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Kapitel 1 - Linda

Manchmal passiert es ganz plötzlich. In dem einen Moment scheint noch alles in Ordnung zu sein und im nächsten hast du das Gefühl, alles entgleitet dir. Genau so erging es auch mir. Wobei ich wohl eher selbst dem Leben entglitten bin.

 

 

Ich kann mich noch an ein paar Dinge erinnern: Grelles Licht, das mich blendet, das laute Quietschen von Bremsen und das von Reifen auf Asphalt. Und das schlagartige Gefühl von hartem Metall, welches mich trifft, mich mitreißt, mir einen unglaublichen Schmerz durch den Körper jagt. Dann wird alles in Schwärze getaucht.

 

Bin ich tot?, ist die erste Frage die ich mir stelle, sobald die Taubheit verschwindet und durch bleierne Schwere abgelöst wird.

Noch immer kann ich meinen Körper nicht fühlen, habe nur das Gefühl, irgendetwas Schweres würde auf mir liegen. Ich versuche, mehr wahrzunehmen. Zuerst ist da nichts, ich sehe noch immer nichts außer Schwärze. Aber dann…

 

Lichtpunkte tauchen auf meinen geschlossenen Augenlidern auf. Tageslicht?

Da ist noch etwas. Unter mir kann ich etwas Weiches spüren. Angestrengt versuche ich, meine Augen zu öffnen.

Es dauert eine Ewigkeit, so fühlt es sich für mich an, bis ich es schaffe zu blinzeln. Zuerst blendet mich das Licht einfach nur. Dann kann ich Umrisse erkennen.

Dennoch kann ich die Einzelteile noch nicht zu einem klaren Bild zusammensetzen. Ich bin irgendwo drinnen, in einem Zimmer, so viel erkenne ich. Es kommt mir vertraut vor.

Nur warum? Meine Glieder sind immer noch schwer, aber ich schaffe es, meine Finger zu bewegen. Dann meine Hand, meinen Arm.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis ich es schaffe, mich sogar aufzurichten. Ich befinde mich in einem Bett. Die Tapete ist hellgrün mit Blattmuster, an zwei von vier Wänden stehen hohe, dunkle Holzregale voller Bücher. Genau dem Bett gegenüber befinden sich zwei große Fenster, durch welche helles Licht in den Raum und auf den Schreibtisch davor fällt.

 

Das ist mein Zimmer, durchfährt es mich. Ich bin in meinem alten Zuhause.

Aber im nächsten Moment schüttele ich meinen Kopf, auf dem auch ein enormes Gewicht zu lasten scheint.

Wieso sollte ich Zuhause sein? Ich hatte einen Unfall… Da war dieses Auto.

Oder habe ich das nur geträumt? Schmerzen habe ich keine. Ich sehe an mir herunter. Meine Kleidung ist sauber, nichts ist beschädigt. Kein Schmutz, kein Blut, keinerlei Verletzungen. Keine Spuren? Absolut nichts.

Fühlt es sich so an, tot zu sein? Habe ich deshalb keine Schmerzen?“, sage ich und mich durchfährt ein weiterer Schock. Ich habe die Worte zwar gedacht und meinen Mund zum Sprechen bewegt, doch kein Ton ist über meine Lippen gekommen. Erneut versuche ich, etwas zu sagen. Stille. Nur meine Lippen bewegen sich, während meine Stimme unhörbar bleibt.

Dann fällt mir plötzlich noch etwas anderes auf. Unbeholfen stehe ich auf und taumele halb zu einem der Bücherregale, auf dem eine kleine silberne Uhr steht. Die Zeiger bewegen sich, doch sie tickt nicht.

Das kann nicht sein! Ich kenne diese Uhr und in meinem Kopf schwöre ich, das vertraute Ticken noch hören zu können. Aber nur in meinem Kopf. Auch keine von meinen anderen Uhren, von denen ich dutzende im Zimmer habe, tickt und Schrecken überkommt mich.

 

Ich stürme aus meinem Zimmer hinaus auf den Flur. Mit tonloser Stimme rufe ich nach meinem Verlobten Stephen. Keine Antwort.

Aber wie auch, wenn niemand mehr meine Stimme hören kann? Und wieso sollte er in diesem Haus sein? Seit dem Tod meiner Eltern steht es eigentlich leer.

Wäre das hier real, denke ich, wären hier überhaupt keine Möbel mehr. Schließlich habe ich alles ausräumen lassen, weil ich es eigentlich weiterverkaufen wollte.

 

Langsam keimt unbeschreibliche Angst in mir auf, während ich von Zimmer zu Zimmer gehe und jedes Einzelne durchsuche, in der Hoffnung, irgendjemanden zu finden.

Doch ich finde niemanden. Meine Augen fangen an zu brennen und obwohl ich mir fast sicher bin, hier völlig allein zu sein, gehe ich die Treppe herunter und hinaus in den Garten.

Ich gehe bis zu dem Holzzaun, der das Grundstück von der großen Wiese dahinter abgrenzt, und wieder zurück.

Ich laufe zwischen den alten Apfelbäumen im Garten auf und ab, schüttele den Kopf und versuche erfolglos, die Tränen zurückzuhalten. Doch sie fangen an, wie eine Sturzflut aus meinen Augen zu rinnen und ich kämpfe darum, nicht zusammenzubrechen.

 

Plötzlich, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich richte mich gerade auf. Meine Atmung wird noch schneller, während ich lausche. Nichts. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel auf mich herab, wunderschönes Wetter, sollte man meinen. Wetter, bei dem man sich in den Garten legen und dem Gesang der Vögel lauschen will.

Vögel, die hier scheinbar nicht existieren. Die Luft ist völlig leer von Geräuschen. Es kommt mir vor, als würde hier das Leben still stehen. Ich bin völlig allein.

Allein in all der Stille, in der nicht ein einziger Vogel existiert, der sein Lied singen könnte. Die Sonne am Himmel ist auch nur eine Illusion, denn ich spüre keinerlei Wärme auf der Haut. Es ist weder warm noch kalt, kein Regen, kein Wind.

Ein lautloser Schrei kommt mir über die Lippen, ich bin verzweifelt, will alles herausschreien, kann es aber nicht. Egal, welchen Teil des Hauses oder des Gartens ich untersuche, überall herrscht Leere und Stille. Hier draußen gibt es keine weiteren Häuser, hinter der Wiese fängt bereits der Wald an und das nächste Dorf ist kilometerweit entfernt.

 

Langsam verstehe ich, wieso ich hier bin und bekomme eine Vorstellung davon, was das für ein Ort ist. Aber ich habe es nicht verdient, zu sterben, da bin ich mir sicher. Ich bin nie ein schlechter Mensch gewesen, sage ich mir. Wieso also? Wieso so früh und unter solchen Umständen? Mein Leben lief doch gut… Das glaube ich zumindest. Hab ich irgendetwas falsch gemacht?

 

 

Jedenfalls befinde ich mich jetzt in dieser seltsamen Zwischenwelt. Oder soll ich es eher als Nachwelt bezeichnen? Ist das schon das, was nach dem Tod auf einen wartet?

Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass nach dem Tod das völlige Nichts kommt. Schwärze, eine Welt, in der man nichts mehr empfindet, in der alles einfach plötzlich aufhört.

Auf bestimmte Weise ist diese Welt fast wie das Nichts, nur dass es noch Farben gibt. Das ist das Einzige. Keine Töne, keine Gerüche, keine Gefühle wie Kälte oder Schmerz, auch nicht Hunger oder Müdigkeit. Und ich bin allein.

Die Einsamkeit brennt immer stärker in mir, gemischt mit bitterer Sehnsucht nach der echten Welt und vor allem der echten Zeit. Denn hier gibt es keine Nächte, die Sonne scheint immer gleich vom Himmel. Es ist eine Welt, die nur so aussieht, als wäre sie normal. Wenn man jedoch hinhört und fühlt hat man das Gefühl, den Verstand zu verlieren.

Das hier ist keine Welt für lebende Wesen.

 

 

Was für eine bittere Ironie, denke ich. Früher habe ich mich immer nach Stille und Ruhe gesehnt, weil mir mein Alltag zu laut und hektisch vorkam.

Nun jedoch hoffe ich mit jedem Augenblick, jeder Stunde und jedem Tag, der vergeht und den ich nur an den Uhren ablesen kann, dass diese Stille wieder verschwindet.

Ich sitze im Wohnzimmer des Hauses, neben mir auf dem Couchtisch liegt das Telefon. Natürlich ist es sinnlos, aber dennoch warte ich auf ein Zeichen, wie einen Anruf beispielsweise. Aber es wird niemand anrufen, egal wie lange ich warte, nicht hier, nicht in dieser Welt.

Wie oft habe ich es nicht schon selbst probiert? Das Telefon einfach in die Hand genommen und dann irgendeine Nummer gewählt… Die meiner besten Freundin, meines Verlobten oder einfach eine wahllos getippte. Kein Freizeichen und niemand nimmt ab. Hier habe ich keinen Empfang. Mich wird niemand anrufen, genau so wenig wie ich es kann.

Wie auch, wenn es hier nicht einmal andere Menschen gibt? Inzwischen gehe ich nicht einmal mehr aus dem Haus. Wozu sollte ich das auch tun?

Kapitel 2 - Stephen

Ein weiterer Tag ohne etwas Neues. Nur dieses monotone Piepen der Maschinen, die Schritte und Stimmen des Krankenhauspersonals und der Besucher, die draußen über den Flur liefen und das leise, gleichmäßige Atmen von Linda. Hätte sich ihre Brust nicht gehoben und gesenkt, hätte man meinen können, sie sei tot.

Erschöpft fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht, wobei ihm eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. Würde sie doch endlich aufwachen! Er wandte sich um, als sich die Tür öffnete und der Doktor mit einer Akte unter dem Arm hereinkam. Erwartungsvoll sah Stephen ihn an, doch sein bekümmertes Gesicht verriet ihm sofort, das sie noch immer nichts gefunden hatten. „Wie sieht es aus?“, fragte er dennoch.

„Es tut mir sehr leid, aber auch die weiteren Scans mit dem MRT haben nichts Aufschlussreiches ergeben“, erwiderte der Doktor. „Wir wissen immer noch nicht, wieso sie sich in diesem Zustand befindet. Im Kopfbereich hat sie bis auf einen leichten Bruch des Schädeldachs kaum Schaden abbekommen, zum Glück. Innerlich, also was ihr Gehirn betrifft, liegen keine Verletzungen vor, obwohl wir sie mehrmals darauf untersucht haben. Die anderen Teile ihres Körpers sind viel schwerer verletzt.“ Ratlos blätterte der Arzt durch die Scans und anderen Untersuchungsergebnisse, die er auf einem Klemmbrett befestigt in den Händen hielt.

Stephen blickte wieder zu Linda hinüber, auf dessen blasser Haut sich dunkle Blutergüsse und Schürfwunden abzeichneten, während die schlimmeren Wunden an Ober- und Unterkörper durch Verbände und das Krankenhaushemd verborgen waren.

Bei dem Autounfall hatte Linda sich unter anderem mehrere Rippen, den linken Arm sowie das linke Bein mehrmals gebrochen, als sie mit dieser Körperseite auf dem Auto aufgekommen war. Auch eine Schulter war dadurch ausgekugelt worden. An inneren Verletzungen hatte sie sich erstaunlicherweise bis auf einen Milzriss kaum etwas Ernsthaftes zugezogen. „Es ist ein Rätsel. Es gibt keinen ersichtlichen Grund für ihr Koma“, fügte der Doktor hinzu.

Stephen erwiderte nichts, sondern sah nur weiter schweigend Linda vor sich im Bett an. Wieso wachst du nicht auf? Seit dem Unfall war schon eine ganze Woche vergangen. „Wenn sie nicht aufwacht“, begann er, „...dann weiß ich nicht, was ich tun soll.“

„So sollten sie nicht denken“, antwortete der Doktor. „Da sie keine größeren Schäden davongetragen hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie bald aufwacht. Wenn es etwas gäbe, dass sie daran hindert, hätten wir es gefunden.“

„Aber gerade die Tatsache, dass sie nichts gefunden haben, macht mir Angst“, meinte Stephen.

Darauf wusste der Doktor nichts zu erwidern, sondern blickte ihn nur betroffen an, dann verabschiedete er sich und ließ ihn allein im Zimmer zurück. Allein mit dem Geräuschen der Maschinen, die ihn von Stunde zu Stunde, die er hier war, um den Verstand zu bringen drohte. Liebevoll beugte er sich zu Linda herüber und strich ihr eine Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht. „Wach doch endlich auf, bitte. Tu es für mich“, sagte er, dann legte er seine Arme auf das Bett und ließ seinen Kopf auf diese sinken. „Bitte wach auf…“, murmelte er leise, während er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten.

Kapitel 3 - Linda

Wie viele Tage sind schon vergangen? Ich drehe mich auf meinem Bett, auf dem ich mich quer ausgestreckt habe, mit dem Gesicht zum Fenster und blicke nach draußen in den Himmel. Vereinzelte, weiße Wolken vor einem aquamarinblauen Himmel, die zur Abwechslung ab und zu auftauchen.

Ich richte mich auf und setzte mich auf die Bettkante, näher ans Fenster. In der Ferne sehe ich die Wiese und den dichten Wald dahinter. Es sieht trotz allem noch genauso aus wie damals, denke ich. Lautlos wende ich mich vom Fenster ab und schwinge mich aus dem Bett, da ich beschlossen habe, etwas raus zu gehen. Eigentlich müsste ich mir nicht einmal Schuhe anziehen, tue es aus Gewohnheit aber trotzdem.

 

 

In der richtigen Welt ist es jetzt Herbst. Dort könnte ich die Gelb-, Orange- und Rottöne der gefärbten Blätter an den Bäumen genießen. Hier ist jeder Baum einfach nur grün, wie eine Art ewiger Frühling.

Nicht ein Blatt bewegt sich, keine Grille ist zu hören, als ich über die weite Wiese gehe und mit den Händen über das hohe Gras fahre, das ich zwar unter den Fingern fühlen kann, das sich aber gleichzeitig fast durch die Berührung aufzulösen scheint.

Als ich zurück nach Hause komme, stelle ich fest, dass ich gerade einmal eine halbe Stunde weg war. Ernüchtert will ich gerade durch die Haustür treten, als mir ein seltsamer Gedanke kommt. Mein Blick wandert zum Briefkasten an der Hauswand neben mir. So ein Schwachsinn!, ermahne ich mich. Wie soll ich ausgerechnet in dieser Welt einen Brief bekommen?

Kopfschüttelnd trete ich in den Hausflur. Ich scheine wirklich ziemlich verzweifelt zu sein, wenn ich an so etwas glaube. Ich bin schon im Flur und schließe gerade die Tür hinter mir, als ich ein metallisches Klappern vernehme. Verblüfft halte ich inne. Das kann doch nur Einbildung gewesen sein, oder?

Vorsichtig öffne ich wieder die Tür und spähe hinaus. Nichts. Niemand ist zu sehen, der Tag ist noch genauso still wie zuvor. Woher ist das metallische Klappern gekommen? Konnte es sein, dass…? In blinder Hoffnung greife ich nach dem Briefkastenschlüssel und stürme aus dem Haus.

Als ich vor dem Briefkasten stehe, spüre ich, wie stark mein Herz vor Aufregung schlägt, als ich den Briefkasten öffne. Ich kann nicht beschreiben, was für ein Gefühl ich habe, als ich den weißen Umschlag sehe. Mit zittrigen Händen greife ich danach. Es steht kein Absender darauf, auch kein Empfänger. Gespannt reiße ich ihn auf, während die abgerissenen Papierschnipsel zu Boden segeln.

Meine Augen füllen sich sofort mit Tränen, als ich den Inhalt sehe. Er ist leer. Nicht ein einziges Wort steht auf dem Papier. Wütend zerknülle ich den Brief und nehme die Papierkugel mit nach oben in mein Zimmer, wo ich sie achtlos auf den Boden werfe.

Kapitel 4 - Stephen

„Hier, trinken Sie etwas.“ Er sah hoch, als ihm eine der Krankenschwestern eine Tasse mit frischem Kaffee vor die Nase hielt.

„Danke.“

„Seit wann sind Sie jetzt schon hier? Sie müssen doch auch irgendwann mal nach Hause und sich ausruhen“, meinte sie und ließ sich neben ihn auf einen Stuhl vor den Krankenzimmern sinken.

„Ich will sie nicht alleine lassen“, gab er zurück und nahm einen Schluck von dem Kaffee.

„Das kann ich verstehen. Es ist schrecklich, wenn einem geliebten Menschen so etwas zustößt. Dennoch müssen Sie auch an sich selbst denken. Es bringt nichts, Tag und Nacht hier zu sitzen. Am Ende werden sie noch selbst krank.“ Mitfühlend sah sie ihn an, worauf er matt lächelte.

„Da haben Sie wohl Recht. Ich werde gleich nach Hause gehen, hier kann ich sowieso niemanden helfen.“

 

Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Während der Fahrt nach Hause fiel es ihm von Augenblick zu Augenblick schwerer, wach zu bleiben. Er hatte vorher gar nicht bemerkt, wie müde er war.

Das nächste Mal musste er besser aufpassen, sonst würde er womöglich noch selbst einen Unfall bauen. Nachdem er endlich Zuhause angekommen war, schlüpfte er schnell aus seinen Schuhen und schlurfte erschöpft ins Schlafzimmer. Er hatte keine Lust mehr, duschen zu gehen oder sich auch nur umzuziehen, deshalb schaltete er einfach das Licht aus und ließ sich ins Bett fallen. Es dauerte nur wenige Minuten, dann schlief er tief und fest.

 

 

Wenigstens musste er nicht zur Arbeit, da er zwei Wochen freigestellt worden war, und so konnte er am nächsten Tag bis Mittag schlafen. Dann stand er auf, ging ins Bad und duschte sich heiß ab.

Kurz darauf kam er mit nassen Haaren und deutlichen Ringen unter den Augen aus dem Bad und griff nach der Kaffeekanne, die auf der Anrichte in der Küche stand. Der Kaffee war noch von gestern und schmeckte dementsprechend kalt und abgestanden, was ihm in diesem Moment aber mehr als egal war.

Danach zog er sich ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an. Während irgendeine langweilige Show lief, streckte er sich lang auf dem Sofa aus, als er feststellte, dass der Anrufbeantworter blinkte. Schnell drückte er auf den blinkenden Knopf, wobei sich in seiner Brust ein hoffnungsvolles Gefühl ausbreitete. Vielleicht war Linda endlich aufgewacht. Es war aber nur seine Schwester Kristie, die sich erkundigen wollte, wie es ihm ging.

Inzwischen rief sie fast jeden Tag an, zwar nur aus reiner Sorge, dennoch ging es ihm allmählich auf die Nerven. Er hatte schon oft genug gesagt, dass er einfach nur seine Ruhe haben wollte, bis Linda wieder aufwachte. Resigniert löschte er die neuen Nachrichten, nachdem er sie angehört hatte, ohne Kristie zurückzurufen.

Kapitel 5 - Linda

Ich bin mir sicher, dass ich gerade dabei bin, durchzudrehen.

Da es nie Nacht wird, ziehe ich irgendwann einfach die Rollos runter und versuche zu schlafen, allerdings ohne Erfolg. Schlaflos wälze ich mich herum, meine Gedanken wandern immer wieder zu Stephen und ich frage mich, was er wohl gerade macht.

Ich hoffe, dass er diese ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich lassen kann, aber ich weiß selbst, dass das nicht so einfach geht. Ihn kann ich schließlich auch nicht so einfach vergessen. Ich will ihn nicht vergessen. Niemals. Ich wollte eigentlich für immer bei ihm bleiben.

Allerdings hat mir das Leben da einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Ich werde sicher weiterhin jeden Tag an ihn denken, während ich mir wünsche, ich könnte ihn einfach nur wiederzusehen. Ich bin so in Gedanken, dass ich gar nicht höre, wie mein kleiner Wecker anfängt, leise zu ticken.

Kapitel 6 - Stephen

Er war noch im Schlafanzug, als es an der Tür klingelte. Mit der Kaffeetasse in der Hand ging er zur Eingangstür und spähte durch den Spion. Es war Kristie. Seufzend öffnete er die Tür.

„Stephen!“, rief sie aufgebracht. „Wieso hast du mich gestern nicht zurückgerufen? Ich hab mir unglaubliche Sorgen gemacht!“

„Entschuldige, ich war einfach zu erschöpft“, erwiderte er und ließ sie in die Wohnung. „Ist es zu viel verlangt, für eine Weile einfach mal in Ruhe gelassen zu werden?“

Sie zog sich eilig die Schuhe aus, während sie ihn aus den Augenwinkeln anfunkelte. „Nicht in so einer Situation. Und du weißt, dass sie mir auch sehr wichtig ist und ich mir genauso Sorgen mache. Außerdem bin ich lieber in deiner Nähe, bevor du noch irgendwas anstellst“, antwortete sie. „Oder dir selbst etwas antust“, fügte sie noch leise hinzu.

„Jetzt hör aber auf“, murmelte er, drehte sich um und ging in Richtung Küche. „Willst du einen Kaffee?“, fragte er dann, schon in einem etwas versöhnlicheren Ton.

„Gerne“, meinte sie, warf noch schnell ihre Jacke über die Garderobe und folgte ihm in die Küche.

Kapitel 7 - Linda

Wut packt mich. Ich verspüre den Drang, alle Bilder im Haus von den Wänden zu reißen, meine Bücherregale umzuschmeißen, einfach alles zu zerstören.

Aber ich klappe stattdessen nur das Buch, in dem ich gerade gelesen habe, zu, während ich versuche, mich im Zaum zu halten. Dann wende ich mich blitzschnell auf dem Stuhl am Schreibtisch, auf dem ich sitze, um und werfe das Buch mit voller Wucht gegen eins der Regale. Eine der kleinen Glasfiguren, die dort zur Dekoration stehen, fliegt vom Buch getroffen auf den Boden und zerbricht dort.

In Gedanken fluchend erhebe ich mich vom Schreibtisch und werfe mich niedergeschlagen aufs Bett. Neben der Sehnsucht nach Stephen und allen anderen, die mir hier fehlen, verspüre ich noch etwas anderes.

 

Ich sehne mich nach meiner Arbeit. Danach, in Räumen, Häusern und Gärten kreativ zu sein. Danach, für meine Kunden die richtigen Stoffe für Möbel oder auch Gardinen auszuwählen, die ich dann für sie anfertigen ließ oder nach dem Duft von frischer Farbe, neuer Tapete, eingeölten Holzpaneelen, die von meiner Vorstellung und den Entwürfen in die Realität übergehen, um sich schlussendlich zu einem zusammenzufügen.

Immer verschieden, doch jedes Mal vollendet und nicht nur zu meiner eigenen Zufriedenheit. Egal, welche Sorte von Wohnung, Haus, Geschäft oder anderem ich eingerichtet habe, ich war die Beste auf dem Gebiet. Nur ich war in der Lage, selbst die extravagantesten Wünsche umzusetzen.

Natürlich musste ich mir diesen Erfolg erst erarbeiten. Ausbildung, Weiterbildungen und Kurse absolvieren, mein eigenes Studio aufbauen und genug Geld erwirtschaften, um auch schon im Voraus genügend Materialien für die Kunden bereitstellen zu können.

 

Das Buch, das ich weggeworfen habe, enthielt zwar tatsächlich gedruckte Worte, doch diese schienen beim Lesen wie vor meinen Augen zu tanzen und zu verschwimmen. Was kann ich hier sonst noch tun?

Am liebsten will ich zeichnen, doch so oft ich es auch versucht habe, der Stift hat nicht die geringste Spur auf dem Skizzenblock hinterlassen.

Man hat mir alles genommen. All die Dinge, die mich bis jetzt mein Leben ausgemacht haben, die mir durch schwierige Zeiten geholfen haben.

Ohne Stephen und die Möglichkeit, so kreativ zu sein, wie ich will, bin ich ein Nichts. Wie oft hat er mich in der Vergangenheit schon gebeten, für ihn zu zeichnen? Und er saß dabei einfach nur neben mir zu und sah zu, wie die Bilder aus dem Stift auf das Papier flossen, einzig allein erschaffen durch meine Fantasie.

Wie oft habe ich mit ihm über die Einrichtung eines Hauses diskutiert, an der ich gerade arbeitete? Wie oft fand er das, was ich tat, viel zu beeindruckend, um es in Worte zu fassen, während ich an allem zweifelte?

Er hat nie an mir gezweifelt, wird mir klar. Ich bin diejenige, für die es nie gut genug war.

 

Stephen scheint sich mit jeder Sekunde, die vergeht, weiter von mir zu entfernen, während ich nicht fähig bin, ihn festzuhalten, ihn daran zu hindern, mich vollends zu verlassen.

Niedergeschlagen lasse ich meinen Kopf und den halben Oberkörper über die Bettkante hängen, dann fällt mein Blick auf das zusammengeknüllte Papier und auf die dunklen Buchstaben, die sich in den einzelnen Falten vor mir zu verstecken scheinen.

Ehe ich mich abfangen kann, stürze ich aus dem Bett auf den Boden, was sicher höllisch wehgetan hätte, wenn ich Schmerzen empfinden würde, und krabbele zu dem Papier herüber. Ungläubig starre ich auf das Blatt und die zwei Wörter, die in Stephens Handschrift darauf stehen: Komm zurück.

Wie kann es sein, dass ich die Wörter erst jetzt sehe? Ich drehe das Papier in meinen Händen hin und her, doch ich kann nichts weiter entdecken. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, noch mehr Zeilen zum Vorschein zu bringen.

Aber wie? Indem ich es mir ganz fest wünsche? Aber wenn das so wäre, hätte ich doch schon früher einen Brief bekommen, oder vielleicht sogar einen Anruf… Einen Anruf!

Ist das nicht vollkommen unmöglich? In Gedanken höre ich die Melodie des Klingeltons vom Telefon, die mir noch immer so vertraut ist.

Aber die Melodie ist nicht in meinem Kopf.

Ruckartig springe ich vom Boden auf und stürme ins Wohnzimmer. Das Telefon klingelt noch, als ich abnehme. „Hallo?“, frage ich aufgeregt in den Hörer, mit meiner echten Stimme, die nun plötzlich wieder hörbar ist. Es kommt keine Antwort. „Hallo? Ist da irgendjemand?“ Das Schweigen am anderen Ende der Leitung löst bei mir Gänsehaut aus. „Stephen, bist du das?“ Sehnsucht hallt in meiner Stimme wieder. „Ich vermisse dich so. Bitte antworte mir! Ich will einfach nur deine Stimme hören…“ Tränen stehlen sich aus meinen Augen und laufen mir das Gesicht herunter, während ich darauf warte, dass jemand die Stille durchbricht.

Kapitel 8 - Stephen

Kristie beschloss aus Sorge, bis zum nächsten Tag zu bleiben. Und so ging sie noch am selben Tag in die Videothek und lieh ihnen ein paar Filme aus, welche Stephen aber kaum von seinen trübseligen Gedanken abbringen konnten.

Würde jetzt nicht sie, sondern Linda hier sitzen, wäre er glücklich und alles wieder in Ordnung. Stattdessen war seine überfürsorgliche Schwester hier, die ihn die ganze Zeit mit sorgenvollem Blick musterte. Allein das war schon ein Grund, wieso er diesen Abend wohl kaum genießen konnte. Die Tatsache, dass Linda aus ungeklärten Gründen im Koma lag und niemand wusste, wie lange dieser Zustand noch andauern würde, machte das dann schlussendlich völlig unmöglich.

 

Nachdem er das Bett im Gästezimmer für Kristie hergerichtet hatte und sie sich zum Schlafen in dieses zurückzog, ging er in Lindas und sein Schlafzimmer.

Dort suchte er nach Briefen, die sie ihm einmal geschickt hatte, als sie für einige Zeit im Ausland war. Ihre vertrauten Worte würden sie ihm wenigstens für eine Weile zurückbringen.

Kapitel 9 - Linda

Ich gehe spazieren, wie ich es mir angewöhnt habe, wobei ich allerdings versuche, noch einmal dieselbe Reaktion wie gestern herbei zu führen. Gestern habe ich mir vorgestellt, wie mich jemand anruft, woraufhin dann sogar plötzlich das Telefon geklingelt hat. Letztens mit dem Brief war es genauso. Ich habe mir einfach nur gewünscht, einen Brief zu bekommen, und dann war einer im Briefkasten.

Aber selbst, wenn es nicht noch einmal funktionieren sollte, gibt es schon eine Sache, die mir Mut macht: Endlich kann ich wieder richtig sprechen, meine Stimme ist nicht mehr lautlos wie zuvor. „Das kann nur heißen, dass es wohl irgendwie aufwärts geht“, ermuntere ich mich selbst. Vielleicht bin ich ja doch nicht richtig tot, überlege ich. Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.

Ich blicke zum klaren  Himmel, während ich mir vorstelle, die Wärme der Sonne auf der Haut zu spüren, dazu vielleicht ein leichter Sommerwind, der nach den Blumen riecht, die auf der Wiese wachsen, und das Zwitschern von Vögeln.

 

Doch es bleibt ruhig, ebenso wenig rieche ich etwas oder spüre die Sonnenstrahlen auf der Haut. Enttäuscht gebe ich mein Bestes, die Tränen zurückzuhalten, als plötzlich ein Schatten an meinem Kopf vorbei rast. Erschrocken schreie ich auf und weiche zur Seite aus. Was war das denn gerade?

Ein zaghaftes Tschilpen dringt an meine Ohren und ich drehe mich hastig zu dem Laut um. Zuerst kann ich nichts entdecken, erst als ich ein zweites Mal das Geräusch höre, weiß ich, woher es kommt. Über mir auf einem dünnen Ast eines Apfelbaums sitzt ein kleiner Singvogel, der mich fröhlich anzwitschert.

Vor Freude könnte ich erneut schreien, aber ehe ich auch nur dazu komme, erhebt sich der Vogel in die Lüfte und dreht munter und wild zwitschernd seine Runden, wobei ich nicht anders kann, als ihn lächelnd zu beobachten.

Nach einer Weile stelle ich fest, dass er nicht der einzige Vogel ist, den ich in den Bäumen oder am Himmel entdecken kann. Es scheinen immer mehr zu werden. Leise vor mich hin summend trete ich den Heimweg an und lausche dem Vogelgesang. Allein durch diese paar Geräusche wirkt diese Welt gleich viel schöner und lebendiger.

Kapitel 10 -Kristie

Stephen war über der Lektüre von Lindas Briefen eingeschlafen und als Kristie ihn am nächsten Morgen wecken wollte, entschied sie sich dazu, ihm noch etwas Ruhe zu lassen. Sie deckte ihn zu und nahm vorsichtig den Brief, welchen er noch in der Hand hatte, und wollte ihn zu den anderen auf den Stapel neben dem Bett legen.

Bevor sie das tat, begann sie jedoch, ihn zu lesen, obwohl sie eigentlich wusste, dass sein Inhalt nicht für sie gedacht war. Der Brief war auf schlichtem, leicht angegilbtem Papier geschrieben und bis ganz unten mit Lindas wunderschöner Handschrift beschrieben.

 

Sie hatte den Brief nicht mal zur Hälfte durchgelesen, als sie ihn beiseitelegte. Linda schrieb genauso, wie sie redete, auf ihre ganz eigene, offene und warmherzige Art. Es erinnerte Kristie viel zu sehr an die vielen Gespräche, die sie beide geführt und die Dinge, die sie zusammen erlebt hatten. Und vor allem an den Zeitpunkt, ab dem Linda für sie wie eine Schwester geworden war, obwohl dieser eigentlich ein Einzelkind war. Doch das war nichts, dass man bei Linda merkte. Nicht nur Stephen fehlte sie, sondern auch ihr.

Kapitel 11 - Linda

Noch einmal versuche ich, etwas in dieser seltsamen Welt zu beeinflussen, diesmal den Brief, den ich gerade in den Händen halte.

Es dauert eine Weile, doch schließlich füllt sich der Brief mit weiteren Worten. Ich halte ihn in der Hand und konzentriere mich, bis er sich mir endlich offenbart. Und ich bin mehr als verblüfft, als ich meine eigene Handschrift erkenne.

Mir wird klar, dass es einer von den Briefen ist, die ich Stephen damals aus dem Ausland geschickt habe. Meine Augen wandern über die Zeilen und ich muss schmunzeln. Zu der Zeit habe ich es schon fast bereut, dass ich ihn verlassen habe, auch wenn es nur für eine gewisse Zeit war. Mit den Fingern streiche ich über das Papier, als der Text abrupt verschwindet. Dann taucht ein anderer auf, diesmal ist es der Brief, den Stephen mir zur Antwort geschickt hat. Ich lese ihn immer und immer wieder, während ich im Bett liege und draußen die Vögel zwitschern.

Irgendwann gleite ich in den Schlaf über, den Brief noch in der Hand. Draußen färbt sich der Himmel genau in diesem Moment dunkler, als würde der Abend hereinbrechen, ohne dass ich es auch nur merke.

Kapitel 12 - Stephen

Er ahnte schon in dem Moment, als er zusammen mit Kristie das Krankenhaus betrat, dass es nichts Neues wegen Lindas Zustand geben würde. Da sie ihn nicht angerufen hatten, war sie sicher immer noch nicht aufgewacht und nachdem er sich mit dem Doktor getroffen hatte, stand fest, dass er Recht gehabt hatte.

„Geben Sie sie nicht auf“, versuchte der Doktor ihn zu ermuntern. „Versuchen Sie, mit ihr zu reden. Es ist wissenschaftlich zwar nicht bestätigt, aber es gibt Fälle, in denen Patienten dadurch eine höhere Hirnaktivität zeigten.“

Kristie lächelte Stephen erschöpft an. „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert, oder?“, meinte sie zu ihm. „Vielen Dank für ihre Hilfe“, wandte sie sich dann an den Arzt.

Dieser blickte mit traurigem Blick zu Lindas Bett hinüber. „Ich habe mein Bestes gegeben, das gehört zu meiner Arbeit dazu. Jetzt können wir nur noch warten, bis sich etwas Neues ergibt“, sagte er, dann ging er aus dem Zimmer.

Stephen hatte sich bereits neben Linda ans Bett gesetzt. Dort griff er nach ihre Händen. Sie waren kalt und schorfig, und er nahm sie zwischen seine eigenen, um sie zu wärmen.

„Er sieht auch erschöpft aus, obwohl er noch immer sehr freundlich ist“, meinte Kristie mehr zu sich selbst als zu Stephen.

„Das liegt daran, dass er nicht weiter weiß. Da ihr Gehirn nicht geschädigt wurde, kann ihr Koma nur ein Trauma oder den Schock durch den Aufprall auf das Auto zur Ursache haben, hat er mir gesagt. Er hat es so beschrieben, dass es für sie wie eine Art Traum ist, in dem sie alles erst einmal verarbeiten muss“, erklärte er ihr und fuhr dabei über Lindas raue Hände. „Linda…“, flüsterte er leise. „Wieso wachst du nicht auf? Was hindert dich daran?“ Kristie legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter und als ihm eine Träne die Wange herunter lief, wischte er sie rasch beiseite. „Wenn du mich hören kannst, dann will ich, dass du weißt, dass es mir leidtut“, sagte er mit gebrochener Stimme.

„Was tut dir leid?“ Kristie sah ihn fragend an, doch er beachtete sie gar nicht.

„Es tut mir leid, dass wir uns in letzter Zeit so oft gestritten haben. Dass ich dir vorgehalten habe, du würdest nur für deine Arbeit leben. Dabei weiß ich doch, wie wichtig sie dir ist. Und dass du dich nur dadurch wirklich frei fühlen kannst.“

Letztes Kapitel

Zuerst kann ich das Geräusch nicht einordnen und halte es für einen Teil meines Traumes, den ich nach langer Zeit wieder habe.

Nachdem das Geräusch allerdings nicht verschwindet, schlage ich schlaftrunken die Augen auf. Im Zimmer herrscht ein seltsames Dämmerlicht, das mir noch mehr das Gefühl gibt, dass ich noch träume. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz und ich befreie mich von der Bettdecke, während ich strauchelnd auf die Beine komme.

 

Ich renne ins Wohnzimmer, wo ich hastig nach dem Telefon greife. Enttäuscht stelle ich fest, dass es am anderen Ende still ist. Dann aber höre ich eine unendlich vertraute Stimme und mein Herz macht einen Sprung. „Stephen!“, entfährt es mir, aber er scheint es nicht zu hören.

Gespannt lausche ich seinen Worte, die noch immer voller Liebe zu mir sind, dass es mir die Kehle zuschnürt. „Du Trottel“, schluchze ich. „Du hast damit doch völlig Recht. Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass ich dich immer mehr aus den Augen verliere.“

„Ich werde dich nicht hier zurücklassen, hörst du?“, dringt Stephens Stimme durch den Hörer. „Selbst wenn du nie wieder aufwachen solltest, werde ich für immer bei dir bleiben. Aber ich bin mir sicher, dass du aufwachen wirst. Denn du bist stark.“

 

Aufwachen? Was meint er damit? Bin ich vielleicht gar nicht gestorben, sondern schlafe nur irgendwie? Sicher liege ich irgendwo in einem Krankenhaus, während er alles daran setzt, herauszufinden, warum ich nicht aufwache.

Und ich dachte, ich wäre gestorben… Ein Lachen entschlüpft meinem Mund und ich bereue es, so dumm gewesen zu sein und gleich den Teufel an die Wand gemalt zu haben. Aber wie komme ich dann hier raus?

 

Stephen sagt noch einen Satz, dann wird es stumm in der Leitung. Seine letzten Worte hallen in meinem Kopf nach. „Ich liebe dich, Linda.“

„Ich dich doch auch…“ wispere ich und werfe das Telefon im nächsten Moment achtlos beiseite. Ich gehe so schnell mich meine Füße tragen können, durch den Flur und die Haustür nach draußen. Dort angekommen, ist es plötzlich wieder vollkommen still. Die Welt scheint zu schweigen und auf meine Worte zu warten.

 

Aber es sind nicht meine Worte, die diese Welt plötzlich verändern. Mit dem Blick zum Dämmerlicht des Himmels gerichtet, denke ich an den Sonnenaufgang.

Ich traue meinen Augen kaum, als die goldene Strahlen durch die Dämmerung brechen und die Sonne am Horizont erscheint. Ich kann es! Ich kann diese Welt verändern. Vielleicht kann ich auch aus ihr entkommen.

Ich will mehr als nur die bloßen Sonnenstrahlen. Ein warmes Prickeln breitet sich auf meiner Haut aus, als die Sonne übernatürlich schnell weiter wandert, bis sie hoch am Himmel steht.

Noch ein wenig Wind wäre jetzt nicht schlecht. Kurz darauf kommt eine leichte Brise auf, die durch mein Haar und die Bäume im Garten fährt, deren Blätter leise rascheln. Auch die Vögel fallen in die Geräusche des Windes ein und erfüllen die Luft mit ihren Stimmen, gefolgt von zirpenden Insekten.

Ich stelle mir vor, wie der Wind stärker wird und fast hätte mich der aufkommende Windstoß von den Füßen gerissen. Er tost um mich herum und Eindrücke stürzen auf mich ein, während ich laut heraus lache.

 

Der Geruch von Gras und Wiesenblumen, all die Geräusche, die Wärme der Sonne, die Frische des Windes, die Blätter an den Bäumen, die flammende Farben wie Rot und Orange annehmen.

Die Vögel heben von den Ästen ab, lassen sich vom Wind tragen und drehen fröhlich Kreise.

Ich sehe staunend zu, dann konzentriere ich mich auf die Person, zu der ich zurück will. Der Wind zerrt immer stärker an mir und scheint mich fortreißen zu wollen. Auch die Sonne brennt immer heißer auf meiner Haut. Alles um mich herum wird zu einem Sturm und ich schließe die Augen.

Ich denke an Stephens Gesicht, das zuerst nur unklar und dann immer deutlicher vor meinem inneren Auge auftaucht, an seine ruhige Stimme, seine sanften Augen, die Wärme seiner Finger auf meiner Haut, wenn er mich berührt…

 

 

Alles fühlt sich plötzlich so greifbar an, dass es mich erschreckt und ich die Augen öffne.

Der Garten und alles darin ist fort. Es sieht aus, als würde ich plötzlich inmitten eines Sandsturms stehen, der an meinem Körper zerrt. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, wie diese Kraft über meinen Körper fährt, dann scheine ich förmlich zu zerfallen. Zuerst verwandeln sich meine Hände vor meinen Augen zu einer Art Staub, dann der Rest meines Körpers und ich tauche in völlige Dunkelheit ein, die alles erstickt.

 

 

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, die ich seltsam körperlos in dieser Dunkelheit verbringe.

Irgendwann spüre ich eine Präsenz, als wäre noch jemand hier. Ich höre Töne, sehe Lichtfetzen, etwas Warmes legt sich um mich, und ich fühle mich sofort geborgen und sicher, ohne es erklären zu können.

 

„Linda!“, schreit jemand und ich erkenne, dass das mein Name ist.

Bevor ich die Augen auch nur ganz geöffnet habe, glaube ich, Kristie zu erkennen, die mich gerufen hat.

Dann sehe ich Stephen, der mich in die Arme schließt. Ich keuche auf, als ich die Schmerzen in meinem Körper bemerke. Sofort lässt er mich wieder los und sieht mich besorgt an. Durch den Schmerz klärt sich auch endlich mein Blick, so dass ich erkenne, wo ich bin. In einem sterilen Krankenhauszimmer, angeschlossen an einen Tropf und einige andere Geräte.

„Stephen?“, bringe ich mit schwacher Stimme hervor, während er mir sanft übers Gesicht fährt.

„Ja. Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, wird sind bei dir“, gibt er zurück.

Ich strecke meine Hände nach ihm aus und er nimmt sie in seine. „Ich wollte die ganze Zeit zurück“, schluchze ich und er küsst mich vorsichtig auf die Stirn.

„Ich wusste, dass du es schaffen würdest.“ Als er das sagt, lächelt er und ich weiß jetzt ganz sicher, dass ich wieder zurück bin. Zuhause, in der echten Welt, bei ihm.

Anmerkungen

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin

Vera Hallström wurde 1996 in Berlin geboren, zog mit drei Jahren jedoch mit ihren Eltern aufs Land. 2015 zog sie aus beruflichen Gründen vom Land in die Stadt, möchte irgendwann aber wieder in der "Großstadt" Berlin leben.

Als Kind entdeckte sie nicht nur früh ihre Begeisterung für das Lesen, sondern etwas später auch für das Schreiben. So füllte sie als Kind ganze Notizbücher mit ihren Geschichten, später schrieb sie die ersten Geschichten an einer Schreibmaschine ihrer Mutter und dann am PC.

Mit sechzehn Jahren kam ihr die Idee zu einer Geschichte rund um eine Welt mit übernatürlichen Wesen, aus der sich dann irgendwann das Buch "Dämonenfeuer" entwickelte.

Fast sechs Jahre später, im November 2017, veröffentlichte sie dann ihre ersten beiden Bücher, zwei Kurzgeschichten, über die Self Publishing-Plattform BookRix als eBook.

Da bisher kein Verlag Interesse an ihrem Manuskript zu "Dämonenfeuer" zeigte, nahm sie die Veröffentlichung selbst in die Hand und veröffentlichte dieses im Januar 2018 ebenfalls über BookRix.

Dieses überarbeitete sie danach jedoch noch einmal gründlich und veröffentlichte es im Mai 2018 als 2. Auflage.

Dämonenfeuer ist ein Mix aus Dark-, Urban- & Paranormal Fantasy, Science Fiction, Dystopie sowie etwas Drama und Action. Es ist der 1. Band der "Dämonenwelt-Trilogie".

Die neuesten Informationen rund die Autorin und ihre Bücher findet man auf ihrer Facebook-Seite (https://www.facebook.com/Hallstroem.Vera/). Bei Fragen, Anregungen, Feedback o.ä. kann man über das dort angegebene Impressum oder ihre E-Mail Adresse vera.hallstroem@gmail.com Kontakt zu ihr aufnehmen.

 

Andere bereits erschiene Werke der Autorin:

 

Unter diesem Himmel (Kurzgeschichte; 2017)

Die stille Welt (Kurzgeschichte; 2017)

Dämonenherz: Band 2 der Dämonenwelt-Trilogie (2020)

Impressum

Texte: Vera Hallström
Bildmaterialien: Min An (Pexels); BeachcottagePhotography (Getty Images Signature); pixelparticle (Getty Images Pro); juliasolomatinaart
Cover: Hallström Design
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2017

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