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Unter diesem Himmel

Manchmal gibt es im Leben wirklich unglaublich doofe Zufälle. Wie, wenn es von all den Menschen da draußen genau dich und deine Familie trifft. Euch und noch ein paar andere. Nein, nicht nur ein paar andere, sondern ein paar Millionen andere. Wie an diesem Tag. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich es hörte. Wie ein Donnergrollen in der Ferne. Wäre es doch nur das gewesen. Ich hörte es, bevor ich es auch nur sah. Es war kein Donnergrollen. Es sah fast schön aus, wäre es nicht so grausam gewesen. Es sah wie eine riesige Säule aus orangeroten Flammen aus, in vollendeter symmetrischer Form. Die Stadt, die vorher dort war, wurde vollkommen ausradiert. 400 Quadratkilometer einfach weg. Und mit ihnen über eine Million Menschen, die in dieser Stadt arbeiteten, wohnten, lebten. So, als hätte dort nie etwas existiert. Selbst hier, noch rund 60 Kilometer von der verschwundenen Stadt entfernt, spürt man es. Genau genommen hat die Bombe alles im Umkreis von 420 Quadratkilometern ausgelöscht, also die gesamte Stadt, während die Gebiete rundherum sofort in Flammen aufgegangen sind. Es gab dort nichts mehr, das man hätte retten können, übrig sind nichts als ein paar verbrannte Menschen, Häuser und Flächen. Selbst die Sonne, die mir gerade ins Gesicht scheint, erinnert mich an die unglaubliche Hitze, die während der Explosion freigesetzt wurde.

 

 

Mit geübten Handgriffen hänge ich die paar letzten Stücken Wäsche auf, während ich versuche, die Erinnerung an die Bombe weit von mir wegzuschieben. Aber es geht einfach nicht, egal wie sehr ich es versuche. Der Krieg ist überall. Er ist in der verstrahlten Luft, im Boden, in den Bäumen, selbst unter meiner Haut. Ich klemme mir den Wäschekorb unter den Arm und drehe mich zum Haus um. Genau davor steht ein großer, alter Ahornbaum. Obwohl es Frühling ist, sind seine Äste völlig kahl und schwarz, fast wie verkohlt. Noch vor einer Woche hingen überall sattgrüne Blätter. Aber jetzt liegen diese Blätter verdorrt auf dem Boden und der Baum ist tot. Mutters geliebter Ahornbaum. Genau wie das trockene Gras unter meinen Füßen, das bei jedem Schritt regelrecht zu zerbröseln scheint. Ich kann nicht anders, als mich daran zu erinnern, wie ich mich als Kind auf dem weichen Rasen hin und her gewälzt habe und dabei tief dessen Geruch eingeatmet habe, genau wie den all der Blumen, die meine Mutter im Garten angepflanzt hatte.

 

Aber plötzlich habe ich eine andere Stimme im Kopf. „Tanya! Tanya! Sieh mal, wie hoch ich schon klettern kann!“ Es ist mein kleiner Bruder Jo, wie er hoch oben im Ahornbaum sitzt, während die Blätter seinen goldblonden Haarschopf leuchtend rot umrahmen. Jo.

Meine Hände verkrampfen sich schmerzhaft um den Korb, den ich noch immer halte und plötzlich  fühle ich mich, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Ich sehe sein immerzu lächelndes, unerschütterlich fröhliches Gesicht vor mir und wieder wird mir klar, dass ich versagt habe. Dass ich ihn nicht retten konnte. Dass ich ihn nie hätte retten können.

Er war an dem Tag in der Stadt, zusammen mit meiner Mutter. Sie wollten zu einer der Grundschulen, auf die er später gerne gehen wollte. Die Schule, die jetzt nicht mehr existiert und von der nichts mehr als Asche übrig ist, genau wie von meinem geliebten kleinen Bruder und meiner Mutter.

 

Ruckartig reiße ich meinen Blick fort von dem Baum und lasse meinen Blick kurz durch den umzäunten Garten wandern. Alles hier, was meine Mutter mit viel Arbeit und Sorgfalt gezüchtet und gepflegt hat, ist hinüber. Ich höre ein Maunzen von der Veranda vor mir und entdecke die kleine schwarzweiß gefleckte Katze, die mir schon seit einer Weile Besuche abstattet. Ich habe sie Wesley genannt, so wie das Lieblingsplüschtier meines Bruders, ein alter Stoffhund. „Hallo, Wes“, begrüße ich den Kater und er maunzt zurück. Es tröstet mich, hier nicht völlig allein zu sein, auch wenn ich weiß, dass auch er bald gehen wird. Sein Bauch ist eingefallen und er verliert allmählich sein Fell, aber mir ist es egal, ich sehe schließlich nicht besser aus. Ich gehe die Stufen zur Veranda hoch und öffne die Terrassentür, die ins Wohnzimmer führt. Wesley guckt mich kurz an, worauf ich „Na geh schon rein“, zu ihm sage und er an mir vorbei ins Haus schlüpft, dann folge ich ihm. An sich bin ich froh, dass das Ganze im Frühling passiert ist, denn natürlich gibt es keinen Strom mehr, so muss ich wenigstens nicht frieren, da das Wetter schon jetzt angenehm warm ist.

 

Auch wenn das kein Trost ist. Es macht es leichter, zu überleben, aber das ist auch schon alles. Wasser gibt es auch keins, aber als ich im Fernsehen sah, dass die Flieger auf den Weg zur Stadt waren, habe ich sämtliche Behälter mit Wasser gefüllt, die ich kriegen konnte. Das war auch gut so, denn nicht einmal eine Stunde später haben sie alles lahm gelegt und die Menschen evakuiert. Sie hätten auch mich mitgenommen, wenn ich nicht unbedingt hätte hierbleiben wollen und mich vor ihnen versteckt hätte.

Heute habe ich zum ersten und letzten Mal mit diesem Wasser Wäsche gewaschen. Wieso ich das getan habe? Ich weiß es selbst nicht so genau. Um einen letzten Rest der Illusion aufrechtzuerhalten, die Welt sei noch in Ordnung? Noch reicht das Wasser und ich habe noch eine halbvolle Badewanne und fast drei Kanister übrig.

 

Wesley geht in die Küche, inzwischen kennt er sich hier verdächtig gut aus. Dort wartet er auf seine Futterration für heute. Wir hatten nie eine Katze und daher auch kein Futter, aber ich habe ein Dutzend Dosen in dem Supermarkt die Straße runter geklaut. Es stört eh niemanden, weil sie fast alle fort sind. Ich glaube, außer mir sind nur eine Handvoll Menschen in unserem Dorf geblieben. Die meisten sind geflüchtet. Aber ich konnte nicht gehen. Ich musste bleiben. Für Jo, für meine Mutter, die in dieser Hölle umgekommen sind, für alles, was noch von meinem Zuhause übrig ist.

Während ich Wesley eine Dose öffne, schmiegt er sich an meine Beine und miaut ununterbrochen. „Ist ja gut, ich bin doch schon dabei“, beruhige ich ihn und schütte ihm dann die ganze Dose in eine Plastikschüssel. Hastig schlingt er es hinunter.

Ich muss zugeben, dass ich Angst vor dem Tag habe, an dem er das Futter wieder ausbricht, weil sein Magen nicht mehr mitmacht. Vor dem Tag, an dem die inneren Blutungen einsetzten werden und auch er mich verlassen wird, so wie alle anderen. Dabei ist er doch nur eine Katze.

Aber ich brauche ihn. Er ist eines der letzten lebenden Wesen hier.

 

Zuerst beobachte ich ihn beim Fressen, um mir sein Bild gut einzuprägen, dann beschließe ich, mir auch etwas zu Essen zu machen. Im Hängeschrank finde ich Eintopf, der genügt mir völlig. Ich öffne die Büchse und setzte mich danach neben Wesley auf die kühlen Bodenfliesen. Ich habe Mühe, alles runter zu bekommen, aber ich muss, wenn ich noch ein paar Tage durchhalten will. Wesley ist inzwischen fertig und sieht mich nun gespannt an. „Was ist?“, frage ich ihn. „Mehr gibt’s heute nicht.“ Als wäre er beleidigt, stolziert er aus der Küche, worauf ich aufstöhne. Katzen. Ich höre, wie seine Krallen über das Parkett im Wohnzimmer klappern, dann ist er draußen. So esse ich allein meinen Eintopf weiter und als ich fertig bin, geht die Sonne bereits unter.

Ich schmeiße die leere Dose weg und gehe zur Treppe und dann in die erste Etage. Die Glastür lasse ich offen, falls Wesley zurückkommt. Langsam steige ich die Treppe hoch, ohne die Bilder an der Wand neben mir anzusehen.

Es tut viel zu sehr weh, sie anzusehen. Oben gehe ich sofort in mein Zimmer. Erstaunlich, wie normal noch alles aussieht, als wäre nichts geschehen.

Nur mein Bild, welches ich im Spiegel an meinem hölzernen Kleiderschrank erblicke, zeigt mir die Wirklichkeit. Meine Haut ist blass und durchscheinender, als Haut unter normalen Umständen je sein könnte, die Blutadern schimmern deutlich durch. Sobald ich den Mund öffne, sehe ich mein entzündetes, blutiges Zahnfleisch. Mit den Fingern fahre ich durch meine langen, hellbraunen Locken, die mir einst dicht wie ein Schleier über die Schultern fielen. Als ich meine Finger zurückziehe, halte ich ein Büschel Haare zwischen den Fingern. Tränen treten mir in die Augen, wenn ich an meine Mutter zurückdenke, und daran, wie sie mir als Kind liebevoll die Haare gekämmt hat. Ich wünsche mir, sie könnte es nur noch einmal machen.

Kraftlos lasse ich die Hände sinken. Ich komme mir so unglaublich schwach vor. Schwach und kaum noch lebendig, körperlich und geistig. Noch immer versuche ich den Alltag nachzuahmen, den ich einmal gelebt habe. Noch immer erledige ich die Hausarbeit, als wäre nichts geschehen. Noch immer laufe ich vor der Wahrheit davon.

Davor, dass nichts mehr jemals so sein wird wie zuvor. Aber nur so halte ich es aus. Sonst wäre ich schon längst verrückt geworden. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Die Strahlung hat längst auch unser Dorf erreicht. Wenn ich Glück habe, bleibt mir vielleicht noch eine Woche, nicht mehr. Mit steifen Bewegungen gehe ich zum Bett und lege mich schlafen.

Eine Woche noch, vielleicht mehr. Oder weniger. Warte auf mich, Jo.

Ich bin schon fast eingeschlafen, als ich spüre, wie etwas auf mich raufspringt. Dann fühle ich etwas Weiches, Flauschiges im Gesicht und höre ein Schnurren. Wesley. Schnurrend kuschelt er sich in meine Halsbeuge und ich vergrabe mein Gesicht in seinem Fell. Ich bin so froh, dass wenigstens er noch da ist.

 

 

Ein lautes Dröhnen lässt mich hochschrecken. Panisch blicke ich mich um, aber ich sehe nichts, weder in meinem Zimmer, noch draußen vor dem Fenster. Ich merke nur, dass Wesley verschwunden ist.

Dann taucht er plötzlich in meinem Blickfeld auf: Ein riesiger, armeegrüner Hubschrauber. Er landet direkt in unserem Garten. Ich rolle mich aus dem Bett und sprinte zu meinem Kleiderschrank. Dort angekommen, reiße ich ihn auf und greife nach dem alten Jagdgewehr meines Vaters, das darin ist.

Vorsichtig gehe ich zur Zimmertür, nachdem ich mir das Gewehr über die Schulter geworfen habe. Ich spähe hinaus in den Flur, aber alles ist ruhig, soweit ich es durch das Dröhnen des Hubschraubers hören kann. Rasch durchquere ich den Flur bis zur Treppe und streife das Gewehr ab.

Während ich die Treppe herunter gehe, lege ich an und mache mich darauf gefasst, dass gleich jemand um die Ecke kommt. Doch es passiert nichts.

Ich gehe bis zum Wohnzimmer, aber auch dieses Zimmer ist leer. Allerdings steht die Terrassentür nun sperrangelweit offen. Überrascht stelle ich fest, dass zwar Soldaten aus dem Hubschrauber ausgestiegen sind, diese aber direkt daneben warten.

Ich nehme meinen Mut zusammen und trete ins Freie. Sofort blicken die Soldaten in meine Richtung und heben ihre Maschinengewehre, als sie sehen, dass ich ebenfalls bewaffnet bin. Als ob ich mit meinem alten Jagdgewehr auch nur irgendeine Chance gegen sie hätte. Da hebt einer von ihnen die Hand und sofort lassen sie ihre Gewehre sinken. Wenigstens einer, der etwas Verstand besitzt. „Sind Sie Tanya Lindgren?“, will er wissen und ich überlege kurz, ob ich lügen soll. Aber was sollte das bringen? Es gibt nichts, was ich verlieren könnte, abgesehen von Wesley vielleicht, aber der kommt sicher auch ohne mich zurecht und wenn nicht, lebt er ohnehin nicht mehr lange.

„Wieso wollen Sie das wissen?“, stelle ich die Gegenfrage und hebe den Kopf. Diesen Leuten werde ich auf keinen Fall zeigen, wie viel Angst ich habe.

„Wir wollen Ihnen helfen“, erwidert der Mann und deutet auf den Hubschrauber. „Wenn Sie mitkommen, können wir Sie medizinisch versorgen.“

Ich lache. Denn sonst hätte ich ihn vor Wut angeschrien. Wenn es dort draußen noch jemanden geben würde, den ich liebe und der noch am Leben wäre, wäre ich sofort mitgekommen. Wäre mein Vater noch am Leben, wäre ich eingestiegen. Aber er musste sich sofort freiwillig für die Feindabwehr melden, wie er es nannte. Er hat irgendetwas davon erzählt, dass er sein Land in dieser Situation unbedingt unterstützen müsse und für es kämpfen wolle. Einmal Soldat, immer Soldat.

Ich hasse ihn dafür, dass er uns verlassen hat, dafür, dass er mich verlassen hat. Dafür, dass ich nun allein in diesem verseuchten Dorf bin. Aber so war er halt. Immer glaubte er, er könne alle retten, auch wenn es längst zu spät war.

Er war schon tot, bevor die Bombe überhaupt fiel. Aber damit hatte er irgendwie auch Glück. An dem Tag, als meine Mutter und Jo in die Stadt fuhren, kam die Nachricht von seinem Tod. Ein Hinterhalt auf feindlichem Gebiet.

Sein Einsatz im Ausland hatte den Krieg also nicht im Geringsten verhindern können. Die Nachricht hatte irgendein Vorgesetzter von ihm einfach auf den Anrufbeantworter gesprochen. Für mehr war scheinbar keine Zeit. Mutter und Jo waren schon weg und ich habe sie nicht angerufen.

Wenn ich es getan hätte, wären sie dann zurückgekommen? Wären sie rechtzeitig wieder hier gewesen, in Sicherheit? Ich werde es wohl nie erfahren.

„Warum sollte ich mitkommen? Für wen?“, frage ich nun, wobei meine Stimme eiskalt klingt. Der Mann schweigt einen Moment und ich merke, wie sein Blick kurz schuldbewusst über meinen ausgemergelten, zu Grunde gerichteten Körper wandert.

„Es war der letzte Wunsch Ihres Vaters, Sie in Sicherheit zu wissen. Nicht nur, weil er als Soldat solch einen hohen Rang innehatte und im Einsatz für sein Land sein Leben ließ, ist es für meine Vorgesetzten das Mindeste, ihm diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Auch ich persönlich als einer seiner ehemaligen Untergebenen fühle mich dazu verpflichtet.“

Noch mehr als meinen Vater hasse ich Mitleid. Das Mitleid der Menschen, die die Schuld an all dem mittragen.

„Er war also Ihr Vorgesetzter. Setzen Soldaten nicht eigentlich ihr Leben für das ihrer Kameraden ein? Sie hätten Ihres für seins einsetzen können“, erwidere ich und unterdrücke mühsam meinen Zorn. „Sie sollten jetzt besser gehen“, füge ich barsch hinzu. Ich will, dass dieser Abschaum sofort mein Zuhause verlässt.

„Miss Lindgren, es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihrem Vater im Augenblick seines Todes nicht zur Seite stehen konnte. Aber ich bitte Sie abermals, uns zu begleiten. Hier ist es nicht sicher für Sie.“

„Es ist nirgendwo mehr sicher“, schreie ich ihn fast an. „Für niemanden.“

Es sieht so aus, als wolle er etwas erwidern und er hat den Mund bereits geöffnet.

„Gehen Sie…“, bringe ich mit bebender Stimme hervor.

Er zögert, dann nickt er knapp, wendet sich ab und steigt zusammen mit den anderen in den Hubschrauber, der kurz darauf wieder abhebt.

Ich hätte mitgehen können. Dann hätte ich vielleicht noch ein paar Wochen mehr gehabt, aber das möchte ich nicht. Ich will nicht, dass sie das Wrack, dass einst Tanya Lindgren war, an unzählige Maschinen anschließen, damit sie so tun können, als wären sie warmherzige Samariter, die uns Opfern dieser Katastrophe unbedingt helfen wollen.

Ich will ihre Hilfe nicht, denn das hier ist das, was ich wirklich will: Die Freiheit, das zu tun was ich möchte. Und damit auch da zu bleiben, wo ich sein möchte. Jo hat mich immer dafür bewundert, dass ich in der Lage war, die Wahrheit zu sehen. Die Wahrheit hinter all den Lügen, die Wahrheit hinter all der Grausamkeit. Und ich habe diese Wahrheit immer ausgesprochen. Diesmal werde ich nicht mehr dazu kommen, sie auszusprechen, aber ich werde sie allen zeigen, damit niemand mehr die Augen verschließen kann.

 

 

Am Abend verabschiede ich mich endgültig von meinem Zuhause. Ich gehe ins Bad, fülle etwas Wasser ins Waschbecken, ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und wasche mich vorsichtig.

Während ich mir den feinen Staub, der überall in der Luft und auch auf meiner Haut liegt, abwasche, versuche ich, nicht allzu sehr daran zu denken, dass auch das Wasser verstrahlt und reines Gift für meinen Körper ist.

Ich lasse das Wasser ab, trockne mich mit einem Handtuch ab und schlüpfe in eine Hose und ein Unterhemd, danach spüle ich mir noch den Mund aus. Ich befürchte, putzen würden meine Zähne kaum noch überstehen und als ich das Wasser zurück ins Waschbecken spucke, bestätigt der deutliche rote Schimmer meine Befürchtung, bevor das blutige Wasser im Abfluss verschwindet.

 

Dann gehe ich zurück in mein Zimmer und schnappe mir meinen Rucksack, den ich vorher mit dem Wichtigsten gefüllt habe. Mein Blick gleitet zu meinem Nachtisch, auf den ein paar vergilbte und leicht geknickte Fotos liegen. Ich greife danach. Da ist ein Foto von mir mit Jo auf dem Arm, als er noch ein Baby war und riesengroß in meinen dünnen Kinderarmen aussieht.

Dann noch eins von seinem letzten Geburtstag, auf dem neben mir auch meiner Mutter zu sehen ist.

Und zuletzt ein Foto von meinem Vater in Uniform, dieselbe Art von Foto, die sie beim Militär auch für ihre Akten verwenden.

Auch von Wesley muss ich mich verabschieden. Als ich nach unten gehe, fülle ich ihm seinen Napf bis zum Rand.

Danach schlüpfe ich in meine Schuhe, die ich gestern an der Terassentür ausgezogen habe und gehe hinaus in den Garten. Bewusst gehe ich zum alten Ahornbaum und der Wäscheleine, wo ich einen Moment die Kleidungsstücke ansehe, die meiner Mutter und Jo gehören, bevor ich nach einem alten, abgewetzten Kapuzenpullover von mir greife und diesen überstreife.

Ich bin schon am Gartentor, als ich Wes miauen höre. Er weiß anscheinend ganz genau, was ich vorhabe. „Was ist? Guck nicht so!“, fauche ihn regelrecht und er sieht mich aus großen Augen an. „Ich gehe jetzt und du kannst mich nicht aufhalten.“ Damit drehe ich mich weg und überquere die Straße.

Es wäre sicher besser, wenn er mir nicht folgen würde, ich weiß nämlich nicht, wie ich mich von ihm verabschieden soll. Dort steht das Auto unser Nachbarn, die wie fast alle abgehauen sind. Ich war neulich bereits in ihrem Haus und habe ihren Autoschlüssel entwendet. Das kann ihnen ja sowieso egal sein, denn sie werden sicherlich nie zurückkehren.

Ich schließe das Auto auf und ehe ich mich versehe, hüpft dieser bescheuerte Kater auf den Fahrersitz. Ich seufze nur und setzte ihn auf den Beifahrersitz, dann steige auch ich ein. „Du willst mich wohl unbedingt begleiten, was?“, murmele ich und stecke den Schlüssel ins Zündschloss. Dann starte ich den Wagen und fahre los.

 

So schnell es geht, lasse ich meinen Heimatort und meine Kindheit hinter mir, breche auf, um Jo wieder zu sehen.

Wesley rutscht während der Fahrt auf dem Sitz hin und her, gibt aber keinen Ton von sich.

Während wir dem Ziel immer näher kommen, merke ich, dass es immer heißer wird. Irgendwann sehe ich die ersten Spuren. Verkohlte Bäume und abgebrannte Häuser.

Ich fahre noch eine Weile weiter, inzwischen wird mein Körper von einer seltsamen Taubheit erfasst. Oder bilde ich mir das nur ein? Nach einer halben Stunde stoppe ich den Wagen und steige aus, da ich weiß, dass es kein weiter Weg mehr ist. Ich nehme meinen Rucksack und sehe kurz Wesley an, der anscheinend auf dem Sitz eingeschlafen ist. Ich strecke die Hand aus, um ihn zu streicheln und erstarre.

Er ist nicht eingeschlafen, denn sein kleiner Brustkorb hebt und senkt sich nicht mehr. Sein Körper fühlt sich unter meinen Fingern steif an.

Als hätte mich etwas gebissen, reiße ich die Hand zurück und taumele rückwärts.

Meine Hände zittern, als ich die Kamera aus meinem Rucksack hervorhole. Ich banne Wesley auf Band, während mir Tränen die Wangen herunterlaufen. „Lebewohl, Wes“, sage ich und wende mich meiner Umgebung zu.

 

Ich filme alles. Die ausgebrannten, schwarz gefärbten Häuser und die Menschen, die nicht entkommen konnten. Meine Kehle brennt, aber ich weine nicht, als ich mir das Leid vorstelle, von dem die verkohlten Körper zeugen, auch wenn es mich viel Kraft kostet.

Je weiter ich gehe, desto weniger ist übrig. Aus rußschwarzen Häusern werden verkohlte Ruinen, bis irgendwann nur noch Asche und Steine übrig sind. Hätte ich jetzt einen Geigerzähler, könnte er die Strahlungswerte hier sicher kaum noch erfassen.

Als ich weiter gehe, kämpfe ich darum, Luft zu bekommen. Meine Lunge brennt und mein Kopf scheint zu explodieren.

Und dann ist da nichts mehr. Ein Nichts. Nur eine riesige schwarze Wüste, wo einst eine große Stadt war.

Ich habe noch fünf Minuten, sage ich mir und hebe die Kamera. Sie sollen es alle sehen. Sie sollen sehen, was noch übrig ist.

Ich will weitermachen, aber meine Beine versagen mir den Dienst.

Schnell drücke ich im Bedienfeld der Kamera auf „Senden“. Nun wird es die ganze Welt sehen. Ich lache still in mich hinein, während ich zu Boden rutsche. Das Netz hier ist lächerlicherweise immer noch recht gut und schon bald ist das Video hochgeladen.

Mit letzter Kraft streife ich meinen Rucksack ab und öffne ihn. Ein Plüschtier fällt heraus.

Es ist der hässliche, alte, verlotterte Plüschhund von Jo. „Wesley...“, flüstere ich und drücke ihn an mich, während mir Tränen über die brennende Haut rinnen. Wartet auf mich, ich bin bald bei euch.

Ich sehe vor meinem inneren Auge wieder den strahlenden Jungen im Ahornbaum, als ich zum Himmel schaue, der strahlend blau ist.

Selbst wenn alles andere zerstört ist, sieht der Himmel noch genauso aus wie sonst, denke ich, dann lasse ich den Kopf sinken.

Mein Körper wird immer schwerer und kurz darauf liege ich seitlich auf dem Boden, das Gesicht in den Stoffhund gedrückt, während sich mein Sichtfeld weiter verdunkelt und ich allmählich in die Finsternis gerissen werde und einschlafe.

Anmerkungen

 Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin

Vera Hallström wurde 1996 in Berlin geboren, zog mit drei Jahren jedoch mit ihren Eltern aufs Land. 2015 zog sie aus beruflichen Gründen vom Land in die Stadt, möchte irgendwann aber wieder in der "Großstadt" Berlin leben.

Als Kind entdeckte sie nicht nur früh ihre Begeisterung für das Lesen, sondern etwas später auch für das Schreiben. So füllte sie als Kind ganze Notizbücher mit ihren Geschichten, später schrieb sie die ersten Geschichten an einer Schreibmaschine ihrer Mutter und am PC.

Mit sechzehn Jahren kam ihr die Idee zu einer Geschichte rund um eine Welt mit übernatürlichen Wesen, aus der sich dann irgendwann das Buch "Dämonenfeuer" entwickelte.

Fast sechs Jahre später, im November 2017, veröffentlichte sie dann ihre ersten beiden Bücher, zwei Kurzgeschichten, über die Self Publishing-Plattform BookRix als eBook.

Da kein Verlag Interesse an ihrem Manuskript zu "Dämonenfeuer" zeigte, nahm sie die Veröffentlichung selbst in die Hand und veröffentlichte dieses im Januar 2018 ebenfalls über BookRix.

Dieses überarbeitete sie danach jedoch noch einmal gründlich und veröffentlichte es im Mai 2018 als 2. Auflage.

Dämonenfeuer ist ein Mix aus Dark-, Urban- & Paranormal Fantasy, Science Fiction, Dystopie sowie etwas Drama und Action. Es ist der 1. Band der "Dämonenwelt-Trilogie".

 

Die neuesten Informationen rund die Autorin und ihre Bücher findet man auf ihrer Facebook-Seite (https://www.facebook.com/Hallstroem.Vera/).

 

Andere bereits erschiene Werke der Autorin:

 

Die stille Welt (Kurzgeschichte; 2017)

Dämonenfeuer: Band 1 der Dämonenwelt-Trilogie (2018)

Dämonenherz: Band 2 der Dämonenwelt-Trilogie (2020)

Impressum

Texte: Vera Hallström
Bildmaterialien: ollegur (Canva), Jonas Mohamadi (Pexels), Usama Arshad (Getty Images), mammuth (Getty Images Signature)
Cover: Hallström Design
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2017

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