Cover

Hinweise zum Urheberrecht

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt.

Teil 1

 

„Ich starb in den Flammen, um in der Asche wiedergeboren zu werden und mich wie ein Phönix zu erheben. Mein Herz ist Dämonenfeuer, bereit, alles und jeden zu verschlingen. Wenn ich schwach bin, verschlingt es mich. Bin ich stark, wird es die falschen Götter verbrennen. Und die Flammen lodern immer heißer und steigen empor.“

-1- Verloren

03.04.2173 - Montag

 

Alban, eine Stadt voll schmutziger, grauer Gebäude unter einem immerzu wolkenverhangenen Himmel. Dunkle Wolken, die all den Ruß und Dreck der Fabriken mit sich trugen. Unten auf den überfüllten Straßen drängten sich Menschen aneinander vorbei, eilten zu Bussen, Bahnen und Autos, während sich kalter Regen über sie ergoss.

 

Eve konnte ihre Gesichter aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber sie wusste dennoch, dass in keinem von ihnen auch nur eine Spur von Heiterkeit zu lesen war. All der Regen hatte sie weggewaschen. Regen und Leid. Sah ihr Gesicht denn anders aus? Wohl kaum. Der Regen wurde stärker und dicke Tropfen rannen das Glas herunter, verschleierten ihre Sicht auf das, was unter ihr geschah. Langsam wandte sie sich vom Fenster ab und drehte sich um. Sie befand sich in einem hohen  Raum, dessen Deckenlampe nur spärliches Licht verbreitete. Unter ihren Füßen lagen mit kleinen rostroten Flecken übersäte, gelblich verblichene Matten, die ihre besten Jahre schon längst hinter sich hatten. Für heute war es erst einmal genug. Humpelnd ging sie zur Tür, die aus dem Zimmer führte, und lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über ihre schweißnasse Stirn. Ihr Blick blieb kurz an ihren von kleinen Narben überzogenen Händen hängen, und an den Nagelbetten, die wieder einmal aufgerissen und blutverkrustet waren. Inzwischen heilten sie nicht einmal mehr richtig. Sie seufzte kurz, dann versuchte sie vorsichtig, ihren schmerzenden rechten Fuß zu belasten, worauf ihr ein scharfer Schmerz das Bein hochfuhr und sie kurz aufkeuchte. Man sollte meinen, durch das jahrelange Training sollte sie all die Schmerzen kaum noch spüren, aber es tat immer noch genauso weh wie am ersten Tag.

 

Noch genauso wie an jenem Tag, an dem ihr gesagt wurde, sie solle stets alles geben, egal ob die Schmerzen drohten, sie wahnsinnig zu machen, und dabei nie ihr Ziel aus den Augen verlieren. Das Ziel war das Einzige, was wirklich zählte. Denn dies war ihre Realität. Jeden Tag aufs Neue. Es wurde nicht gefragt, ob es auch ihr eigenes Ziel war, oder einfach nur das, welches ihre Familie ihr vorgab. Eves Ziel sollte es sein, dem Weg ihrer Schwester und ihres Vaters zu folgen, was in dem Fall bedeutete, später für die Aufsicht von Alban zu arbeiten. Diese war der mächtigsten Person Albans, dem Kanzler Deus, untergeordnet. Deus behauptete, es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die Ordnung Albans aufrechtzuerhalten und für den Fortschritt der Stadt zu sorgen. Leider aber kümmerte er sich vor allem um die Weiterentwicklung von Albans Militärmacht und Waffen. Nicht zu vergessen all die Vorkehrungen, die er zu seiner eigenen Sicherheit traf. Dabei hatte er das, was wirklich wichtig war, im Laufe der Zeit immer mehr aus den Augen verloren. Die Menschen, die unter ihm dienten und Tag für Tag ihr Leben für das Seine riskierten. Leute wie ihr Vater waren es, die für Deus die Drecksarbeit erledigten, während er sich ausruhte. Doch noch würde es niemand wagen, sich gegen ihn zu erheben, dafür war seine Position trotz allem viel zu gefestigt. Aber insgeheim war Eve sich sicher, dass der Tag, an dem es der Bevölkerung von Alban ein für alle Mal genug war, kommen würde. Noch nicht heute, auch nicht morgen, nicht in einem Monat. Aber es würde früher oder später ganz sicher passieren.

 

Sie beschloss, das Training fürs Erste zu beenden und ging hinüber in die Küche, wobei sie erfolglos versuchte, die Schmerzen, die ihr Fuß verursachte, möglichst wenig zu beachten. Wahrscheinlich hatte sie ihn sich mal wieder verstaucht. Die Küche sah nicht anders aus als der Rest der kleinen Wohnung, in der sie mit ihrer Familie wohnte. Sie war karg, nur mit wenigen rustikalen Schränken ausgestattet und ebenso ungemütlich. Ihre Familie hatte keinen Anspruch auf viel Wohnraum und so musste Eve sich mit ihrer Schwester ein viel zu kleines Zimmer teilen. Wenigstens ging es ihnen noch besser als den Leuten der Unterschicht. Sie öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser hervor. Dessen Kühle war wunderbar erfrischend gegen ihren erhitzten Körper. Schnell schraubte sie die Flasche auf und nahm einen großen Schluck.

Als die Türglocke plötzlich schrill läutete, hätte sie vor Schreck beinahe die Flasche fallen lassen. Sie nahm noch einen Schluck, dann stellte sie die Flasche auf dem flachen Esstisch ab und eilte durch den Flur hinkend zur Wohnungstür. Als sie diese öffnete, kam dahinter ihre ältere Schwester Audrey und ihr Vater Colin zum Vorschein. Audrey war beladen mit einer Holzkiste voller Lebensmittel und ihre braunen Locken waren nass und platt vom Regen, während ihr Gesicht noch gerötet vom Treppenaufstieg war. Eve erkannte, dass über ihre linke Wange außerdem eine frische Schnittwunde verlief. Schnell nahm Eve ihr die Kiste ab, worauf Audrey sie dankend anlächelte und ihr schnell einen Kuss auf die Wange drückte. „Alles Gute“, murmelte sie atemlos, dann lief sie schnell an Eve vorbei in Richtung Bad. Heute war der dritte April, Eves sechzehnter Geburtstag.

„Ab heute ist unsere Evelyn also erwachsen, ja?“ Ihr Vater betrat mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, welches schon die ersten Falten zeigte, die Wohnung. Sein grauschwarzes Haar war zerzaust und er sah erschöpft, aber dennoch glücklich aus. Sie erwiderte sein Lächeln und freute sich, dass die beiden sich so beeilt hatten und gleich nach der Arbeit nach Hause gekommen waren. Während er Eve umarmte, roch sie an ihm die vertraute Mischung aus Schweiß und Schmutz. „Du bist viel zu schnell erwachsen geworden…“, meinte er nachdenklich und ließ sie wieder los. Wie, um sich zu vergewissern, ob sie auch wirklich schon erwachsen war, hielt er sie an den Schultern ein Stück von sich weg und betrachtete sie genauer. „Ja, du bist leider eindeutig schon erwachsen.“ Sie lächelte ihn an.

„Wie war euer Auftrag heute?“, fragte sie, worauf sich seine grauen Augen abrupt verfinsterten.

„Wie immer“, erwiderte er und beförderte seine abgenutzten Stiefel mit einem Tritt in eine Ecke im Flur. „Anstrengend und nervenaufreibend.“ Jedes Mal, wenn er von seiner Arbeit sprach, sank seine Laune sofort in den Keller. Das war etwas, das sie gar nicht anders kannte.

„Du hast zu schlecht bezahlt vergessen“, ertönte hinter ihnen Audreys Stimme. Ihr Vater brummte nur zustimmend, während Audrey, die gerade aus dem Bad kam, Eve nun ebenfalls umarmte. „Alles, alles Gute zum Geburtstag“, gratulierte sie ihr. Sie hatte sich schnell mit Seife den gröbsten Schmutz abgewaschen, deren Duft sie und Eve jetzt umhüllte. Zitronig frisch, aber noch immer mit einer leicht herben Unternote. Die Wunde in ihrem Gesicht hatte sie eilig abgeklebt.

Sie nahm Eve an die Hand und steuerte mit ihr in Richtung Küche. Eve drehte sich zu der Kiste um, die sie eben auf dem Boden abgestellt hatte und nun hochheben wollte, doch Audrey kam ihr zuvor. In der Küche knallte sie die Kiste auf den Küchentisch und machte sich sogleich daran, die Lebensmittel auszupacken, während Eve zum ersten Mal spürte, wie hungrig sie inzwischen war, als ihr Magen anfing, laut zu knurren. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits nach 18 Uhr war. Sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Audrey lachte kurz auf und sah sie mit ihren hellbraunen Augen fürsorglich an. „Keine Sorge, ich mach uns gleich was zu essen. Wenn nicht alles so teuer wäre, hätte ich dir eine Geburtstagstorte gemacht. Aber vielleicht klappt es ja nächstes Jahr, solange die Preise nicht weiter steigen“, sagte sie.

„Macht nichts. Für so was bin ich sowieso schon zu alt“, meinte Eve.

„Wirklich? Ich wäre dafür ganz sicher nie zu alt“, erwiderte Audrey lachend und zauberte einen Beutel Kartoffeln aus der Kiste hervor, sowie eine Packung mit frischem Fleisch. Ihre Ration für diese Woche.

„Wie viel Gramm sind das?“, wollte Eve wissen, während sie auf die Packung mit dem Fleisch deutete, die ihr kleiner als sonst erschien.

Audrey zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie: „So viel wie sonst, würde ich sagen. 1000 g vielleicht.“ Doch auch ihr erschien es weniger.

„Vielleicht haben sie die Rationen gekürzt“, überlegte ihr Vater, der sich ihnen gegenüber an den schmalen Tisch gesetzt hatte.

Sofort stellte Audrey ihm eine Schüssel, in der die Kartoffeln waren, vor die Nase. Daneben legte sie ihm ein Messer hin. „Du schälst die Kartoffeln“, wies sie ihn an. Nachdem sie noch einen Topf mit Wasser daneben gestellt hatte, fing er gemächlich an, sich den Kartoffeln zu widmen. Eves Magen gab währenddessen ein weiteres erwartungsvolles Knurren von sich, während Audrey im selben Moment einen unterdrückten Fluch ausstieß.

„Was ist los?“ Eve blickte sie fragend an, worauf Audrey  eine kleine Packung mit Gemüse darin hochhielt. „Das kann doch nicht deren Ernst sein, oder?“ Sie schüttelte verärgert den Kopf, wobei ihre schulterlangen, hellbraunen Locken hin und her peitschten. Dann warf sie die Packung wütend auf den Tisch, worauf ihr Vater aufblickte. „Wie soll ich damit denn eine ordentliche Mahlzeit zubereiten?“, beschwerte sie sich.

Colin betrachtete die Ration, welche für drei Personen eine ganze Woche lang reichen sollte und seine Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen. „Sie haben also tatsächlich schon wieder die Rationen gekürzt“, sagte er. „Dann müssen wir uns wohl selbst noch etwas kaufen, das hier wird kaum reichen.“

Dann murmelte er noch irgendetwas leise vor sich hin, was die beiden Mädchen aber nicht verstanden. Begeistert hörte es sich auf jeden Fall nicht an.

 

 

Eine Weile später saßen sie dann jeder mit einer sehr überschaubaren Portion auf dem Teller am Tisch. Während Eve die kleine Portion bald aufgegessen hatte, sah es bei Audrey aus, als würde sie ihr Essen aus Verärgerung nicht einmal anrühren wollen und ihr Vater saß nur still da, wobei er ins Leere starrte. Als sie eine Weile später ein Klingeln im Flur hörten, sprang Audrey erleichtert auf. „Das ist sicher meins“, meinte ihr Vater und sie hörten, wie Audrey im Flur etwas aus einer der Taschen herauskramte.

Dann hörten sie, wie diese den Anruf entgegennahm und erwartungsvoll „Ja, bitte?“, sagte. Es folgte ein kurzes Schweigen, dann sagte Audrey schließlich: „Ich verstehe.“ Wieder Schweigen, während Colin und Eve gespannt die Ohren spitzten. Vom Flur aus hörten sie wieder Audreys Stimme. „In Ordnung, ich werde es weiterleiten“, erwiderte sie seltsam formell. Dann legte sie auf, ohne sich zu verabschieden, was Eves Vermutung, dass es niemand aus der Familie oder ein Freund gewesen war, bestätigte. Als Audrey schließlich mit ernstem Gesicht zurückkehrte, holte sie erst Luft, dann sprach sie. „Das war Will von der Aufsicht in Gebiet 2.2.“ Sie verharrte in der Tür und warf Eve einen besorgten Blick zu, die sie neugierig ansah. Als sich ihre Blicke kurz trafen, redete Audrey endlich weiter. „Sie brauchen uns dort dringend und wir sollen so schnell es geht kommen.“ Während sich Colin schon missmutig erhob, wandte sie sich jetzt direkt an Eve, das Gesicht seltsam ausdruckslos. „Und sie wollen, dass du mitkommst. Sie sind der Meinung, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für deinen ersten Auftrag ist.“

Ihr Vater hielt abrupt inne und Eve sah, wie er sich versteifte. „Heute schon?“, fragte er und sein Blick wanderte zu Audrey. „Es ist doch noch viel zu früh.“

Audrey erwiderte seinen Blick, sagte zuerst aber nichts. „Sie wollen es nun mal so“, entgegnete sie dann langsam.

Colin drehte sich zögernd zu Eve um. „Denkst du, dass du schon so weit bist?“, wollte er von ihr wissen.

Obwohl ihr Herz angefangen hatte, in ihrer Brust zu hämmern und sie sofort ein ungutes, mulmiges Gefühl bekam, nickte sie eisern. „Darauf habe ich doch schließlich schon jahrelang hinaus trainiert.“ Sie gab sich so entschlossen und mutig, wie es ging, obwohl sie in Wahrheit gerade alles andere als bereit war. Denn schon heute ihren ersten Auftrag zu haben, war eigentlich das Letzte, was sie wollte. Das wäre das erste Mal, dass sie ihre Uniform bei einem richtigen Einsatz tragen würde und nicht nur zum Training.

 

Nachdem sie in ihr Zimmer gegangen war, griff sie mit zitternden Händen in ihr Regal neben dem Doppelstockbett und holte ihre Uniform hervor. Unentschlossen stand sie eine Weile einfach nur da und starrte auf den dunklen, robusten Stoff in ihren Händen. Würde sie das packen? War sie wirklich schon so weit? Ihre innere Stimme hatte eine eindeutige Antwort für sie parat, die bewirkte, dass sie noch unruhiger wurde. Nein, aber ich habe zugesagt, ich kann also keinen Rückzieher mehr machen. Irgendwann musste dieser Tag ja  kommen.

Da kam plötzlich Audrey mit ihren Stiefeln in der Hand und ihrem Helm unter dem rechten Arm herein. Schnell warf Eve die Uniform auf ihr Bett und zog sich ihr verschwitztes Trainingshemd aus, während Audrey die Sachen neben der Uniform ablegte und die Tür hinter sich schloss. Eve griff als erstes nach der ledrigen Uniform, die aus Hose und Jacke bestand. Eilig zog sie beides an, dann griff sie nach der steiferen, leicht ausgepolsterten Weste, die sogar Kugeln abhalten konnte. Audrey half ihr dabei, die Schnallen an den Seiten fest zu verschließen. Dann setzte Eve sich auf das Bett und schlüpfte in die Kunstlederstiefel, die an den Spitzen mit Metallnieten verkleidet waren und für die sie ein Vermögen hätten bezahlen müssen.

Zum Glück jedoch stellte Deus ihnen wenigstens die Ausrüstung, solange sie nicht repariert werden musste. Denn für die Reparatur mussten sie wiederum selbst aufkommen. Daher trug ihr Vater noch immer dieselbe alte, zerschlissene Jacke wie seit Jahren. Eine neue würde man ihm nicht gewähren und um sie selbst zu kaufen, brauchten sie mehr Geld, als ihnen zu Verfügung stand. Waffen waren dasselbe. Die Gewehre bekamen sie, Munition mussten sie selbst beschaffen. Deus war der Geiz in Person, wenn es darum ging, anderen etwas zu schenken.

Als sie ihre Schuhe fest gebunden hatte, stand Eve auf und erhaschte dabei einen Blick auf ihr Spiegelbild: Die Kleidung lag eng an und betonte ihren sportlichen, aber dennoch weiblichen Körper. Die Weste schmiegte sich ideal an ihren Körper, genau wie die Hose, während die Metallspitzen an ihren Stiefeln gefährlich glänzten.

Jetzt nur ruhig bleiben, redete sie sich ein, während Audrey sie anwies, sich umzudrehen. Eve wandte sich vom gegenüberliegenden Spiegel ab und fuhr sich mit ihren immer noch zitternden Händen durch ihr langes, dunkelbraunes Haar.

Schnell band Audrey ihr die Haare zu einem ordentlichen Zopf und redete dabei beruhigend auf sie ein, als ob sie wüsste, was für eine Angst Eve verspürte. „Es wird schon alles gut gehen, glaub mir.“ Diese Worte schien Audrey jedoch auch zu ihrer eigenen Beruhigung zu brauchen.

Nachdem sie fertig war und Eve sich wieder umwandte, warf sie einen Blick auf die dunklen Schatten unter Audreys Augen. Sie schien noch viel erschöpfter als Eve zu sein. Sie und ihr Vater waren gerade erst von ihrer letzten Schicht gekommen und mussten nun schon wieder los. Audrey schloss Eve noch einmal kurz in die Arme. „Du siehst gut aus, die Uniform steht dir“, flüsterte sie ihr ins Ohr. Als sie Eve losließ, schimmerten ihre Augen feucht.

Nun war Eve diejenige, die sie beruhigen musste. „Hey, alles in Ordnung, ich habe keine Angst“, log sie, um Audrey zu beschwichtigen, der dicke Tränen aus den Augen quollen.

„Ich weiß, tut mir leid...“ Schnell kramte Audrey ein Taschentuch aus ihrer Jacke hervor und wischte die Tränen weg. „Wahrscheinlich bin ich diejenige von uns beiden, die mehr Angst hat. Ziemlich dumm, was? Dabei mache ich das doch schon seit drei Jahren. Du hingegen...“ Sie hielt inne und in ihren Blick mischte sich ein seltsamer Ausdruck, den Eve nicht deuten konnte. „Hör mir jetzt gut zu...“, begann sie plötzlich mit erstickter Stimme.

„Was ist los?“, fragte Eve, während Audreys Gesichtsausdruck sie mehr denn je verwirrte, dann begann Audrey zu erzählen.

 

Als die beiden in den Flur traten, wartete dort bereits ihr Vater. Audrey warf Eve noch schnell einen flüchtigen Blick zu und versuchte ein Lächeln anzudeuten, was ihr aber nicht sonderlich gut gelang. Dann wandte sie sich schnell an ihren Vater. „Wir sind soweit fertig.“

Unsicher trat Eve auf ihn zu. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verstört sie nach dem war, was Audrey ihr erzählt hatte. Wieso hatte Audrey ihr das ausgerechnet jetzt erzählen müssen?

Damit ich gewarnt bin und aufmerksam bleibe, versuchte sie sich einzureden. Und jetzt darf ich mir nichts mehr anmerken lassen, ermahnte sie sich schnell. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Kleidung trug und trotzdem fühlte sie sich noch immer fremd darin. Dennoch lächelte sie ihren Vater zuversichtlich an und als sie merkte, dass ihre Finger zitterten, verschränkte sie ihre Arme schnell hinter dem Rücken.

„Du siehst großartig aus“, meinte Colin und klopfte ihr stolz auf die Schulter, wobei ihr sein nervöser Blick nicht entging. Er sorgte sich um sie und das war gar nicht gut. Wenn er sich zu viele Sorgen machte, wurde er unaufmerksamer und angreifbarer. Eve wollte nicht, dass er wegen ihr noch mehr in Gefahr geriet.

„Dann nur noch die Waffen, oder?“, fragte sie und er drehte sich rasch um.

„Ja.“ Die Beiden folgten ihm den Flur entlang bis zu einer massiven, stählernen Tür, die in die Wand eingelassen war. Für einen kurzen Moment legte ihr Vater seine Hand auf eine kleine, glatte Scheibe Glas, die in sie eingearbeitet war, und die Oberfläche des Glases leuchtete weiß auf.

Dann schwang die Tür mit einem leisen Quietschen auf. Sie traten in den hohen Raum dahinter, in dem sofort Licht aufflackerte und die Waffen an den Wänden und in den Vitrinen zum Vorschein brachte. Auch hier drinnen war sie schon ein paar Mal gewesen und hatte den Umgang mit einigen der Waffen bereits geübt, trotzdem durchfuhr sie ein wohlbekannter Schauer. Alle möglichen Schuss-, Hieb- und Stichwaffen, Granaten und unzählige Arten von Munition in einem Schrank rechts von ihnen. Darunter auch welche aus dünnem Glas, die mit Flüssigkeit gefüllt waren. In den meisten war Gift, in manchen sogar Säure.

Perfekt für einen möglichst qualvollen Tod, dachte sie. Als ob es nichts Wichtigeres geben würde, als die Art und Weise, wie man jemanden umbringt. Aber zum Glück kamen die wirklich tödlichen von ihnen nur selten zum Einsatz. Ihr Vater reichte ihr ein langes Schwert, auf dessen silberner, geschliffener Klinge sich das Licht brach und es auf bizarre Weise wunderschön aussehen ließ. Wunderschön tödlich. Eve fuhr mit den Fingern über das Heft und die feinen, darin eingravierten Linien, die einen Flügel formten.

Sie kannte diese makellos gearbeitete Klinge, leicht gebogen und so scharf, dass sie sogar Stahl durchtrennen konnte. Schließlich war es ihr Schwert. Sie ließ es in die Schwertscheide, die sie an ihrer linken Hüfte befestigt hatte, gleiten und wandte sich wieder ihrem Vater zu. Dieser reichte Audrey gerade ebenfalls ihr Schwert. Danach drehte er sich um, zu der Wand, die der Tür gegenüber lag, und griff nach zwei Gewehren, die dort zwischen mehreren anderen hingen. Das größere, schwerere reichte er Audrey und das kleinere, kompaktere Eve. Schnell luden sie die Magazine mit der Munition, die Gift enthielt, und traten dann wieder hinaus den Flur.

 

 

Alban war in Radien unterteilt, welche kreisförmig vom Zentrum aus verliefen und nach außen hin immer größer wurden. Direkt im Zentrum befand sich so Radius 0, der letzte war Radius 7. Da jeder Radius, vor allem die äußeren, sehr groß waren, wurde immer die Himmelsrichtung genannt, in der sich das Ziel befand. Eve und ihre Familie lebten in Radius 2, also quasi im „dritten Ring“, und dort direkt oben im Norden. Damit es schneller ging, verpasste man den Himmelsrichtungen ebenfalls einfach Zahlen. Norden war 1, Nordosten 2, Osten 3, Südosten 4, Süden 5, Südwesten 6, Westen 7 und Nordwesten 8.

Damit befand sich Sektor 2.2, zu dem sie kommen sollten, auf demselben Ring wie ihr Zuhause, nur weiter im Osten. Sie brauchten daher nicht einmal eine der Bahnen zu nehmen, die auf den einzelnen Radien fuhren. Deren Schienen verliefen teilweise sogar unter der Erde, durch Tunnel, von denen es unter Alban unzählige gab. Viele wurden noch genutzt, aber es gab auch mehr als ein Dutzend, die stillgelegt oder noch im Bau waren.

Von ihrem Vater wusste Eve, dass sie ihren Auftrag in einem  der stillgelegten Tunnel zu erledigen hatten. Die Straßen waren wie leergefegt. Es war bereits 20 Uhr, um diese Uhrzeit waren meist nur noch die Aufsichten unterwegs. Gewöhnliche Leute gingen abends eher selten vor die Tür, wenn sie es vermeiden konnten. Denn auch wenn es nach außen nicht so schien, war Kriminalität in Alban an der Tagesordnung, vor allem in den ärmeren Gebieten der Stadt.

Obwohl es Frühling war, lag die Temperatur nur bei ungefähr zwölf Grad. Wenigstens hatte der Regen aufgehört, auch wenn immer noch dichte Wolken den Himmel verbargen und die eisige Luft ihr wie ein Messer in die Haut schnitt und sie frösteln ließ. Doch selbst wenn es Tag gewesen wäre, hätten sie nicht viel von der Sonne gesehen. In Alban wurde es nie richtig Tag. All das fiel jedoch nicht so auf, da die Straßen stets hell erleuchtet waren.

 

 

Leider nicht der Tunnel, zu dem sie mussten, daher mussten sie alle die Visiere ihrer Helme herunterklappen und die integrierte Nachtsicht aktivieren, bevor sie den Tunnel betreten konnten. „Na dann, los geht’s“,  sagte Colin und schritt voran. Während Eve dicht hinter Audrey als Letzte folgte, sah sie sich aufmerksam im Tunnel um. Nun konnte sie alles um sich herum deutlich erkennen. Die glatten, feuchten Wände des Tunnels, die von Rissen durchzogen waren, die defekten, verrosteten Schienen und die unzähligen Pfützen auf dem Boden, die mit dem dreckigem Wasser gefüllt waren, das durch das modrige Gestein sickerte.

Ihr Vater besaß ein Display, eine Art multimediales Kommunikations- und Informationsgerät. Es war aus dünnem, aber dennoch sehr stabilem Spezialglas gemacht, das mit Glasfaserkabeln durchzogen war und über eine Funk- und Internetverbindung verfügte. Selbst die Ummantelungen der Festplatte, der Platinen und Prozessoren waren aus durchscheinendem Kunststoff gefertigt. Während das Display in Betrieb war, konnte man zusehen, was in seinem Inneren passierte. Zudem besaß es einen kleinen Projektor, welchen ihr Vater gerade aktivierte. Weiß glimmend tauchte ein dreidimensionaler Plan vom Tunnelsystem vor ihm auf, mit dessen Hilfe er sie zielstrebig durch den Tunnel dirigierte.

Es wurde immer kälter, sodass Eve sich wünschte, den Tunnel bald wieder verlassen zu können. Sie gingen immer weiter hinein, doch sie entdeckten nichts. Ihre Tonverstärker, die in den Helm integriert waren, funktionierten einwandfrei, doch da war nichts als unheimliche Stille, die gelegentlich von einem plätschernden Geräusch unterbrochen wurde, wenn jemand von ihnen in eine der Wasserpfützen auf dem Boden trat. Das Wasser hatte bereits die Sohlen von ihren Stiefeln durchdrungen, und sie machten bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch.

Die Feuchtigkeit schien sogar schon in ihre Kleider gekrochen zu sein und sie zitterte am ganzen Körper. Unsicher beobachtete sie die anderen beiden. Keiner von den beiden wirkte irgendwie nervös oder angespannt, sondern eher routiniert und gelassen.  Sie wünschte sich, auch so locker an die ganze Sache herangehen zu können, doch sie hatte schon die ganze Zeit ein beklemmendes Gefühl, das einfach nicht verschwinden wollte.

 

 

Es kam ihr vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als der mit dem Display gekoppelte, kleine Sensor, den sie an einem Band um ihren Hals trug, mit kleinen Stromstößen ausschlug. Da dieser Sensor unter anderem Infrarotwellen erfassen konnte, bedeutete das, dass noch eine andere Wärmequelle außer ihnen im Tunnel war. Untereinander waren die drei Sensoren vernetzt, damit sie fälschlicherweise nicht selbst den Alarm auslösten. Nur wenn etwas nicht stimmte, die Pulsfrequenz von einem von ihnen etwa sehr unregelmäßig wurde oder der Pulsschlag sogar ganz aussetzte, schlug er ebenfalls aus. Aber es war keiner von ihnen, sondern jemand anderes, der sich unbefugt im Tunnel aufhielt, auf den der Sensor reagiert hatte. Der Aufenthalt hier war zurzeit nämlich nur ihnen, der zuständigen Einheit, gestattet.

Auch Audrey und Colin hatten es längst bemerkt und Colin gab ihnen das Zeichen, stehen zu bleiben. Eve versuchte weiter, sich zu beruhigen und atmete tief ein, wobei sie den widerlich modrigen Geruch, der in der Luft hing, weit weg von sich schob. Doch dann schlug ihr plötzlich noch ein anderer Geruch entgegen, faulig süß und so unglaublich widerlich, dass sie einen Würgereiz unterdrücken musste. Weiter vorne hörte sie ihren Vater aufkeuchen.

„Audrey, komm schnell her!“, rief er und Audrey ging schnell zu ihm. Langsam erinnerte sich Eve wieder daran, woher sie diesen bestialischen Geruch kannte.

„Oh Gott!“, keuchte Audrey in diesem Moment auf. „War das mal…?“, begann sie, brach aber schluchzend ab.

„Was ist los? Etwa ein totes Tier?“ Eve ging langsam zu den beiden herüber.

„Bleib, wo du bist!“, herrschte Colin sie an und sie blieb abrupt stehen. Plötzlich dachte sie wieder an das, was Audrey ihr vorhin im Zimmer anvertraut hatte.

 

Die Worte kamen wieder hoch, auch wenn Eve nicht daran hatte denken wollen. „Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Eve. Die meisten, die nichts mit der Aufsicht zu tun haben, denken, wir jagen Verbrecher. Menschen, die eine Gefahr für sie und die Öffentlichkeit darstellen. Aber das, wogegen wir wirklich vorgehen, dem wir uns Tag für Tag stellen, und für das wir unser Leben riskieren, kann man oft nicht mehr als menschlich  bezeichnen. Verstehst du, was ich meine? Was ich dir zu sagen versuche? Du musst auf dich aufpassen und vorsichtig sein, verstanden? Du darfst nachher keinen Moment unaufmerksam sein.“

 

Nein, sie hatte es nicht verstanden. Noch immer stand ihr Audrey deutlich vor Augen, mit diesem bedrückten und zugleich angewiderten Ausdruck im Gesicht. Das Wissen um etwas Furchtbares, welches sie besaß, und das sie innerlich zu zerfressen schien. Aber wie schrecklich musste es sein, wenn es Audrey derart verstörte? Bisher hatte Eve gedacht, die Aufsicht würde sich um Menschen, die völlig durchgedreht waren, kümmern. Um Psychopathen, die Amok liefen oder ähnliches. War es das? Die wahre Aufgabe der Aufsicht? Oder doch nicht? Dieses Etwas, das oft kaum noch menschlich war? Nur die beiden wussten ganz genau, was hier los war. Nur sie wussten die Wahrheit. Eve wusste nur, dass sie sich ausgeschlossen und allein gelassen fühlte. Warum konnten ihr die beiden nicht einfach sagen, was los war? Warum ließen sie sie hier einfach stehen, obwohl sie nicht im Geringsten verstand, was hier vor sich ging?

„Ignorier es bitte“, bat ihr Vater Audrey und drehte sich zu Eve um. Dann, im nächsten Moment, fing plötzlich der Boden an zu beben und sie vernahm über sich ein Grollen. Erschrocken zuckte sie zusammen, den Blick panisch zur bebenden Decke gerichtet, als ihr Vater schnell zu ihr herüber kam und sie beschwichtigend an den Schultern festhielt. „Das ist nur eine Bahn“, sagte er mit ruhiger Stimme. Natürlich konnte es nur eine Bahn gewesen sein, das wusste sie doch eigentlich. Ihr Herz allerdings wollte nicht langsamer schlagen. Was war heute nur mit ihr los? Was hatten all die harten Jahren der Vorbereitung sie gelehrt? Warum war sie noch nicht bereit? Sie schämte sich für ihre Angst, wo sie doch nicht alleine hier war. An der Seite von Audrey und ihrem Vater brauchte sie sich nicht zu fürchten. „Du hast dich ziemlich erschreckt, was?“, stellte Colin fest, während er ihr kurz den Kopf tätschelte.

„Ja. Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist, entschuldige.“

„Es ist einfach noch zu früh für dich. Ich wünschte, man hätte dir mehr Zeit gegeben.“

„Es geht schon“, versicherte sie ihm.

„Bist du dir sicher?“, hakte er noch einmal nach. „Wir können auch umkehren.“

„Ich komm schon klar, ganz sicher. Und wenn wir umkehren, bekommen wir Schwierigkeiten.“ Sie wollte einfach nur hier weg, doch sie log für ihren Vater. Denn wenn sie umkehrten, missachtete ihr Vater die Anweisungen und sie wusste, welchen Ärger es schon bei Kleinigkeiten gab. Sie atmete tief durch, wobei ihr von dem widerlichen Gestank schon wieder schlecht wurde, und deutete mit dem Kopf hinter ihren Vater zu der Stelle, an der Audrey immer noch reglos stand. „Was ist dahinten?“ Er öffnete erst den Mund, als wenn er etwas sagen wollte, schloss ihn dann aber schnell wieder. „Paps, was ist hier los?“, fragte sie fordernd.

Doch er kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten, denn in diesem Moment schlug ihr Sensor wieder aus, ebenso der am Arm ihres Vaters, noch stärker als zuvor. Weiter vorne flüsterte Audrey etwas. Colin wies sie an, näher an die Tunnelwände zu gehen. Sie ging an der Tunnelwand auf und ab, während ihr Vater ein Stück weiter vorne im Tunnel noch kurz mit Audrey redete. Dann schritt er an ihr vorbei und positionierte einen kleinen, gläsernen Würfel vor sich auf dem Boden, welchen er aus seiner Umhängetasche geholt hatte. So einen hatte Eve noch nie gesehen. Es war sicherlich irgendeine Art von Waffe und sie wollte nur allzu gern wissen, was sie bezwecken sollte.

Nachdem Colin den Würfel so programmiert hatte, dass er anfing, in regelmäßigen Abständen weiß aufzuleuchten, zog er sich ebenfalls schnell an eine der Tunnelwände zurück, wie Audrey und Eve es bereits getan hatten. „Schaltet eure Tonverstärker aus und bleibt ruhig“, wies er sie an und sie gehorchten und stellten diese aus, während der kleine Würfel in immer kürzeren Abständen aufblinkte und ein leises Piepen von sich gab.

Audrey stand direkt neben Eve und drückte kurz ihre Hand. „Du brauchst jetzt gleich keine Angst zu bekommen, uns wird nichts passieren“, flüsterte sie, dann geschah es auch schon. Der Boden fing erneut an zu vibrieren, diesmal aber weitaus stärker und näher als zuvor bei der Bahn. Während die Luft um sie herum in Schwingung versetzt wurde, schien die Vibration sogar ihren Körper zu durchdringen und Eve spürte den Schmerz in ihrem Fuß wieder stärker. Der Boden wollte nicht aufhören zu beben und der Würfel, von dem das Ganze ausging, blendete Eve. Beinahe sackten ihr die Knie weg. Wie aus weiter Ferne hörte sie Audreys Stimme, doch sie klang zu verzerrt, als das sie irgendetwas hätte verstehen können.

Auch, nachdem die Vibration aufgehört hatte, kam es ihr immer noch vor, als würde sich der Boden unter ihren Füßen drehen. Behutsam legte Audrey einen Arm um sie. „Ist ja schon vorbei...“, beruhigte sie Eve und warf ihrem Vater einen kurzen, besorgten Blick zu, der gerade auf die beiden zukam. Eve nickte nur benommen, während sie die Silhouette ihres Vaters noch leicht verschwommen wahrnahm.

„Alles in Ordnung?“ Ihr Vater flüsterte die Worte nur, während sie sich gegen die feuchte Wand des Tunnels lehnte, immer noch von Audrey gestützt.

„Was war das eben? Dieses Gerät...“, wisperte sie, wobei ihre Stimme zitterte und sie spürte, wie ihr Kopf zu schmerzen begann. Während sie sich die Schläfen rieb, packte ihr Vater sie plötzlich an den Armen und sie sah verwirrt zu ihm hoch. Hinter ihm stand Audrey, die sich immer wieder wachsam umsah, während die Nachtsicht von Eves Visier ihre Haut grünlich schimmern ließ.

„Hör mir zu, die Einzelheiten erklären wir dir später, ja?“ Die Stimme ihres Vaters holte sie endgültig zurück in die Realität und ihr Blick klärte sich. Sie fragte sich, wieso er so besorgt aussah. „Das, was jetzt wichtig ist, ist nur, dass dieses Gerät dazu dient, etwas anzulocken, und...“

„Etwas? Meint ihr damit einen Menschen? Ich glaube nicht...“, unterbrach sie ihn.

„Verdammt noch mal, das will ich dir doch gerade erklären!“, fuhr er sie ungeduldig an und Eve zuckte unwillkürlich zusammen. „Entschuldige, aber du musst jetzt genau das tun, was ich dir sage, verstehst du?“ Sie verspürte erneut dieses mulmige Gefühl, welches ihr abermals sagte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. „Wir verfolgen keine Menschen, klar? Das, was wir jagen, befindet sich hier mit uns in diesem Tunnel. Und es ist bald, vielleicht schon im nächsten Augenblick, hier.“ Als Eve eine der vielen Fragen stellen wollte, die ihr auf der Zunge lagen, hob er abwehrend die Hand. „Du gehst sofort zurück zum Ausgang und wartest dort auf uns. Das hier ist eindeutig noch nichts für dich, ganz egal was du meinst oder was sonst wer sagt.“

Er hielt einen Moment inne, dann ließ er sie auf einmal los und drehte sich zu Audrey um. „Hörst du das?“ Audreys Gesicht wurde noch verkrampfter und man konnte erkennen, wie sie sich am ganzen Körper anspannte. Sie hörte es auch. Ein wiederkehrendes Klacken auf dem Steinboden des Tunnels. Klack, Klack, Klack...

„Er ist hier“, flüsterte Colin, während er schnell sein Gewehr entsicherte. „Eve, verschwinde von hier, sofort!“, rief er ihr zu, aber sie reagierte nicht, sondern starrte geradeaus in den Tunnelgang vor ihnen und auf den Schemen, der näher kam und dessen Umriss sich immer weiter manifestierte.

Als Audrey erkannte, dass Eve wie erstarrt war, stellte sie sich schützend vor sie. „Jetzt kannst du nicht mehr fliehen“, sagte sie leise. „Würdest du jetzt losrennen, würde er sich sofort auf dich stürzen.“

Während Eve wie versteinert hinter ihr stand, konnte sie die Konturen der Gestalt immer klarer erkennen. Sie wirkten irgendwie grotesk und falsch, mit viel zu langen Gliedern für die eines Menschen, und die Haltung, in der sich das Wesen bewegte, vornüber gekrümmt, erinnerte mehr an die eines Tieres. „Was ist das?“, wisperte sie und drückte sich näher an Audrey. Vorsichtig blickte sie über deren Schulter. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sich das Wesen langsam aus dem Schatten löste und sich ihnen offenbarte. „Was zur Hölle...?“, entfuhr es Eve, während sie am liebsten laut geschrien hätte und abgehauen wäre. Einfach nur fort von hier. Es war auf keinen Fall ein Mensch, sondern etwas, was sie noch nie zuvor gesehen hatte.

 

Wie kann  es so etwas geben? Was, verdammt noch mal, ist das für ein Ding?

Die anfangs noch schwerfälligen, schleifenden Schritte des Wesens wurden immer schneller und es fing plötzlich an, zu rennen. Colin richtete das Gewehr auf die obskure Figur und schoss. Währenddessen drängte Audrey Eve zurück an die Wand, griff an die linke Seite ihres Gürtels und zog ihr Schwert hervor. Bevor Eve noch etwas sagen konnte, stürmte Audrey auf das Wesen zu, das nur noch wenige Schritte von ihrem Vater entfernt war.

Die Kugeln, die es trafen, schien das Wesen kaum zu spüren. Kugeln aus Titan, gemischt mit welchen aus Glas, deren Säure zwar auf die gegerbte Haut des Monsters traf, sie aber nur oberflächlich verletzte. Fluchend ließ Colin das Gewehr fallen und griff nach seinem Schwert. In dem Moment, als das Monstrum sein Maul aufriss und riesige Zähne entblößte, bereit, diese tief in sein Fleisch zu rammen, tauchte Audrey vor ihm auf. Sie zog dem Wesen schwungvoll die Klinge ihres Schwertes über die knochige Brust, worauf das Wesen sie wütend anfauchte.

Schwarzes Blut ergoss sich über den Boden und Audrey stach ihm die Klinge abermals in die Brust. Das Wesen taumelte ein paar Schritte auf seinen langen, dünnen Beinen zurück und starrte sie an. Ihr Vater stellte sich an Audreys Seite und hielt sein Schwert ebenfalls bereit. Doch die Kreatur stand einfach nur da und blickte sie aus vollkommen schwarzen Augen an.

 Über Eves Körper breitete sich ein eiskalter Schauer aus, dann wanderte der Blick des Monstrums durch den Tunnel, vorbei an den beiden Menschen vor sich, direkt zu ihr. Es stieß ein Brüllen aus, wobei sein blutüberströmter Brustkorb erbebte. Es wandte sich von Audrey und ihrem Vater ab und stürmte an ihnen vorbei auf sie zu.

„Eve!“ Ihr Vater wollte nach dem Monster ausholen, doch es war zu schnell. Eve reagierte abrupt, griff ebenfalls an ihren Gürtel und fing an, rückwärts zu rennen. Aber im einen Moment war das Monster noch drei Meter vor ihr, dann, nur einen Augenblick später, waren seine schwarzen Augen direkt vor ihrem Gesicht. Sie taumelte einen Schritt nach hinten und verharrte dann regungslos auf der Stelle, die zitternden Hände am Gürtel, während sie spürte, wie ihr sein warmer, stinkender Atem über die Haut strich. Sie keuchte und ihr Brustkorb schnürte sich zu. Es stand über sie gebeugt, die langen Arme etwas nach vorne geneigt, so dass sie sie an den Seiten einengten.

„Bleib von ihr weg, du Missgeburt!“, schrie Colin und tauchte hinter dem Monstrum auf.

Nein, bitte nicht! Seine kalten Klauen schlossen sich blitzschnell um ihren Oberkörper, hoben sie hoch und schleuderten sie gegen die Wand, ehe ihr Vater sie auch nur erreicht hatte. Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihren Körper, als sie gegen die Wand prallte, herunterrutschte und davor zusammensackte.

Ihr Vater verfehlte das Wesen erneut, als dieses ihm leichtfüßig auswich. Mühsam versuchte Eve, sich aufzurichten, doch sofort fuhr ihr ein scharfer Schmerz durch den Körper, der ihr erneut den Atem stahl und sie keuchte laut auf. Etwas Warmes rann ihr über die Stirn. Blut? Ihr Helm war abgerissen worden und sie konnte kaum noch etwas erkennen. Während ihr Vater weiter nach dem Wesen ausholte, kam Audrey auf sie zugerannt und kniete sich neben sie. Behutsam zog sie Eve auf ihren Schoß. „Alles in Ordnung, das wird schon wieder...“, flüsterte sie, wobei ihr Tränen aus den Augen rannen. Das war schon wieder eine Lüge, oder?

„Mir geht’s gut“, brachte Eve hervor, worauf Audrey nur schluchzte. Auch sie zitterte am ganzen Leib und ihre Locken waren mit dem schwarzen Blut des Monstrums verklebt.

Dann ertönte wieder ein Grollen und Audrey sah tränenblind auf. In dem Dämmerlicht des Tunnels erkannte Eve, dass Ihr Vater dem Monster sein Schwert in den Hals gerammt hatte und das Grollen ging in ein Gurgeln über, als Blut aus seinem Hals sprudelte. Es taumelte zurück, fiel aber nicht. Colin holte schon zum letzten Schlag aus, da hob das Wesen seinen Kopf und erblickte Audrey und Eve. Ein röchelndes Knurren drang aus seiner Kehle und es sprang, so schnell, dass die Klinge von Colins Schwert nur noch an ihm vorbeiglitt, auf sie zu. Mit stolpernden Schritten kam es auf sie zu, aber es war noch immer gewandter als ihr Vater. Der Schrei ihres Vaters ging in dem Knurren unter, welches das Wesen ausstieß, als es sich auf Audrey stürzen wollte, die sich nicht rühren konnte und es nur voller Entsetzen anstarrte. Instinktiv stieß Eve sie beiseite und warf sich nach vorne.

 

Einen Moment lang war da nichts außer Dunkelheit, dann spürte sie, wie sich seine scharfen Zähne in ihre linke Schulter bohrten, als wäre ihre Weste aus hauchdünnem Papier. Sie vernahm ein lautes Knacken, als der Kieferdruck ihr Schlüsselbein brach. Audrey schrie im selben Moment wie sie selbst auf, während das Wesen seine Zähne wieder herauszog, benetzt mit tiefrotem Blut. Es öffnete sein Maul weit und stemmte sich mit den Krallen auf sie. Sie strampelte, ihre Finger kratzten über die ledrige Haut des Monsters, versuchten Halt zu finden und die Bestie wegzudrücken. Dann spürte sie, wie ihre Hüften unter seinem Gewicht nachgaben und der entsetzliche Schmerz raubte ihr den Atem. Nicht einmal mehr schreien konnte sie.

Vor ihren Augen war alles rot. Während ihr die Tränen aus den Augen liefen und alles vor Schmerz verschwamm, spürte sie etwas Warmes über ihren Hals laufen. Sie schnappte verzweifelt nach Luft, während sich der Kiefer des Monsters immer fester um ihre Kehle schloss und sich sein dunkles Blut mit ihrem eigenen vermischte. Erst als ihr ganzer Körper nur noch vor Schmerz brannte und langsam immer tauber wurde, nahm der Druck ab und das Wesen öffnete das Maul.

Plötzlich kippte es zur Seite und blieb reglos neben ihr liegen. Ihr Vater stand mit blutverschmiertem Schwert vor ihr, während Audrey neben ihr kniete. Ihr Hals pulsierte, der Schmerz legte sich immer mehr wie ein Schleier um sie. Sie wollte etwas sagen, aber selbst das Atmen fiel ihr schwer. Gleich war es vorbei, das wusste sie. Colins schwarz gefärbtes Schwert glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden.

Audrey presste Eve währenddessen verzweifelt ein Stück Stoff ihrer Uniform auf die Kehle. „Du wirst jetzt nicht sterben, verstehst du? Bleib bei uns!“ Ihre Stimme brach und ihre Tränen tropften auf Eves blasses Gesicht. „Du wirst jetzt nicht sterben...“ Sie schob ihren anderen Arm unter Eves Rücken und hob sie sachte an. Dann beugte sich näher über sie und drückte ihr Gesicht schluchzend in ihr Haar, das sich aus dem Zopf gelöst hatte.

Wie aus weiter Ferne hörte Eve ihre Stimme, doch sie konnte nichts mehr erwidern. Aus ihrer Kehle drang nur noch ein leises Röcheln. Sie spürte nichts außer dem Schmerz, der in jedem ihrer rasselnden Atemzüge lag, die immer schwerer wurden.

Schwach nahm sie wahr, wie ihr Vater ihre Hände drückte und sie dabei wie in Trance anblickte, während Audrey nicht aufhörte, zu weinen. Dann, eine gefühlte Ewigkeit später, griff er nach dem Gewehr auf Audreys Rücken. Sie sagte nichts, sondern starrte ihn nur an. „Das kannst du nicht tun...“, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme.

„Sie wird bald nicht mehr leiden müssen“, entgegnete er, während in seinem Inneren alles gefror. Schwerfällig stand er auf und richtete den Lauf auf Eves Kopf. Es würde gleich vorbei sein. Nur ein Schuss. Er würde seine Tochter nie wieder sehen. Warum starb er nicht mit ihr? Tränen rannen ihm aus den Augen. Musste es so enden? Kurz ließ er das Gewehr sinken, aber als Eve ein gurgelndes Geräusch ausstieß und ihr ein weiterer Schwall Blut aus dem Mund lief, hob er es wieder und legte seinen Finger an den Abzug. „Ich wünschte, ich hätte euch dieses Leben ersparen können. Wenn ich es doch nur gekonnt hätte...“ Die letzten Worte schluchzte er nur noch.

„Bitte nicht!“, flehte Audrey. Sie sah ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an. In ihren Augen lag dieselbe Verzweiflung wie in seinen.

Warum siehst du mich so an? Denkst du, wir können sie noch retten? „Es gibt nichts, dass sie noch retten könnte“, sagte er erstickt.

„Bitte tu es nicht“, bat sie erneut und drückte Eve an sich.

„Sie stirbt auch so. Ich will doch nur, dass sie nicht länger...“, setzte er an.

„Hör auf! Lass sie einfach in Ruhe...“, stieß Audrey aufgebracht hervor. Sie strich Eve sanft das blutverklebte Haar aus der Stirn. Dann begannen Eves glasige Augen sich langsam zu schließen und sie holte zum letzten Mal keuchend Luft, dann sackte sie leblos in Audreys Armen zusammen. Es war alles vorbei. Ein Leben, einfach so vorbei.

 

 

Laut weinend drückte Audrey den leblosen Körper an sich, bis Colin sie sanft an der Schulter berührte. „Du kannst sie loslassen, sie ist längst tot.“

Audrey konnte nichts erwidern, sondern lockerte nur widerwillig den Griff um Eve. Vorher gab sie Eve einen letzten Kuss auf die noch warme Stirn. „Es tut mir so leid…“, flüsterte sie, obwohl Eve diese Worte nicht mehr hören konnte. „Ich hab dich lieb. Leb wohl...“ Damit verabschiedete sie sich auch von einem Teil ihrer selbst, hatte sie das Gefühl. Einem Teil, der bei Eve zurückblieb, genauso tot wie sie. Etwas, dass nie wieder repariert werden konnte.

Als sie sich erhob, musste Colin sie stützen, sonst wäre sie umgefallen. Ihre Tränen waren versiegt und die Trauer war einem anderen Gefühl gewichen. Sie konnte den Blick immer noch nicht von Eve losreißen. Sie fühlte sich wie betäubt, unfähig zu denken, unfähig, sich zu bewegen.

„Wir müssen Deus’ Leuten Bescheid geben“, meinte Colin mit tonloser Stimme. „Und danach müssen wir hier weg.“ Das hieß, sie mussten Eve einfach hier lassen, bis ihre Leiche abgeholt wurde, von Leuten, die sie dann in die Pathologie verfrachten und untersuchen würden.

„Nein...“, wisperte Audrey und beugte sich zu Eve herunter, aber Colin packte sie am Arm und zog sie zurück. „Nein!“, brüllte sie ihn an, ehe sie sich beherrschen konnte und versuchte, sich loszureißen. „Ich will nicht! Ich will mich richtig von ihr verabschieden!“

Er wünschte sich dasselbe, aber er wusste auch, was sie ihnen antun würden, wenn sie protestierten. „Es geht nicht, Audrey“, stellte er klar, ohne den Griff um ihr Handgelenk zu lockern. „Du weißt, dass es nicht möglich ist. Wir müssen jetzt von hier verschwinden, klar? Es lässt sich nicht ändern, gegen Deus’ Gesetzte sind wir machtlos. Oder willst du im Gefängnis landen?“

Der Zorn und Hass, den er in Audreys Augen fand, galt nicht ihm, dennoch verletzte er auch ihn und machte ihm wieder einmal seine Machtlosigkeit gegenüber Deus deutlich. Wäre ihr Hass greifbar gewesen, hätte er seine Hand, die sie festhielt, versengt. Unbändiger Hass. Sie war genauso wie ihre Mutter. Auch sie hatte sich nicht belehren lassen. Aber belehren mit was? Mit Geschichten über Menschen, die Widerstand geleistet hatten? Selbst wenn ihre Mutter gewusst hätte, was deswegen später mit ihr selbst geschehen würde, hätte sie nicht aufgegeben. „Komm jetzt!“, forderte er Audrey auf. Anscheinend hatte diese sich etwas beruhigt, denn Colin konnte sie problemlos am Arm nehmen und aus dem Tunnel führen.

Dann ließ er Audrey los, die sich das gerötete Handgelenk rieb. Erst jetzt wurde ihm klar, wie stark sein Griff gewesen war und er entschuldigte sich, jedoch überhörte sie ihn, während ihr leerer Blick am Eingang des Tunnels hing. „Es tut mir leid. Aber es geht nicht anders. Es sind seine Gesetze, die uns zu so etwas zwingen. Und wir müssen sie befolgen. Erst eure Mutter und jetzt auch noch Eve. Ich kann einfach nicht zulassen, dass dasselbe mit dir geschieht. Bitte versteh das, Audrey. Oder versuch zumindest, es zu verstehen...“

Sie schwieg noch immer. Ihr Vater hatte Recht, was sollte sie also sagen? Sie musste sich für immer von ihr verabschieden. Es würde kein Begräbnis geben. Sie durften nicht mal die Asche ihrer Verstorbenen beisetzten. Das Band zwischen ihr und Eve war gerissen und was blieb, war nicht mehr als ein paar Fotos, Videoaufzeichnungen und Erinnerungen. Nichts als Erinnerungen, an die sie sich klammerte. Erinnerungen, die von Tag zu Tag mehr verblassen würden, bis Eve für immer fort war.

 

 

Das Mädchen saß gerade über eine Zeichnung gebückt, die feuerroten Haare zu einem lockeren Zopf gebunden, als das Display, welches neben ihr auf dem schmalen Bett lag, zu vibrieren anfing. Schnell legte sie den Bleistift aus der Hand und griff danach. Sie musste unbedingt wissen, wie es bei dem Auftrag gelaufen war.

Mit den Fingerspitzen fuhr sie flüchtig über die empfindliche Oberfläche des Displays und eine Projektion erschien. Sie erkannte Audrey, deren Gesicht erschöpft und angespannt aussah. Ihre Augen waren blutunterlaufen und das Mädchen erkannte sofort, dass sie geweint hatte. Eine Befürchtung stieg in ihr hoch. „Was ist los?“, fragte sie angespannt.

Audrey zögerte einen Moment, dann sagte sie mit gebrochener Stimme: „Eve...“

Ihr Herzschlag beschleunigte sich abrupt und ein Schauer fuhr ihr über den Körper. „Was ist mit ihr?“ Sie schluckte.

„Sie...“, begann Audrey schluchzend. „Sie ist tot, Leo…“ Tränen kullerten aus Audreys Augen, während das Mädchen dasaß und auf die Projektion von Audrey starrte, nicht fähig, ihre Worte zu begreifen.

„Das kann nicht sein...“, wisperte sie.

Audrey versuchte erfolglos, ihre Tränen mit einem Taschentuch fortzuwischen, während sie weitererzählte.  „Bei dem Auftrag vorhin...“

„Das kann nicht sein!“, unterbrach das Mädchen sie aufgebracht. Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen. „Das kann nicht sein...“, wiederholte sie schluchzend. Dann brach der Damm und sie fing hemmungslos an zu weinen. Eve war tot. Ihre beste Freundin war tot.

 

 

04.04. - Dienstag

 

Die Erschöpfung lastete wie Eisen auf ihr, bleierne Müdigkeit und Verwirrung. Als sie die Augen aufschlug, wusste sie nicht, wo sie war. Schwerfällig setzte sie sich auf und lehnte sich an die feuchte Wand des Tunnels. Wo bin ich? Und warum bin ich hier? Sie blickte sich um. Der Tunnel war verlassen.

Und wer bin ich? Ihre Erinnerung war vage, aber dann fiel ihr wieder ein Name ein: Evelyn... Evelyn Vendicares. War das ihr Name? Ja, das war er. Sie erinnerte sich wieder an ihre Familie. Audrey... und Papa... Wo sind sie? Bis vor kurzem waren sie noch bei ihr gewesen, das wusste sie. Aber warum waren wir in diesem Tunnel? Sie mussten hier einen Auftrag gehabt haben. Irgendetwas ist passiert...

 Verzweifelt versuchte sie, sich zu erinnern, aber statt einer Erinnerung kam nur der Schmerz. Die Haut an ihrer Kehle brannte. Langsam fuhr sie sich mit den Fingern über ihren Hals. Ihre Haut war an der Kehle wulstig und glühte förmlich. Was ist nur geschehen? Der Schmerz wurde schwächer, aber er war beständig. Ich muss hier raus. Einfach nach Hause...

Vorsichtig stemmte sie sich hoch. Als ihr ein scharfer Schmerz durch den Unterleib fuhr, sackte sie zurück zu Boden. Zuerst dachte sie, sie würde weinen, aber es kamen keine Tränen. Sie schienen alle verbraucht zu sein. Sie blickte an sich herunter und erkannte, dass der Stoff ihrer Kleidung an ihrer Hüfte völlig zerfetzt und blutverkrustet war. Als sie den Stoff zur Seite schob, kamen darunter aufgerissene, blutverklebte Wunden zum Vorschein. Diese waren ausgefranst und geschwollen. Eve fuhr mit den Fingern darüber. Sie schmerzten ebenfalls noch.

Dann fiel ihr Blick auf ihre blutverklebten Hände. „Was ist...?“, entfuhr es ihr. Doch das war nicht das einzige Blut. Ihr gegenüber, an der anderen Wand des Tunnels war eine Blutlache. War das ihr Blut? Erneut versuchte sie aufzustehen. Als sie es schließlich nach mehreren Anläufen unter Schmerzen schaffte, lehnte sie sich kurz erschöpft an die Wand und sah zu der Pfütze herüber.

Taumelnd ging sie darauf zu. Ein Würgereiz überkam sie, als sie direkt darüber stand. Sie wirbelte herum und torkelte weg von der Stelle. Das ist nicht nur Blut.
Eine verschwommene Erinnerung kam in ihr hoch. Da waren Audrey und ihr Vater, dieser bestialische Geruch und Audreys Frage, die sie nicht beendet hatte. „War das mal…?“ Nun konnte Eve sie beenden. „War das mal ein Mensch?“ Ja, irgendwann war das einmal ein Mensch gewesen, das hatte sie zweifellos erkannt.

 

Sie entfernte sich immer weiter, lief, auch wenn ihr jeden Moment die Beine wegzubrechen drohten. Schließlich sackte sie schwer atmend am Tunneleingang zusammen. Warum war sie nur so erschöpft? Und so unendlich müde... Ob sie nach mir suchen? Aber was war, wenn die beiden sie hier einfach zurückgelassen hatten?

„Das würden sie niemals tun.“ Kopfschüttelnd presste sie sich näher an die Wand. „Sie werden schon kommen...“ Irgendwann... Der Himmel war wolkenverhangen, als sie nach oben schaute. Grau und schmutzig, genauso wie der Tunnel. Kleine Tropfen prasselten auf die Erde und bald blickte sie durch einen dichten Regenvorhang.

„Sie werden kommen“, flüsterte sie zuversichtlich, dann lehnte sie sich erschöpft zurück. Das Rauschen des Regens wiegte sie in einen tiefen, langen Schlaf.

 

 

05.04.- Mittwoch

 

Als sie erwachte, war sie wieder im Tunnel, so tief, dass sie nicht einmal den Eingang sehen konnte. Panik erfüllte sie. Hatte sie jemand zurückgebracht? Aber das hätte sie doch merken müssen. Nein. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste selbst zurückgegangen sein, aber warum? Sie befand sich in der Nähe der Stelle, an der sie zum ersten Mal erwacht war. Warum bin ich wieder hier?

Sie strich sich das verschwitzte, dreckige Haar aus der Stirn. Inzwischen nahm sie etwas mehr war. Das Geräusch der Bahnen, die über ihr fuhren, die Kälte im Tunnel und ihr eigener muffiger, beißender Geruch. Ihre Kleidung klebte an ihr wie eine zweite Haut, genau wie die Feuchtigkeit im Tunnel. Wenigstens hatten die Schmerzen noch mehr nachgelassen, und als sie sich ihre Weste auszog, spürte sie nur noch ein leichtes Ziehen in der Schulter. Sie schleuderte die verschlissen Weste von sich weg und erhob sich schwankend.

Ich werde jetzt nach Hause gehen. Das müsste funktionieren. Ich bin nicht mehr müde und ich habe schon mal den Eingang des Tunnels gefunden. Zuversichtlich machte sie sich auf den Weg.

 

Doch sie konnte sich nicht mehr erinnern, wohin sie gehen musste. Der Tunnel besaß unzählige Abzweigungen und sie blieb vor jeder, die sie fand, unschlüssig stehen und versuchte, sich den Weg ins Gedächtnis zu rufen. Die Karte, die sie letztens noch im Kopf gehabt hatte, war zu einem unverständlichen Wirrwarr geworden, welches sie nicht entschlüsseln konnte. Hier entlang? Oder doch der andere Tunnel?

 

Irgendwann, als sie sich sicher war, dass sie dem Ausgang nicht näher gekommen war, sondern sich nur noch weiter von ihm entfernt hatte, trottete sie wahllos umher und ließ sich enttäuscht auf den kalten, harten Boden fallen. Sie zog ihre Knie näher an den Körper und ließ den Kopf darauf sinken. Sie würde nie wieder nach Hause finden.

Die Müdigkeit nagte an ihr wie ein lästiges Tier, das sie nicht abschütteln konnte, ebenso ihr Hunger. Sie spürte ein Verlangen, unglaublich stark, und so offensichtlich falsch, dass sie es immer wieder zu unterdrücken versuchte. Das war kein normaler Hunger. So etwas hatte sie noch nie verspürt.

Jetzt drehe ich anscheinend auch noch langsam durch. Aussichtslos unterdrückte sie ihren Hunger immer wieder, bis der Schlaf sie endlich davon erlöste.

 

 

Und als sie danach erwachte, war der Hunger verschwunden, während an ihren Kleidern frisches Blut klebte. Blut, das nicht von ihr war. Immerzu fragte sie sich, was sie getan hatte, warum sie es getan hatte. Dann fand sie die Antwort vor sich auf dem Boden. Es war der kleine, blutige, fellüberzogene Rest, der noch von ihrer Mahlzeit übrig war. Als sie die Überreste des Tieres sah, wurde ihr schlecht und sie musste sich übergeben.

Wenigstens ist es nur ein Tier gewesen, nicht mehr, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber sie wollte wissen, was sie sonst noch alles unbewusst getan hatte. Doch in ihrem Kopf war eine Blockade, die verhinderte, dass sie sich daran erinnerte, was sie getan hatte, jedoch wurde ihr bewusst, dass sie nie wirklich zu schlafen schien.

Der Schlaf war die Phase, in der sie sich selbst für eine Weile komplett verlor. Verloren in der Welt der Ungewissheit und des Wahnsinns. Als sie später versuchte, sich das Gesicht ihrer Eltern ins Gesicht zu rufen, sowie den Klang ihrer Stimme, erkannte sie nichts mehr als Leere.

Leere, die sie immer mehr übermannte, ihre Gefühle überlagerte und schließlich von neuen Empfindungen ersetzt wurde, Hunger und Zorn, schrecklicher Zorn, der sie um den Verstand zu bringen drohte. Zorn, in dem sie einfach alles zerstören wollte. Die einstige Eve schien ihr wie eine Kreidezeichnung, die immer mehr vom Regen weggewaschen wurde. Wie ein Regen, der nicht aufhörte wollte und drohte, alles wegzuschwemmen, was nicht mehr fest verankert war, wie ihr eigenes Selbst.

 

 

20.04. - Donnerstag

 

Ein Geruch, sehr vertraut, begehrt und köstlich, weckte sie eines Tages aus einem ihrer verworrenen Träume. Er legte sich wie ein angenehmer Duft um sie, und sie erhob sich schnell, während es in ihrem Magen anfing zu rumoren. Leise schritt sie durch den Tunnel, ihrem Geruchssinn folgend, bis sie die Menschen schließlich hörte. Blitzschnell duckte sie sich an die Wand, während die Schritte näher kamen.

Es hörte sich an wie drei... Ihr Fleisch roch noch jung, saftig. Plötzlich zuckte Eve zusammen. Da war noch etwas anderes an ihnen. Es waren nicht nur Menschen. Leise knurrend duckte sie sich noch tiefer. An zwei von ihnen haftete noch ein anderer Geruch, der eine roch so wie sie, während der Geruch des anderen sie rasend machte. Waren sie auf der Jagd nach ihr?

Die Schritte verstummten abrupt. „Was ist?“, wollte eine helle Frauenstimme flüsternd wissen.

„Sie ist hier ganz in der Nähe“, antwortete ihr eine andere Stimme, männlich und tief. Jetzt. Eve stürmte um die Ecke, gebeugt wie ein Tier. Der Mann, den sie zuerst angriff, wich ihr gewandt aus und sie stieß ein Knurren aus. Die Frau stieß einen erschreckten Schrei aus, hob dann jedoch schnell ihr Gewehr und zielte auf sie. Aber sie war zu langsam. Die Patrone verfehlte sie und Eve huschte ein paar Meter zurück.

Dann beobachtete sie die drei in immer noch gebeugter Haltung aus der Ferne. Zwei Männer und eine Frau. Aber mehr konnte sie nicht erkennen. Sie wechselten ein paar Worte miteinander, doch sie konnte diese nicht einordnen. Waren sie wütend? Überrascht? Oder sogar glücklich darüber, dass sie sie gefunden hatten? Es war, als würde sie die Sprache der Menschen nicht mehr verstehen, einst vertraut, nun fremd.

„Meinst du, dass wir sie noch retten können?“, wandte sich die Frau an einen der Männer.

„Ich weiß nicht“, gab dieser resigniert zurück.

Der andere Mann bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Wir werden es auf jeden Fall versuchen.“ Eve betrachtete sie interessiert. Sie war so hungrig...

„Pass auf!“ Das Mädchen rüttelte an der Schulter des Mannes, der gerade sein Gewehr zog.

Doch dieser drehte sich entspannt zu Eve um, legte an und schoss in dem Moment, als sie sich auf ihn stürzen wollte. Die Wut raubte ihr den Verstand und die Kugel zerschellte auf ihrer Stirn, wo sich sofort ein entsetzliches Brennen ausbreitete. Sie krümmte sich stöhnend am Boden zusammen und das Gift drang durch ihre Haut. Ihr Körper fing an zu beben und zu schmerzen. Blind schlug sie um sich und heulte auf, als sie einen Stich im Hals verspürte. Taumelnd kroch sie zurück, Blut lief ihr über den Hals. Der Boden des Tunnels schien sich zu drehen, ihr Zorn verflog, verwackelt sah sie noch, dass einer der Männer auf sie zukam.

Während sie zu Boden sackte, schob er seine kräftigen Arme unter ihren Körper und hob sie vorsichtig hoch. Eve hing starr wie eine reglose Puppe in seinen Armen. Das Letzte, was sie wahrnahm, war sein verschwommenes Gesicht über ihr und seine Stimme, die ein paar Worte formte: „Keine Angst, es wird alles gut. Wir werden dir helfen.“ Dann nur noch Dunkelheit.

-2- Ein Zuhause

22.04.2173 - Samstag

 

Licht drang durch ihre geschlossenen Lider und als sie sich auf die Seite drehte, spürte sie, wie sich etwas Weiches in ihr Gesicht drückte. Schlaftrunken blinzelte sie. Es dauerte eine Weile, bis sie klar erkennen konnte, wo sie war. Zuerst fiel ihr Blick auf die großen Fenster, durch die trübes Licht fiel. Langsam drehte sie sich auf den Rücken und richtete sich auf. Das Bett, in dem sie lag, war größer als jedes, in dem sie jemals gelegen hatte, und die unzähligen, hellen, flauschigen Decken darauf waren über sie drapiert worden. Das sanfte Deckenlicht, das jemand eingeschaltet hatte, brach sich in den goldenen Verzierungen an der hellgrünen Wand.

Wo war sie? Sie schlug die unzähligen Decken zurück und setzte sich, noch immer ziemlich benommen, auf die hohe Bettkante. Der weiche, dunkelgrüne Teppich hob sich deutlich von der blassen Haut ihrer Füße ab. Schwankend kam sie auf die Beine und ging zum Fenster. Überrascht starrte sie eine Weile auf die Skyline der Stadt, die sich in leichter Entfernung abzeichnete. Dieses Haus lag im äußersten Radius von Alban. Unten im Innenhof erkannte sie einen imposanten Springbrunnen, der von einem sauberen Kiesweg umgeben war, der scheinbar vor der Haustür endete, die sie von dem Fenster aus aber nicht einsehen konnte. Sie müsste direkt unter dem Fenster sein. Das Grundstück wurde von einem massiven, schmiedeeisernen Zaun eingegrenzt, der in der Mitte in ein hohes Tor überging, dessen Metall wie Ranken und Blüten geformt war. Dahinter erkannte sie eine ungepflasterte Straße, die anscheinend ins Innere von Alban führte.

Auch wenn das gesamte Grundstück ziemlich protzig wirkte, fiel ihr etwas auf, was auch hier nicht anders als mitten in Alban war. Nirgendwo wuchsen Pflanzen. Als sie sich vom Fenster abwenden wollte, fiel ihr Blick auf die goldenen Gravuren in dem weiß angestrichenem Holz des Fensterrahmens. Gedankenversunken fuhr sie darüber und sah plötzlich, dass ihre Hände blutverkrustet waren. Verwirrt betrachtete sie diese genauer und vage Erinnerungen kamen in ihr hoch.

Der Tunnel. Sie konnte sich kaum erinnern, was sie in den letzten Tagen, geschweige denn im Schlaf, getan hatte. Ehe sie sich weiter den Kopf zerbrechen konnte, riss sie ein Geräusch aus den Gedanken und sie drehte sich rasch um. Jemand klopfte an die Zimmertür, die sich kurz darauf öffnete.

„Endlich bist du wach.“ Ein zierliches Mädchen mit langen, rotbraunen Haaren und strahlend grünen Augen blickte sie freundlich an. „Willkommen in unserem Zuhause. Ich bin Grace.“ Lächelnd streckte sie Eve ihre schlanke Hand entgegen.

Eve schüttelte sie perplex. „Mein Name ist Evelyn... Evelyn Vendicares“, brachte sie hervor.

„Schön, endlich einen Namen zum Gesicht zu kennen“, erwiderte Grace. „Wie geht es dir? Fühlst dich besser?“, fragte sie fürsorglich. Eve ließ sich zurück auf das Bett sinken. Erst da wurde ihr bewusst, wie gut sie sich wieder fühlte. Sie verspürte kaum noch Schmerzen, fast, als wäre überhaupt nichts gewesen.

„Ja, es scheint soweit alles in Ordnung zu sein“, gab sie zurück.

„Dann ist ja gut“, entgegnete Grace.

„Wo bin ich hier?“, wollt Eve wissen. Grace lächelte erneut.

„Keine Angst, du bist hier in Sicherheit. Das ist das Haus von unserem Anführer Nys.“

„Von eurem Anführer?“, fragte Eve verwirrt. Wer waren diese Leute?

„Er ist eher so was wie ein großer Bruder.“ Ihr Blick fiel auf Eves schmutzige Sachen, die sie noch immer trug. „Wir werden dir später alles genau erklären, denn jetzt solltest du vielleicht erst einmal duschen gehen.“ Beschämt blickte Eve an sich herunter. Ihre Kleidung war verdreckt und verschwitzt, sie klebte eng an ihrem Körper.

„Komm“, forderte Grace sie auf und führte sie aus dem Zimmer einen langen Flur entlang. Sie blieb vor einer weißen Tür stehen, an der ein Schild mit goldenen Buchstaben hing, welche „Badezimmer“ verkündeten. Grace öffnete die Tür. „Das ist eines unserer Bäder“, sagte sie.

Eines eurer Bäder? Eve trat nach ihr ein und blickte sich verblüfft in dem Raum um, der mit einer gigantischen Badewanne und Duschecke ausgestattet war, während die sandfarbenen Fliesen wie frisch poliert glänzten und die Wände in einem frischen zitronengelb leuchteten.

„Nehm dir einfach, was du brauchst.“ Grace deutete auf die zahlreichen Flaschen, die auf dem breiten Holzschrank an der rechten Wand des Bades standen. „Außer die hier.“ Sie tippte auf ein paar teuer aussehende Glasflaschen. „Die sind von Florence. Du solltest sie besser nicht anfassen.“

Eve lächelte sie dankend an. „Wohin soll ich kommen, wenn ich fertig bin?“, erkundigte sie sich.

„Geh einfach bis zur Treppe, diese herunter und dann nach rechts. Durch die große Doppelflügeltür kommst du in unser Wohnzimmer. Da bin ich, genau wie die anderen.“

„Okay“, meinte Eve. Grace öffnete noch schnell eines der Fächer im Badschrank.

„Hier drinnen sind die Handtücher, häng die nassen nachher am besten einfach draußen über das Geländer, ja?“ Eve nickte und kurz bevor Grace das Bad verließ, drehte sich diese noch einmal um. „Ach ja, was deine alten Sachen angeht, würde ich sagen, hauen wir die einfach in den Müll und ich gebe dir erstmal welche von Florence, ja?“

„Ist sie denn damit einverstanden?“, fragte Eve zweifelnd.

„Ja. Ich hole sie gleich und lege sie dir vor die Tür.“

Nachdem Grace gegangen war, drehte Eve sich langsam um und betrachtete sich bestürzt im Spiegel. Ihre Haare waren total verfilzt, fettig und mit getrocknetem Blut verklebt. Tränen traten ihr in die Augen, als sie mit den Fingern über all die Knoten fuhr, die mal ihre langen, seidigen Haare gewesen waren. Egal, was sie probierte, sie würde ihre Haare nicht durchgekämmt bekommen. Kurzerhand griff sie nach der Schere, die jemand auf dem Brett unter dem Spiegel hatte liegen lassen. Ich kann das. Sonst habe ich mir auch immer die Haare alleine geschnitten. Also, los jetzt!

Ihre Hand zitterte, als sie ihre Haare knapp über der Schulter abschnitt. Die dreckigen, verknoteten Strähnen fielen ins Waschbecken und sie sammelte sie schnell zusammen und warf sie in den Mülleimer, dann blickte sie wieder in den Spiegel. Auch ihr Hemd war dreckig und blutverkrustet und an Schultern und Hüfte zerrissen.

Von wem war nur all dieses getrocknete Blut? Es konnte unmöglich ihr eigenes sein, sonst würde sie jetzt nicht mehr hier stehen. Erneut überkam sie ein beklemmendes Gefühl, und sie beschloss, erst einmal nicht mehr darüber nachzudenken. Diese Leute, bei denen sie jetzt war, würden ihr schon ein paar Antworten geben können. Allmählich wurde ihr jedoch klar, dass sie Wochen in diesem Tunnel gewesen sein musste.

 Sie wusch sich das Gesicht mit dem kühlen Leitungswasser und einer großen Portion duftender Seife. Ob sie es schaffen würde, diesen widerlichen Geruch wieder ganz loszuwerden? Sie war froh, dass Grace nichts dazu gesagt hatte, und dennoch war es ihr schrecklich peinlich, dass andere sie so verwahrlost gesehen hatten. Vor der Tür waren Schritte zu hören und sie verharrte starr vor dem Spiegel. „Ich lege die Sachen hierhin, ja? Sie müssten dir passen, du und Florence habt ungefähr dieselbe Größe“, drang die Stimme von Grace gedämpft durch die Holztür.

„Vielen Dank“, gab Eve zurück, wandte sich vom Spiegel ab und ging schnell zur Tür, öffnete diese und griff nach dem Stapel Wäsche. Grace war bereits am anderen Ende des langen Flurs verschwunden.

Dabei wollte ich sie doch unbedingt noch fragen, wann ich zurück nach Hause kann...  Hoffentlich musste sie nicht allzu lange hier bleiben. Sie ging zurück ins Bad und verriegelte die Tür von innen, ließ den Stapel frischer Wäsche auf einen kleinen Hocker in einer Ecke fallen und schlüpfte aus ihren Sachen. Diese warf sie achtlos auf den Boden, schließlich konnte sie diese sowieso nicht mehr anziehen.

Eine schreckliche Befürchtung bewahrheitete sich, als sie sich nackt im Spiegel sah. Ihre linke Schulter und beide Hüften waren mit dickem Schorf bedeckt, das sich seltsam dunkel verfärbt hatte. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Selbst ihr Hals war voller getrocknetem Blut. Es war alles ihr Blut gewesen. Aber warum? Was war denn nur passiert? Und wie waren die Wunden so schnell verheilt? Bleib einfach ganz ruhig. Du wirst deine Antworten schon noch bekommen.

Wahllos griff sie nach ein paar Flaschen vom Schrank, einem Schwamm und anderem, was sie sonst noch so brauchte. Danach stieg sie in die große Dusche. Zuerst ließ das kalte Wasser sie frösteln, schwang dann aber überraschend schnell um und ergoss sich unglaublich heiß über sie. Noch nie hatte sie sich mit so heißem Wasser geduscht und zuerst verbrühte sie sich, worauf sie schnell die Temperatur herunterriegelte. Als ihre Haare vollkommen durchnässt waren, drehte sie das Wasser kurz ab und griff nach dem Shampoo. Sie klatschte sich einen großen Klecks auf die Hand und massierte diesen gründlich in die kurzen Haare ein. Es fühlte sich alles völlig ungewohnt an. Rasch griff sie nach dem Duschbad und dem auf der Duschablage liegenden Schwamm. Bald war sie über und über mit duftendem Schaum bedeckt. Erneut stellte sie das Wasser an.

Es wusch all den Schmutz und das getrocknete Blut fort, bis sie die Narben an der Hüfte und an der Schulter erkennen konnte. Sie waren gerötet und wulstig. Nicht darüber nachdenken!, wiederholte sie in Gedanken. Sie wiederholte die Prozedur noch einmal und stieg schließlich, in eine duftende Dampfwolke gehüllt, aus der Dusche.

Trotzdem sah sie immer noch schrecklich aus, wie ihr Spiegelbild ihr zeigte. Leichenblass, mit blauvioletten Ringen unter den Augen und sichtlich abgemagert. Sie fuhr mit den Fingern über die Narbe an ihrer Schulter. Sie sah schlimmer aus, als sie war, dennoch wunderte es sie, dass sie kaum wehtat. Da fiel ihr etwas an ihrem Hals auf: Helle, unebene Flecken. Die Form, in der sie angeordnet waren, erinnerte sie an etwas, doch ihr wollte partout nicht einfallen, an was genau.

Also hüllte sie sich leicht fröstelnd in ein langes Badetuch und fing an, sich die Haare mit einem kleineren Handtuch trocken zu reiben. Dann griff sie nach einer abgenutzten Bürste auf dem Brett neben dem Spiegel und fuhr sich durch die wirren Haare. Es dauerte eine Weile, bis ihre noch feuchten Haare glatt und ordentlich nach unten hingen. Sobald sie richtig trocken waren, würde sie diese wohl noch einmal nachschneiden müssen.

Sie griff nach der Kleidung von Florence. Es war sogar Unterwäsche dabei, stellte sie überrascht fest. Sie zog sich alles über und betrachtete sich dann erneut im Spiegel. Eine hellgraue Jogginghose und ein lavendelfarbener Pullover, der ihr bis über die Hüfte ging. Die Sachen passten ihr tatsächlich wie angegossen. Schnell warf sie sich die feuchten Handtücher über die Schulter und trat hinaus auf den Flur.

Das Haus war wirklich riesig. Zu beiden Seiten von ihr erstreckte sich ein langer Flur, durch den Grace sie vorhin geführt hatte. Fast hätte Eve erwartet, dass die Wände mit teuren Gemälden behangen waren, doch sie waren vollkommen leer, bis auf eine wunderschöne Bordüre oben an der Wand, die aus verzweigten Ranken bestand. Es wirkte jedoch auch ohne zusätzliche Dekoration wie ein großes, modernes Schloss. Sie ging ein Stück den Flur entlang, bis vor ihr eine breite Treppe mit einem steinernen Geländer, in welches feine Gravuren eingearbeitet waren, und mit blank polierten, hellen Steinstufen, auftauchte.

Schnell hing sie die Handtücher über das Geländer, dann ging sie die Stufen herunter und blickte sich um. Der Boden der Eingangshalle war nicht wie das Obergeschoss mit Teppich ausgelegt, sondern bestand aus reinem, blütenweißem Marmor, dessen Kälte durch ihre dünnen Socken drang, als sie auf die hohe Doppelflügeltür rechts von sich zusteuerte. Von drinnen hörte sie Stimmen, die sich fröhlich und unbekümmert unterhielten.

Sie verharrte einen Moment regungslos vor der Tür. Plötzlich schlug ihr Herz schneller und sie bekam ein flaues Gefühl im Magen. Sie war an diesem Ort völlig fremd und gleich würde sie Menschen gegenüberstehen, die ihr vollkommen unbekannt waren. Grace hatte zwar gesagt, dass sie hier in Sicherheit war, was bedeutete, dass diese Leute anscheinend so etwas wie Freunde von ihr waren, aber konnte sie ihnen dennoch so einfach vertrauen? Sie musste sich auf ihre Intuition verlassen. Vielleicht konnten diese Leute ihr endlich ein paar Antworten geben. Mit zittrigen Händen drückte sie die Klinke an der rechten Hälfte der Tür herunter und trat in den Raum dahinter.

 

Angenehm warme Luft kam ihr entgegen. Die Unterhaltung verstummte abrupt und sechs fremde Gesichter blickten ihr entgegen. „Komm ruhig herein.“ Grace winkte ihr zu, während Eve die Tür hinter sich schloss und unschlüssig näher trat.

„Hallo“, brachte sie mühsam hervor und schenkte Grace ein flüchtiges, wenn auch leicht gequältes Lächeln. An zwei Wänden des Raumes stand jeweils ein großes, dunkelrotes Sofa, eins links zum Fenster hin und das andere genau gegenüber an der rechten Wand, während in der Mitte zwischen ihnen ein niedriger Tisch aus Glas stand. Die ebenfalls dunkelroten Vorhänge vor den hohen Fenstern waren zugezogen, und das Kaminfeuer, das an der Wand zwischen den beiden Sofas brannte, hüllte den Raum in warmes, gedämpftes Licht. Selbst der Boden war warm, so kam es ihr jedenfalls vor, als sich ihre Zehen nervös in den dicken Teppich gruben.

Außer Grace waren nur noch zwei andere Mädchen anwesend. Das eine grinste ihr vom Boden aus zu, genau wie der Junge neben ihr, der ihr unglaublich ähnlich sah. Beide sahen aus wie höchstens acht, mit dunkelblondem Haar und grauen Augen. „Hi“, sagten sie im Chor.

„Das sind Sheila und Fabio“, erläuterte Grace kurz.

Das andere Mädchen schien älter als sie zu sein und hatte langes, platinblondes Haar und hellblaue Augen, die nur kurz zu ihr aufblickten. Sie murmelte kurz etwas, das wie „Hallo“ klang, dann beugte sie sich wieder über die schwarze Katze auf ihrem Schoß. Das musste dann wahrscheinlich Florence sein. Atemberaubend hübsch und feminin. Sie kam ihr irgendwie bekannt vor, genau wie der Junge neben ihr, an dem jetzt ihr Blick hängen blieb. Kurze schwarze Haare und dunkelbraune Augen, er sah ziemlich normal aus, trotzdem löste er ein seltsames Gefühl in ihr aus. Er beachtete sie nicht im Geringsten, denn er las versunken in einem Buch.

Ihr Blick wanderte weiter, noch ein älterer Junge, vielleicht achtzehn, mit sonnengebräunter Haut, dunkelbraunen Locken und grünbraunen Augen, die sie freundlich anblickten, als er sie anlächelte.

Und im einzigen Sessel, schräg vor dem Kamin, in dem das Feuer gemütlich brannte, saß der Mann, der wahrscheinlich Nys war. Er war sehr groß und muskulös und hatte längere, tiefschwarze Haare, die er ordentlich zu einem Zopf gebunden hatte. Seine Beine, in eine lockere schwarze Jeans gehüllt, hatte er bequem überschränkt. Alles in einem wirkte er wie ein exotisches Tier. Eve betrachtete ihn gerade, als seine eisblauen Augen ihren Blick fanden und er lächelte. Seine Zähne leuchteten genauso weiß wie das Hemd, das er trug.

„Willkommen, Evelyn. Setz dich doch.“ Er deutete mit dem Kopf auf eine freie Stelle auf dem Sofa zwischen Grace und dem Jungen mit den Locken.

„Danke“, murmelte sie und ließ sich neben Grace nieder, dann richtete sie den Blick wieder auf Nys.

„Fühlst du dich besser?“, fragte er mit sanfter Stimme. Sie nickte scheu. „Es freut mich, das zu hören.“

„Sie sind Nys, nicht wahr?“ Sein Lächeln wurde breiter.

„Ja“, gab er zurück. „Nys Dephenderas.“

„Dann waren sie es, die mich aus dem Tunnel geholt haben. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.“

Er schüttelte den Kopf. „Das war nicht ich. Der Befehl kam lediglich von mir. Die Personen, die dich hierher gebracht haben, waren diese drei. Ivo, Don und Florence.“ Mit zufriedenem Gesicht blickte er in die Runde.

Der Junge neben Eve lächelte sie an. „Ich bin Ivo.“ Sie erwiderte sein warmes Lächeln, das ihr ein wenig das Gefühl gab, hier nicht völlig fremd zu sein. „Wir sind heilfroh, dass wir dich da raushauen konnten“, sagte er.

Florence hob den Kopf und sah sie an. „Und zum Glück war es noch nicht zu spät“, meinte sie und fügte ein kleines Lächeln hinzu. Don, der neben ihr saß, sah nicht einmal von seinem Buch auf.

Eve wandte sich wieder Ivo zu. „Wie meint ihr das, dass es noch nicht zu spät war? Wofür zu spät?“

Überrascht blickte er sie an. „Hast du denn nichts gespürt während der Zeit, in der du da unten warst?“

„Doch, irgendwie schon“, meinte sie zögernd. „Aber ich kann mich kaum noch erinnern...“ Sie starrte auf die Tischplatte vor sich, auf der das goldorangene Kaminlicht tanzte.

„Was fällt dir noch ein?“, hakte Nys nach.

„Ich weiß, dass ich einen Auftrag mit meinem Vater und meiner älteren Schwester hatte. Aber was danach geschehen ist, weiß ich nicht mehr.“

„Ihr wurdet angegriffen. Daher hast du die Narben.“

Eve blickte ihn verwirrt an. „Aber wie kann es sein, dass sie schon so weit verheilt sind? Ich meine, wie lange war ich denn da unten?“

„Ungefähr zwei Wochen“, antwortete er ihr, worauf sie noch verwirrter dreinschaute.

„Das ist unmöglich, innerhalb so kurzer Zeit können diese Wunden nicht verheilt sein, bei den Narben, die sie hinterlassen haben.“ In dem Moment blickte Don auf und tauschte einen kurzen, wissenden Blick mit Nys.

„Bist du dir da sicher?“, fragte Nys sie.

„Natürlich!“, erwiderte sie überzeugt. „Das ist völlig unmöglich.“

Nys fuhr sich seufzend durch ein paar lose Haarsträhnen. „Du weißt also wirklich nicht, was passiert ist...“, stellte er fest.

„Nein, daher dachte ich, Sie würden mir endlich erklären, was los ist und wann ich zurück zu meiner Familie kann.“

„Niemals mehr“, entgegnete er traurig.

„Wie bitte?“, wollte sie perplex wissen.

„Du wirst nie wieder zurück zu deiner Familie können“, wiederholte er.

Abrupt erhob sie sich und sah ihn ungläubig an. „Was reden Sie da?“, rief sie aufgebracht.

„Fühlst du dich irgendwie fremd oder verändert?“, wollte er plötzlich wissen.

„Ich wüsste nicht, was das...“, setzte sie aufgebracht an.

„Trifft das auf dich zu?“, unterbrach er sie. Sie schwieg, denn sie wusste die Antwort darauf bereits. Langsam ließ sie sich zurück auf das Sofa sinken.

„Ja, schon“, gab sie zu. „Ich war mir selbst fremd, unglaublich zornig und wusste überhaupt nicht, warum. Alles fühlte sich plötzlich anders an.“

„Du warst dabei, deine Seele zu verlieren“, eröffnete Nys ihr.

Was soll das? Was erzählt er? Haben diese Leute hier etwa alle eine Schraube locker? Sie wollte doch einfach nur nach Hause.

„Du weißt, was ich meine, nicht wahr?“ Sie erschrak und sah wieder Nys an. Grace blickte sie mitfühlend an, doch Eve ignorierte ihren Blick.

„Nein“, sagte Eve. Zur Hälfte glaubte sie an seine Worte. Zum anderen Teil kam es ihr total suspekt und verrückt vor. Noch nie hatte sie gehört, dass jemand seine Seele verloren hatte.

„Als Florence eben meinte, es sei fast zu spät gewesen, um dich zu retten, war damit gemeint, dass nicht mehr viel gefehlt hätte, dann wärst du...“, begann Nys, hielt dann aber inne. Er nahm seine Füße herunter und beugte sich bedacht nach vorne. „Du bist jetzt kein Mensch mehr, dass weißt du doch, oder?“, fragte er, worauf sie laut auflachte, als hätte er einen schlechten Scherz gemacht.

„Kein Mensch mehr? Also bitte, so etwas Albernes habe ich noch nie gehört“, erwiderte sie. Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl, ihr eigener Körper, der ihr fremd vorkam.

„Das ist mein voller Ernst“, entgegnete er und blickte düster drein, dann lehnte er sich wieder in seinem Sessel zurück.

„Das kann nicht sein...“, murmelte sie erstickt und Tränen brannten in ihren Augen. Sie wollte einfach nach Hause, weg von diesen Leuten.

Grace berührte sachte ihre Schulter, worauf sie zurückschreckte. „Tut mir leid...“, sagte Grace und ließ die Hand wieder sinken. „Euer Auftrag ist schief gegangen. Ihr solltet etwas anlocken, was in dem Tunnel lebte. Das habt ihr auch geschafft, aber dann hat dich dieses Wesen schwer verletzt“, erklärte sie Eve und warf ihr einen traurigen Blick zu. Eve wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Denn eines hatte sie nicht vergessen.

„Da war dieser entsetzliche Schmerz“, wisperte sie.

„Das Wesen, was euch angegriffen hat, nennen wir Dämon. Er hat dir beide Hüftgelenke und dein linkes Schlüsselbein gebrochen“, erzählte Ivo.

„Daher die Narben.“ Eve schluckte. „Ein Dämon...“, flüsterte sie.

„Kannst du dich an ihn erinnern?“, fragte Ivo.

„Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein. Er war so unglaublich grässlich, sein Aussehen, seine Laute, einfach alles.“ Sie konnte nicht verhindern, dass ihr eine Träne aus dem Auge kroch und auf die Hose tropfte, wo sie einen dunklen Fleck hinterließ. Sie sagten die Wahrheit. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Es war alles viel zu verrückt und verworren. „Es tut mir leid. Ich habe Ihnen nicht geglaubt“, entschuldige sie sich dann.

„Macht nichts“, meinte Nys. Sie tastete mit der Hand nach der Narbe an ihrer Schulter, die sie selbst durch den Stoff ihres Pullovers deutlich spüren konnte.

„Sie sind so schnell verheilt...“ Erschrocken hielt sie inne. Eine schreckliche Ahnung kam in ihr hoch. „Bin ich jetzt etwa auch so ein...?“ Ihre Stimme brach.

„Zur Hälfte“, sagte Grace.

„Ich bin also ein Monster“, stieß sie erstickt hervor. Ihre Finger krallten sich in den weichen Pullover. Das konnte alles nicht wahr sein! „Und all das Blut an meinen Klamotten war nicht nur von mir, oder?“, fragte sie ängstlich. „Ich habe etwas Schlimmes getan, nicht wahr...?“

„Du hast niemanden verletzt, zumindest keinen Menschen“, unterbrach Ivo sie rasch. „Du hattest Hunger und brauchtest dringend Nahrung, da war so etwas selbstverständlich.“

„Was ist selbstverständlich? Was habe ich getan?“, wollte sie wissen.

„Du hast gejagt, nichts weiter. Ein paar wilde Tiere, die sich in den Tunneln herumgetrieben haben, Füchse, Marder und Ratten“, sagte Ivo mit beruhigender Stimme, dennoch hatte Eve das Gefühl, dass an seiner Aussage irgendetwas nicht stimmte, abgesehen von dem Ekel, der sie dabei überkam. „Keine Sorge, du wirst lernen, es zu beherrschen. Den Zorn in dir zu beherrschen.“

„Und wenn nicht?“ Eve blickte ihn verzweifelt an und fragte sich, wie diese fremden Leute es schafften, sie dazu zu bringen, ihnen zu vertrauen.

„Du wirst es schaffen“, versicherte er ihr. Eve blickte die anderen im Raum an.

„Seid ihr alle zur Hälfte so? Dämon, meine ich.“ Ivo und Grace nickten. Sie blickte zu Nys hinüber.

„Ja. Und zwar schon eine ganze Weile“, sagte er.

„Nein, aber was ich wieder bin, erspar ich dir lieber“, kam es von Don.

Florence funkelte sie an. „Ich bin ein Mensch, aber komm ja nicht auf die Idee, mich zu einer deiner Mahlzeiten zu machen.“ Dann widmete sie sich wieder der schnurrenden Katze. Sollte das etwa heißen, die Dämonen ernährten sich von Menschenfleisch? Sie also auch? Oder hatte sie das vielleicht schon getan und Ivo hatte sie eben belogen? Sie spürte, wie ihr schlecht wurde.

Als Grace bemerkte, wie blass sie war, beruhigte sie Eve. „Keine Angst, wir essen keine Menschen. Das wäre ja wohl mehr als widerlich.“ Eve sah sie wenig überzeugt an. „Wirklich! Wir sind zwar Halbdämonen, aber das heißt nicht gleich, das wir auch so monströs wie richtige Dämonen sind, verstanden?“

Eve nickte nur. Ihr war noch immer schlecht. „Und ihr?“, wandte sie sich schließlich an Sheila und Fabio, die neben Nys’ Sessel saßen und puzzelten.

Fabio hielt inne und sah sie an. „Wir sind wie du. Haben wir von unserer Mama geerbt.“ Ihm schien dies nichts auszumachen, denn er grinste sie dabei ungerührt an.

Wahrscheinlich, weil sie damit aufgewachsen sind, dachte sie, während ihre Kehle brannte und sie glaubte, gleich erneut in Tränen auszubrechen. Warum hat es mich getroffen? Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ihr altes Leben zurück. Sie schluckte die Tränen herunter und sah Nys an.

„Es ist vererbbar?“, sagte sie, worauf er nickte.

„Und es ist höchst ansteckend. Du hast dich in dem Tunnel durch das Blut des Dämons infiziert, als er dich gebissen hat.“ Reflexartig griff sie nach ihrem Hals.

„Er hat mir die Kehle durchgebissen…“, flüsterte sie und hatte das Gefühl, den Schmerz wieder zu spüren, als die Erinnerung daran zurückkehrte. Die Flecken waren also der Rest von noch einer Narbe.

„Und es gibt kein Heilmittel?“, hakte sie hoffnungsvoll nach, doch Nys ließ ihre Zuversicht sofort verschwinden.

„Nein.“ Das alles konnte doch nur ein schlimmer Alptraum sein.

„Du bist sicher erschöpft.“ Sie sah hoch. Grace war aufgestanden und blickte sie fürsorglich an. „Das ist für den Anfang ziemlich viel auf einmal. Es wird dauern, bis du das alles verarbeitet hast. Willst du dich ein bisschen hinlegen?“

„Ich wohne jetzt also erstmal hier, oder?“

„Ja, betrachte es als dein neues Zuhause.“

Mein neues Zuhause? Es gibt für mich nur ein Zuhause, und das ist nicht hier. Es ist bei meiner Familie. Ihr fiel wieder Nys’ Antwort auf ihre Frage, wann sie nach Hause gehen könnte, ein. Niemals mehr. Florence schenkte ihr einen kurzen Blick.

„Wir alle sind hier, weil wir nicht nach Hause zurückkehren können. Auch du kannst das nicht“, sagte sie matt.

„Ich weiß. Schließlich bin ich jetzt zur Hälfte das, was mein Vater jagt.“ Müde und erschöpft erhob sie sich.

„Es tut mir sehr leid für dich“, sagte Nys und Eve schenkte ihm noch ein letztes, schwaches Lächeln.

„Vielen Dank für alles“, erwiderte sie nur.

„Keine Ursache. Wenn du irgendetwas brauchst, gib mir Bescheid“, bestand er.

„Mach ich. Dann bis morgen.“

„Grace, geh mit ihr in die Küche und sorg dafür, dass sie noch etwas Ordentliches zu Essen kriegt“, forderte Nys noch. Grace griff sogleich nach Eves Hand und zog sie sanft aus dem Wohnzimmer.

 

 

Eve saß auf dem Bett in dem Zimmer, in welchem sie vorhin aufgewacht war. Ab jetzt gehörte es ihr, hatte Nys ihr gesagt. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre inzwischen fast trockenen Haare.

Grace stand neben dem Nachtschrank am Bett und kramte darin rum, auf der Suche nach einem Display, hielt jetzt aber inne. „Hier ist nichts“, murmelte sie. Eves Blick fiel auf ein Foto, das Grace aus der Schublade geholt hatte. Während es dort lag, betrachtete sie es genauer. Grace blickte ebenfalls kurz auf das Bild. „Das ist Clare“, erklärte sie. Die Frau auf dem Foto hatte schulterlange, goldblonde Locken, blaue Augen und war wunderschön. „Ich weiß nicht mal, wieso das Foto hier in der Schublade liegt." Grace’ letzte Worte waren nur mehr ein Murmeln.

„Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so glücklich aussieht“, sagte Eve. Ihr Lächeln wirkte echt und natürlich, nicht so aufgesetzt wie das von Florence oder den meisten anderen in Alban.

„Das war sie auch. Und Nys hat sie über alles geliebt, so wie sie ihn. Sie war der wichtigste Mensch für ihn.“ Das Wort Mensch betonte Grace besonders. Clare war also ein Mensch und kein Halbdämon gewesen.

„Was ist mit ihr geschehen?“ Grace erstarrte einen Moment.

„Sie ist gestorben“, sagte sie dann. Betroffen dachte Eve daran, wie freundlich Nys zu ihr gewesen war. Ihm ging es also ähnlich wie ihr. Auch er hatte etwas verloren, das niemand jemals würde ersetzen können.

„Wie ist es passiert?“ „Bei einem Auftrag. Sie war damals in derselben Einheit wie Nys.“

Überrascht blickte Eve auf. „Er war bei der Aufsicht?“

„Er ist es immer noch. Wir alle arbeiten für die Aufsicht.“ Als sie die Überraschung in Eves Gesicht bemerkte, fügte sie schnell hinzu: „Das erkläre ich dir morgen genauer, okay?“ Sie nahm das Bild an sich und schloss die Schublade. „Ohne sie wäre er nie so geworden, wie er jetzt ist. Und er liebt sie immer noch sehr“, sagte Grace. Für einen Moment fragte sie sich, wie alt Grace eigentlich war. Sie wirkte ziemlich reif, sah aber nicht älter als fünfzehn aus.

„Grace, wie alt bist du eigentlich?“, stellte sie deshalb die Frage.

„Vierzehn.“ Sie erntete einen erstaunten Blick von Eve.

Erst vierzehn. Und sie hat sicherlich schon viel mehr durchmachen müssen als ich. „Du wirkst viel älter.“

„Das machen die Umstände“, entgegnete Grace und wandte sich zum Gehen. „Na dann gute Nacht. Ich hoffe, du kannst schlafen. Schlaf ruhig, solange du willst. Ich frage Nys nachher noch nach einem Display für dich.“

„Danke... ich wünsch dir auch eine gute Nacht“, erwiderte Eve. Leise zog Grace die Tür hinter sich ins Schloss. Sie konnte nicht bestreiten, dass sie Grace mochte. Aber ich muss abwarten. Ich darf mich nicht zu sehr auf sie einlassen, ermahnte sie sich still. Aber tief drinnen wusste sie, dass Nys und die anderen weitaus ehrlicher als ihre richtige Familie zu ihr gewesen waren. Dennoch konnte auch diese Tatsache nicht die Tränen zurückhalten.

 

 

23.04. - Sonntag

 

Auch am nächsten Morgen war Eve noch ausgelaugt, obwohl die kleine Projektion des Displays auf dem Nachttisch bereits zehn Uhr vormittags anzeigte. Sie hatte so gut wie noch nie so lange geschlafen. Trotzdem war sie noch immer müde. Sie schwang sich aus dem Bett, ging zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zu Seite. Der Himmel dahinter war grau und von dicken Nebelschwaden durchzogen. Eve wandte sich wieder um, griff nach den Sachen, die auf dem Boden neben ihrem Bett lagen, klemmte sich diese unter den Arm und ging aus dem Zimmer.

Schnell huschte sie in das Bad am Ende des Flures und schloss die Tür hinter sich. Der Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie schon wesentlich besser als gestern aussah. Vor allem nicht mehr so heruntergekommen. Sie zog sich das Schlafzeug, welches sie sich ebenfalls geliehen hatte, aus, drehte den Wasserhahn voll auf und wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann rieb sie sich das Gesicht trocken und griff dann nach den Sachen von Florence. Eilig zog sie diese über ihre Unterwäsche und griff nach der Bürste. Währenddessen blickte sie sich nach der neuen Zahnbürste und dem Becher um, die sie auch gestern Abend benutzt hatte. Sie standen am Ende des kleinen Regals unter dem Spiegel. Schnell griff sie danach. Kurz bevor sie fertig war, sich die Zähne zu putzen, klopfte es bereits an der Tür.

„Hey, wer ist da drin?! Ich muss jetzt ins Bad!“ Es war die Stimme von Florence. Eve spuckte noch schnell den Zahnpastaschaum in das Waschbecken, spülte sich den Mund aus und ging zur Tür. Als Florence sie sah, murmelte sie nur kurz „Ach, du bist es.“ Sie trug ein kurzes, eng anliegendes Nachthemd, dessen Saum und Dekolleté mit feiner Spitze verziert war. „Fertig?“

„Ja“, gab Eve zurück, dann rauschte Florence auch schon an ihr vorbei und schloss die Badezimmertür hinter sich. Eve ging zurück in ihr Zimmer und warf das Schlafzeug aufs Bett. Leise schloss sie die Tür und setzte sich auf das Bett. Sie könnte jetzt nach unten gehen, da Nys und die anderen sicherlich auch schon wach waren. Aber was sollte sie dort unten? Sie war fremd unter all diesen Leuten, die sie kaum kannte. Ihre Namen waren so gut wie das Einzige, was sie kannte. Sie rollte sich auf die Seite und starrte aus dem Fenster.

 

Sehnsucht, die sie nach Hause leiten wollte, überflutete sie. Ich kann auf keinen Fall zu ihnen zurück. Was würde mein Vater sagen, wenn er mich jetzt sehen würde? Die Worte der anderen am Vortag kamen ihr wieder in den Sinn. „Du bist kein Mensch mehr“, hatten sie gesagt. Oder zumindest nicht mehr vollständig. Und diesen neuen, fremden Teil in ihr, den sie in den Tunneln nicht hatte kontrollieren können, war das, was ihr Vater hasste. Das, was er, Audrey und der Rest der Aufsicht jagten. Dämonen.

Sie hatte nun keine Familie mehr. Allein der Gedanke daran ließ sie aufschluchzen. Der Dämon würde zurückkehren, wild und zornig, würde immer mehr von ihr wegwaschen, immer mehr von ihrer Seele stehlen. Eve schrak kurz hoch, als sie darüber nachdachte. So ein Quatsch. Wer sagt, dass du deine Seele verlierst? Niemand. Also hör auf, dir über so was Gedanken zu machen. Überlege dir lieber, wie du die Zeit hier überstehen willst. Oder besser gesagt, die nächsten Jahre, denn nach Hause zurückkehren kannst du scheinbar nicht.

Diese Tatsache schien unbegreifbar und ihr entfuhr erneut ein leiser Schluchzer, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Leise weinend vergrub sie ihr Gesicht in den weichen Kissen, während kleine Regentropfen vom Himmel fielen. Der Regen wurde bald stärker und die eben noch leichten Tropfen wurden immer größer und bald trommelten dicke Tropfen laut gegen das Fenster. Es kam ihr beinahe so vor, als würde der Regen mit ihr weinen und ihr dabei helfen wollen, die Trauer wegzuwaschen. Doch die Trauer blieb, genau wie der Regen.

 

 

Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Bett, als es an der Tür klopfte. Als sie nichts erwiderte, öffnete sich die Tür einen Spalt breit und Grace lugte ins Zimmer.

Besorgt sah sie Eve an, die langsam aufblickte. „Alles okay?“ Zur Antwort nickte Eve nur. Grace schlüpfte ins Zimmer und setzte sich neben sie auf das Bett. „Du hast heute noch gar nichts gegessen, oder?“

„Ich hatte noch nicht wirklich Hunger“, meinte Eve und dachte an gestern zurück, als sie sich das Essen mehr oder weniger hatte herunterquälen müssen.

„Bei dem, was du durchgemacht hast, musst du Hunger haben. Komm doch mit herunter, das Mittagessen ist fertig. Es ist wirklich lecker.“ Eve wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster, worauf Grace sie sanft am Arm nahm. „Na los, komm mit. Seit gestern Abend hast du nichts mehr gegessen. Dabei musst du dringend wieder zu Kräften kommen.“ Eve sah sie wieder an und lächelte matt. In Wahrheit hatte sie sogar großen Hunger, doch es fühlte sich an, als würden all ihre Gefühle ihr die Kehle zuschnüren.

Sie würde es Grace nicht sagen, aber allein schon bei ihnen zu sein, war schrecklich. Und dann auch noch mit ihnen zu essen und so tun zu müssen, als wäre alles in Ordnung, während sie sich in Wahrheit noch nie so allein und verloren gefühlt hatte, würde nur dafür sorgen, dass es ihr noch elender ging. Die anderen waren mit diesem Leben scheinbar zufrieden, aber ob sie das jemals würde werden können?

„Ich komme gleich“, gab Eve irgendwann nach. Als Grace das hörte, entspannte sich ihre besorgte Miene etwas, doch sie stand nicht auf und ging, sondern blieb noch neben ihr sitzen.

„Am Anfang ist es die Hölle, aber du musst versuchen, loszulassen. Wenn du das nicht tust, frisst es dich immer weiter auf.“ Eve sah Grace eine Weile einfach nur an, die schweigend ihre Hände musterte. In ihren Augen lag derselbe Schmerz, den auch sie im Moment empfand.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann...“, gestand sie dann. Grace wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihr um.

„Das dachte ich auch zuerst.“ „Wie bist du damit klargekommen, dass du...“, begann Eve. Sie wollte zuerst „Wie bist du damit klargekommen, dass du ein Monster geworden bist?“ sagen, ließ es dann aber. „...anders bist?“, beendete sie stattdessen den Satz. Die Traurigkeit verschwand aus dem Blick von Grace und wich einem anderen, fast glücklichen Ausdruck.

„Nys hat mich gerettet. Er hat mich bei sich aufgenommen und für mich gesorgt.“ Sie blickte wieder zur Wand. „Ohne ihn wäre ich nicht so stark geworden. Dann hätte ich sicher schon kurz nach meiner Wandlung meine Seele verloren.“

Am liebsten hätte Eve sie gefragt, wie es bei ihr gewesen war und wie sie sich gewandelt hatte. Aber die Frage erschien ihr zu persönlich. Wenn Grace sie mochte, würde sie es ihr irgendwann selbst erzählen. In dem Augenblick vernahmen sie die Stimme von Florence von unten.

„Grace! Wo bleibst du denn?! Und bring gefälligst Evelyn mit runter!“, rief sie laut.

Grace seufzte auf und erhob sich. „Na dann wollen wir sie mal nicht warten lassen.“ Eve folgte ihr aus dem Zimmer die Treppe herunter.

 

Die Küche war genauso riesig wie der Rest des Hauses. Sie war mindestens fünf Mal so groß wie die Küche in ihrem alten Zuhause. Bis auf sie beide waren schon alle da und hatten auf den Stühlen Platz genommen. Grace setzte sich neben Ivo, während Eve sich auf einen freien Platz links neben Nys am Tisch sinken ließ.

Dieser begrüßte sie freundlich und erkundigte sich, wie es ihr ging. „Ich fühle mich noch immer, als hätte mich ein Zug überfahren. Ein verdammt großer Zug“, gab sie zurück, worauf Nys lachte.

„Das glaube ich dir.“ Eve starrte auf die Tischplatte vor sich, während Florence schon anfing, die Teller mit Spaghetti und Tomatensoße zu füllen. Fabio links von ihr beäugte derweil misstrauisch den Teller vor sich, den sie ihm hingestellt hatte und rührte in den Spaghetti herum, während Sheila neben ihm schon begierig aß, nachdem sie ihren Teller bekommen hatte. „Das wird schon.“ Nys gab ihr einen Stupser in die Seite, was Eve irgendwie verlegen und noch unsicherer machte.

„Ja“, sagte sie nur und blickte über den Tisch hinweg zu Grace, die sich gerade mit Ivo unterhielt. Dieser nickte zur Antwort immer und schlürfte dabei lächelnd seine Nudeln. Dann schob sich von der Seite ein bis zum Rand gefüllter Teller in ihr Blickfeld und Florence flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Zuerst dachte Eve, sie wollte sich irgendwie über sie lustig machen, aber sie sagte nur: „Das wird alles aufgegessen, verstanden?“ Das hätte schon fast fürsorglich klingen können, hätte Florence es nicht wieder in diesem kühlen Tonfall gesagt. Florence wandte sich wieder ab und nahm jetzt ebenfalls Platz. Der Duft der Soße stieg Eve verlockend entgegen und ihr Magen meldete sich wieder. Zögernd nahm sie ihre Gabel in die Hand.

Die leuchtend rote Farbe der Soße weckte schlechte Erinnerungen. Erinnerungen an dunkles Blut, ihr eigenes, vermischt mit dem des Dämons, das an ihren Händen und an ihrer Kleidung geklebt hatte. Sie hielt inne und ihre Hand mit der Gabel verharrte reglos in der Luft.

Als Grace bemerkte, wie sie die Hand sinken ließ, schaute sie besorgt zu ihr herüber. „Alles in Ordnung?“ Eve nickte schnell und griff nach einem Glas mit Wasser, das vor ihr stand. Sie nahm einen großen Schluck, dann begann auch sie, zu essen, während sie das unbehagliche Gefühl, das sie verspürte, zu ignorieren versuchte. Grace blickte sie noch immer besorgt an, genau wie die anderen inzwischen. Doch Eve ignorierte ihre Blicke und aß weiter.
Nach einer Weile fing Grace wieder an, mit Ivo zu plaudern und auch die anderen wandten sich ab. Eve blickte kurz auf und ließ ihren Blick über die anderen gleiten.

Nys tippte nebenbei ziemlich geschäftsmäßig auf seinem Display herum, Fabio und Sheila schoben ihre leeren Teller hin und her, Don starrte beim Essen ins Nirgendwo und Florence aß lustlos ihre Eigenkreation. Nys neben ihr erhob sich, um sich noch eine Portion einzufüllen.

Dabei blickte er kurz in die Runde. „Will noch jemand...?“ Sheila schob ihm begierig ihren Teller hin, genau wie Ivo. Die anderen schüttelten den Kopf. Dann blickte Nys Eve an. „Du auch nicht?“

„Nein, ich bin schon satt...“, behauptete sie, doch er überhörte das geflissentlich.

„Du kannst unmöglich schon satt sein“, meinte er und ehe sie protestieren konnte, zog er ihr den Teller weg und befüllte ihn neu. Während Nys sie beobachtete, aß sie ihre zweite Portion.

Nachdem alle fertig waren, erhoben sie sich, bis auf Don, der schon früher verschwunden war. Grace erklärte ihr noch kurz, dass sie sich jederzeit etwas aus der Küche holen konnte, wenn sie Hunger hätte. „Unser Kühlschrank ist immer voll. Also nehm dir einfach was“, sagte sie freundlich.

„Danke, das werde ich“, antwortete sie an Grace gewandt, während Ivo und Florence schon anfingen, den Tisch abzuräumen, wovor sie aber die Zwillinge rausschickten, die angefangen hatten, zu toben. Als Eve nett fragte, ob sie etwas helfen könnte, schickte Florence auch sie weg, weil sie meinte, keine Hilfe weiter zu benötigen.

 

 

Als Eve sich abends in ihr Bett kuschelte, fühlte sie sich hin- und hergerissen. Sie fühlte sich in der Nähe der anderen recht wohl, bis auf Don vielleicht, aber der war gleich nach dem Mittagessen irgendwo anders hin verschwunden. Morgen würde sie von Nys verlangen, ihr mehr über sich zu erzählen. Es gab so viele Fragen, die noch nicht geklärt waren.

Warum arbeitete er für die Aufsicht, wo er doch ein Halbdämon war? Woher nahmen sie das ganze Geld für das Haus und anderes? Wieso nahm er Eve so bereitwillig bei sich auf? Nachdem sie noch eine ganze Weile darüber gegrübelt hatte, fiel sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf voll wirrer Träume.

-3- Fremdes Blut

29.04.2173 - Samstag

 

Ihre innere Uhr weckte sie am nächsten Morgen weitaus früher als am vorherigen Tag und nachdem sie kurz im Bad gewesen war, ging sie ins Wohnzimmer. Ivo saß in Nys’ Sessel, während Florence auf dem Teppich mit Sheila und Fabio mit Murmeln spielte. Dieser Anblick machte sie für einen Moment traurig, denn als sie Sheila ansah, erinnerte sie sich an ihre eigene Kindheit. Ihre Kindheit, die zu einem großen Teil aus Training bestanden hatte. Sie dachte daran, wie oft sie sich beim Training verletzt hatte. Ob Sheila und Fabio bald das Gleiche erwartete? Schweiß, Blut und Tränen... Alles wiederholte sich, bis man gelernt hatte, erbittert zu kämpfen und die Schmerzen zu einem Teil von sich selbst zu machen.

 

Irgendwann kam auch Grace dazu, die Eve fragte, ob sie nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihr das Frühstück vorzubereiten. Eve sagte zu, denn das würde sie vielleicht von ihren trüben Gedanken ablenken.

Kurz bevor sie fertig waren, wurde die Tür aufgestoßen. Nys, dem die offenen Haare wild über die Schultern hingen, schlurfte in Boxershorts und Unterhemd zum Tisch, murmelte ihnen noch schnell ein „Guten Morgen“ zu und ließ sich dann auf einen Stuhl fallen. Müde griff er nach der Kaffeekanne. Eve sah zum ersten Mal das saphirblaue Tattoo, das unter seinem Hemd zum Vorschein kam, sich von hinten um seine rechte Schulter und seinen Oberarm wand und wie verschlungene Ornamente aussah, aber Eve konnte es nicht genauer erkennen. Allmählich trudelten auch die Restlichen ein.

 

Sobald alle fertig mit frühstücken waren, ging Eve mit Grace nach oben. Unterwegs begegneten sie einer kleinen, zart gebauten Frau, die schnell den Kopf senkte, als sie Grace und Eve bemerkte und dann schnell an ihnen vorbeihuschte. Sie war anscheinend eine Art Dienstmädchen, was Eve wieder einmal das Gefühl gab, auf einem völlig fremden Planeten gelandet zu sein. Andererseits war es auch verständlich, dass jemand, der solch ein riesiges Haus besaß, auch Bedienstete brauchte, die es in Stand hielten. Nys hatte sicherlich keine Zeit dazu, jeden einzelnen Raum zu putzen. Und bei dem Geld, das er anscheinend verdiente, konnte er es sich so was wohl leisten. „Habt ihr noch mehr Bedienstete?“, platzte Eve kurz darauf neugierig heraus.

„Insgesamt gibt es drei Dienstmädchen, die sich immer abwechseln“, erzählte Grace und Eve seufzte.

„Muss schön sein, ein eigenes Dienstmädchen zu haben“, murmelte sie.

„Schon, aber für unsere Zimmer sind wir selbst zuständig. Die Dienstmädchen dürfen sie nicht betreten“, erwiderte Grace, während sie den Flur lang gingen.

„Wieso denn das?“, fragte Eve verwundert, aber im nächsten Augenblick dämmerte ihr bereits die Antwort. „Sie sind Menschen, nicht wahr?“ Grace nickte. „Wissen sie auch, dass ihr…?“, setzte sie an und Grace nickte erneut, dann blieb sie stehen.

„Unsere Zimmer sind voll mit unseren persönlichen Sachen, bei Don und Nys liegen oft auch streng vertrauliche Dokumente herum, die niemanden außer uns was angehen. Deshalb ist der Zutritt für sie untersagt, genau wie der ins Wohnzimmer oder in eines von Nys’ Arbeitszimmern. Stell dir nur mal vor, ein Dienstmädchen würde im Wohnzimmer eines unserer Displays finden und einfach mitnehmen“, sagte Grace. „Natürlich sind sie gesichert, aber es gibt genug Leute, die ihre Sicherheitssysteme knacken können.“

„Das wäre ziemlich schlecht“, meinte Eve.

„Es wäre ein Fehler, der uns nie passieren darf“, entgegnete Grace, dann gingen sie weiter zu ihrem Zimmer.

„Wie könnt ihr sicherstellen, dass sie die verbotenen Räume nicht betreten?“, hakte Eve nach.

„Jede dieser Türen lässt sich nur durch einen von uns öffnen. Das heißt, wenn früh zum Beispiel einer von uns als Erster das Wohnzimmer betritt, wird die Tür entsichert und alle können hinein. Ist niemand drinnen, erfassen das bestimmte Sensoren und die Tür wird nach kurzer Zeit automatisch verschlossen und gesichert. Wenn ich mein Zimmer verlasse, verschließt sich die Tür so von selbst.“

Jetzt legte Grace ihre Hand kurz auf eine Glasfläche in der Tür, die Eve von der Waffenkammer ihres Vaters und ihrem Zimmer hier im Haus kannte. Bis jetzt hatte sie sich noch gar nicht gefragt, wieso sie die Tür einfach hatte öffnen können.

 

Nachdem sie Grace’ Zimmer betreten hatten, erzählte diese Eve, dass Nys heute vorhatte, mit ihnen in die Stadt zu fahren. „Du brauchst eigene Kleidung und noch mehr“, erklärte Grace. Eve verstand den Sinn dahinter, aber sie verspürte nicht den Drang, irgendwo hinzugehen. Da Grace das zu merken schien, beruhigte sie Eve und meinte, sie würde die Sachen für sie aussuchen und Eve müsste nur mitkommen, falls sie etwas Passgenaues bräuchten.

 

 

Dafür fuhren sie bis in Sektor 4.4, also in den Südosten des fünften Rings, um dort das Nötigste zu holen. Zum Glück musste Eve nur anfangs ein paar Dinge anprobieren, dann suchte Grace die Kleidungsstücke aus. Zu einem Großteil bestanden diese aus Trainingskleidung und Ersatzteilen für ihre Uniform. Der Rest war das, was Eve für den Alltag benötigte. Die anderen hatten sich in andere Bereiche des geräumigen Geschäfts begeben. Als Grace irgendwann jedoch meinte, dass Eve auch ein Abendkleid benötigte, verstand diese den Sinn dahinter diesmal nicht. „Wozu soll ich das brauchen?“, fragte sie Grace, der genervte Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören, während Grace ihr ein weinrotes Kleid entgegenhielt. „Solche Sachen trage ich nicht. Und ich gehe auch nicht an Orte, wo man so etwas trägt.“ Über Grace’ Gesicht huschte eine Spur Enttäuschung. Sie schien mehr von solchen Dingen zu halten.

„Ich verstehe dich schon. Aber Nys ist angesehen in der Gesellschaft, oder er hat vielmehr einen gewissen Rang. Er selbst hält es auch für unnötig und könnte darauf verzichten, aber er wird in regelmäßigen Abständen zu repräsentativen Feierlichkeiten eingeladen. Und manchmal nur, weil Deus ihn dort haben will.“ Obwohl Eve am liebsten aus dem Geschäft gerannt wäre, ließ sie es über sich ergehen, in das Kleid zu steigen, das Grace kurz darauf zu den anderen Kleidungsstücken legte. Eve selbst hoffte, es nie anziehen zu müssen, auch wenn das Kleid zweifellos wunderschön war. Aber es passte einfach nicht zu ihr.

 

Danach gingen sie endlich zur Kasse. Grace hatte Nys schon vorher Bescheid gegeben, dass sie fertig waren, und ihn gefragt, ob er kommen könnte. Nys, Ivo und Don waren mit den Zwillingen in ein paar andere Geschäfte gegangen, doch es dauerte nicht lange, da kamen sie auch schon durch den Eingang des Kaufhauses. Natürlich richteten sich sofort alle Augen auf Nys, der lässig, in eine schwarze Lederjacke gehüllt, durch den Laden zu ihnen herüber schlenderte. Eine Gruppe Frauen, die ein Stück entfernt von ihnen standen, flüsterten sich aufgeregt etwas zu, wobei sie wie kleine Schulmädchen kicherten und Eve konnte bei diesem Verhalten nur die Augen verdrehen. Verwundert wandte sie sich an Grace und fragte, warum sie Nys extra angerufen hatte.

„Ich habe nicht genügend Geld auf dem Konto“, gestand Grace. Verlegen blickte Eve auf den riesigen Haufen, den Grace ausgesucht hatte.

„Aber ich habe doch gesagt, dass ich das nicht brauche…“

„Das geht schon in Ordnung. Glaub mir, wir haben genug, um das zu bezahlen.“ Als Nys sie erreicht hatte, blickte er nur kurz auf den Stapel.

„Das alles?“, fragte er belustigt.

„Ja“, antwortete Grace.

„Dann wollen wir mal zur Kasse...“ Er kramte nach seinem Display.

„Und das hast alles du ausgesucht?“ Nys blickte Eve zweifelnd an, während jetzt Grace verlegen wurde.

„Ich habe ausgesucht. Tut mir leid, dass es so viel ist. Eve hat nun mal nichts weiter...“, mischte sie sich ein.

„Ist schon okay“, sagte er lächelnd und bezahlte.

 

 

03.05. - Mittwoch

 

Ein paar Tage später bat Nys sie alle gleich nach dem Frühstück ins Wohnzimmer. Eve fiel sofort sein ernster Blick auf, während er darauf wartete, dass sich alle gesetzt hatten, ehe er anfing, zu sprechen. „Ich habe gerade einen neuen Auftrag erhalten“, sagte er dann.

Selbst Don blickte auf, der wieder einmal völlig in ein Buch versunken gewesen war. „Das Übliche?“, fragte er Nys.

„Ja“, antwortete dieser. „Ivo, Grace und du werden mit mir kommen. Und dich möchte ich auch gerne dabei haben, Eve“, meinte er dann, den Blick auf sie gerichtet.

Überrascht sah sie auf. „Mich?“, fragte sie verwundert.

„Ja.“ Sie glaubte nicht, dass das in irgendeiner Weise eine gute Idee war.

„Ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin. Ich kann es schließlich überhaupt noch nicht kontrollieren“, zweifelte sie.

„Aber gerade dafür ist es ja gedacht. Dieser Auftrag ist ein Training, das dir dabei helfen wird, es besser zu beherrschen“, erwiderte Nys zuversichtlich. „Glaub mir. Auf diese Art wirst du irgendwann stark genug sein, es zu kontrollieren.“

Wenn ich jetzt ablehne, wäre das ziemlich unhöflich, schließlich haben diese Leute mich so bereitwillig bei sich aufgenommen. Wenn ich allerdings mitkomme, muss ich tun, was auch immer Nys verlangt..., überlegte Eve.

Sie verspürte schon jetzt Zweifel. Es würde sicher schief laufen. Aber andererseits waren Fehler dazu da, um aus ihnen zu lernen. Alles schien wie ein Spiel, dessen Regeln sich geändert hatten. Regeln, die Nys vorgab und die sie zu befolgen hatte. „Wie genau soll ich dabei trainieren?“, fragte sie unsicher.

Auf Nys’ Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen. Wir machen es schon seit Jahren auf diese Art und es hat immer funktioniert. Du musst nur machen, was wir dir sagen.“

„Wenn das so ist...“ Nys’ Lächeln sorgte dafür, dass sie ein flaues Gefühl im Magen bekam. Vertrauen, Eve. Versuch einfach, ihnen zu vertrauen, sagte sie sich selbst, während die anderen schon damit anfingen, die genaueren Umstände ihres Auftrages zu besprechen. „Nur machen, was wir dir sagen...“ Diese Worte hatte sie schon von ihrem Vater gehört und an das, was danach geschehen war, erinnerte sie sich nur zu gut.

 

Die Uniform, welche Grace ihr später aushändigte, brachte Eve dazu, sie eine Weile einfach nur zu bestaunen. Das Metall schien regelrecht in den Stoff einzufließen, und zusammen bildete es die beste Uniform, die sie je gesehen hatte. Weitaus edler als die ihres Vaters, sie glaubte sogar schon fast, dass diese Kleidung für jemanden von Deus’ Leibwachen gemacht worden war und nicht für sie. Sie war sogar leicht ausgepolstert. Zögerlich zog sie die Uniform über.

Als sie in den Spiegel blickte, erinnerte sie sich an den Moment vor ein paar Wochen, als sie genau wie jetzt vor dem Spiegel gestanden hatte. Nur, dass sie sich kaum noch wiedererkannte. Ihr Gesicht war zwar noch dasselbe, aber ihr Blick und ihre Züge kamen ihr völlig verändert vor. Blass, erschöpft, abgemagert, Verwirrung in den Augen. Von ihrer einstigen Entschlossenheit fehlte jede Spur. Und dann war da noch diese neue Uniform, die sie noch fremdartiger aussehen ließ.

Es war, als blickte ihr eine fremde Person entgegen. Jemand, der die alte Eve getötet und gegen eine neue Version ihrer selbst ausgetauscht hatte. Und irgendwie war sie ja tatsächlich gestorben. Sie betrachtete sich noch eine Weile, dann griff sie nach ihrem Schwert, welches Grace ihr ebenfalls vorbeigebracht hatte, genau wie ihre alten Stiefel und ihr Gewehr. Alle drei Gegenstände waren noch immer so gut wie unbenutzt. Rasch befestigte sie ihr Schwert an ihrem Gürtel. Hätte sie ihr Schwert nicht mehr, wäre das ein weiterer Teil ihrer Vergangenheit, den sie verloren hätte.

Als sie sich ihr Gewehr über die Schulter geworfen hatte, zog sie die Stiefel an. Das erste was ihr an ihnen auffiel, war, dass jemand sie gesäubert hatte und ein kleines Lächeln huschte ihr übers Gesicht. Zum Schluss nahm sie sich noch ihren neuen Helm, der auf dem Bett lag und ging aus dem Zimmer. Beim Laufen spürte sie, wie sich die Uniform eng an sie schmiegte und sich ihren Muskelbewegungen anpasste, fast wie eine zweite Haut.

 

Als sie am Fuß der Treppe ankam, vernahm sie die Stimme von Nys. Sie ging in das Wohnzimmer, wo dieser gerade mit Grace redete. Als er sie bemerkte, wandte er sich um und sah sie mit seinen blauen Augen an. „Bist du soweit fertig?“ Sie nickte. „Okay, sind alle da?“, rief er laut. In diesem Moment kam Ivo schnell die Treppe heruntergesaust. Er reichte Nys ein Display und stieg dann schnell in seine Schuhe. „Danke...“, erwiderte Nys und blickte dann in die Runde. „Na dann los“, sagte er, nachdem Ivo seine Schuhe zugebunden hatte. Eve hörte leise Schritte hinter sich und Florence erschien in der Eingangshalle. Auf ihrem hübschen Gesicht war eine Spur Sorge zu lesen.

„Lasst euch aber nicht zu viel Zeit, verstanden?“, verlangte sie, worauf Nys noch „Mach dir keine Sorgen. Ist ja nichts anderes als sonst“, entgegnete, dann traten sie hinaus ins Freie, während sich die Tür hinter ihnen schloss.

Es war bereits Abend und die Sonne tauchte die Wolken, die sie verdeckten, in kräftige Rosa- und Rottöne. Der Wind, der aufkam, als sie über die kiesbedeckte Einfahrt eilten, blies Eve kalt ins Gesicht und schien sogar durch ihre dicke Kleidung zu dringen. Auch Grace zitterte noch, als sie endlich im Auto saßen und Nys den Motor startete. In diesen Momenten wünschte Eve sich nichts sehnlicher, als dass die Sonne einmal die dicke Wolkendecke durchbrach und ihre Haut wärmte, oder Alban wenigstens einen Tag in Sonnenlicht tauchte. Vielleicht würde diese ganze Stadt dann auch weniger trist und düster wirken.

Grace redete mit Ivo, der links neben ihr auf dem Rücksitz saß und sie gerade etwas fragte, während sie über die holprige Straße fuhren. Eve wandte sich daher zum Fenster um und sah hinaus. Sie kamen der Stadt schnell näher und sie konnte bereits die lange Spitze des Regierungsgebäudes sehen, die wie eine Nadel in den verrußten Himmel ragte. Nys und Don auf den vorderen Sitzplätzen schwiegen, während Eve sich plötzlich wieder an eine Sache erinnerte, die sie unbedingt wissen wollte. Sie wandte sich vom Fenster ab und sah Nys durch den Rückspiegel an. „Stimmt es wirklich, dass ihr für Deus arbeitet?“, fragte sie.

Er sah sie kurz schweigend an. Dann sagte er: „Ja, das tun wir.“

„Aber wie kann es sein, dass er euch, wie soll ich sagen… toleriert?“, meinte sie. Schließlich  stand die Aufsicht unter Deus’ Macht und „bereinigte“ die Stadt von Dämonen, so tat ihr Vater es jedenfalls schon seit Jahren, auch wenn sie selbst das erst vor kurzem erfahren hatte.

„Er braucht uns eben“, antwortete Nys, während er das Auto gerade in den 6. Radius von Alban lenkte. „Und zwar noch mehr als die anderen von der Aufsicht. Damit meine ich die Menschen“, fügte er hinzu.

„Sieht er in euch denn kein Risiko?“, hakte Eve vorsichtig nach. Sein Gesichtsausdruck wurde düster.

„Natürlich tut er das, aber was denkst du, wer besser mit den Dämonen klarkommt?“, stellte er die Gegenfrage. „Die Menschen oder wir, die die Dämonen besser verstehen und ihnen an Schnelligkeit und Stärke gleichen?“

Eve verstand, was er meinte. „Ihr seid also so etwas wie seine Trumpfkarte.“

„Würde er uns nicht so dringend brauchen, um all diese Monster in Schach zu halten, hätte er sich unserer sicher schon längst entledigt. In diesem Fall garantiert uns das Sicherheit“, erklärte er ihr. Danach verfiel Nys wieder in Schweigen und sie sah aus dem Fenster.

 

 

Nachdem sie den entsprechenden Sektor erreicht hatten, teilten sie sich auf, entfernten sich aber nicht allzu weit voneinander. Wenn jemand von ihnen Hilfe brauchte, konnten sie sich über Funk verständigen, zudem waren sie alle mit GPS ausgestattet, so wusste jeder, wo und wie weit weg die jeweils anderen waren. Nys und Don sollten den Dämon herauslocken, während die anderen drei sich an verschiedenen Stellen positionierten. In der Gasse, in der sie sich befanden, war es so dunkel, dass Eve nur noch die Umrisse von Grace erkennen konnte, die ungefähr hundert Meter von ihr entfernt an einer Hauswand stand. Ivo war bei ihr geblieben und erklärte ihr, was sie gleich tun müsste.

„Am besten hältst du dich erstmal im Hintergrund. Das ist einer von den stärkeren Dämonen. Falls er versucht, dich anzugreifen, und wir ihn nicht rechtzeitig abwehren können, musst du versuchen, dich selbst zu verteidigen“, wies er sie an.

„Du meinst, ich soll...“, setzte sie an.

„Lass den Dämon in deinem Inneren raus, aber gib ihm nur so viel Macht über deinen Körper, dass du kämpfen kannst. Du bist stark genug, es zu kontrollieren, vertrau mir.“

„Ich gebe mein Bestes“, versprach sie entschlossen. „Aber ich kann nicht versprechen, dass ich das hinkriegen werde.“

„Das packst du schon“, ermunterte er sie und hob seine rechte, geschlossene Hand, streckte sie ihr hin und ließ dann den Inhalt in ihre Handfläche fallen. Es war Munition aus Glas. Eve kannte die Machart, doch die Flüssigkeit, mit der sie gefüllt war, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

„Was ist das?“, fragte sie neugierig, worauf Ivo ihr jedoch nicht antwortete, sondern nur still dastand und zu lauschen schien.

„Erkläre ich dir später“, erwiderte er dann und Eve erkannte sofort, was los war.

„Der Dämon nähert sich uns“, sagte sie.

„Ja“, gab Ivo zurück, dann schritt er in die Mitte der Gasse und bezog seine Stellung. „Du brauchst keine Angst zu haben, mit dem werden wir schon fertig“, fügte er noch lächelnd hinzu, danach wurde sein Blick wieder ernst.

Schnell befüllte sie das Magazin ihres Gewehres mit der neuen Munition und ging so weit zurück, bis sie in einigem Abstand zu Ivo stand. In einiger Entfernung ertönte ein Jaulen. Aufmerksam spähte Ivo in die dichte Dunkelheit vor sich. Seine Augen waren so gut, dass sie ihm preisgaben, was sich im Dunkeln verbarg und er brauchte im Gegensatz zu ihr keinen Helm mit Nachtsicht.

Sie ging währenddessen ein paar Schritte zurück und hielt ihr Gewehr griffbereit. Dann holte sie tief Luft. Sie verspürte Angst. In diesem Zustand, so schwach, wie sie sich im Moment fühlte, wäre sie sicher kein Hindernis für den Dämon.

 Es war wie ein Déjà-vu. Aber es wird nicht wieder dasselbe passieren, denn Ivo und die anderen sind bei mir. Und diesmal weiß ich auch, was mir bevorsteht. Ich schaffe es. Konzentrieren, sich darauf einlassen... Nur ein kleines bisschen… Sie wiederholte die Worte in Gedanken immer wieder, und besann sich auf ein Gefühl, das in ihrem Inneren aufkam. Und dann, wie in weiter Ferne, spürte sie diese enorme Kraft, erschaffen durch unbändigen Zorn.

 

Der Dämon ihn ihr erwachte, und es war, als wäre die fremde Eve zurück. Ihre Sinne verschärften sich und sie nahm einen vertrauten Geruch wahr, dann hörte sie abermals ein Jaulen, diesmal nur viel näher. Bevor sie den Dämon sehen konnte, spürte sie seine Präsenz schon förmlich auf der Haut. Aus ihrer Kehle drang ein leises Knurren, als sich seine Gestalt aus dem Schatten löste. Langsam kam die Gestalt näher und auch Eve ging auf sie zu, entgegen der Anweisung, die Ivo ihr gegeben hatte.

Ein Teil von ihr erschauderte beim Anblick der grotesken Kreatur, doch dieser Teil war unter einer anderen Seite von ihr verschwunden. Der Dämon fing an zu brüllen und wollte sich sogleich auf Grace stürzen, doch diese wich ihm geschickt aus, so, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Als sich der Dämon ihr erneut näherte, huschte sie geduckt auf ihn zu und rammte ihm ihr Schwert von unten in die Bauchdecke. Ehe er auch nach ihr ausholen konnte, zog sie das Schwert wieder heraus und tappte eilig ein paar Schritte zurück, dann verschwand sie in einer der engen Gassen. Der wütende Dämon wollte ihr hinterher, doch Ivo schnalzte mit der Zunge und der Dämon wandte ihm seinen grobschlächtigen Kopf zu. Eve konnte seine Augäpfel erkennen, die genau wie bei dem letzten Dämon keinerlei Weiß mehr aufwiesen, sondern nur tiefe Schwärze. Schwankend kam er näher, Blut rann ihm aus der großen Wunde, doch er schien nur leicht geschwächt.

Sie trat neben Ivo, der sie kurz ansah. „Du solltest dich doch erstmal zurückhalten. Es ist sicherlich keine gute Idee, wenn du...“

Doch Eve ignorierte ihn und schoss auf den Dämon zu, ehe er etwas sagen konnte, geschweige denn, dazu fähig war, sie zurückzuhalten. Das Monster holte mit seiner großen Pranke nach ihr aus. Schnell duckte sie sich und rollte sich unter seinem großen Körper hindurch. Bevor er sich zu ihr umdrehen konnte, war sie wieder auf den Beinen, zog ihr Schwert hervor und zog es ihm von hinten über die knochigen Kniekehlen. Er taumelte vorwärts und fiel plump auf den Boden, während er winselte und verzweifelt versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Doch diese brachen ihm immer wieder weg, während sich sein dunkles Blut auf dem Boden verteilte.

Ivo kam zu ihr herüber gerannt, mit einem stolzen Ausdruck im Gesicht. „Das war super!“, rief er ihr zu. „Lass uns kurz warten, bis Nys kommt...“

Doch sie hörte ihn nicht. Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, undeutlich wie Töne unter Wasser und sie schob ihr Schwert zurück in den Gürtel und griff nach ihrem Gewehr. Egal wie sehr Eve eigentlich aufhören wollte, die fremde Seite in ihr war stärker und bösartiger. Sie legte Titankugeln ein, hob das Gewehr und richtete es auf den Dämon zu ihren Füßen. Als sie den Abzug drückte und sich mehrere Patronen nacheinander in den Schädel des Monstrums bohrten, stieß es einen furchterregenden Schrei aus, der in ihrem Kopf nachzuhallen schien. Geistesabwesend wischte sie sich das Blut des toten Dämons von der Wange. Sie fühlte sich plötzlich so leer. Ivo starrte sie perplex an, während sie das Gewehr sinken ließ und sich langsam zu den Schritten umdrehte, die sich von hinten näherten.

Grace war wieder aus der Gasse gekommen und blickte verwundert zu dem Dämon. „Ihr wart aber schnell.“ Aus irgendeinem Grund wurde Eve in diesem Moment schrecklich wütend. Es war, als würde der Dämon in ihr sich aufbäumen und versuchen, auszubrechen. Ohne Vorwarnung stürzte sie auf Grace zu, die ihr vor Verblüffung nur knapp ausweichen konnte. Sie taumelte zurück, bis sie an einer Hauswand lehnte. „Verdammt!“, fluchte Ivo, der Eve von hinten packte und sie festhielt. Fauchend versuchte diese, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark.

„Was hast du gemacht?“, fragte Grace und blickte ihn vorwurfsvoll an.

„Nichts!“, erwiderte er aufgebracht, während Eve sich immer stärker gebärdete.

„Du hast ihr gesagt, dass sie den Dämon frei lassen soll, nicht wahr?“, fuhr Grace ihn an und blickte sich besorgt um. Wo bleiben nur Nys und Don? Sie müssten doch längst wieder hier sein!, dachte sie.

„Grace!“, riss Ivos Stimme sie aus den Gedanken. „Hol schnell das restliche Plasma, mach schon!“, rief er. Doch Grace schüttelte den Kopf.

„Das habe nicht ich, sondern Don!“, gab sie verzweifelt zurück. „So ein Mist!“

Für einen Moment biss Ivo angestrengt die Zähne zusammen und sein Griff lockerte sich für einen kurzen Augenblick. Darauf hatte Eve gewartet. Sie riss sich mit aller Kraft los und stürmte erneut auf Grace zu, die sich bereits umwandte, um wegzurennen. Ivo eilte ihr hinterher, doch bevor Eve Grace auch nur berühren konnte, hörte sie etwas durch die Luft sausen und wich zur Seite aus. Eine Glaspatrone zerschellte an der Hauswand hinter ihr und sie blickte verärgert auf, dann stieß sie ein Knurren aus.

Ein Stück hinter Grace stand Don, sein Gewehr auf Eve gerichtet. Er löste eine weitere Welle des Zorns in ihr aus, die sie wie Flutwellen überkamen. Auch Nys war inzwischen da und schob sich nun vor Grace.

„Beeil dich, Don!“, befahl er, während dieser erneut auf Eve zielte, die ihn wütend anstarrte. Ihre Seele schien vor Zorn auf Don zu zerbersten. Warum, wusste sie nicht, sondern nur, dass er sie noch wütender machte als Grace, weil sie nicht nur Wut, sondern abgrundtiefen Hass verspürte. Auch dem nächsten Geschoss wich sie aus und lief auf Don zu, doch die dritte Patrone schoss er noch gezielter ab und sie zerschellte an ihrer Schläfe.

Die Flüssigkeit sickerte durch ihre Haut, ging in ihr Blut über und eine seltsame Taubheit breitete sich in ihrem Körper aus. Aber anstatt das ihr Zorn verschwand, flammte er erneut auf und sie zog ihr Schwert. Überrascht über ihre plötzliche Schnelligkeit, wich Don nach hinten aus, Nys hingegen reagierte schnell genug und parierte Eves Angriff mit seinem  Langschwert. Mit aller Kraft versuchte sie, seine Klinge herunterzudrücken, doch sie schaffte es nicht. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der so stark war.

„Komm schon, Eve. Lass es gut sein“, forderte er sie auf. Doch statt ihm zu antworten, fauchte sie nur. Er sah sie einen Moment schweigend an, dann rief er etwas. „Worauf wartest du noch, Don?“ Sie erschrak, als sie aus den Augenwinkeln Don erkannte, der den Gewehrlauf auf ihre Schläfe gerichtet hatte. Sie hatte ihn vorher nicht einmal bemerkt. Ohne zu zögern schoss er ihr mit voller Wucht erneut eine Patrone gegen die Schläfe.

Erst Schmerz, danach verging ihr Zorn abrupt und alles begann sich zu drehen, dann verlor sie langsam das Bewusstsein, während sie vor ihrem inneren Auge Bilder sah. Von einer Szene, die fast genau die gleiche wie in diesem Augenblick war, und die Erinnerungen an einen dunkeln, modrigen Tunnel legten sich um sie, erst deutlich, dann immer verschwommener und unschärfer, bis sie ganz verblassten.

 

„Don! Meinst du nicht, dass du etwas übertrieben hast?“, fragte Grace Don scharf, der nur mit den Schultern zuckte und sich das Gewehr über die Schulter warf. „Du bist unglaublich“, sagte Grace und blickte Nys an, der auf Eve zukam, die bewusstlos auf dem Boden lag, und sich neben sie kniete.

„Tut mir leid. Das eben war ziemlich hart von uns.“ Er hob sie hoch und wandte sich danach zu den anderen um. „Da wir hier soweit fertig sind, würde ich sagen, fahren wir erstmal zurück nach Hause.“ Nys blickte einen Moment auf Eve in seinen Armen. „Sie braucht Zeit, um sich zu erholen.“

 

 

Als Eve wieder in dem Zimmer bei Nys zu Hause erwachte, erschien es ihr wie die Wiederholung von ihrer Ankunft eine Woche zuvor, bis auf eine dunkle Gewissheit, die jetzt auf ihr lastete. Die Erinnerungen waren zurück. Sie konnte sich wieder an jede Einzelheit aus den Tunneln erinnern, an die Stunden, in denen sie mehr Monster als Mensch gewesen war, wie der Dämon sie immer mehr verzehrt hatte...

Schluchzend zog sie sich die Decke weit über den Kopf und wünschte sich, die Erinnerungen wären für immer fort geblieben. Weit weg, so dass sie sich nie daran erinnern musste, wie das Dämonenblut sie verändert und wozu es sie gemacht hatte.

 

 

-Nys…-

 

Er saß in seinem Sessel und trommelte mit einer Hand auf einer der Armlehnen herum, während Ivo sich an ihn wandte. „Es tut mir leid, dass ich sie dazu aufgefordert habe. Es war dumm, zu glauben, dass ich entscheiden könnte, was das Richtige für sie ist.“

Grace, die neben ihm auf der Couch saß, berührte ihn sanft an der Schulter und schenkte ihm ein kleines, aufmunterndes Lächeln, welches er aber nur flüchtig erwiderte, bevor er wieder zu Nys sah.

Es schien erst, als überhörte Nys ihn, denn er starrte nur versunken zur Tür herüber, schließlich sagte er aber doch etwas. „Es war nicht deine Schuld“, beschwichtigte er Ivo und sah ihn dann an. Er wirkte müde und ein paar einzelne Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und hingen ihm wirr ins Gesicht. „Um ehrlich zu sein hatte ich genau dasselbe vor“, gab er zu. „Aber ich wollte warten, bis der Dämon geschwächt ist.“ Er beugte sich nach vorne und griff nach dem Glas kaltem Wasser, das Florence ihm vorhin gebracht hatte. Während er es mit einem Schluck herunterstürzte, entspannte Ivo sich etwas. Kurz darauf stellte Nys das leere Glas mit einem lauten Knallen auf den Tisch zurück. „Niemand hätte ahnen können, dass so etwas geschieht. Dass sie so wild geworden ist, war zuvor bei niemanden so. Selbst bei mir nicht.“

„Der Dämon ist außergewöhnlich stark“, wandte Grace ein.

„Hoffen wir mal, dass sie es schafft, ihn zu kontrollieren“, erwiderte Nys.

„Ob sie etwas ahnt?“, murmelte Ivo, der die Frage fast an sich selbst gerichtet zu haben schien, aber Grace sah ihn jetzt wieder an.

„Du meinst in Bezug auf Don?“, fragte sie und er nickte. Fragend sah sie Nys an.

„Wenn sie sich wie vorhin gehen lässt, ist ihr sehr wohl bewusst, was er ist, so wie sie auf ihn losgegangen ist. Aber als wir sie herholten, konnte sie sich an so gut wie nichts mehr erinnern, was zuvor geschehen ist. Es würde mich nicht wundern, wenn es jetzt genauso wäre.“ Dann stand er auf und steuerte auf die Tür zu. „Trotzdem wäre es sicherlich besser, wenn wir sie einfach direkt fragen“, meinte er, bevor er den Raum verließ.

Müde ging er die Treppe herauf, wandte sich, als er oben angekommen war, nach links und steuerte auf sein Zimmer zu. Dort angekommen schloss er die Tür hinter sich und ließ sich erschöpft aufs Bett fallen. In letzter Zeit schlief er sowieso schon schlecht genug, nun aber machte er sich wegen Eve noch mehr Sorgen.

Es war nicht sicher, ob sie es schaffen würde, ihre Seele zu bewahren. Und die Tatsache, dass ihre dämonische Seite anscheinend ungewöhnlich stark war, dafür dass sie diese Kräfte erst so kurz besaß, war noch verwirrender. Die Stärke des Dämons, der einen infizierte, beeinflusste zwar auch die Stärke des Menschen, der sich daraufhin wandelt, aber Nys wusste aus verlässlichen Quellen, dass es bei Eve ein ganz gewöhnlicher Dämon gewesen war.

 

-Ende der Leseprobe-

Anmerkungen

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin

Vera Hallström wurde 1996 geboren und entdeckte als Kind nicht nur früh ihre Begeisterung für das Lesen, sondern etwas später auch für das Schreiben. So füllte sie als Kind ganze Notizbücher mit ihren Geschichten, später schrieb sie die ersten Geschichten am PC. Mit sechzehn Jahren kam ihr die Idee zu einer Geschichte rund um eine Welt mit übernatürlichen Wesen, aus der sich dann irgendwann das Buch "Dämonenfeuer" entwickelte.

Fast sechs Jahre später, im November 2017, veröffentlichte sie dann ihre ersten beiden Bücher über die Self Publishing-Plattform BookRix, die beiden kostenlosen Kurzgeschichten "Unter diesem Himmel" und "Die stille Welt" als eBook.

Da sie nicht darauf hoffen wollte, dass irgendwann ein Verlag Interesse an ihrem Manuskript zu "Dämonenfeuer" zeigte, nahm sie die Veröffentlichung selbst in die Hand und veröffentlichte dieses im Januar 2018 ebenfalls über BookRix.

Die Dämonenwelt-Trilogie lässt sich nicht auf ein Genre festlegen und ist sowohl Dark-, Paranormal & Urban Fantasy als auch Near Future Science Fiction, verbunden mit Drama und Action. Genauso gibt es nicht nur „einen“ Protagonisten, die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Die Reihe ist für alle jene geeignet, die etwas düstere und dystopische Erzählungen aus verschiedenen Blickwinkeln mögen, die zugleich starke männliche als auch weibliche Charaktere jenseits von Stereotypen beinhalten.

Neben der Dämonenwelt hat sie einen Mystery-Kurzoman mit dem Titel "Die Stille zwischen den Welten" veröffentlicht, der eine Auskopplung ihrer Kurzgeschichte "Die Stille Welt" ist.

 

Die neuesten Informationen rund um die Autorin und ihre Bücher findet man auf ihrer Facebook-Seite oder auf Instagram. Bei Fragen, Anregungen, Feedback o.ä. kann man über das dort angegebene Impressum oder ihre E-Mail Adresse vera.hallstroem@gmail.com Kontakt zu ihr aufnehmen. Rezensionen, egal ob kurz oder ausführlich, sind ebenfalls gerne gesehen. Unterstützen kann man sie auch direkt über Patreon.

 

 

Andere bereits erschienene Werke der Autorin:

 

Unter diesem Himmel (Dystopie/Kurzgeschichte; 2017)

Die stille Welt (Mystery/Kurzgeschichte; 2017)

Die Stille zwischen den Welten (Mystery/Kurzroman; 2020)

Seelen zwischen den Welten (Mystery/Kurzroman; 2022)

Dämonenfeuer: Band 1 der Dämonenwelt-Trilogie (Science Fantasy; 2018)

Dämonenherz: Band 2 der Dämonenwelt-Trilogie (Science Fantasy; 2020)

Ozonos Earth (Science Fiction; 2021)

Impressum

Texte: Vera Hallström
Bildmaterialien: https://www.canva.com (Canva Layouts)
Cover: Epic Moon - Coverdesign - by Kathyjana Simons
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2018

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /