heiß durch die Löcher des Ozons, dass die Menschen nur überleben, wenn sie sich selbst einsperren. Während sich die Umwelt nur langsam erholt, haben sich die überlebenden Menschen eine Zuflucht geschaffen:

Gigantische Kuppelstädte, die autark sind und miteinander um Rohstoffe kämpfen. Die größte von ihnen ist Olympus, eine Festung inmitten der tödlichen Wüste, die niemand lebend betritt oder verlässt, der nicht in ihr geboren wurde.

01 Ankunft

Ich sah die Festung schon aus der Ferne vor mir aufragen. Schwarz hob sie sich vom roten Sand der toten Wüste ab, ein Flirren lag über dem undurchdringlichen Panzer aus Metall. Olympus.

Sie war so, wie ich es mir vorgestellt hatte, wie Gaia sie erbaut hatte. Und nun hatte sie mich zu sich gerufen. Einen Großteil meines bisherigen Leben verbrachte ich außerhalb der Station, obwohl Gaia mich wie alle anderen dort geschaffen hatte. Wieso ich auf diese Weise aufwachsen sollte, wusste ich lange nicht. Nun ahnte ich, dass es zu meinem Schutz gewesen sein musste. Irgendetwas, was in der Station verborgen lag, bedeutete Gefahr. Zumindest hatte man mich nicht korrumpieren und beeinflussen können, indem man mich ausstieß. So hatte Gaia mich schützen wollen.

Langsam füllte die Station mein Sichtfeld immer weiter aus, bis ich am Horizont kaum noch etwas anderes sehen konnte. Die Panzerplatten waren von vereinzelten, heller schimmernden Abdeckungen unterbrochen, unter denen sich die Schächte für die Drohnen und Kanonen verbargen. Die einen zum Kundschaften, die anderen zur Abwehr. Beide waren schwer bewaffnet und konnten alles zerstören, was Olympus zu nahe kam. Zu meinem Glück besaß ich die Signatur eines Menschen. Hätte ich irgendeine Art von Drohne dabei gehabt, hätte das Abwehrsystem mich längst als Ziel markiert. Doch so war ich zumindest davor sicher. Aber nicht vor den menschlichen Wächtern.

Unermüdlich durchquerte ich weiter den Sand, der mir nicht selten bis zu den Waden reichte. Selbst durch den fast bodenlangen Umhang und die Stiefel spürte ich die erbarmungslose Hitze, die er ausstrahlte. Durch die kaum noch vorhandene Ozonschicht brannte die Sonne ohne Unterlass auf die Wüste herab. Ihre tödliche Strahlung zerstörte alles Leben. Niemand ohne Schutz konnte sich hier länger als wenige Stunden aufhalten, außer man besaß solch einen Körper wie ich.

Der Sand wurde hin und wieder von kleineren Gesteinsbrocken durchbrochen, über die ich klettern musste. Mit sicheren Schritten trat ich von Fels zu Fels. Dann wurde der Boden wieder ebener und ich sprang hinunter in den Sand. Sie haben sich Zeit gelassen.

Schräg vor mir konnte ich ein Flimmern in der Luft erkennen. Furchtlos wandte ich mich genau dorthin. Wie ein verschwommenes Foto hoben sich zwei Flecken von der Umgebung ab. Etwas bewegte sich direkt darunter, wirbelte den roten Sand auf. Plötzlich wurde es schneller. Ehe ich ausweichen konnte, traf mich etwas mit Wucht und warf mich zurück. Keuchend rollte ich mich zur Seite, als sich eine schwarze Gestalt aus dem Nichts über mir manifestierte.

Der Anzug war so dunkel wie die Hülle der Kuppel und bedeckte den ganzen Körper. Nur die Wellen aus Energie, die über die Oberfläche der Rüstung wanderten, verrieten, dass es ein spezielles Material war. Metall und Kohlenstoff, verbunden durch Nanotechnologie. Dieser Anzug war nahezu unzerstörbar und so gut isoliert, dass er den Träger vor Hitze und Strahlung schützte. Passgenau schmiegte sich die Rüstung an jedes Körperteil an, man sah kaum die Verbindungsstellen, wo die Panzerplatten von Brust, Bauch, Armen oder auch Beinen aufeinander trafen. Nur an den breiten Schultern ließ sich erahnen, dass es sich um einen Mann handelte. Die Gestalt daneben war etwas zierlicher, aber ebenso muskulös. Auch wenn sie kleiner war als die erste wirkte sie nicht weniger gefährlich.

„Wer bist du?“, wollte der Mann mit verzerrter Stimme wissen. Durch das dunkle, fast nicht vom Metall des Helmes zu unterscheidende Visier schien er mich anzustarren. Ich spürte seinen Blick förmlich. Genauso wie ich wusste, wen ich vor mir hatte. Einen Wüstengänger, einen der Krieger, die Olympus beschützten und nicht nur der tödlichen Umgebung sondern auch jedem Feind trotzten. „Wer bist du?“, wiederholte er und seine Stimme klang trotz Verzerrung zornig.

„Athena“, erwiderte ich ruhig und erntete Schweigen. Die beiden Soldaten tauschten Blicke. Wahrscheinlich konnten sie sich gegenseitig durch eingebaute Technik im Visier sehen. Ich sah nichts außer einer schwach spiegelnden Oberfläche, die mein eigenes Gesicht zeigte, das noch halb von der Kapuze meines hellbraunen Umhangs bedeckt war.

„Es existiert niemand mit diesem Namen.“

„Weil du nichts davon weißt?“ Sofort spannte sich sein gesamter Körper an und er rührte sich keinen Zentimeter mehr. Wie eine Statue stand er vor mir im Sand. „Wenn sie mir nicht selbst diesen Namen gegeben hätte, wäre ich jetzt nicht hier.“

„Sie?“

„Gaia.“

Seine Hand schnellte nach unten und umgriff meinen Hals. Ruckartig zog er mich hoch, bis meine Füße kaum noch den Sand berührten. „Wer bist du?“ Seine Stimme klang nun mehr wie ein verzerrtes Knurren. Seine Kraft war jedem normalen Menschen überlegen. Ich konnte das zweite, bionische Skelett, das sich noch unter dem Anzug verbarg, spüren. Auch ich besaß solch eines, verschmolzen mit meinen Muskeln und Knochen.

Lächelnd hob ich die Arme und umgriff seine. Als er den Druck spürte, den ich auf seine Rüstung ausübte, war ich mir sicher, dass ihn Erstaunen durchlief. Er packte fester zu, doch auch meine Kehle war geschützt. Er riss am Stoff des Umhangs, bis das silbern schimmernde Metall an meinem Hals zum Vorschein kam. Sein Blick wanderte weiter zu meinem linken Schlüsselbein und der Schulter, die frei lagen und nicht von dem dünnen Hemd bedeckt wurden, welches ich darunter trug. Eine der wenigen Stellen, wo das zweite Skelett auch von außen sichtbar war. „Wie du siehst, bist du nicht der Einzige, dem die Hitze wenig ausmacht, Ker.“

Die Nennung seines Namens ließ einen Ruck durch ihn gehen und er ließ mich los, worauf ich einen Schritt zurücktaumelte. „Du bist ein Wüstengänger“, murmelte der andere hinter Ker.

„Nein, das wüssten wir“, widersprach dieser ihm. „Wer hat dich geschickt? Irgendjemand hat sich große Mühe gegeben, einen von uns zu kopieren. Und mich würde noch viel mehr interessieren, woher du all diese Informationen hast. Niemand außerhalb der Station kommt an solches Wissen.“

„Ich bin keine Kopie. Aber nur zum Teil eine von euch. Ich bin das, wozu Gaia mich gemacht hat. Und selbst ich verstehe es noch nicht ganz.“

„Du sprichst in Rätseln.“ Damit griff Ker nach meinem rechten Arm und drehte ihn mir mit einer raschen Bewegung hinter den Rücken. „Ich glaube dir kein Wort“, raunte er mir ins Ohr, dann packte er mich am Nacken.

Ich wusste, wonach er suchte: Ein Brandmal in meinem Nacken, das jedes von Gaias Kindern trug. Bei mir war es allerdings in das Metall des bionischen Skeletts eingraviert. Tatsächlich eins in Form eines nach oben weisenden Dreiecks, das unten halb geöffnet war, zu finden, versetzte ihm einen Schock. Abrupt ließ er mich los, wich sogar zurück, wie ich aus den mir inzwischen ins Gesicht hängenden Haarsträhnen sah. „Sie besitzt tatsächlich ein Mal. Eines mit dem Namen Athena.“

„Na und?“, gab der andere genervt zurück. „Dann haben sie wohl ein täuschend echtes Abbild fabriziert.“

„Da bin ich mir nicht mehr sicher.“ Ker klang zweifelnd, genau wie ich es vorausgesehen hatte.

Du hast ihr Wesen so geschaffen, wie es für dich sein sollte, Gaia. „Ich würde euch ja bitten, mich zu Zeus zu bringen“, wandte ich an Ker, der wie versteinert im roten Sand stand. „Aber da er tot ist, entfällt das. Das ist auch der Grund, wieso ich reaktiviert wurde.“

„Reaktiviert …“, wiederholte Ker.

„Du bist also ein verdammter Cyborg, nicht wahr?“, murmelte der andere.

Hasserfüllt sah ich zu ihm herüber. Ich war mir inzwischen sicher, auch ihn zu kennen. Atropos. Zumindest nannte er sich so. Da Gaia ihm diesen Namen nicht freiwillig gegeben hatte, misstraute ich ihm vom ersten Moment an. „Du bist Atropos.“ Darauf erwiderte er nichts. „Ich kenne euch alle. Gaia hat es mir gezeigt, sie hat mich zu ihren Augen gemacht. Das heißt, dass ich genau weiß, wer du bist. Und ich werde kein weiteres Wort mit dir reden.“

„Und wenn ich dich dazu zwinge?“ Er kam langsam näher und griff nach etwas, das an seiner Hüfte hing und wie ein unscheinbarer Stab aus schwarzem Metall aussah. Sobald Atropos ihn berührte, leuchtete eine Linie längs daran auf und ein elektrisches Knistern ertönte. „Ich wette, du singst gleich wie ein Vogel.“ Er richtete den Stab in Augenhöhe auf mich und ich spürte die Energie, die über dessen Oberfläche wanderte.

„Es reicht“, herrschte Ker ihn an. „Wir bringen sie zur Station, dort können wir sie sie verhören.“ Mit einem Lächeln sah ich zu Atropos und wünschte, ich könnte sein Gesicht unter dem Helm erkennen. „Los.“ Ker umschloss meine beiden Arme mit eisernem Griff. Ich spürte, wie sich Metall um meine Handgelenke legte. Grob stieß er mich vorwärts, Atropos lief vor uns.

Ohne zu zögern setzte ich mich in Bewegung. Endlich würde ich Olympus sehen. Gaia hatte mir Fragmente gezeigt und ich fragte mich, wie es im Detail aussah. Wir waren noch mehrere hundert Meter von der Kuppel entfernt, als sowohl Atropos als auch Ker langsamer wurden. Ich wusste, wieso: Nun mussten wir uns direkt vor der ersten, unsichtbaren Barriere befinden. Einem Kraftfeld, das niemand Ungebetenen einließ. Sicher erwarteten die beiden, dass mich diese diese Energiewand töten würde und ich doch nur eine besonders gelungene Kopie war.

 Ich wechselte meine normale optische Wahrnehmung gegen eine, die ein viel weiteres Strahlenspektrum abdeckte. Ganz unrecht hatte er nicht, denn ich war nur halb menschlich, ein Cyborg. Nun erkannte ich die blau schimmernde Energiewand deutlich. Sie ragte nur wenige Meter vor uns auf und umspannte ganz Olympus in einem Umkreis von mehr als einem Kilometer.

Ohne meine Schritte zu verlangsamen, folgte ich Atropos. Als ich durch das blaue Flimmern trat, das jeden normalen Menschen in Sekunden verbrannte, spürte ich nur ein starkes Kribbeln, das über meinen Körper wanderte, und hörte ein elektrisches Knistern. Kurz setzten meine Sensoren aus, gleich darauf spürte ich, wie meine Rezeptoren noch weitaus feinere Impulse wahrnahmen. Ich hatte das Gefühl, die Energie des Kraftfelds hätte die Leitungsbahnen meines bionischen Skeletts gespeist, die mit den Sonden in meinem Gehirn verbunden waren.

Dass ich dadurch zögerte, bemerkten die beiden Wüstengänger. Ich zögerte und genoss mit geschlossenen Augen die neue Energie und meine erweiterten Sinneseindrücke. Als ich wieder aufblickte, schauten mich beide Wüstengänger überrascht an. Dass ich so reagierte, hatten sie gewiss nicht erwartet. „Ich muss euch enttäuschen, ich bin nicht verkohlt“, meinte ich sarkastisch. Die Wüstengänger konnten dieses Schutzfeld aufgrund ihrer Rüstung problemlos passieren, ich hingegen verdankte das der Art und Weise, wie Gaia meinen Körper geschaffen hatte. Die nächste Barriere konnte allerdings auch ich nicht unbeschadet passieren.

„Schade.“ Damit wandte er sich wieder um, während Ker mir erneut einen Stoß versetzte, der diesmal aber etwas sanfter ausfiel. Unter dem Kraftfeld war es fast schon angenehm kühl, selbst die Sonnenstrahlen wurden abgeschirmt. Auch der Sand war um einige Grad kälter, wenngleich der Boden fester und steiniger wurde, bis wir nur noch über den harten, aber ebenso roten Felsboden liefen. 

Plötzlich kamen wir scheinbar willkürlich zum Stehen, doch ich hatte bereits den nächsten Wächter entdeckt. Wie Ker und Atropos war er durch den Anzug getarnt, inzwischen konnten meine Sensoren diese Camouflage besser durchdringen. „Wir haben einen Gast mitgebracht“, wandte sich Ker an den Wüstengänger. „Erstaunlicherweise trägt sie nicht nur einen Namen, sondern konnte auch ohne Hilfe die Barriere passieren.“

„Das ist unmöglich“, erwiderte der Fremde. „Aber andererseits steht sie jetzt hier. Ich bin gespannt, was Hera dazu zu sagen hat.“

„Sei aufmerksam, Lachesis, vielleicht tauchen weitere von ihrer Sorte auf, auch wenn mir eine schon reicht.“

„Verstanden.“

Auf einmal packte Ker mich wieder fest an der Schulter. „Ich hoffe, du sagst die Wahrheit. Sollten wir herausfinden, dass du lügst, foltern wir dich so lange, bis wir jedes Detail über deine Erschaffung in Erfahrung gebracht haben“, flüsterte er mir drohend ins Ohr. Ich erwiderte nichts, sondern sah ihn nur an.

 Währenddessen trat der Krieger namens Lachesis ein Stück zur Seite zu einem größeren Felsen, dann ging er dort ihn die Knie und strich mit den Fingern über das Gestein.  Die Oberfläche begann zu schimmern. Darunter befand sich eine kreisförmige Vertiefung mit einem Griff darin, den Lachesis nun umfasste. Er zog einen Zylinder aus der Erde, durch den unzählige, hellblau leuchtende Energielinien liefen. Am oberen Rand befand sich ein Touchscreen, den er berührte und auf dem er mit den Fingerspitzen ein Muster zu zeichnen schien.

Ein Knirschen ertönte und die flachen Felsen vor uns verschwanden zur Seite. Stattdessen öffnete sich ein Loch im Boden, das aber nicht besonders tief war. Eine Metallplatte, die mit Sicherheit eine bewegliche Plattform war, kam zum Vorschein.

„Alles einsteigen.“ Atropos machte eine einladende Geste mit der Hand. Wortlos ging ich an ihm vorbei und trat auf die Metallplatte. Die beiden Wüstengänger folgten mir. Lachesis tippte gerade erneut etwas auf dem Zylinder ein, als ich ein Dröhnen vernahm. Nur knapp rauschte etwas an dem äußeren Kraftfeld vorbei, ein Schatten, der blitzschnell auf Olympus zuschoss.

Da ertönte ein lauter Signalton und etwas schob sich oben aus einer Öffnung zwischen den Panzerplatten der Station. Es waren lange, dunkel glänzende Kanonen, die sich auf die feindliche Drohne ausrichteten. „Sieht mal wieder nach Mars aus“, sagte Ker, worauf Atropos zustimmte.

 Bevor ich sehen konnte, ob auch Olympus’ Drohnen in den Kampf geschickt wurden, setzte sich die Plattform in Bewegung. Über uns schloss sich die Felswand, die an der Unterseite durch Metall verstärkt war.  Sofort wurde es dunkel, nur die grünen Leuchten an den Felswänden des Schachtes verbreiteten ein diffuses Licht.

Alle paar Meter verschlossen weitere Zwischenwände aus massivem Metall den Schacht über uns, bis wir mindestens fünfzig Meter in die Tiefe gefahren waren. So weit unter der Erde war es spürbar kälter. Schließlich hielt die Plattform vor einer Stahltür. Wie an der Oberfläche gab es auch hier einen verborgenen Zylinder, den nun Atropos bediente und uns damit den Zugang öffnete. Hinter der Tür kam ein langer Tunnel zum Vorschein, der nach links führte, in die Richtung, wo sich der unterirdische Teil der Kuppel befinden musste.

Diesmal ging Ker voraus, Atropos lief hinter mir. Andersherum wäre es mir lieber gewesen. Wie schon im Schacht verriegelten sich auch hier hinter uns mehrere, massive Stahlabsperrungen. Am Ende des Ganges stiegen wir erneut auf eine Plattform, fuhren aber nur zwei Stockwerke nach oben. Noch würde ich die Station also nur unterirdisch zu sehen bekommen.

02 Drohnenkrieg (Nemesis)

„Neuronal-Interface wird vorbereitet“, ertönte eine Stimme aus dem Headset ihres Helms, dann setzte das bekannte Piepen ein. „Werte im Normalbereich. Aktivität in allen Hirnarealen normal. Verbindung wird hergestellt.“ Sie schloss die Augen, als sie das gewohnte Pochen im Schläfenbereich spürte, das mit der Neuronalverbindung einherging. Auf der Innenseite des Visiers erschien die Aufforderung zur Bestätigung des Uplinks. Daraufhin konnte sie durch die Kameras außerhalb der Kuppel die Situation überblicken.

„Vitalfunktionen stabil, verbinde jetzt restliche Nervenenden mit Interface.“ Elektrische Impulse zuckten durch ihren Körper, dann war der Kontakt zum Verteidigungssystem hergestelltund die Umgebungsbeleuchtung wechselte von Blau zu Rot. „Pilot 01, Nemesis, Sie erhalten hiermit Freigabe für die Operation.“

„Verstanden“, erwiderte sie. Schon leichte Muskelkontraktionen reichten, damit das System reagierte und die Einheit, auf der sie sich befand, ihre Position veränderte. Optisch glich dieses einem motorradähnlichen Gefährt, diente jedoch nicht zur Fortbewegung, sondern wirkte eher wie das bloße Gestell. Nemesis bewegte sie so, dass sie von einer waagrechten Position in eine leichte Schräglage nach hinten wechselte. Auf diese Weise blickte sie nach oben, dorthin, wo sich hinter mehreren verstärkten Wänden die Kanonen befanden, die sie mit ihrer Einheit steuern konnte.

Ohne ihren speziellen Helm und den Anzug wäre sie trotz der Implantate, die teils tief in ihrem Gehirn untergebracht waren, nicht dazu in der Lage. Denn erst sie ermöglichten durch das Vernetzen mit der Einheit den Uplink. Unzählige dünne Kabel, an die sie vorher angeschlossen worden war, verliefen zu diesen sogenannten Neuronalsonden. Auch im restlichen Körper besaß sie Implantate, eingebettet in Nervenstränge. Ihr Anzug aus dünnem, hochempfindlichem Material verfügte über Öffnungen, die einen Anschluss der Neuronalsonden ermöglichte.

Da sie nun die volle Kontrolle besaß, schwenkte sie rasch zwischen den Kameras auf der Oberfläche hin- und her, um einen besseren Überblick der Lage zu bekommen. Dafür war nicht eine Bewegung nötig, die Sonden übertrugen und wandelten die Signale des Gehirns direkt um. Allerdings musste sie die Schmerzen ertragen, die durch diese Fremdkörper permanent verursacht wurden. An diese hatte sie sich jedoch gewöhnt.

„Zwei feindliche Einheiten. Eine bleibt bisher auf Abstand. Sieht nach Mars-Drohnen aus.“ Sie blickte auf die beiden kleinen, stromlinienförmigen Flugobjekte, deren Flügel sich an denen von Hautflüglern orientierten. Bedrohlich schwebten die schwarzen Maschinen an verschiedenen Standorten in einigem Abstand oberhalb des Kraftfelds über der Station, als warteten sie noch auf das Signal zum Angriff. „Sie versuchen es also immer noch“, murmelte sie in ihr Headset.

„Was versuchen sie?“, antwortete eine männliche Stimme.

„Uns zu kopieren. Denken, eine zerstörte Drohne würde reichen, um unsere nachzubauen.“ Dabei besaß jede Olympus-Drohne einen Selbstzerstörungsmechanismus, der sich aktivierte, sobald man sie ohne den passenden Schlüssel – einen Code – öffnete. Und diesen besaßen nur die Piloten. Niemand der die Station verließ, konnte also diese Maschinen öffnen.

Ein amüsiertes Lachen drang durch ihr Headset. „Lass es sie doch versuchen. Schadet uns doch nicht.“

„Aber es ist dumm. Unsagbar dumm. Genauso, wie unsere Station und unsere Namen kopieren zu wollen.“

„Lange wird es sie eh nicht mehr geben, wenn sie weiter jede nahgelegene Station herausfordern.“

„Wenn sie tatsächlich Krieg mit uns wollen, sollen sie ihn bekommen“, meinte Nemesis und entriegelte die Abzüge an den Griffen seitlich von der Einheit.

„Aktiviere Ares!“ Sofort vernahm sie ein elektrisches Surren, dann sah sie durch das Display des Helms, wie die Drohnen getarnt aus Öffnungen  in der Hülle auftauchten. Sie waren genauso schwarz wie die Fremden, aber weitaus kleiner und mit Stacheln aus Metall versehen, die als Geschosse dienten.

Zeitgleich steuerte sie fünf Einheiten auf die Eindringlinge zu, deren Sensoren schienen das Tarnschild nicht zu bemerken. Nemesis wählte die sich am nächsten befindende Maschine aus und schoss einen der Pfeile ab, direkt auf die Stelle, an der sich der Energiekern befand. Kurz schwankte die Drohne noch, der Pilot versuchte scheinbar, zurückzusteuern. Doch ihre Drohne hielt sie durch den Pfeil und das dünne Stahlseil daran fest. Dann verlor die feindliche Einheit an Höhe und drohte auf der Kuppel aufzuschlagen. Das Seil bremste ihren Fall jedoch rechtzeitig.

Die zweite Einheit legte rasch an Höhe zu. 

Sie versetzte dieser einen Energieimpuls, worauf sie zuerst kurz in der Luft stehenblieb und dann wie ein Stein nach unten fiel. Sie sah, wie die Drohne auf dem Kraftfeld aufschlug. Die Metallverkleidung glühte an den Stellen, die das Kraftfeld berührten. „Das war’s.“

Schnell steuerte sie zwei ihrer Drohnen dorthin, die die Greifarme ausfuhren und die feindliche Einheit vom Kraftfeld hoben. Olympus konnte es sich nicht leisten, irgendeine Art von Rohstoff zu verschwenden. In einer der Ladebuchten legte sie die Beute auf einem Podest ab. Danach steuerte sie die Drohnen zurück auf die jeweiligen Startplattformen, während sie zeitgleich den gesamten Drohnenschacht verschloss. 

Sie überprüfte nochmals den Luftraum um Olympus und ob sich keine weiteren feindlichen Drohnen näherten, bis sie durch ihr Headset weitere Anweisungen erhielt. „Gut gemacht, Nem. Es nähern sich keine weiteren Drohnen, deine Arbeit ist somit erstmal erledigt.“

„Verstanden. Uplink beenden.“ Ihre Einheit bewegte sich wieder in eine waagerechte Position.

Zugleich wurde die Verbindung zu den Neuronalsonden getrennt. Das war der schlimmste Teil. Sie spürte ein unglaublich schmerzhaftes Ziehen, als sich die Adapter von den Hirnsonden lösten und keuchte auf. Es folgte ein ebenso scharfes Stechen, das wie unzählige, zeitverzögerte Blitze durch ihren Kopf jagte.  Wenigstens war das darauffolgende Abtrennen der Muskelsonden nur halb so schmerzhaft.

Langsam setzte sie sich auf. Selbst diese kurze Verbindung hatte ihr viel Kraft geraubt. Erschöpft schwang sie ihr linkes Bein herüber, so dass sie seitlich auf der Einheit saß. Für einen Moment verweilte sie nur ruhig in dem dämmrigen Licht, das von Blau zu einem matten Grün wechselte.

Sie wartete darauf, dass die Schmerzen in ihrem Körper abebbten, aber die in ihrem Kopf blieben. Anfangs fühlten sich die eingesetzten Sonden wie eine offene Wunde an und hatten jeden Tag entsetzlich gebrannt, bis sie verheilt waren. Dann hatte sie nichts mehr gespürt, bis sie mit ihrem Training als Pilotin begann. An diesem Tag kehrten die Qualen zurück und waren fortan Bestandteil ihres Lebens. Aktivierte man die Sonden, war das der Preis dafür. Nur ein „Schläfer“ verspürte keine Schmerzen.

Schläfer und Tote, dachte sie und griff sich an den Kopf. Ihre blonden Haare waren nur knapp einen Zentimeter lang, ein bestimmtes Serum verhinderte, dass sie länger wurden. Das war praktischer, als sie jeden Monat schneiden zu müssen. Denn wenn ihre Sonden repariert oder justiert werden mussten, störte das nur.

Mit einem leisen Zischen öffneten sich die Türen zum Drive, wie die Röhre, in der sie sich befand, auch genannt wurde. „Man könnte meinen, du wärst dafür geboren“, sagte der Mann, der auf der Schwelle stand. Tyche. „Manchmal glaube ich, dass Gaia von Anfang an so bestimmt hat. Weil sie wusste, welches Potential du hattest.“

„Auf dieses Potential hätte ich gerne verzichten können.“ Nemesis hielt sich noch immer den schmerzenden Kopf, worauf Tyche zu ihr trat.

„Ich weiß. Ich versuche nur, dir zu sagen, dass du unersetzlich bist.“

Sie zwang sich zu einem gequälten Lächeln. „Danke.“ Ihr Blick glitt zu dem Objekt, dass er in der Hand hielt. Eine dünne Ampulle aus Glas mit einer Kappe vorne, die mit einer milchig-weißen Flüssigkeit gefüllt war.

„Du darfst auch Schwäche zulassen, das weißt du.“

„Den Schmerz zu betäuben beseitigt nicht die Ursache“, erwiderte sie und erhob sich leicht taumelnd. Sofort stützte er sie. Schon immer war er wie ein Bruder für sie gewesen, auch wenn niemand auf Olympus miteinander verwandt war. „Und selbst wenn ich damit aufhören wollte, würde der Schmerz bleiben.“ Sie richtete sich gerade auf und sah den Mann vor sich an. Obwohl er nicht mehr als aktiver Pilot eingesetzt wurde, waren seine braunen Haaren noch immer genauso kurz wie ihre. Und auch seine Haut war fast so blass und mit dunklen Adern durchzogen wie ihre. Die Folgen davon, jahrelang im Drive zu sitzen.

„Entscheide selbst.“ Er drückte ihr die Spritze in die Hand, ebenso einen Alubeutel, der Flüssignahrung enthielt. Etwas Festes brachte man nach einem Einsatz meist nicht herunter.

„Danke.“ Eilig riss sie den Beutel mit den Zähnen auf und stürzte den Inhalt hinunter. Sie brauchte unbedingt Nährstoffe, auch wenn ihr Körper diese nur zum Teil verwerten konnte. Dahingehend war Tyche nicht ganz so dünn wie sie, sein Körper hatte sich erholen können – wenn auch nur geringfügig.

Er ging voraus und trat in den Gang. Sie folgte ihm und wischte sich dabei rasch über den Mund. „Eigentlich könnte ich doch gleich da drin schlafen“, meinte sie und lief neben ihm den nur wenig heller beleuchteten Flur entlang. Auf beiden Seiten befanden sich in regelmäßigen Abständen Türen. Dahinter lag jeweils ein Drive, wie der, in dem sie eben gewesen war.

Lustlos faltete sie den leeren Beutel in den Händen, der Gang schien ihr jedes Mal endlos und sie konnte noch nicht schneller gehen, ohne dass ihr schwindelig wurde. „Es gibt bequemere Betten“, gab Tyche zurück. Sie erreichten endlich die Treppe und stiegen hinauf. Als er merkte, wie sie zurückfiel, verlangsamte er sofort sein Tempo. Besorgt wandte er sich zu ihr um. „Nem?“ Sie stand in der Mitte der Stufen, eine Hand umklammerte fest das Geländer, die andere hatte sie in ihre Kopfhaut gegraben.

„Wenn nur dieser Schmerz nicht wäre …“ Bevor sie ihn daran hindern konnte, griff er nach ihrer linken Hand, in der sie nicht nur den leeren Beutel, sondern auch die Spritze hielt. „Nicht …“

Erschöpft hob sie die Hand, doch er hatte sie bereits umschlossen. Geübt brach er die Kappe ab und setzte die Nadel auf ihre Haut. Leise zischend entwich das Schmerzmittel. „Manchmal hilft betäuben eben doch“, meinte er, als sich ihre Körperhaltung fast augenblicklich entspannte.

„Bis zum nächsten Mal“, murmelte sie und drängte sich an ihm vorbei die Treppe hoch. „Und bis dahin werde ich schlafen, solange mich niemand weckt.“ Dabei warf sie ihm einen eindringlichen Blick zu.

Statt etwas zu erwidern, verharrte er reglos auf auf den oberen Treppenstufen. Seine Finger wanderten zu seiner Schläfe, wo sich eine der unzähligen, kleinen Öffnungen befand, die zu den Sonden in seinem Körper führten. Einige davon waren umfunktioniert worden und nun mit einem Kommunikator verbunden. Dieser erlaubte die Verständigung über eine bestimmte Frequenz mit anderen Leuten. Meist waren das wie bei Tyche Kundschafter.

„Was ist los?“ Interessiert sah sie ihn an, gleichzeitig verursachte ihr sein verstörter Blick Unbehagen.

„Wir haben ungebetenen Besuch von außerhalb.“

„Unmöglich.“

„Sie sagt, sie sei eine von uns. Sie ist sogar durch das Kraftfeld gelangt.“

„Wie kann das sein?“

„Lass es uns herausfinden. Ker bringt sie gerade zu Hera. Vielleicht kann ich ja meine Hilfe anbieten.“

03 Olympus

Der Gang, den wir durchquerten, war nur schwach beleuchtet – wahrscheinlich musste man sparen, wo es nur ging, auch beim durch Solarenergie und Kernfusion gewonnenen Strom. Die Wände waren hier aus glattem Beton und noch gab es keine Türen. Ich vermutete, dass wir uns auf das unterirdische Zentrum der Station zubewegten. Vor uns tauchte erneut eine Stahlabsperrung auf. Erneut musste Atropos sie durch einen der Zylinder, die als Hochsicherheitsschlösser dienten, öffnen.

Dahinter kam ein Raum zum Vorschein, dessen Wände wieder vollkommen aus Metall bestanden. Erst beim zweiten Blick stellte ich fest, dass die Rückwand in Wirklichkeit ein weiteres Schott war. Nachdem sich der Eingang hinter uns verschloss, erfasste uns ein greller, grüner Blitz, der mir kurz die Sicht nahm. Weitere folgten in kurzen Abständen. Wir werden auf Kontamination überprüft.

„Keine radioaktive, chemische oder biologische Verunreinigung im Gefahrenbereich festgestellt. Freigabe erteilt“, verkündete eine automatisch generierte Stimme. Endlich fuhr auch die zweite Wand zur Seite.

Atropos und Ker griffen beide fast zeitgleich nach ihren Helmen und berührten diese an einer bestimmten Stelle an der rechten Seite. Daraufhin öffneten sich die Visiere und verschwanden unter dem Helm. Neugierig musterte ich die beiden Männer. Atropos’ Gesicht wirkte normal, blass und ausdruckslos. Die Haare waren extrem kurz geschoren. Trotz seines abschätzigen Blicks fand ich ihn weitaus weniger beeindruckend als noch mit Helm.

Ker hingegen sah man die Kampferfahrung an. Er besaß ein markantes Gesicht mit olivfarbener Haut, das durch eine tiefe Narbe von der Stirn bis zur rechten Wange gezeichnet war. Seine dunklen Haare waren einige Zentimeter länger und hingen ihm etwas wirr ins Gesicht. Seine dunklen Augen waren ernst und wachsam. Er bedeutete mir mit einer Kopfbewegung weiter zu gehen.

Der Gang führte nur wenige Meter weiter, dann erreichten wir den oberen Absatz einer Treppe, die nach unten hin immer breiter wurde. Hier wurde das Licht endlich heller. Auf dem Boden des kreisrunden Raumes prangte in einem Dreieck eine große -18. Wir befanden uns also nur zwei Etagen über der untersten Ebene, die es offiziell gab. Zum ersten Mal trafen wir nun auch auf andere Menschen, die aus den sicher mehr als dreißig Türen kamen und hinter anderen von ihnen wieder verschwanden. Alle trugen weiße Einheitskleidung und beachteten uns kaum. Innerhalb der Station gab es wohl kein Misstrauen. Niemand bedeutete  eine Gefahr für jemand anderen. Zumindest glauben sie das.

Wir gingen die Treppe herunter und überquerten die kreisrunde Fläche in der Mitte. Jeden, den wir passierten, musterte ich gründlich. Jeder hier könnte die Bedrohung sein, wegen der mich Gaia hergeholt hatte. Alleine die beiden Männer, die ich eben erst kennengelernt hatte, besaßen genug Potenzial. Atropos wirkte auf mich zu arrogant, zu gewaltbereit, Ker zu kühl und rational.

 Allerdings konnte ich nicht einmal sagen, ob dieses Unheil von einer Person ausging oder einen völlig anderen Ursprung hatte. Ich muss unbedingt zu Gaia. Nur sie kann mir sagen, wo ich suchen muss. Mir war bewusst, dass ich selbst für einige vielleicht längst als größte Gefahr für Olympus galt. Eine Fremde, die aus dem Nichts kam und zu viel wusste. Zum ersten Mal überhaupt gelangte jemand von außen ins Innere, der ihrer Auffassung nach nicht hier geboren wurde und dennoch zugangsberechtigt zu sein schien. Ich werde viel zu erklären haben. Und ich muss überzeugend sein.

Gaia hatte diese Station erbaut und vorausgeahnt, dass etwas sie bedrohen könnte. Dann rief sie mich zu dem Zeitpunkt, der ihr richtig erschien. Es war das Signal eines Wüstengänger gewesen, das mich gerufen hatte. Ohne, dass dieser es überhaupt bemerkte. Es war der Schlüssel zur Überbringung einer Nachricht gewesen.

Nicht nur Türen, auch drei Gänge führten von der kreisrunden Fläche in verschiedene Richtungen. Wir wählten jedoch den uns gegenüberliegenden. Das Licht wurde dämmerig, nur die Beleuchtung in dem Abschnitt, den wir gerade passierten, wurde kurzzeitig heller.

Nach weiteren fast hundert Metern tauchte erneut eine von den tausenden Türen in dieser Station auf. Diesmal bestand sie aus silbernem Metall, besaß jedoch eine auffällige Oberfläche aus unzähligen feinen Rillen und Fräsungen, die ein Muster aus scheinbar unendlich vielen geometrischen Formen ergaben.

„Wahrscheinlich hat Hera nicht einmal Zeit für uns“, meinte Atropos und warf mir einen herablassenden Blick zu. „Sie hat weitaus wichtigere Aufgaben, als sich mit Dingen wie dir zu beschäftigen.“

„Das wird sie selbst entscheiden.“ Damit betätigte Ker den Öffnungsmechanismus. Weiße Linien leuchteten in der Tür auf, dann bewegten sich die eingefrästen Formen rotierend in alle möglichen Richtungen hinweg, bis sie eine Öffnung preisgaben.

Der Raum dahinter war in schwaches, bläuliches Licht getaucht. Fast lautlos schloss sich der Eingang hinter uns wieder. „Es ist selten, dass ich Besuch bekomme.“ Die helle, klare Frauenstimme schien aus allen Richtungen zu kommen.

Meine Augen hatten längst den Raum erfasst, in dem wir uns befanden. Wir waren von dickem Glas umgeben. Es wirkte, als befänden wir uns erneut in einem langen Gang. Doch ich wusste, dass dies in Wirklichkeit der Zugang zu Gaias Servern war, die sowohl links und rechts, als auch über und unter uns verliefen.

Bläuliches Licht kam von den Prozessoren, die wie ein Labyrinth um uns herum verliefen. Erstaunt betrachtete ich die Verzweigungen aus Metall und Kabeln, die mehr an ein Wurzelwerk erinnerten als an einen Computer. Mal wurde das Licht schwächer, dann wieder intensiver, mit jedem Impuls, der durch dieses Rechenzentrum verlief. „Es ist wunderschön …“ Von diesem Ort hatte Gaia mir leider keine Bilder geschickt.

„Wie heißt du, mein Kind?“ Ich versuchte auszumachen, wo Hera sich befand, doch ihre Stimme wurde von allen Seiten verstärkt und hörte sich fremdartig an. Kaum noch wie die eines Menschen. Dieser Raum musste auch Geräusche und Bilder aufzeichnen und ersteres zumindest auch wiedergeben.

„Athena.“

„Es gibt niemanden auf Olympus mit diesem Namen.“

„Ihr wisst es nur nicht.“

„Ach ja?“, knurrte Atropos. „Ich würde eher sagen, dass du einfach eine Hochstaplerin bist.“

„Hera, bitte, ich muss mit Ihnen alleine sprechen. Unter vier Augen.“

„Das geht nicht“, machte Ker deutlich. „Außerdem kommst du sowieso nicht an sie heran. Das hat natürlich auch einen Grund.“ Vor uns wurde es etwas heller und Ker führte mich ein Stück weiter. Auch direkt vor uns befand sich eine Glasscheibe, die uns isolierte. Der Weg führte dahinter noch weiter ins Innere, doch er war für uns versperrt.

Aus dem Dämmerlicht löste sich eine Gestalt, die zunächst wie ein Hologramm wirkte. Ihre Haut war blass und sie trug ein weites, halb durchscheinendes helles Gewand. Darunter konnte ich einen eng anliegenden Anzug sehen, der in silbrigen Farben schimmerte. Nur die Hände und der Kopf, der völlig kahl war, lagen frei. Dafür gab es andere, kleine Öffnungen im Anzug für Neuronalsonden. Da sie keinen Helm trug, konnte ich die unzähligen, haarfeinen Kabel ebendieser an ihrem Kopf sehen. Sie erstreckten sich von den Schläfen über die Stirn bis nach hinten, wo sich die meisten befanden. Auf skurrile Weise wirkten sie wunderschön und die Fasern ähnelten silberblau leuchtenden Haaren.

Es waren so viele, dass ich mir die Qualen gar nicht erst vorstellen wollte. Es müssen an die hundert sein, dachte ich mit Blick auf die gewölbte Haut über den Implantaten. Piloten benötigten nur um die zwanzig im Bereich des Kopfes. Das war das Opfer, das Hera für die Station gebracht hatte. Mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Doch wenn Gaia es so verlangte, musste ich es akzeptieren.

Eine Bestimmung, die ihr allein durch ihren Namen gegeben wurde. Ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass Gaias Handeln auch grausam war. Sie griff auf diese Weise in das Leben aller ein, vor allem in Heras, mit der mich mehr verband, als sie ahnen konnte. Nur hat das hier noch niemand wirklich begriffen. Olympus ist nur so sicher und unabhängig, weil jeder hier an seine Bestimmung glaubt und weniger an eine Manipulation. Hera war das beste Beispiel. Sie hatte sich Gaia komplett hingegeben, mit Körper und Geist. Die dünne Gestalt und die zu blasse Haut bezeugten das. Dabei war sie nicht einmal auf Olympus geboren worden.

 Ihre Augen hingen fasziniert an mir, irisierend strahlte ihre künstliche Iris im Dämmerlicht. „Ich kenne dich nicht. Ich habe dich niemals zuvor gesehen.“

„Sie behauptet, Gaia habe sie geschickt“, zischte Atropos verächtlich.

„Aus welchem Grund tat sie das?“

Mein Blick glitt kurz zu Ker neben mir und zu Atropos, der schräg hinter mir stand. Bald werden sowieso die meisten wissen, dass ein Eindringling hier ist. Zumindest, wenn ich bleiben darf. Außerdem muss ich Hera gegenüber absolut ehrlich sein.

„Weil es eine Gefahr innerhalb von Olympus gibt.“

„Was für eine?“

„Das weiß ich nicht, ich muss es selbst herausfinden.“

„Natürlich“, schnaubte Atropos.

„Ich rede mit ihr, nicht mit dir, Atropos“, wies Hera ihn zurecht und ich erlaubte mir ein Grinsen in seine Richtung. „Es fällt mir schwer, dir zu glauben.“

„Gaia hat mich als Kind fortgeschickt, damit ich in der Wildnis und in anderen Stationen meine Stärke finde.“

„In anderen Stationen?“ Nun war Ker aufmerksam geworden. „Dann wurdest du also doch von unseren Feinden geschickt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich war nur auf neutralem Boden. Nie innerhalb von Mars oder einer anderen, die mit euch um Ressourcen kämpft.“

„Ich hoffe wirklich, dass du die Wahrheit sagst.“

„Es war ein verschlüsseltes Signal, welches mich gerufen hat.“

„Wäre das möglich?“ Ker sah Hera fragend an. „Dass Gaia eine verschlüsselte Nachricht nach draußen schickt?“

„Wieso sollte sie das tun? Das ergibt keinen Sinn!“, mischte Atropos sich  ein.

„Sei still!“ Kers Stimme ließ nicht nur ihn, sondern auch mich zusammenzucken.

Ich hoffe, dass ich ihm niemals im Kampf gegenüberstehen werde.

„Es wäre möglich, obwohl Gaia eigentlich nur die Grundlagen bereitstellt und uns Bewohnern überlässt, wie wir die Dinge gestalten.“

„Also hat sie Zugriff darauf.“

„Wenn sie es will, hat sie Zugriff auf alles.“

„Na klasse“, hörte ich Atropos leise murmeln, worauf Ker ihm einen verwunderten Blick zuwarf.

„Das erscheint mir nur logisch. Jeder kann stets ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Also muss sie auch Einsicht in alles haben“, meinte Ker.

„Wie eine Übermacht, die alles kontrolliert.“ Atropos’ Worte gaben mir zu denken. Wie er es betont hatte, bekam ich den Eindruck, dass es ihm missfiel.

Ich muss seinen wahren Namen herausfinden. Wenn ich ihn kannte, wusste ich auch, welche Bestimmung Gaia für ihn ausgesucht hatte.

„Jetzt stellt sich nur die Frage, ob es tatsächlich so passiert ist. Können wir prüfen, ob dieses Signal Olympus verlassen hat?“, wollte Ker wissen.

„Wenn Gaia es verschlüsselt gesendet hat, nicht. Ich habe nur auf einen Teil ihrer Programmierung Zugriff. Ich kann natürlich danach suchen, aber ich bezweifle, dass sie mich soweit vordringen lässt.“

„Wenn Sie es nicht finden können,  suchen Sie nach etwas anderem. Nach einem Mädchen, das vor zehn Jahren hier starb“, wandte ich mich an Hera.

 „In Olympus sterben keine Kinder. Unsere Genetik schützt uns vor Krankheiten und sollte dennoch einmal …“

„Sie ist das Erste und Einzige, das je hier ums Leben kam“, unterbrach ich Ker, auch wenn es mir leidtat. Ihn mochte ich weitaus mehr als Atropos. „Ihr Name war Mnemosyne.“

„Die Erinnerung, wie passend.“ Atropos’ Feindseligkeit und Zweifel schienen mit jedem weiteren Wort von mir zuzunehmen.

Verabscheut er mich oder Gaia? Wenn er die Gefahr ist … Wobei das viel zu leicht wäre. Jemand, der Gaia schaden wollte, konnte es nicht so offen zeigen. Derjenige würde genau wissen, dass ich eine ernsthafte Gefahr darstelle. Andererseits will er mich schon jetzt als Lügnerin darstellen. Draußen in der Wüste hatte ich viel gelernt, auch Menschen zu lesen. Ich wusste, Atropos und ich würden sicher nie Freunde werden. Aber ob wir Feinde sein mussten?

„Ich werde nach diesem Mädchen suchen. Falls sie je existiert hat, finde ich sie.“

 „Gaia wird es so wollen.“

„Inwiefern soll dieses Mädchen der Schlüssel zu allem sein?“, wollte Atropos wissen, doch ich antwortete ihm nicht, sondern erwiderte Kers Blick, der auf mich gerichtet war.

Er musterte mich stumm, dann sagte er leise: „Ich kann es mir schon denken.“

„Ihr solltet nun gehen. Solange wir nicht wissen, wer genau sie ist, werden wir Athena mit der nötigen Gastfreundschaft behandeln.“ Hera schenkte mir ein höfliches Lächeln. Trotz der Ereignisse schien sie gelassen zu sein.

Sie vertraut Gaia. Ich konnte nur hoffen, dass das auch auf den Rest von Olympus’ Bewohnern zutraf.

„Danke“, wandte ich mich noch einmal an sie. Dann spürte ich, wie Ker mir kurz auf die Schulter klopfte und in Richtung Ausgang nickte. Zögernd setzte ich mich in Bewegung und folgte Atropos, während ich beim Laufen noch einen Blick zurückwarf. Hera stand in ihrem Gefängnis aus Technologie und war in dem abnehmenden Licht kaum noch auszumachen, dafür leuchteten die verzweigten Stromleitungen und Datenkabel umso intensiver. Ich hoffte, sie bald wiederzusehen.

Einerseits war dieser Ort beängstigend, zugleich aber unendlich faszinierend. Ein künstliches Wurzelwerk, das sämtliche Informationen speicherte, transportierte und abrief. Es gab schlimmere Orte als diesen.

 Die Helligkeit draußen wirkte grell, als wir wieder in den Flur traten. Hier war das Licht kaltweiß und meine Augen mussten sich erst wieder daran gewöhnen.

„Es gefällt mir nicht, dass wir ihr auch noch Gastfreundschaft gewähren sollen“, sagte Atropos auf dem Weg zurück zur zentralen Ebene, als würde ich nicht direkt hinter ihm laufen.

„Das ist mir nicht entgangen“, entgegnete Ker sarkastisch, worauf Atropos abrupt stehen blieb und ich fast in ihn hereingelaufen wäre.

„Dass Hera ihr überhaupt zugehört hat!“ Er sah mich an, als sei ich das größte Übel, das Olympus je gesehen hätte. Nun ja, ich war die erste, die nicht als Flüchtling oder als Gefangene hierherkam.

„Wenn Hera es so will, werden wir dem folgen. Außerdem ist noch nichts endgültig entschieden.“ Als Atropos zu einer Erwiderung ansetzte, hob Ker die Hand und dieser war sofort still. Diesmal zeichnete sich Zorn auf seinem Gesicht ab. „Kein weiteres Wort mehr. Ich entbinde dich hiermit vorübergehend von deinen Pflichten. Ich bringe sie selbst weg.“ Schweigend blickte Atropos uns nach, während wir weitergingen.

Vor der Treppe angekommen bogen wir nach rechts ab, statt nach oben zu gehen. „Dieser Zugang führt nur zur Oberfläche, nicht weiter ins Innere der Station“, erklärte er, als er meinen fragenden Blick bemerkte. „Hat Gaia dir nicht die Station gezeigt, wenn sie dich doch extra geschickt hat?“

„Sie konnte mir nur Fragmente zeigen. Ein genaues Bild muss ich mir selbst machen. Genauso liegt es an mir, herauszufinden, wer die Station bedroht.“

„Es ist schwer, deinen Worten Glauben zu schenken.“

„Das ist mir bewusst.“

Wir waren bereits am Ende des Ganges angekommen und Ker sah mich an. „Ich will glauben, dass du zu uns gehörst. Denn sollte das nicht der Fall sein, werde ich dich töten müssen.“

„Natürlich.“ Ich stieg nach ihm in den Aufzug. „Mnemosyne, das Kind, von dem ich sprach … Das war ich“, gestand ich. Anders als bei Atropos spürte ich bei Ker, dass er aufrichtig war.

Zudem würde er dies als einer der ranghöchsten Wüstengänger sowieso von Hera erfahren. „Gaia hat meinen Tod vorgetäuscht und mich aus der Station geschmuggelt.“

„Wie?“

„Durch eine Drohne, in die man mich legte und die am selben Tag verschollen ist.“

„Dass Drohnen verschwinden, kommt extrem selten vor, aber es ist wahrscheinlicher als das jemand Olympus verlässt.“

„Du wirst sehen, dass ich nicht lüge. Das tue ich nie.“

 „Zu deinem Wohl will ich das hoffen.“

Der Aufzug, der inzwischen mit atemberaubender Geschwindigkeit dutzende Stockwerke hinter sich gebracht hatte, wurde allmählich langsamer und kam schließlich ganz zum Stehen. Die Anzeige auf dem digitalen Display an der Wand zeigte minus fünf. Noch würde ich also die eigentliche Kuppel nicht sehen.

„Hoffentlich kann ich es bald sehen“, murmelte ich leise.

„Was?“

„Nicht so wichtig.“ Vor uns öffneten sich die Türen und ich wollte bereits aussteigen, jedoch standen direkt vor dem Aufzug zwei Personen.

 Wortlos sahen wir einander eine Weile schweigend an. Die beiden Piloten, wie unschwer an den raspelkurzen Haaren zu erkennen war, musterten misstrauisch mich und ich sie. Anders als die beiden war ich aber eher neugierig, wer genau sie waren und wie sie ausgerechnet jetzt hierher kamen. An einen Zufall glaubte ich nicht.

„Das ist sie also“, meinte die Frau, die hellblauen Augen noch immer auf mich gerichtet.

„Immer wieder gut, dich zu sehen, Nem“, gab Ker zurück.

„Nemesis also.“ Sofort wurde ihr Blick noch durchbohrender. „Eine Pilotin, die im Drive sitzt und die Ares-Drohnen steuert.“

Überrascht und wütend blickte sie zu Ker hinüber. „Ich habe ihr nichts davon erzählt“, verteidigte dieser sich rasch.

„Wer zur Hölle bist du?“, herrschte Nemesis mich an und ich spielte mit dem Gedanken, sie einfach zu ignorieren. Erst war ich Atropos’ Feindseligkeit ausgesetzt, jetzt ihrer.

„Ihr Name ist Athena“, erklärte Ker an meiner Stelle, doch Nemesis winkte nur ab.

„Das ist mir längst bekannt. Ich will wissen, woher sie diese Informationen hat.“

Erkenntnis huschte über Kers Gesicht. „Atropos hat dich kontaktiert, nicht wahr?“

„Das war ich“, sagte der Mann, was zeitgleich auch seine ersten Worte waren. Wenigstens besaß er genug Anstand, sich mir kurz darauf vorzustellen. „Mein Name ist Tyche. Falls du das nicht schon längst weißt, bei dem Wissen, über das du scheinbar verfügst.“ Im nächsten Moment sprach er wieder zu Ker. „Die Zentrale hat mich sofort über den Eindringling informiert.“

„Als Kundschafter weißt du es natürlich. Mich interessiert, wieso es noch andere wissen.“ Dabei sah er Nemesis an.

„Ich habe keine Geheimnisse vor meiner besten Pilotin.“

„Das könnte dir noch zum Verhängnis werden.“ Ker griff nach meinem linken Arm und zog mich weiter. „Ich habe etwas zu erledigen, entschuldigt mich.“

„Was hat Hera gesagt?“, hörten wir Nemesis rufen und uns eilig folgen.

„Das geht dich nichts an.“

„Ker, bitte, ganz Olympus könnte in Gefahr sein.“

„Das ist es wohl schon.“

„Was meinst du?“

„Nem.“ Ich sah, wie Tyche sie festhielt, damit sie uns nicht weiter folgte. „Lass gut sein.“

„Aber …“

„Du hast doch jemanden, der dich informieren kann, sobald es etwas Neues gibt“, rief Ker ihr. „Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, die außerhalb deiner Befugnisse liegen, Nem!“

Zum Glück gehorchte sie und blieb, wo sie war. Ker führte mich weiter durch endlose, schwach beleuchtete Gänge. Die Leute, denen wir begegneten, beachteten uns nur, weil ich in ihren Augen seltsame Kleidung trug oder weil sie kurz stehen blieben, um Ker respektvoll zu grüßen. Sie halten mich sicher für einen Flüchtling. 

Solche durften normalerweise nur bleiben, wenn sie sich als nützlich genug erwiesen. Was auf die meisten nicht zutraf, die erbarmungslos wieder hinaus in die Wüste geschickt wurden. Die meisten fanden dort den Tod, zu schwach oder zu krank, um sich selbst zu verteidigen. Zwar gab Olympus ihnen Proviant und etwas an Ausrüstung mit, aber nicht genug, um auf Dauer zu überleben. Denn dafür war eine unglaubliche Ausdauer und körperliche Stärke nötig, ebenso Anpassungsfähigkeit an die Widrigkeiten der Wüste.

Olympus verschwendete nicht mehr Ressourcen als unbedingt nötig an Leute, die nicht zum Wohle aller beitragen konnten. Jeder hier hatte eine feste Funktion, die dazu beitrug, die Station am Laufen zu halten, von der Erziehung und Bildung der Kinder bis hin zu hochspezifischen Tätigkeiten wie die der Piloten oder Wüstengänger. Dafür erschuf Gaia die Menschen mit einem Ziel, einer Aufgabe und einem Namen, der ihrer Bestimmung entsprach. Dass man Flüchtlinge

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Vera Hallström
Bildmaterialien: Adobe Stock
Cover: Hallström Design
Satz: Vera Hallström
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2021
ISBN: 978-3-7487-9860-6

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