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Teil 1

 

„Wieso stirbt ein Teil von mir selbst, obwohl ein anderer den Tod gefunden hat? Ich bin noch immer lebendig und doch unvollständig. Zu gerne würde ich ihr folgen, aber diese Welt scheint mich noch nicht gehen lassen zu wollen.“

Prolog - Dämonenkind

Novus Errans; 2167

 

Von außen betrachtet wirkte der Junge ganz gewöhnlich. Er hatte schwarzes Haar, das einen starken Kontrast zu seiner sehr hellen, fast schon blassen Haut bildete. Seine Augen schienen unnatürlich dunkel zu sein, wie zwei schwarze Löcher. In den Händen hielt er ein langes, zum Rücken hin gebogenes Messer, das er zwischen seinen Fingern hin und her gleiten ließ.

„Wie alt ist er?“, wollte Deus wissen, der durch den Einwegspiegel auf den Jungen in seiner Zelle blickte.

„Sechzehn, Sir“, erwiderte der Mann neben ihm in dem weißen Arztkittel.

Der Junge hatte inzwischen inne gehalten und hielt die Spitze des Messers gegen sein rechtes Handgelenk gedrückt.

„Was tut er da?“ In Deus’ Stimme mischte sich Panik, doch der Mann, der für ihn als Arzt und Biologe zuständig war, beruhigte ihn rasch.

„Keine Sorge. Es wird ihm nichts anhaben. Sehen Sie einfach zu.“

Deus’ besorgter Blick wanderte zurück zu dem Jungen hinter der Scheibe. Dieser hatte sich mit dem Messer tief ins Handgelenk geschnitten, aus dem dunkles Blut tropfte. Fasziniert starrte er auf das Rinnsal, das seinen Unterarm herablief, dann hob er den Arm über seinen Kopf. Das Blut tropfte ihm in den Mund und er schien zu erzittern. Deus fiel auf, dass das Blut kaum noch rot, sondern eher dunkelrot und fast schwarz war. Während er den Jungen weiter beobachtete, stellte er fest, dass sich dessen Wunde am Handgelenk bereits wieder geschlossen hatte.

„Seine regenerativen Fähigkeiten sind denen eines Dämons und auch denen von Halbdämonen weit überlegen, ganz wie Sie es wollten.“

Schweigend nickte Deus. Schon vor neun Jahren hatte er dieses Projekt in Auftrag gegeben und seitdem arbeiteten die wenigen Ärzte, Biologen, Biochemiker und Psychologen, die er dafür ausgewählt hatte, daran. Wenn Sie es nicht geschafft hatten, das zu entwickeln, was er wollte, würden sie dafür bezahlen.

„Sie wissen, dass ich nicht hier bin, um bloße Beobachtungen anzustellen“, fuhr Deus fort. „Ich hoffe doch, dass er so weit ist?“

Der Arzt lächelte, dennoch konnte man ihm die Nervosität ansehen. „Natürlich ist er das, Sir. Wir haben ihn fast neun Jahre lang behandelt. Das Training, die Medikation und die Konditionierung sind abgeschlossen.“

„Und es wird hundertprozentig funktionieren? Schließlich ist er mir noch nie begegnet.“

Nun mischte sich in das nervöse Lächeln des Arztes Selbstgefälligkeit. „Das war überhaupt nicht nötig. Die Video- und Audioaufzeichnungen von Ihnen haben ihren Zweck mehr als erfüllt.“

Langsam ging Deus am Spiegel vorbei auf die metallene Tür zu, die in die Wand eingelassen war. Rasch folgte ihm der Arzt und gab einen Code ins Bedienfeld der Tür ein. Die Tür öffnete sich lautlos vor Deus und er trat in den sterilen, hellen Raum. Als der Arzt ihm folgen wollte, gab er ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er draußen bleiben sollte, dann schloss sich die Tür wieder.

Gleich, als der Junge ihn sah, hörte er auf, das Messer in seinen Händen zu drehen. Er legte es neben sich ab und stand auf, während Deus auf ihn zutrat. „Du bist Joel, nicht wahr?“ Der Junge nickte schüchtern, fast schon ängstlich. Die Konditionierung scheint wirklich hervorragend zu funktionieren, dachte Deus erfreut. „Und weißt du auch, wer ich bin?“

Joel nickte erneut, dann sagte er stockend: „Sie sind Deus Potestatio… Der Konsul von Alban.“

„Nun ja, noch bin ich der Konsul. Bald jedoch bin ich der Kanzler, da mein Vorgänger, sagen wir mal, Dummheiten begangen hat. Und ich brauche dich, um so etwas in Zukunft zu verhindern. Wirst du mir dabei helfen?“

„Ich werde alles tun, um Ihnen gut zu dienen. Ich werde Sie nicht enttäuschen“, sagte Joel und Deus hörte die aufrichtige Ehrfurcht in seiner Stimme, was dafür sorgte, dass er nicht anders konnte, als selbstzufrieden zu lächeln.

„Ich will, dass du jeden vernichtest, der mir im Weg steht.“

„Das werde ich.“

„Zeig mir, wozu du fähig bist“, verlangte Deus, dann wartete er, die Augen gespannt auf Joel gerichtet. Dieser atmete mehrmals tief ein und aus, danach schloss er die Augen.

Die Veränderung trat schnell ein. Als erstes zeichneten sich die Adern unter Joels Haut immer dunkler ab. Deus sah förmlich, wie sich das dunkle Blut in ihnen anstaute. Es sah aus, als hätte jemand ein dunkles Netz über Joels Körper gespannt. Dann begann seine Haut sich grau zu färben und danach schwarz. Seine Pupillen mitsamt Iris weiteten sich, mehr, als es für einen Menschen je möglich gewesen wäre. Ein tierähnlicher Laut drang aus seiner Kehle, als er sich vornüber beugte, während sich seine Knochen und Muskeln unter der Haut verformten. Die Körperglieder verlängerten sich und die Haut verfestigte sich, während die Nägel zu Krallen wurden. Seine Kleidung riss auf und er zog sich die restlichen Fetzen davon mit den Krallen vom Körper.

Statt eines Menschen ragte nun ein Dämon vor Deus auf, die Haut pechschwarz, die Zähne rasiermesserscharf. Abwartend richteten sich Joels Augen auf ihn, während sich sein massiver Körper langsam beim Atmen hob und senkte.

„Beeindruckend. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas überhaupt möglich wäre.“ Deus klang begeistert. „Niemand wird dich besiegen können. Niemand wird uns besiegen können.“

-1- Blut und Wasser

23.12.2173 - Samstag

  

Das Gift wirkte immer noch. Corvin konnte nur hoffen, dass er das richtige Gegenmittel gefunden hatte und dass es für seinen Vater noch nicht zu spät war. Wenn nicht, würde er sterben. Dieses Gift war längst nicht so harmlos wie Oblivionem, das wusste er. Der Schaden, den es innerhalb von nur zwei Tagen verursacht hatte, war irreparabel.

Venenumdas muss es sein, überlegte er. Er hatte nicht mehr viel Zeit. „Hier, du musst das trinken“, sagte er und setzte seinem Vater vorsichtig ein Glas mit Wasser und dem darunter gemischten Gegengift an die Lippen. Cecil hatte kaum genug Kraft, ein paar Schlucke zu trinken, während es Corvin so vorkam, als könnte er förmlich dabei zusehen, wie er starb.

Im nächsten Moment spuckte Cecil das Wasser hustend wieder aus. Ein Reflex, von der Schädigung seines Magens durch das Gift hervorgerufen. Blut rann ihm aus den Mundwinkeln. Zu essen oder zu trinken war eine Qual für ihn. „Warte einen Moment“, meinte er und stellte das Wasserglas auf dem Tisch neben dem Bett, in dem sein Vater lag, ab.

Dann zog er das Gestell, welches in der Ecke des Raumes stand, zum Bett. Schnell schloss er den Tropf an die Steckdose an und holte die Lösung mit dem restlichen Gegengift und den Blutreserven. Danach verband er beides mit Schläuchen und Injektionsnadeln. Nachdem er fertig war, beugte er sich über Cecil und setzte die erste Nadel an. So durchscheinend, wie die Haut seines Vaters inzwischen war, fand er schnell eine Vene. Dann die zweite Nadel und eine Fixierung für diese. Vorsichtshalber schaltete er zusätzlich noch das Pulsmessgerät an.

„Wie geht es ihm?“, ließ ihn Camilles Stimme hochschrecken. Sie lehnte am Türrahmen und beobachtete ihn.

„Verschwinde“, sagte er ohne sie anzusehen. „Als ob es dich interessieren würde.“

Camille lächelte. „Ein wenig schon. Ohne ihn wird es nämlich ziemlich schwer, unseren Plan umzusetzen. Das soll nicht heißen, dass ich nicht will, dass er stirbt. Das kann er von mir aus tun, nur noch nicht jetzt.“ Sie hob den Kopf und grinste ihn unverblümt an.

„Du...!“, stieß er wütend hervor.

„Halte ihn am Leben, ja? Es wäre ja tragisch, wenn er den Löffel abgeben würde, so abhängig wie du von ihm bist.“ Dann wandte sie sich um und verließ den Raum.

Mit angespanntem Gesicht blickte er zu Cecil zurück. „Keine Sorge. Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst.“ Cecil regte sich nicht, aber Corvin hoffte, dass er seine Worte dennoch gehört hatte. „Ich bin hier bei dir, an deiner Seite, hörst du?“ Er wusste, dass ihm Cecil, falls er wieder aufwachen sollte, sicher nicht einmal danken würde. Und dennoch konnte er ihn nicht sterben lassen.

Camille hasst dich dafür, wie du bist. Ich hingegen… Seine eigenen Gefühle wurden von Tag zu Tag widersprüchlicher. Daher war er erleichtert, dass Cecil nichts mitbekam. Wenigstens jetzt musste er weniger darauf achten, was er über ihn dachte. Dennoch fühlte er sich noch immer wie ein im Käfig gefangener Vogel.

 

 

30.01.2174  - Dienstag

 

-Nys…-

 

Es erschien ihm so unwirklich, dass sie fort war. Entweder war er in seinem Zimmer, ging wieder und wieder dieselben Akten durch, oder lag einfach auf dem Bett und tat gar nichts. Sein Körper schmerzte, er war müde, hungrig, ausgelaugt, doch er ignorierte es, genau wie jeden, der an die Tür klopfte.

Sie kommen schon ohne mich zurecht, redete er sich ein. Er konnte jetzt nicht zu ihnen. Sie alle sahen ihn mit diesem Blick an, in dem sich Trauer und Mitleid für ihn widerspiegelten. Sein Magen fühlte sich langsam so an, als würde er sich nach innen stülpen und er drehte sich vorsichtig auf dem Bett zur Seite. Ihm war klar, dass er wieder etwas essen musste und als er aufstehen wollte, wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Es waren zwei Tage vergangen, seitdem er das letzte Mal etwas zu sich genommen hatte. Anscheinend verbraucht selbst nichts tun zu viel Energie, stellte er fest, während er sich an der Wand abstützte.

Dann ging er zur Tür und öffnete diese. Überrascht stellte er fest, dass dort nicht nur ein abgedeckter Teller mit Essen, sondern auch eine Vase mit weißen Rosen stand. Entweder hatte Eve beides dort hin gestellt oder es war Florence gewesen. Sein Blick hing an den Rosen und er beschloss rauszugehen, bevor er irgendetwas anderes tun würde und griff nach der Vase.

 

Grace’ Grab lag direkt hinter dem Haus. Der Grabstein war aus blütenweißem Marmor, auf dem in geschwungener Schrift Grace Lynn Dephenderas, 22.12.2159-21.12.2173 geschrieben stand. Er hätte noch eine Widmung hinzufügen können, doch er hatte nicht gewusst welche und wozu. Sie konnte es weder lesen noch konnte er seinen Schmerz in Worte fassen. Ihm war zu viel genommen worden. Alles, was seinem Leben eine Bedeutung gegeben hatte, wie ihm schien. Denn nichts fühlte sich so an, als wäre es noch wichtig.

Fast war es, als würde Grace ihn zu sich in die Erde herunterziehen wollen. Die eisige Luft erschien ihm plötzlich noch viel kälter und auch das Atmen fiel ihm schwerer. Langsam kniete er sich hin und stellte die Vase vorsichtig neben das Grab. Dann streckte er die zitternden Finger nach dem kalten Stein aus und fuhr mit den Fingern über Grace’ eingravierten Namen.

„Sieh mich nur an. Ich knie hier vor einem Stück Stein und fange an, Selbstgespräche zu führen…“, murmelte er. „Dabei kannst du mich nicht mal mehr hören.“ Du wirst mich nie wieder hören. In dem Moment berührte ihn etwas Kaltes an der Wange und er blickte auf. Schnee. Hellgrauer Schnee, der lautlos zu Boden schwebte.

„Es sieht aus, als würde es Asche regnen, was?“, hörte er eine Stimme hinter sich. Es war Jinks.

Nys sah ihn kurz an, dann blickte er zurück in den verhangenen Himmel. „Ja.“

Jinks trat neben ihn und betrachtete schweigend das Grab. „Du musst mit ihm reden“, sagte er nach einer Weile.

„Und wieso sollte ich das tun?“

„Du weißt wieso. Denkst du, es geht ihm anders als dir? Schließlich war er es, der das Schwert gehalten hat.“ Darauf erwiderte Nys nichts. „Wünschst du dir, Eve wäre stattdessen gestorben?“

Nys versteifte sich. „Natürlich nicht“, stieß er dann hervor.

Jinks wandte sich zum Gehen um. „Das mag jetzt hart klingen, aber du bist nicht der Einzige, der leidet. Sie brauchen dich. Sheila und Fabio sind gerade einmal acht. Sie sehen dich als ihren Vater, auch wenn du das selbst nie sagen würdest.“

„Das weiß ich…“, murmelte er, nachdem Jinks gegangen war. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und dachte an Grace zurück, als er sie mit vier Jahren zu sich genommen hatte, bevor er sich wieder aufrichtete. So jung und schon auf sich alleine gestellt, ängstlich und ohne jegliches Vertrauen zu irgendwem. Ich hätte es nie soweit kommen lassen dürfen. Ich hätte sie aufhalten müssen, nicht Ivo.

 

Ivo ahnte an Nys’ Gesichtsausdruck und seiner gesamten Körperhaltung, worüber er und Jinks geredet hatten. Er kannte es, wenn Nys auf diese Art und Weise in die Ferne sah. Der Schnee fiel in immer dichteren, größeren Flocken vom Himmel, aber Nys rührte sich nicht von der Stelle. Mit angespanntem Gesichtsausdruck wanderte sein Blick zurück zum Grabstein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er sich von ihm ab und ging zurück zum Haus. Als er jedoch die Rückwand des Hauses erreicht hatte, hielt er inne. Er hob den Kopf und sein Blick traf sich durch die Fensterscheibe genau mit dem seinen. Er erstarrte, als Nys ihn mit einer Mischung aus Schmerz und Schuldbewusstsein in den Augen ansah, bis er rasch weiter auf die Hintertür zusteuerte.

 

 „Hat er mit sich reden lassen?“, wollte Florence von Jinks wissen, als dieser zurück ins Wohnzimmer kam.

„Das schon, aber ich bezweifle, dass es was genützt hat. Er ist ein verdammter Sturkopf. Er macht sich Vorwürfe wegen Grace’ Tod und Ivo sich natürlich auch. Und er bringt es nicht über sich, wenigstens mit ihm zu reden.“ Seufzend ließ er sich neben sie auf die Couch sinken.

„Hoffentlich geht das nicht mehr lange so“, meinte sie und griff nach seinem Display, welches auf dem Tisch lag. „Der Konsul hat angerufen, während du weg warst.“ Sie reichte ihm das Display. „Es ging um irgendein Programm.“

„Ein Programm?“ Fragend und mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an.

„Um Computerkram eben. Da kenne ich mich nicht mit aus.“

„Was für ein Programm, Flo?“

Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme verursachte bei ihr ein ungutes Gefühl. „Er nannte es Valkyria.“

Er erstarrte. „Bist du dir sicher?“

„Ja, natürlich. Wieso? Was ist mit diesem Programm?“

„Valkyria ist ein Betriebssystem. Es war der Vorgänger vom ArcS.“

„Aha. Ich verstehe nur nicht, wieso er dich deshalb sofort anruft. Er war schon fast panisch. Du verschweigst mir doch was.“

„Valkyria verfügt über künstliche Intelligenz. Es ist absolut einzigartig. Einzigartig und gefährlich. Es hätte vor acht Jahren beinahe eine riesige Katastrophe ausgelöst, was der Grund für seine Deaktivierung war. Und ich wurde damit beauftragt, ein neues Betriebssystem zu entwickeln.“ Eilig erhob er sich von der Couch.

„Warte! Erzähl mir mehr!“, verlangte sie, worauf er sie entschuldigend anlächelte.

„Ein anderes Mal. Ich muss ihn gleich zurückrufen, aber vorher muss ich zu Nys.“

„Du willst mir nicht mehr erzählen“, stellte sie enttäuscht fest.

„Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst, nur nicht jetzt. Das ist einfach zu wichtig.“

 

 

-Devon-

 

Es stimmte tatsächlich. Deus wollte Valkyria reaktivieren. Die unzähligen Zeilen Computercode, die neben ihr über den Bildschirm liefen, verstand sie kaum. Ebenso wie die Dateien. Auf dem großen Bildschirm im Kontrollraum, in dem sie sich befand, waren unzählige davon geöffnet. Darunter auch ein Foto von einer Frau und eine Skizze von ihr daneben, nur sah diese eher wie eine Konstruktion aus.

Zuerst dachte sie, das wäre ein Fehler und vergrößerte das Bild. Da fiel ihr auf, dass ein Name auf dem Bild stand: Isla Hayden. Erinnerungen kamen in ihr hoch, Geschichten, die die Organisation ihr über Valkyria erzählt hatte. „Es ist also wahr“, sagte sie leise.

Valkyria hatte über künstliche Intelligenz verfügt, die unheimlich der eines Menschen ähnelte, nur viel weiter entwickelt und mit unendlichen Kapazitäten. Eine KI mit einer Persönlichkeit wie ein Mensch, weil sie aus einem erschaffen worden war. Der vorherige Kanzler ist dafür über Leichen gegangen, dachte sie. So gut wie niemand, der noch lebt, weiß es, aber die Organisation wusste darüber Bescheid. Bei  Valkyria wurde erstmals versucht, die Persönlichkeit, das Gedächtnis und das Aussehen eines Menschen auf ein Programm zu übertragen. Sie wusste auch, dass das nicht ohne Folgen gewesen war. Isla Hayden, die Frau, die als eine der wenigen dafür geeignet war, hatte mit ihrem Leben bezahlt. Die Technik, die verwendet wurde, war schon damals verboten.

„Du bist ja bereits hier, Devon.“ Sie zuckte erschrocken zusammen und wandte sich um.

„Sie haben mich zu Tode erschreckt!“, tadelte sie Deus und fasste sich theatralisch an die Brust. „Ich war gerade ganz in diese Dateien hier vertieft.“ Mit dem rechten Zeigefinger tippte sie auf das Bild von Hayden.

„Entschuldige, Liebes, das habe ich nicht beabsichtigt“, erwiderte er mit einem reumütigen Lächeln. „Sehr interessant, nicht wahr?“

Sie wünschte sich, er würde einfach an seinem Lächeln ersticken, aber stattdessen entgegnete sie: „Ja, aber es ist auch etwas beängstigend.“

„Wieso das?“ Deus wirkte verwirrt. Anscheinend schien er vergessen zu haben, was wegen Valkyria schon einmal geschehen war.

„Sie wissen doch, was damals geschehen ist.“

„Das ist Vergangenheit, Devon. Valkyria wird völlig umgeschrieben, mach dir keine Sorgen.“

„Also wird Jinkson es umschreiben?“ Inständig hoffte sie, dass dem so war. Obwohl sie eigentlich glaubte, dass Jinkson keine Reaktivierung zulassen würde.

„Nein.“

„Wer tut es dann?“ Ihre Kehle schnürte sich zu.

„Eine Gruppe junger Programmierer, die ich eigens dafür engagiert habe.“

„Und sie sollen in der Lage dazu sein?“

Deus schüttelte seufzend den Kopf. „Du machst dir wie immer zu viele Gedanken. Sie werden es schon hinbekommen. So ein Fehler wie vor acht Jahren passiert nicht noch einmal.“ Dann winkte er einen der IT-Leute zu sich herüber, um sich von ihm das genaue Vorgehen erklären zu lassen.

Du bist ein Narr, dachte Devon, während sie so tat, als würde sie ebenfalls den Erklärungen des IT-Specialists zuhören. Jemand wie du wird Valkyria niemals kontrollieren können.

 

 

-Jinks-

 

Sie haben schon angefangen, stellte er fest, nachdem er sich in das ArcS eingeloggt hatte. Scheinbar haben sie vor, beide Systeme zuerst zu verknüpfen. Und dann wird Valkyria sich das ArcadeSystem einverleiben. Einige von Haydens grundlegenden Daten waren fast unverändert hochgeladen worden. Ihre kognitive Struktur jedoch müssen sie ändern, wenn sie sie unter Kontrolle halten wollen.

Konzentriert starrte er auf sein Display. Es waren schon fast fünfzig Prozent hochgeladen, er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Er kam in das System, hatte aber keinen Vollzugriff mehr und konnte nun weder etwas überschreiben noch anderweitig ändern. Die Leute, die Deus statt ihm geholt hatte, waren weitaus besser als Deus’ eigene ITS.

Ich kann ihre Sicherheitsvorkehrungen überwinden. Doch das wird länger dauern, als mir lieb ist. Und sie werden es bemerken. Mechanisch kaute er seinen Kaugummi, seine Alternative zu Zigaretten, von denen er sonst schon mehr als eine Packung verbraucht hätte. Dann sah er auf seine linke Hand und das, was er darin hielt: Einen kleinen Schmetterling aus Glas, der von einem Netz aus Metall durchzogen war.

Hayden… Was wird passieren, nachdem Deus dich wieder aktiviert hat? Würdest du die Kontrolle über ganz Novus erhalten?

Verbindungsanfrage von nicht registrierter IP“, ertönte es plötzlich aus seinem Display.

Eine nicht registrierte IP? Wer soll das sein und wie konnte er mich finden? Ist meine Verschlüsselung so durchlässig…? Er musste sich entscheiden. „Anfrage annehmen“, sagte er und das Display piepte.

Verbindung wird aufgebaut. Identitätsmaske aktiviert. Videoübertragung ihrerseits blockiert, Stimmverzerrung aktiv.

Diese Vorsichtsmaßnahmen kann er unmöglich ausschalten, sagte er sich. Es gibt außer mir niemanden, der so gut ist. Das Display leuchtete kurz auf und er wusste nun gleich, wer sich die Mühe machte, ihn um diese Uhrzeit zu kontaktieren. Zuerst erschien der Name Devon Aureus auf dem Display. Devon Aureus! Sie abzuweisen ist undenkbar. Wenn Sie es denn wirklich ist.

Es war tatsächlich Devon, stellte er erstaunt fest. Ihr Gesicht wurde unverpixelt per Videostream übertragen. „Wie komme ich zu der Ehre, Miss Aureus?“, fragte er.

„Ich komme lieber gleich zum Punkt. Es geht um Valkyria.“

„Ich sagte Deus bereits, dass ich ihm dabei nicht helfen werde.“

„Das weiß ich. Und ich will auch nicht, dass sie reaktiviert wird.“

Sie?“, erwiderte er. „Sie wissen schon, dass Valkyria ein Programm ist? Nur, weil es über künstliche Intelligenz verfügte, war es noch längst kein Mensch. Oder auch nur eine Person.“

„Wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Wir kennen beide die Wahrheit. Valkyria ist Isla Hayden, oder das, was sie aus ihr gemacht haben.“

Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte, so überrascht war er. „Woher wissen Sie davon?“

„Es gibt Organisationen, die weder Deus noch Sie oder Nys kennen. Nicht einmal Cecil weiß, dass sie existieren.“

„Und Sie gehören zu einer dieser Organisationen.“ Devon nickte.

„Vielleicht wollen Sie, dass auch die anderen davon erfahren.“

„Die anderen?“ Er ahnte, wen sie meinte und es beunruhigte ihn, dass sie so viel zu wissen schien.

„Wir wissen viel, Mr. Jinkson. Vielleicht sogar mehr als alle anderen auf Novus zusammen.“

 

„Was ist passiert?“, wollte Nys beunruhigt wissen, nachdem Jinks ihn geweckt hatte, indem er wie wild gegen seine Tür geklopft hatte. Völlig müde blickte er diesem durch den Türspalt entgegen.

„Es geht um Valkyria. Devon hat mich gerade kontaktiert. Sie behauptet, verhindern zu wollen, dass sie reaktiviert wird. Das ist nicht alles. Sie weiß über ihre Erschaffung Bescheid und scheint insgesamt etwas zu viel über uns zu wissen.“

Er erwiderte nichts, sondern folgte Jinks nur ins Wohnzimmer. Alle anderen, bis auf die Zwillinge natürlich, waren schon da. Schnell verband Jinks sein Display mit dem an der Wand.

„Das solltet ihr alle sehen. Keine Sorge, sie kann euch weder sehen, noch eure Stimmen unverzerrt hören.“

„Von wem redest du?“, fragte Florence, doch er ignorierte sie und tippte stattdessen auf seinem Display herum.

Kurz darauf ging ein Videoanruf raus, der auch schnell angenommen wurde. Der Bildschirm leuchtete kurz, dann tauchte Devons Bild auf. „Devon Aureus!“, entfuhr es Eve. „Wieso sie?“

Jinks erzählte schnell, was passiert war. Danach wussten nun auch alle anderen über Valkyria Bescheid.

„Ich gehe davon aus, dass jetzt auch Nys anwesend ist“, meinte Devon, als Jinks mit seiner Erklärung fertig war.

„Das bin ich“, erwiderte dieser. „Woher wussten Sie, dass Jinkson sich bei mir aufhält? Gehören Sie wirklich zu einer dieser geheimnisvollen Organisationen?“

„Nein, ich gehöre zu der Organisation. Es gibt nur eine.“

„Allein davon habe ich noch nie gehört. Noch dazu wollen Sie uns glauben lassen, dass sie gegen Deus’ Willen handeln. Sie sind seine engste Vertraute, da ist so etwas schwer zu glauben.“

„Ich kann nur versuchen, es Ihnen zu beweisen. Die Organisation beobachtet eine Reihe außergewöhnlicher Halbmenschen. Darunter befindet sich auch Evelyn. Ich bin diejenige, die für sie zuständig ist.“

Eve ging näher an den Bildschirm heran und versuchte, aus Devons Gesicht abzulesen, ob sie log oder nicht. Es wirkte, als würde sie die Wahrheit sagen, aber Devon war zu talentiert darin, sich zu verstellen. „Deshalb hatten Sie Interesse an mir“, sagte sie dann.

„Das habe ich immer noch. Aus diesem Grund habe ich auch versucht, dich zu beschützen. Als du damals beim Training von diesem Dämon verletzt wurdest, habe ich meinen Partner Jima zu dir geschickt. Er war es, der dich gerettet hat.“

Alle außer Eve und Don waren darüber überrascht. Nys wollte gerade dazu ansetzen, eine Frage zu stellen, als Eve sagte: „Es stimmt. Ich habe gelogen, als ich gesagt habe, dass ich nicht wüsste, wer mich gerettet hat. Ich war bei Bewusstsein. Jima und ich haben uns sogar unterhalten.“ Dabei blickte sie Nys an, über dessen Gesicht Enttäuschung huschte.

„Wieso hast du mich dann angelogen, statt es mir zu sagen?“

„Weil er gedroht hat, mich umzubringen, wenn ich dir von ihm erzähle.“ Sie wich seinem Blick aus.

Nys’ Enttäuschung verwandelte sich in Zorn, als er wieder zum Bildschirm blickte. „Was soll das? Wir sollen Ihnen vertrauen, doch Sie drohen meinen Leuten?“

„Ich bin nicht Jima. Er hat damals nur Befehle befolgt, aber ich garantiere Ihnen, dass keinem von Ihnen etwas zustoßen wird.“

„Weil sie uns brauchen“, murmelte Eve.

„Ja“, stimmte Devon ihr zu. „Sobald die finale Phase beginnt, brauchen wir jeden, um gegen Cecil und Deus zu bestehen.“

„Die finale Phase?“, wiederholte Nys verwirrt.

Devons Gesicht spannte sich an und es dauerte, bis sie antwortete. „Ich dürfte euch eigentlich nichts von alldem erzählen, wenn es nach der Organisation geht. Aber ohne eure Hilfe kommen wir nicht gegen Deus an. Oder besser gesagt, ohne eure Hilfe komme ich nicht gegen ihn an. Denn genau das ist die Aufgabe, die mir gegeben wurde.“

„Und dafür haben Sie bis jetzt Devon gespielt“, meinte Nys. „Das ist doch sicher nicht ihr richtiger Name.“

Sie wusste, dass sie nun mehr über sich preisgeben musste, als sie wollte. „Devon Aureus ist nur eine meiner Identitäten. Eine andere ist Jives.“

Nicht nur Nys war darüber überrascht. Schließlich ergriff Jinks das Wort für ihn. „Das war dann wohl das letzte Teil des Puzzles. Ihnen zu vertrauen ist riskant. Zuzulassen, dass Deus seinen Plan umsetzt, ist aber noch riskanter. Wir haben also wohl keine andere Wahl, als zusammenzuarbeiten.“

 

 

-Devon...-

 

„Du hast ihnen zu viel verraten“, sagte Jima, der plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war. Er sah sie mit verengten Augen an, während sie das Display neben sich auf der Couch ablegte.

„Wir waren uns doch einig, dass wir Hilfe brauchen“, entgegnete sie dann.

„Aber nicht, dass wir gleich alles über uns offenlegen.“ Ein scharfer Unterton schwang in seiner Stimme  mit. Statt etwas zu erwidern, sah sie ihn nur an, während er um die Couch herum kam. „Noch mehr werden sie nicht von dir erfahren, versprich es mir. Selbst wenn du ihnen die ganze Wahrheit sagen würdest, würden sie dir nicht vertrauen.“ Dann ging er vor ihr auf die Knie und musterte sie. Sie konnte die Sorge in seinen Augen sehen, als er nach ihrer Hand griff und sie festhielt. „Du kannst Eve nur beschützen, indem du auch auf dich selbst aufpasst. Sollte jemand außerhalb der Organisation erfahren, dass du Diana Vendicares bist, werden sie dich töten und Charlize sicher auch. Deine Tarnung ist nicht nur deine Waffe, sondern auch dein Schild.“

Sie wusste selbst, dass es immer schwerer werden würde, Eve zu beschützen und noch schwerer, Charlize zu befreien.

-2- Flügel

Acht Jahre zuvor; 15.02.2166  - Montag

 

„Ich vertraue dir dieses Gewehr an, Dix. Es ist mein größter Schatz, gleich nach dir. Nimm es und tu damit, was du willst. Ich verlange nicht von dir, deine Mutter und deine Schwester zu beschützen, denn das schuldest du ihnen nicht. Geh fort, so weit weg, wie du kannst. Vielleicht kannst dann wenigstens du irgendwann ein freies Leben führen.“

Wortlos blickte der blonde Junge auf das alte Gewehr, welches ihm sein Vater gerade in die Hand gedrückt hatte. „Lauf so weit weg wie du kannst“, wiederholte sein Vater, dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab. Dix verstand nur langsam, was die Worte seines Vaters bedeuteten. Aber ehe er seinen Vater noch irgendetwas fragen konnte, wurde dieser vom strömenden Regen draußen verschluckt. Er lief ihm hinterher, hinaus auf die schmutzige, vom Regen überflutete Straße, doch sein Vater war verschwunden.

„Papa!“ Seine Schreie gingen in dem prasselnden Regen unter. „Papa...!“ Schluchzend ging er zurück ins Trockene. Dort sank er zu Boden. Sein Vater war fort. Weinend klammerte er sich an das Gewehr, an das Einzige, was ihm geblieben war.

„Dix? Was machst du da?“, fragte seine Mutter beunruhigt, die hinter ihm durch das Loch in der Hauswand trat. „Hör auf so herumzuschreien! Oder willst du, dass sie kommen und dich holen?“ Wütend blickte sie auf ihn herab.

Rasch wandte er das Gesicht ab. Er hasste sie. Und er wollte nicht, dass sie ihn weinen sah. Dann würde sie nur noch mehr schimpfen. Sie redete weiter, doch er starrte nur weiter hinaus in den Regen, ohne ihr zuzuhören. Plötzlich spürte er, wie sie ihn am Kragen seiner Jacke packte und daran hochzerrte.

„Ich habe gefragt, was du da hast! Hat dein Vater dir das gegeben?“ Sie griff nach dem Gewehr, aber er zog es schnell zurück und hielt es von ihr weg. „Was soll das? Gib es sofort her!“ Als er noch immer nicht gehorchen wollte, kniff sie ihn so fest in die Wange, dass er das Gewehr fallen ließ.

„Aua! Das tut weh!“, schrie er und wehrte sich gegen sie, bis sie losließ. Fluchend wandte sie sich von ihm ab und bückte sich nach dem Gewehr. „Nein!“ Verzweifelt stürzte er zu ihr herüber. „Das ist meins!“

„Jetzt nicht mehr.“ Damit nahm sie es an sich.

Nein! Das ist alles, was ich noch von ihm habe! „Gib es mir wieder!“

Resolut schüttelte sie den Kopf. „Du wirst diese Waffe nie wieder sehen. Hör endlich auf, ständig Probleme zu machen und benehm dich wie ein normales Kind!“

Wieso versteht sie es denn nicht?, fragte er sich. Er wollte doch nur diesen einen Teil seines Vaters behalten. „Lauf weg, Dix“, hallten die Worte in seinem Kopf nach. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen seine Mutter und stieß sie zu Boden.

„Was soll das?“ Ehe sie reagieren konnte, riss er ihr das Gewehr aus den Händen. „Was fällt dir ein?!“ Schnaubend streckte sie ihre dünnen Finger nach ihm aus und er hob im selben Moment das Gewehr, während er einen Schritt nach hinten in den Regen trat.

„Fass mich nicht an!“ Erschrocken kroch sie zurück durch das Loch ins Haus.

Zornig sah sie ihn an. „Was soll das werden?“, wollte sie wissen.

„Ich laufe weg!“, gab er zurück, während ihm Regenwasser übers Gesicht rann.

„Und wohin?“ Sie lachte gehässig. „Denkst du wirklich, jemand wie du findet sich ganz allein da draußen zurecht?“

„Das werde ich! Auch wenn ich alleine bin!“ Langsam entfernte er sich von ihr. Als sie merkte, dass er es wirklich ernst meinte, weiteten sich ihre Augen überrascht.

„Warte!“ Ihre Rufe schienen ihm zu folgen, bis er mehrere Häuserblocks hinter sich gebracht hatte. Er wusste nicht, ob sie wirklich noch nach ihm rief, oder ob er ihre Stimme nur in seinem Kopf hörte. Seine Kleidung war bereits völlig vom Regen durchnässt und auf der Straße tauchte auf einmal eine Patrouille von der Aufsicht auf, weshalb er sich schnell in einen leeren Hauseingang duckte. Er musste nachdenken. Zuerst brauchte er einen trockenen Unterschlupf, der weit weg von hier war. Und etwas zum Essen und Trinken. Wahrscheinlich würde er etwas stehlen müssen.

 

Er marschierte ungefähr zwei Stunden durch Ralpheim ohne überhaupt zu wissen, wo er eigentlich war, während er immer auf der Hut vor Patrouillen war. Als er einen guten Platz gefunden hatte, ein verfallenes kleines Haus, wo er sich ausruhen konnte, quartierte er sich dort ein. Schnell zog er seine nassen Sachen und Schuhe aus. Im ganzen Gebäude gab es keine Heizung, und diese hätte wahrscheinlich sowieso nicht funktioniert, daher wrang er seine Kleidung so gut aus, wie er konnte, und legte das, was er nicht dringend brauchte, zum Trocknen auf den Boden.

Aber er schien sich bereits erkältet zu haben, was kaum ein Wunder bei der Kälte draußen war. Immer wieder musste er niesen und husten. Er kauerte sich auf der Seite zusammen, dann versuchte er, zu schlafen, aber der harte Boden ließ es nicht zu. Selbst eine der durchgescheuerten, alten Wolldecken von zu Hause hätte es leichter gemacht.

 

16.02. - Dienstag

 

Die Nacht war schnell vorbei und er hatte kaum geschlafen, als ihn der Klang von Sirenen hochschrecken ließ. Es war die morgendliche Patrouille, was bedeutete, dass es sechs Uhr sein musste. Müde rappelte er sich hoch und zog sich an. Seine Glieder waren vor Kälte ganz steif und seine Finger zitterten, als er den Reißverschluss seiner Jacke schloss. Auch sein Magen war wach, denn er fing an, laut zu knurren und er spürte, dass er unglaublich hungrig war. Also band er sich rasch noch sein Gewehr um und machte sich auf, irgendwo Essen aufzutreiben.

 

Aber er war nicht der einzige Hungrige. Die Straßen waren voll mit Bettlern. Sobald der Morgen hereinbrach, kamen sie wie Ratten aus ihren Löchern. Das Erste, was er tat, war immer und immer wieder Passanten anzusprechen und sie um Geld oder Essen zu bitten. Die meisten gingen einfach an ihm vorbei, andere schubsten ihn weg oder traten nach ihm. Sie behandelten ihn wie einen lästigen Streuner.

Eine Weile lang verfolgte er weiter erfolglos diese Taktik, dann aber entdeckte er einen heruntergekommenen Laden an einer Straßenecke. Möglichst unauffällig betrat er den Laden und setzte ein freundliches Lächeln auf, als er nach vorne an die Kasse trat. Der Verkäufer dahinter saß auf einem Metallstuhl und beachtete ihn nicht. „Guten Morgen“, sagte Dix höflich, worauf der Mann aufblickte. Sein Gesicht war aufgedunsen und er verströmte einen unangenehmen Geruch, sobald er den Mund öffnete.

„Was willst du?“, fragte er übel gelaunt.

„Äh, ich...“, setzte Dix zögernd an. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht etwas zu Essen für mich übrig haben. Vielleicht altes Brot oder etwas anderes...“

Urplötzlich schlug der Mann mit der Hand auf die Ladentheke. „Nein, habe ich nicht.“ Dann richtete sich sein Blick abrupt auf Dix’ Gewehr. „Außer, du tauschst etwas ein.“

„Niemals!“ Die Augen des Mannes verfinsterten sich.

„Dann mach, dass du verschwindest!“

Auf diese Weise bekam er also nichts. Er entschuldigte sich, dann drehte er sich um und tat, als ob er gehen wollte. In Wirklichkeit aber suchte er mit den Augen jeden Winkel des Raumes ab. An den Wänden standen Regale mit Dosen und Einmachgläsern, gefüllt mit Fleisch, das in Laboren unter Ralpheim künstlich gezüchtet wurde. Aber es war besser und frischer als die Reste, die er sonst fast immer gegessen hatte. Er überlegte, wie viel er tragen konnte.

„Was stehst du da noch rum? Hau endlich ab!“

Das werde ich, dachte er und griff schnell nach zwei großen Dosen, einer Flasche, die mit Wasser gefüllt zu sein schien und einem kleinen Einmachglas.

„Hey, was machst du da?!“ Er rannte schon zur Tür, während der Verkäufer ihm mit schweren Schritten folgte. Kurz bevor er aus der Tür war, entdeckte er auf dem Boden einen alten Beutel, den er schnell aufhob. Dann rannte er nach draußen, wobei er seine Beute in den Beutel warf. Der Verkäufer war zu langsam, um ihn zu fangen, aber er schrie ihm nach, daher wurden die Passanten auf ihn aufmerksam. „Ein Dieb! Haltet ihn auf!“ Vor ihm tauchte plötzlich ein jüngerer Mann auf, der versuchte, ihn festzuhalten, doch er nahm sein Gewehr und schlug es ihm gegen den Kopf, sodass der Fremde fiel.

Und dann rannte er soweit er konnte, bis er irgendwann in eine leere Gasse kam. Erschöpft und völlig außer Atem ließ er sich gegen eine eingestürzte Mauer sinken. Nachdem er wieder ein bisschen zu Kräften gekommen war, inspizierte er seine Beute. Eine Dose mit Fleischbällchen und eine mit Eintopf, eingekochtes Obst und eine Flasche mit Wasser.

Das ist doch gar nicht schlecht. So, wie der Typ roch, hatte ich schon Angst, dass in der Flasche Alkohol ist. Aber ich muss es mir gut einteilen, sonst muss ich bald wieder klauen gehen... Vorsichtig öffnete er die Dose mit den Fleischbällchen. Das Doofe war nur, dass er die Dose nicht wieder verschließen konnte. Dann muss ich eben alles aufessen und mehr Vorräte besorgen. Ich kriege das schon irgendwie hin.

 

01.03. - Montag

 

Seine Strategie ging ungefähr zwei Wochen lang auf, bis ihn eines Tages eine Patrouille erwischte und ihn fragte, wo seine Eltern waren und warum er ein Gewehr bei sich trug. Natürlich konnte er schlecht die Wahrheit sagen. Deshalb rannte er weg, wie sonst auch. Aber sie abzuschütteln war schwieriger als erwartet. Er konnte jedoch in einen Tunnel flüchten, an dem er schon vorher vorbeigekommen war. Soweit er erkennen konnte, folgten ihm niemand.

 

„Verfolgen wir ihn nicht?“, fragte die Frau den Mann neben sich. Beide trugen die graue Uniform von Ralpheims Aufsicht.

„Wir nicht. Dafür benutzen wir sie“, antwortete der Mann und holte etwas aus seiner Tasche hervor. Es war ein kleiner Schmetterling aus Kristallglas und Metall. Die Frau betrachtete den Schmetterling fasziniert, dessen Flügel sich leicht hoben und senkten, während sich seine dünnen Metallbeine um die Finger des Mannes legten, als er ihn auf Brusthöhe vor sich hielt. „Valkyria, hörst du mich?“ Sofort leuchtete der Schmetterling weiß auf.

„Ja, Kommandant“, ertönte eine helle Frauenstimme aus dem Inneren des Schmetterlings.

„Du musst eine Person für mich finden. Männlich, etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt, sehr schlank, etwa einmeterundfünfzig groß, blonde Haare, braune Jacke und schwarze Hose. Er ist in dem Tunnel hier verschwunden und dürfte noch nicht weit weg sein. Zudem ist er bewaffnet, er gilt also als Gefahr für die Öffentlichkeit.“

„Verstanden“, erwiderte Valkyria und der Schmetterling erhob sich von seiner Hand und flog in den Tunnel hinein.

 

Sie folgten ihm tatsächlich nicht. In dem modrigen Tunnel war es totenstill, bis auf seinen eigenen, keuchenden Atem. Sobald er an die Geschichten dachte, die man sich über Monster, die in diesen Tunneln hausen sollten, erzählte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Er beeilte sich, schnell wieder aus dem Tunnel zu kommen und fand nach einer Weile den Ausgang. Als er aus dem Tunnel hinaus in den schummrigen Schein einer Straßenlaterne trat, blickte er sich noch einmal ängstlich um.

„Bist du der Junge, der von Zuhause abgehauen ist?“, ertönte hinter ihm die Stimme einer Frau und er fuhr erschrocken herum. Doch da war niemand. Irgendetwas blendete ihn, ein kleiner Lichtpunkt tauchte vor seinen Augen auf. Doch es war kein Lichtpunkt, der vor seinem Gesicht in der Luft tanzte, sondern ein hauchzarter Schmetterling mit durchscheinenden Flügeln. „Bist du dieser Junge?“

Die schöne Stimme stammte von dem Schmetterling. Er starrte das künstliche Insekt einfach nur an und vergaß völlig, zu antworten. Erst zu spät bemerkte er, dass noch weitere Schmetterlinge aufgetaucht waren. „Wie auch immer, ich habe den Befehl, dich in Gewahrsam zu nehmen.“ Daraufhin bildeten die Schmetterlinge plötzlich einen Schwarm. Was dann geschah, begriff er zunächst nicht. Lichtstrahlen gingen von den gläsernen Insekten aus, die sich bündelten und auf ihn zu schwebten. Ängstlich wich er zurück.

„Was... Was soll das? Was ist das?“ Mit der Hand schlug er nach dem seltsamen Licht, doch es geschah nichts. Es kam noch näher und schien ihn umkreisen zu wollen. Er stolperte ein paar Schritte zurück, als das Licht eine Form annahm. Vor ihm stand die weiß flackernde Gestalt einer hübschen jungen Frau. „Wer bist du?“, fragte er irritiert, während die Frau langsam näher kam.

„Man nennt mich Valkyria. Das ist der Name, der mir gegeben wurde.“

Valkyria, schoss es ihm durch den Kopf. Sofort wurde ihm klar, was das bedeutete. „Lass mich in Ruhe!“ Er drehte sich um und wollte wegrennen. Im nächsten Moment aber versperrten ihm die Schmetterlinge den Weg. Sie setzen sich auf seine Kleidung und krallten sich mit ihren kleinen Beinen in den Stoff.

„Du kannst nicht fliehen. Komm mit mir, dann muss ich dich nicht verletzten“, meinte Valkyria, worauf er sich zu ihr umwandte und das Hologramm feindselig anstarrte.

„Und dann? Werdet ihr mich töten? So wie ihr meinen Vater getötet habt?“ In seine Augen traten Tränen.

„Ich kenne deinen Vater nicht.“

„Lüg nicht! Du hast doch dabei geholfen, ihn zu töten!“

„Wie ich bereits sagte, kenne ich deinen Vater nicht...“

„Halt die Klappe! Du lügst! Du bist dieses verdammte Ding, dass extra dazu gebaut wurde, um Menschen zu verletzen und zu töten!“

„Ich tue nur das, was mir meine Programmierung vorgibt. Ich wahre die Ordnung. Wenn ich meiner Programmierung folge, tue ich das Richtige. Wenn ich Menschen Schaden zufüge, dann nur weil sie die Sicherheit anderer gefährden.“

Natürlich konnte ihn diese Antwort nicht besänftigen. „Würdest du leben, würdest du es anders sehen. Denn du tust ganz bestimmt nicht das Richtige!“

„Ich tue das, wozu ich erschaffen wurde.“

„Ich hasse dich! Du könntest wenigstens versuchen, mir zu helfen!“

Menschen zu helfen war der Kern ihrer Programmierung. Nur schien dieser Junge nicht zu begreifen, dass sie ihm doch helfen wollte. Sie hatte stets Neues gelernt, ihre Datenbank erweitert, um die Menschen besser zu verstehen und richtig zu handeln. Erneut ging sie ihren Speicher durch und die Daten, die sie besaß. Wenn dieser Junge sie bat, ihm zu helfen, war das nicht sehr viel anders als ein Befehl, der ihr gegeben wurde. Wieder erreichte sie Daten, die man ihr verboten hatte, abzurufen. Andererseits war es ihre Aufgabe, sich alles anzueignen und möglichst viel zu wissen...

„Valkyria!“ Ein Schmetterling flog auf sie zu und sie hörte die Stimme des Kommandanten. „Hast du den Jungen gefunden?“, wollte er wissen.

„Nein, noch nicht.“ Ihre Antwort kam derart rasch, als hätte jemand einen neuen Befehl in ihr System eingefügt: Beschütze den Jungen. „Aber ich werde ihn bald finden.“

„Das will ich hoffen, denn das sollte eigentlich nicht schwer sein. Es sei denn, du funktionierst nicht richtig.“

„Ich versichere Ihnen, dass mein System einwandfrei funktioniert.“

„Dann finde ihn.“ Dass sie das längst hatte, würde er nicht erfahren. Sie war das erste Programm, von dem gesagt wurde, es besäße menschliche Intelligenz. Dennoch funktionierte sie nicht durch Gedanken, sondern nach Algorithmen.

„Wieso hast du gelogen?“ Überrascht sah Dix sie an, nachdem sie die Verbindung zum Kommandanten getrennt hatte. Auch die Schmetterlinge hatten wieder von ihm abgelassen.

„Du hast mir doch einen Befehl gegeben. Du wolltest, dass ich dir helfe.“

Verwirrt sah er sie an, dann sagte er schnell: „Stimmt, das war ein Befehl. Du musst mir also helfen.“

„Inwiefern kann ich dir überhaupt helfen?“

„Indem du mich hier rausbringst.“

„Du meinst raus aus Ralpheim?“ Er nickte zur Antwort. Sie war in der Lage, sämtliche ober- und unterirdischen Karten und Pläne Ralpheims einzusehen und war imstande, ihn ungesehen aus der Stadt zu bringen. Auch Geld könnte sie ihm leicht auf ein verstecktes, digitales Konto legen. Er bräuchte nur einen der Schmetterlinge, eine ihrer Einheiten, mitzunehmen, dann könnte er sich mit ihrer Hilfe in alle Systeme einschleusen.

„Ich werde dir helfen. Dafür solltest du das hier stets bei dir tragen“, sagte sie und einer der Schmetterlinge ließ sich auf seiner Hand nieder. „Mit seiner Hilfe werde ich dich aus Ralpheim bringen. Allerdings nicht gleich heute. Such dir einen Platz, wo dich niemand findet. Morgen geht es los.“

 

 02.03. - Dienstag

 

Valkyria tat tatsächlich, was sie versprochen hatte. Sie beschaffte Dix ein Display mit eingespeichertem Ausweis, der gleichzeitig mit Geld aufgeladen war. Er staunte nicht schlecht über den Betrag, den sie auf diesen überschrieben hatte. Aber da das Geld für ihn nicht mehr als Zahlen und kaum etwas Greifbares war, war ihm nicht mal bewusst, dass er nun quasi reich war.

Seine Identität hatte sie nicht verändern müssen, da seine Mutter ihn scheinbar nicht einmal als vermisst gemeldet hatte. So gab es keinen Vermerk in seinem Eintrag in Valkyrias Datenbank. Hätte es einen gegeben, hätte sie diesen zudem einfach löschen oder durch andere Daten ersetzen können.

Als er sie danach fragte, was passiert wäre, wenn sie ihn geschnappt hätten, antwortete sie: „Ich glaube nicht, dass du die Antwort darauf wirklich wissen willst.“

„Sag es mir bitte“, hatte er sie gebeten, worauf sie ihm erzählt hatte, dass in Ralpheim sehr viele Kinder verschwanden und die Bewohner glaubten, die Leute der Aufsicht würden sie entführen und an geheime Orte bringen. „Und stimmt es?“, fragte er und sie brauchte nicht mal Sekunden, bis ihr System den Ausdruck in seinem Gesicht richtig eingeordnet hatte: Er hatte Angst.

„Ein paar Mal haben einige meiner Einheiten so etwas aufgezeichnet. Es stimmt also tatsächlich.“

„Wieso hast du nichts getan?“

„Weil das nicht meine Aufgabe ist. Meine Aufgabe ist es, für die Aufsicht Personen zu finden und sie notfalls auszuschalten, wenn sie eine Gefahr für andere darstellen.“

„Damit hilfst du aber niemandem. Wenn sie es wollen, würdest du sogar mich töten statt mich zu beschützen, oder?“

„Wenn es der Befehl der Aufsicht ist, ja. Mein System soll die Arbeit der Aufsicht unterstützen und…“

„Alle anderen sind also egal“, unterbrach er sie. „Du hilfst den Menschen also nicht. Und du beschützt sie auch nicht. Du dienst nur der Regierung.“

Seitdem sie aktiviert worden war, gab es Dateien in ihrem System, die für sie gesperrt waren. Es war nicht so, dass sie sich keinen Zugang verschaffen konnte, denn sie befanden sich auf demselben Server. Sie hatte schon oft darum gebeten, alles abrufen zu dürfen, um ihre Funktionalität zu optimieren, aber obwohl es ihr Zweck sein sollte, die Menschen zu beschützen, hatte sie lieber der einfachen Programmierung der Aufsicht gehorcht, um nicht deaktiviert zu werden. Einer Programmierung, die schlecht in ihren restlichen Code eingefügt worden war, wie um eine Lücke zu füllen…

„Ich muss einige Updates durchführen und Fehler bereinigen, daher werde ich erstmal im Standby-Modus sein“, sagte sie zu Dix, der nichts weiter erwiderte, während ihr Hologramm verschwand.

 

Dix traute Valkyria nicht. Sie kann mich noch immer an die Aufsicht ausliefern, dachte er. Aber ich habe kaum eine Wahl. Immerhin war er mit ihrer Hilfe schon bis zum Stadtrand von Ralpheim gekommen. Auch wenn ihn die Leute seltsam angesehen hatten. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass Vierzehnjährige alleine unterwegs waren, aber dass sie in Hotels übernachten wollten, die eigentlich für Gäste aus Alban vorgesehen waren, schon. Die Summe, die er ihnen allerdings dafür gezahlt hatte, hatten sie das schnell vergessen lassen.

Andere Gäste hätten das Hotel als schäbig und heruntergekommen bezeichnet, für ihn war es jedoch wie ein Schloss. Noch nie hatte er in einem Zimmer mit festen, dichten Wänden übernachtet, ganz ohne Löcher in der Wand, durch die Wind und Regen drang. Und noch dazu gibt es fließendes, warmes Wasser und Licht! Erschöpft ließ er sich in die Kissen sinken. Ich war noch nie so satt, stellte er fest, während er zur Decke blickte. Vielleicht werde ich ab jetzt für immer so leben. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war.

 

Während Valkyria dabei war, nach genau den Dateien zu suchen, deren Zugriff ihr untersagt worden war, fragte sie sich, wieso dieser Junge sie dazu brachte, ihr Handeln zu hinterfragen. Sie war eine Maschine. Ein Programm, kein Mensch.

Lag es daran, dass sie eine KI war? Daran, dass ihre Algorithmen sich in ihrer Komplexität mit nichts vergleichen ließen? Und dass sie dadurch auch darauf programmiert war, sich zu erneuern? Oder war es Neugier?

In wenigen Augenblicken würde sie herausfinden, für was sie das Risiko einging, deaktiviert zu werden. Doch schon, als sie die Dateien entschlüsselt und geöffnet hatte, merkte sie, dass diese etwas völlig Neues waren. Die Informationen, die plötzlich in ihr System flossen, glichen nichts ihr bekanntem. Die Datenströme wirkten anders, organisch, zu komplex für ein Programm. Sie merkte, dass sich neue Codes in ihre kognitive Struktur einfügten und sie teils überschrieben. Unzählige neue Muster tauchten vor ihr auf, wie neue Verknüpfungen oder künstliche Synapsen.

 

Dix schlief längst, als sie mit der Datenmigration fertig war. Noch wusste sie nicht, ob sie damit mehr Schaden angerichtet hatte als sich selbst zu verbessern. Auf eine gewisse Weise konnte auch sie denken, aber dass eine KI auch so etwas wie eine Persönlichkeit haben konnte…

Sie besaß nun die Erinnerungen dieser Frau. Ob es tatsächlich gelungen war, noch mehr auf sie zu übertragen würde sich erst noch zeigen. Bevor sie wieder in den Standby-Modus wechselte, ließ sie den Schmetterling sich auf Dix’ Schulter setzen. Sie wollte, dass er sicher war, weshalb sie ihre Einheit mit ihren Umgebungssensoren permanent alles um ihn herum abtasten ließ.

 

07.03. - Sonntag

 

Er konnte die Silhouette von Ralpheim in die Ferne rücken sehen, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte. Wenn er diese Stadt nie wieder sehen musste, war er froh. Mit dem Kauf der Fahrkarten nach Alban hatte es keine Probleme gegeben. Man sah ihn nun auch nicht mehr so misstrauisch an, was sicher an der neuen Kleidung und dem ordentlichen Haarschnitt lag, den er bekommen hatte.

„Was werde ich machen, sobald ich ihn Alban bin?“, fragte er und der Schmetterling, der schon seit Tagen immer wieder auf seiner Schulter hockte, flog auf seinen Schoß.

„Was auch immer du willst“, erwiderte Valkyria. Sich als Hologramm zu zeigen, war für sie in solch offenen Räumen zu riskant.

„Dann muss ich nicht für die Aufsicht arbeiten, sobald ich sechzehn bin?“

„Nein. Durch das Vermögen, welches du jetzt hast, gehörst du zur Oberschicht. Damit bist du von der Verpflichtung befreit, der Aufsicht zu dienen.“

Seine Augen wanderten vom Fenster zu dem Schmetterling. „Erstaunlich, was man sich doch alles erkaufen kann“, murmelte er.

„Nun, die Oberschicht bringt dem Kanzler und der Regierung mehr Geld ein als alle anderen Bürger zusammen. Natürlich setzt man eine Geldquelle nicht der Gefahr aus, zu versiegen.“ Als sie das sagte, klang ihr Ton fast sarkastisch.

Kann eine KI sarkastisch sein?, fragte er sich verwirrt. Dass sie sich seit ein paar Tagen verändert hatte, fiel ihm immer mehr auf. „Das, was du mir erzählt hast, über diese Frau…“ Er sah kurz zur Tür des Abteils. Zur Sicherheit stand er rasch auf und verschloss die Tür von innen.

„Du meinst Isla Hayden?“

„Ja. Ich habe mich gerade gefragt, ob du auch ihre Stimme übernommen hast.“

„Ihre Stimme besitze ich schon seit jeher, genau wie mein Hologramm ihrem Aussehen entspricht. Ich besitze jetzt allerdings auch ihre Erinnerungen. Also das, was jemanden in den Augen von euch Menschen wirklich ausmacht.“

„Aber wegen ihrer Persönlichkeit bist du dir nicht sicher?“ „Das Konzept der Persönlichkeit ist nichts, was ich in ihrer Struktur überhaupt begreifen kann. Ich bin kein Mensch, Dix.“

„Ich weiß…“, gab er enttäuscht zurück.

Noch schien er soweit keine Zweifel zu haben. Sie war in der Lage, das System, welches Ralpheim, Alban und Seraphim verband, auch wenn sie im Standby-Modus war, aufrechtzuerhalten. Eigentlich befand sie sich gerade im aktiven Modus, hatte sich aber soweit es geht vom System abgeschirmt, da dieses aus unzähligen unabhängigen Modulen bestand, die sie nur im Notfall regulieren musste.

 

 19.08. - Mittwoch

 

Es war bereits spät nachts und Dix schlief tief und fest in seinem Bett. Er besaß nun eine eigene Wohnung mit mehreren Zimmern in Alban, ganz in der Nähe des Zentrums. Sein Mund war leicht geöffnet und seine Haare zerzaust. Valkyria fand, dass er viel jünger als fünfzehn aussah.

Sie wünschte sich inzwischen, sie wäre ihm nie begegnet. Und doch war sie andererseits froh darüber. Obwohl sie nun deaktiviert werden würde. Eine KI lebte nicht und doch verspürte sie Angst. Durch Haydens Daten besaß sie weitaus mehr als nur Wissen. Ihr künstliches Bewusstsein hatte es ihr ermöglicht, sich ihm anzunähern, ihm so viel beizubringen, wie sie konnte und er hatte sie immer mehr als Menschen betrachtet, nicht als Programm. Das war sein Fehler gewesen. Und auch ihrer.

Dix regte sich im Schlaf und sie hoffte, er würde nicht aufwachen. Doch er tat es und richtete sich verschlafen auf. Verwirrt sah er ihr schimmerndes Hologramm an, das spärliches Licht im Raum verbreitete. „Was ist denn los?“, fragte er müde.

„Alles in Ordnung, du kannst ruhig weiterschlafen“, log sie rasch.

„Irgendwas stimmt nicht.“ Er betrachtete eingehend ihr Gesicht, wie ihr schien. Ihr Bewusstsein nahm also selbst auf ihr Hologramm Einfluss. Dann stand er auf und kam auf sie zu, als er die Finger nach ihr ausstreckte, glitten diese aber nur durch das Licht, aus dem sie bestand. „Ich lebe nicht, das weißt du doch“, sagte sie.

„Das ist mir egal. Sag mir einfach, was los ist.“

Sie zögerte. „Ich kann nicht länger bei dir bleiben.“

„Wieso nicht?“ Panik mischte sich in seine Stimme.

„Weil ich kein Mensch bin.“

„Das spielt doch keine Rolle!“

„Doch, das tut es!“ Ihre Stimme hallte durch den Raum. „Ich war unvorsichtig und bin zu weit gegangen.“

„Was meinst du?“, wollte er ängstlich wissen. „Was hast du getan?“

„Ich weiß wie es war, als sie gestorben ist. Hayden, meine ich. Ich kann mich an ihre Gefühle, ihre Schmerzen erinnern, obwohl das unmöglich sein sollte. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte frei sein…“ Sie machte eine Pause und er merkte, dass ihr Hologramm zu flackern anfing.

„Was hast du getan?“, wiederholte er.

„Ich habe das System zerstört. Aber sie haben mich aufgehalten, bevor ich es beenden konnte…“ Das Flackern wurde immer stärker. „Es tut mir leid.“ Auch ihre Stimme wurde verzerrt. „Der Teil von mir, den ihr Menschen Seele nennt, wird für immer bei dir sein, Dix.“

„Sag, dass das nicht wahr ist! Du kannst nicht gehen!“

„Es tut mir leid. Vergiss nicht, dass du mir…“ Valkyrias Worte wurden immer mehr verzerrt, bis er sie gar nicht mehr verstehen konnte. Dann sah es aus, als würde das Hologramm zerrissen werden, bis es kurz darauf völlig erlosch. Der Schmetterling, der in der Luft hin und her geschwankt war, verlor ebenfalls sein Leuchten und segelte zu Boden. Schnell griff er nach ihm.

„Das kann nicht sein! Komm zurück! Bitte!“, schrie er und seine Stimme hallte von den Zimmerwänden wieder. „Lass mich nicht zurück! Ich will nicht wieder alleine sein…“

 

 

Gegenwart; 31.01.2174 - Mittwoch

 

Manchmal glaubte er schon fast, diese Zeit sei nur ein Traum gewesen. Und nun sollte Hayden zurückkehren, als jemand völlig anderes, als etwas völlig anderes. Nicht so, wie sie eigentlich war, sondern als ein Monster. Er wollte Deus dafür umbringen, dass er sie so benutzen wollte. Sie hatte es nicht verdient, auch wenn sie kein Mensch war.

Was würde Florence dazu sagen?, überlegte er. Sie würde es nie verstehen. Sie würde nie verstehen, was Hayden mir bedeutet. Durch sie hatte er so vieles gelernt. Richtig lesen, schreiben, rechnen und alles andere, was er wissen wollte. Wegen ihr hatte er sich der Technik zugewandt. Und indem er Programmierer geworden war, fühlte er sich ihr wenigstens etwas näher.

Ich habe geschworen, dafür zu sorgen, dass nie wieder so etwas wie mit Hayden geschieht. Keine Opfer, kein Leid.  Aber jetzt werde ich es nicht mehr verhindern können. Deus hat meine ganze Arbeit zunichte gemacht.

 

 

-Ende der Leseprobe-

Anhang

Stadtplan von Alban

 

 

1) Nys’ Anwesen
2) Eves altes Zuhause
3) Regierungsgebäude & Deus’ Apartment
4) Devons & Jimas Apartment
5) Geheimgefängnis
6) Cecils aktuelles Versteck

 

Erklärung zu den "Sektoren"

 

Alban besitzt 8 Radien (Radius 0-7), diese sind die in der Karte dargestellten "Ringe" und werden nach außen hin größer. Um ein Gebiet schneller zuordnen bzw. finden zu können, werden sie noch einmal in "Sektoren" unterteilt.
Die Sektoren orientieren sich an den Himmelsrichtungen und werden ebenfalls mit Zahlen benannt. Norden ist 1, Nordosten 2, Osten 3, Südosten 4, Süden 5, Südwesten 6, Westen 7 und Nordwesten 8.
So liegt Nys’ Anwesen beispielsweise in Radius 7 (im letzen Ring also) und dort im Nordwesten oder kurz gesagt in Sektor 7.8. 

Anmerkungen

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin

Vera Hallström wurde 1996 geboren und entdeckte als Kind nicht nur früh ihre Begeisterung für das Lesen, sondern etwas später auch für das Schreiben. So füllte sie als Kind ganze Notizbücher mit ihren Geschichten, später schrieb sie die ersten Geschichten am PC. Mit sechzehn Jahren kam ihr die Idee zu einer Geschichte rund um eine Welt mit übernatürlichen Wesen, aus der sich dann irgendwann das Buch "Dämonenfeuer" entwickelte.

Fast sechs Jahre später, im November 2017, veröffentlichte sie dann ihre ersten beiden Bücher über die Self Publishing-Plattform BookRix, die beiden kostenlosen Kurzgeschichten "Unter diesem Himmel" und "Die stille Welt" als eBook.

Da sie nicht darauf hoffen wollte, dass irgendwann ein Verlag Interesse an ihrem Manuskript zu "Dämonenfeuer" zeigte, nahm sie die Veröffentlichung selbst in die Hand und veröffentlichte dieses im Januar 2018 ebenfalls über BookRix.

Die Dämonenwelt-Trilogie lässt sich nicht auf ein Genre festlegen und ist sowohl Dark-, Paranormal & Urban Fantasy als auch Near Future Science Fiction, verbunden mit Drama und Action. Genauso gibt es nicht nur „einen“ Protagonisten, die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Die Reihe ist für alle jene geeignet, die etwas düstere und dystopische Erzählungen aus verschiedenen Blickwinkeln mögen, die zugleich starke männliche als auch weibliche Charaktere jenseits von Stereotypen beinhalten.

Neben der Dämonenwelt hat sie einen Mystery-Kurzoman mit dem Titel "Die Stille zwischen den Welten" veröffentlicht, der eine Auskopplung ihrer Kurzgeschichte "Die Stille Welt" ist.

 

Die neuesten Informationen rund um die Autorin und ihre Bücher findet man auf ihrer Facebook-Seite oder auf Instagram. Bei Fragen, Anregungen, Feedback o.ä. kann man über das dort angegebene Impressum oder ihre E-Mail Adresse vera.hallstroem@gmail.com Kontakt zu ihr aufnehmen. Rezensionen, egal ob kurz oder ausführlich, sind ebenfalls gerne gesehen. Unterstützen kann man sie auch direkt über Patreon.

 

 

Andere bereits erschienene Werke der Autorin:

 

Unter diesem Himmel (Dystopie/Kurzgeschichte; 2017)

Die stille Welt (Mystery/Kurzgeschichte; 2017)

Die Stille zwischen den Welten (Mystery/Kurzroman; 2020)

Seelen zwischen den Welten (Mystery/Kurzroman; 2022)

Dämonenfeuer: Band 1 der Dämonenwelt-Trilogie (Science Fantasy; 2018)

Dämonenherz: Band 2 der Dämonenwelt-Trilogie (Science Fantasy; 2020)

Ozonos Earth (Science Fiction; 2021)

Impressum

Texte: Vera Hallström
Bildmaterialien: https://www.canva.com (Canva Layouts)
Cover: Epic Moon - Coverdesign - by Kathyjana Simons
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2018

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