Cover

Titel

Kaltes Herz (Wegners letzte Fälle)

von Thomas Herzberg

 

Alle Rechte vorbehalten

Fassung: 1.1

 

Cover: Titel: Photolights / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com

Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de

 

 

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!

 

Ein großes Dankeschön geht an:

Michael Lohmann (Lektorat, Korrektorat: worttaten.de)

Und an die liebe Birgit aus dem Elsass (eine ganz besonders engagierte Testleserin) 

 

Inhalt:

Kaltes Herz: Als eine Reihe neuer Morde Hamburg erschüttert, kann Wegner alles – nur nicht tatenlos zusehen. Sein aktueller Posten im »Dezernat Nichtstun« geht ihm ohnehin gehörig auf den Zeiger. Ein erbitterter Kampf gegen Lügen, Gewalt und erschreckende Gleichgültigkeit beginnt, der durch interne Widerstände noch zusätzlich erschwert wird. Der Druck von allen Seiten – auch von Wegners offiziellem Nachfolger – wächst täglich. Höchste Zeit also, Gesetze und Vorschriften etwas großzügiger auszulegen … (Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)

 

»Kaltes Herz« ist Auftakt zur neuen Serie »Wegners letzte Fälle«

 

Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de

 

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Alle Bücher von Thomas Herzberg

Bisher aus der Reihe Wegners erste Fälle:

Aus der Reihe Wegner & Hauser:

 Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:

Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:

Aus der Reihe Hannah Lambert ermittelt (Friesenkrimis): 

Aus der Reihe Zwischem Mord und Ostsee:

Aus der Reihe Auftrag: Mord!:

Unter meinem Pseudonym "Thore Holmberg":

Ansonsten:

 

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1

 

Hansedigital-Filmstudios, Hamburg-Jenfeld. Montagmorgen, kurz nach Drehbeginn.

 

»Herrgott! Kannst du ihn nicht einfach anbrüllen und abstechen? Das kann doch nicht so schwer sein! Also, bitte … noch mal das Ganze.«

»Bild ab!«

»Ton ab!«

»Ich verstehe nicht, wie du mir das antun konntest, Christian. Mein Leben ist ruiniert. Ich werde nie wieder in der Lage sein, ohne Angst mit einem Mann …«

»Schnitt!« Falko Hartwig schnaubte wutentbrannt. Dieses Mal erhob er sich sogar von seinem Regiestuhl und stapfte ein Stück auf seine beiden Hauptdarsteller zu. Die waren von einem Moment zum anderen in ihren Bewegungen erstarrt und schauten ihn ängstlich an.

Tatsächlich wirkte die ganze Crew ein wenig ratlos, denn die Szene war eigentlich denkbar einfach angelegt: Eine junge Frau fand heraus, dass ihr Ehemann sie betrog und damit auf übelste Weise hinterging. Das Drehbuch sah einen kurzen Streit vor, und danach – natürlich im Affekt und als Aufhänger für den Rest der Handlung – sollte die Frau ihrem untreuen Gatten ein Messer ins Herz rammen. Eine Art Express-Scheidung ohne Anwälte, Richter oder gar Versorgungsausgleich.

Auf halben Weg holte der Produktionsleiter Frank Wollersheim seinen wutentbrannten Regisseur ein. Er hielt ihn am Arm fest und zog ihn ein Stück in die entgegengesetzte Richtung, bevor er flüsternd begann: »Kannst du mir mal sagen, was dir dieses Mal nicht passt? Wir müssen zusehen, dass wir die Szenen eine nach der anderen in den Kasten bekommen. Wir haben nur noch heute und morgen … einen weiteren Tag können wir uns das Studio nicht leisten! Du weißt doch selbst, wie es um unsere Finanzen steht.«

Falko Hartwig schaute seinen Freund und Mitstreiter kopfschüttelnd an. Danach folgte ein freudloses Lachen. »Vielleicht verrätst du mir erst mal, wo ihr die Kleine herhabt?« Er deutete auf seine Hauptdarstellerin, die mit hängenden Schultern schon wieder dämlich in eine der Kameras grinste. »Hat dieses Möchtegern-Sternchen für einen der Investoren die Beine breitgemacht? Oder wie kommt solch eine fleischgewordene Talentfreiheit sonst an die Rolle? Ich habe ja schon viel erlebt, aber das toppt wirklich alles.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass wir hier nur den Piloten für eine neue Serie drehen?« Wollersheim trat mittlerweile von einem Fuß auf den anderen, was seine wachsende Ungeduld verdeutlichte. »Wir müssen das Ding nur einigermaßen vernünftig über die Bühne bringen. Falls der erste Teil unseren Geldgebern gefällt, dann machen die danach vielleicht mal richtig die Taschen auf. Bis dahin heißt es ›Business as usual‹, mehr nicht!«

Falko Hartwig gab ein Schnaufen von sich und wandte sich wieder seinen Schauspielern zu. Für ihn war diese Debatte damit vorerst beendet. Vor seinen beiden Darstellern angekommen, versuchte er es mit einem zaghaften Lächeln und einem Verbesserungsvorschlag: »Bitte nicht ganz so theatralisch …« – er musste kurz ins Drehbuch schauen, um sich an den Namen zu erinnern – »… Gina Lynn. Je natürlicher die Szene wirkt, desto überzeugender kommt es für die Zuschauer rüber.« Der Regisseur schickte ein wohlwollendes Nicken in Richtung seines Produktionsleiters. Er nahm der jungen Frau das Messer aus der Hand und begann mit einer weiteren Erklärung: »Du schreist ihn an, fuchtelst ein bisschen mit dem Ding vor seiner Nase herum und stößt es ihm dann in die Brust. Fertig!« Ein leises Stöhnen folgte, dann ein letztes zaghaftes Kopfschütteln. »Und bitte hör damit auf, wild zu gestikulieren, während du sprichst. Rumbrüllen, Messer rein, Ende!«

»Ich könnte auch versuchen, mich zu wehren.« Plötzlich schien sogar der männliche Hauptdarsteller, ein dunkelhäutiger, sportlicher Typ namens Jérome, so etwas wie Selbstverwirklichung zu begehren.

Falko Hartwig machte zwei Schritte nach vorne und stand dem Aufrührer Auge in Auge gegenüber. »Soweit ich mich erinnere, hast du bisher nur einen Werbespot für Zahnpasta und einen anderen für Hämorrhoiden-Salbe gedreht.« Der Regisseur schüttelte lachend den Kopf. »Sei mir nicht böse, aber bitte mach einfach nur das, was im Drehbuch steht, ja? Lass dich von ihr anbrüllen und schau zu, wie sie dir das Messer in die Brust rammt.« Hartwig war beinahe wieder vor seinem Stuhl angekommen, als er sich umdrehte, um noch etwas hinterherzuschicken: »Und wenn du es tatsächlich hinbekommst, einigermaßen überzeugend zu sterben, dann setze ich mich heute Nacht hin und forme dir einen Oscar aus dem Zahngold meiner Großmutter.« Hartwig klatschte laut in die Hände. »Wir machen weiter!« Er fiel in seinen Stuhl und warf den Kopf zurück »Ruhe, bitte! Wir wollen bis heut Mittag wenigstens die Hälfte der heutigen Szenen im Kasten haben. Also …«

»Bild ab!«

»Ton ab!«

»Warum hast du mir das nur angetan, Christian? Mein ganzes Leben ist …«

»Schnitt!«

Äußerlich versuchte der Regisseur, völlig gelassen zu wirken, er warf sogar einen entschuldigenden Blick in Richtung Produktionsleitung. »Gina Lynn … schau bitte noch mal auf deinen Text. Steht da vielleicht irgendwas von ›Warum hast du mir das nur angetan?‹ Oder …«

»Das klang aber trotzdem besser als die erste Variante, Falko.« Frank Wollersheim zeigte seinem Regisseur einen emporgereckten Daumen und grinste. »Das Drehbuch ist …«

»Scheiße! Ich weiß.« Hartwig machte eine einladende Geste, um seine Hauptdarstellerin zu ermutigen. »Mach einfach, wie du willst, Herzilein. Brüll ihn an, macht ihn richtig fertig und dann ramm ihm endlich das Scheißmesser in die Brust. Und bitte leg los, bevor hier die ganze Crew an Altersschwäche gestorben ist.«

Erneut ertönten die üblichen Kommandos und die Szene ging von vorne los.

»Ich habe die Schnauze voll, Christian! Mein ganzes Leben ist den Bach hinunter. Ich will nicht mehr!« Anstelle weiterer, ohnehin überflüssiger Worte riss Gina Lynn das Messer empor, holte kurz aus und rammte ihrem Filmpartner die Klinge direkt in den Brustkorb. Ein Schrei erfüllte das gesamte Studio – so gewaltig, dass Jéromes Gebrüll jedem aus dem Filmteam redensartlich durch Mark und Pfennig ging. Sein Körper bäumte sich auf und befand sich bereits in der Rückwärtsbewegung, als ihm eine gewaltige Blutfontäne aus dem Mund schoss. Einen halben Atemzug später lag der junge Mann am Boden und bewegte sich nicht mehr.

»Schnitt!« Falko Hartwig sprang erneut von seinem Stuhl auf. Dieses Mal schäumte er allerdings nicht vor Wut, sondern vor Begeisterung. »Das war der Hammer!«, brüllte er euphorisch und baute sich vor seinen Darstellern auf. »Bombe, Gina Lynn! Ich sage nur Bombe … so echt, echter geht’s nicht!« Auf eine Umarmung verzichtete er, weil seine Hauptdarstellerin von Kopf bis Fuß von Bluttropfen übersät war. »Und ein Kompliment an die Abteilung Effekte – das mit dem Blut war der absolute Burner!«

Nach und nach lösten sich ein paar Produktionsmitarbeiter aus ihrer Starre. Einer der Kameraleute drehte sich zur Seite weg und entleerte seinen Mageninhalt geräuschvoll auf den Studioboden. Erst als Frank Wollersheim an Hartwigs Seite angekommen war, begriff auch der langsam, dass etwas nicht stimmte. Der Regisseur sackte auf die Knie und fiel nur deshalb nicht zur Seite, weil der Produktionsleiter ihn am Ärmel festhielt. »Das kann doch nicht sein, Frank! Das darf doch alles nicht wahr sein. Ich könnte …«

 

2

 

»Wer sind Sie?«

»Sehr witzig, Cheffe!« Detlef Busch ließ sich auf einen der beiden Stühle vor den Schreibtischen fallen und presste sämtliche Luft auf einmal aus seinen Lungen. »Bitte! Wenn möglich, dann verschonen Sie mich wenigstens heute mit Ihren Kommentaren. Bitte, ich kann einfach nicht mehr.« Der junge Kommissar sah tatsächlich aus, als wäre er den Tränen nahe. »Machen Sie, was Sie wollen. Aber bitte keine verbalen Folterungen … nicht heute.«

»Das scheint auch gar nicht nötig zu sein«, frotzelte Wegner lachend. »Sie sehen ohnehin wie der Tod auf Latschen aus. Und da Sterbehilfe strafbar ist, werde ich mich schön zurückhalten.«

»Wo ist er?« Busch deutete auf Rainer Maria Grimms verwaisten Schreibtischstuhl. »Nein! Lassen Sie mich raten: Er hat es nicht mehr mit Ihnen ausgehalten und den Freitod gewählt. Richtig?«

»Wenn Sie mich foltern, dann dürfen Sie sich nicht wundern, falls ich zurückschieße. Man wird sich doch wohl wehren dürfen.« Wegner lachte noch immer und donnerte mit der Faust auf seinen Schreibtisch. »Es ist Montagmorgen und Sie kommen daher, als hätte man Sie schon vor Dienstbeginn durch den Fleischwolf gedreht. Was haben Sie denn das ganze Wochenende lang gemacht?«

Detlef Busch schaute zum ersten Mal richtig auf und erstarrte von einem Moment zum anderen. Wie hypnotisiert musterte er Wegners Nacken und erhob sich wie in Zeitlupe. »Nicht bewegen! Um Himmelswillen nicht bewegen, Cheffe.«

»Lassen Sie bloß die Finger von mir.« Wegner schirmte seinen Nacken mit beiden Händen gleichzeitig ab und verscheuchte seinen Kollegen allein mit giftigen Blicken. »Das sind zwei Akupunktur-Nadeln. Die stimulieren meinen Parasympathikus.«

Busch hatte sich wieder vorsichtig auf seinem Stuhl niedergelassen und starrte seinen früheren Chef noch immer mit offenem Mund an. »Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Soll ich einen Arzt rufen … nur, falls das noch Sinn macht.«

»Sie haben auch wirklich überhaupt keine Ahnung«, polterte Wegner munter aufs Neue los. »Seitdem mir der Kollege Grimm jeden zweiten Tag die Nadeln in den Nacken steckt, habe ich keine Herzrhythmusstörungen mehr.«

Der Hauptkommissar hielt einen gläsernen Becher empor, in dem eine graugrüne Flüssigkeit schwappte. Obendrauf schwammen ein paar Scheiben irgendeines undefinierbaren Gewächses. »Außerdem: grüner Tee, Brennnesseln und Ingwer. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie meine Verdauung funktioniert.«

»Das will ich auch gar nicht.« Detlef Busch hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und hing wie eine leblose Puppe auf seinem Stuhl. »Wo ist nur mein Chef geblieben, mein einstiges Idol?« Er schnaufte geräuschvoll und musste sich räuspern, bevor er weiterreden konnte. »Wo ist der Mann geblieben, der Bier trinkt, Pizza isst und auf gesundes Zeug gründlich pfeift? Wo ist nur …«

»… der Mann geblieben, der vermutlich nicht mal seine Pension erreicht hätte?«, vervollständigte Wegner in bissigem Ton. »Sie brauchen keine Angst zu haben, ich habe nicht vor, zum Gesundheits-Apostel umzuschulen. Aber Kollege Grimm hat es irgendwie geschafft, mir ein paar Zusammenhänge zu erklären. Seitdem fühle ich mich besser und das allein ist den ganzen Mist schon wert.«

Schweigend langte Busch in seine Aktentasche und zog eine große Papiertüte daraus hervor. »Auf den Schock brauche ich erst mal ein Franzbrötchen«, flüsterte er mit Grabesstimme. »Sie wollen vermutlich nicht, weil …«

»Her damit! Und zwar schnell, bevor er zurückkommt.«

»Also ist da drin doch noch irgendwo ein Rest von meinem alten Chef?«, erkundigte sich Busch theatralisch und lachte, bis er keine Luft mehr bekam. »Ein letzter Funken Menschlichkeit, ganz ohne Nadeln und Kräutertee?«

»Halten Sie die Klappe und rücken Sie eins von den Dingern raus. Sofort!« Wegner beugte sich über den Schreibtisch und deutete auf einen Teller mit selbst gefertigtem Backwerk. »Bis jetzt habe ich nur ein paar von denen da vertilgt …« Er verzog angewidert das Gesicht.

»Die sehen doch lecker aus. Ist das Mohn obendrauf?«

»Schön wär’s! Das sind Chia-Samen – schmecken nach nichts, aber sind unheimlich gesund, sagt er.« Nun deutete auch Wegner auf den verwaisten Stuhl gegenüber. »Es ist fast drei Monate her, dass ich diesen Sauhaufen namens Mordkommission hinter mir gelassen hab. Ganz ehrlich, ich hätte fünf Jahre früher gehen sollen. Dann bräuchte ich den ganzen gesunden Krempel vielleicht gar nicht und könnte wahrscheinlich immer noch ...«

»Ich verstehe schon« murmelte Busch und hielt Wegner eines der Franzbrötchen entgegen. »Ich hab auch ’ne Tüte Kakao dazu. Wollen Sie?«

 

Die beiden Kommissare hatten gerade erst ihr wenig gesundes Frühstück hinter sich, als Rainer Maria Grimm das Büro betrat. Der seltsame Guru im Polizeidienst trug seine übliche Verkleidung. Um seine Beine herum eine wallende Leinenhose mit großen aufgedruckten Blumen, obenrum ein bis zum Bauchnabel geöffnetes naturfarbenes Hemd, das am ehesten in ein Krankenhaus oder eine Leichenhalle gepasst hätte. Darüber hinaus gab er damit auch den Blick auf seine fast weiße Brust- und Bauchbehaarung frei. Ein Detail, auf das vermutlich jeder gerne verzichtet hätte.

»Guten Morgen, junger Kollege«, begrüßte er Busch mit freundlicher Stimme. »Schön, dass Sie mal wieder bei uns hereinschauen.« Der Hauptkommissar war hinter seinem Schreibtisch angekommen und schob den Teller mit Keksen bis an den Rand. »Hunger?«

Busch schüttelte energisch den Kopf. Nach einem kurzen Blick in Wegners Richtung fand er auch seine Sprache wieder: »Nein, danke … hab mir am Wochenende wohl den Magen verdorben. Ich verzichte heute lieber ganz auf Frühstück.« Ohne seinen Oberkörper zu bewegen, schob Busch seine Aktentasche, aus der die Tüte vom ›Hansebäcker‹ ein Stück herausragte, mit dem Fuß unter Wegners Schreibtisch. Danach beschränkte er sich nur noch auf ein lächelndes Schweigen.

Grimm beließ es ebenfalls dabei und hantierte stattdessen an seinem CD-Radio herum. Einen Moment später füllten fernöstliche Klänge das Büro. Dazu das Plätschern von Wasser und eine Harfe, die klang, als zupfte sie ein stümperhafter Anfänger.

»Mach das Gedudel mal leiser«, forderte Wegner seinen Kollegen grinsend auf. »Wir müssen uns erst mal um unseren Jungspund hier kümmern. Sonst kriecht er das nächste Mal auf den Brustwarzen herein.«

Erneut verzichtete Grimm auf eine Antwort und schaltete die Musik gleich ganz ab. Danach lehnte er sich über seinen Schreibtisch und lächelte Busch an, als hielte er die allumfängliche Erleuchtung für den jungen Kommissar bereit: »Also habt ihr euren Mörder immer noch nicht gefunden? Du musst die Dinge annehmen, akzeptieren, sonst kannst du niemals …«

»Jetzt hör mal mit dem Gefasel auf!«, unterbrach Wegner seinen Kollegen rüde. »Der Junge braucht Hilfe und nicht eine Erklärung, wie er seinen Seelenfrieden findet.«

Nach fast drei gemeinsamen Monaten auf engstem Raum schien sich Rainer Maria Grimm mit Wegners schroffer Art arrangiert zu haben. Also lehnte er sich nur zurück und übte sich unverändert in mildem Lächeln. »Dann legt einfach los, Freunde. Ich höre euch zu und denke mir meinen Teil.«

»Also, was ist, Busch?« Wegner beugte sich über seinen Schreibtisch und wischte mit der flachen Hand unauffällig ein paar Krümel von seinem Franzbrötchen herunter. »Immer noch der Kerl, der es auf die Obdachlosen abgesehen hat?«

»Am Samstagmorgen haben wir den vierten gefunden«, flüsterte der junge Kommissar, während seine Finger aneinander herumkneten. »Obwohl es wahrscheinlich das erste Opfer war, denn der arme Kerl hat mindestens drei Wochen tot in seinem Zelt gelegen. Unter einer Fleetbrücke, draußen in Billbrook.«

»Also habt ihr ihn nur als Letzten gefunden«, vervollständigte Wegner die Angaben pro forma.

»Tatsächlich war es ein Rottweiler, der die Leiche gewittert hat. Der Wachhund von einem Lkw-Händler«, erklärte Busch und schaute sich danach um. »Wo ist eigentlich Rex?«

»Sitzt ein Stockwerk höher, bei den Damen der Innenbehörde«, erwiderte Grimm etwas zu spontan. »Die sind ganz verrückt nach ihm.«

»Und nicht nur nach ihm!«, betonte Wegner Wort für Wort und schickte einen strafenden Blick über die Schreibtische hinweg. »Hier predigt der Kollege Enthaltsamkeit und ein Stockwerk höher …«

»Liebe ist kein Verbrechen, Manfred.« Grimm präsentierte ein entrücktes Lächeln. »Ganz im Gegenteil – Liebe ist das Elixier des Lebens.«

»Kommen Sie, Busch! Wir machen uns für ’ne Stunde vom Acker und lassen unseren Guru mit seinem Elixier alleine.« Bevor er die Tür erreichte, drehte sich Wegner noch einmal um. »Aber Finger weg von Rex. Nicht, dass der arme Kerl noch im Brausebrand zwischen die Fronten gerät.«

 

 

3

 

»Ernsthaft, Cheffe … ich frage mich jeden Tag, wie Sie das aushalten.«

»Annehmen und loslassen! Wenn man die Sache erst mal draufhat, dann sieht man alles um einiges entspannter. Unser polizeieigener Paradiesvogel hat mit vielen Dingen recht, aber das würde ich natürlich niemals zugeben.«

Detlef Busch schob die Tür zu einem kleinen Café auf und ließ Wegner den Vortritt. Die beiden Kommissare steuerten einen Tisch in der hintersten Ecke an und warteten geduldig, bis die Kellnerin ihre Bestellung gebracht hatte. »Während Sie auf dem Weg zur Erleuchtung sind, hab ich das Gefühl, dass die Mordkommission immer tiefer im Chaos versinkt.«

»Wieso?«, empörte sich Wegner künstlich. »Ihr neuer Vorturner hat doch schon in Braunschweig und Magdeburg einen ähnlichen Haufen geleitet? Wie heißt der Vogel noch?«

»Eugen Bachmeier … und der Kerl hat keine Ahnung«, presste Busch zwischen seinen zusammengepressten Zähnen heraus. »Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn er die Dienstvorschriften – als Bibel gebunden – mit ins Bett nimmt. Ich wollte letzte Woche das Telefon eines Verdächtigen abhören lassen und musste dafür sogar einen Antrag ausfüllen.«

Wegner lachte und hätte sich fast an seinem Kaffee verschluckt. »Daran werden Sie sich wohl gewöhnen müssen. Das ist der normale Ablauf und in allen anderen Abteilungen nichts Außergewöhnliches.«

»Es ist langweilig! Außerdem hat es für mich nichts mit Polizeiarbeit zu tun.«

»Das ist vermutlich meine Schuld«, sinnierte Wegner vor sich hin. »Ich habe Sie verdorben … für den regulären Polizeidienst sind Sie nicht mehr zu gebrauchen.«

»Können Sie mir sagen, was ich machen soll, Cheffe?«

Wegner überlegte einen kurzen Moment und begann dann, zumindest für seine Verhältnisse, viel zu leise: »Wie viele Wohnungen haben Sie eigentlich?«

»Was soll denn die Frage wieder?«, maulte Busch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wie viele?«

»Bis gestern waren es etwa vierhundert«, gab der junge Kommissar kurze Zeit später zu.

»Was heißt denn bis gestern? Ist eine abgebrannt, oder was?«

»Ich habe über unseren Familienanwalt einen neuen Wohnblock in Osnabrück gekauft. Sechzehn Einheiten … ich glaube, gestern war Notartermin.«

»Glauben Sie!«

»Ja, glaube ich! Aber was hat das bitte mit meinem Job und dem aktuellen Fall zu tun?«

»Alles, wenn Sie mich fragen.«

Busch stöhnte geräuschvoll und gab der Kellnerin ein Handzeichen, um zwei weitere Becher Kaffee zu ordern. »Wollen Sie mich an Ihrer unendlichen Weisheit teilhaben lassen, oder …«

»Hören Sie auf, Busch!« Wegner fing den fassungslosen Blick seines jungen Kollegen auf und nickte eifrig. »Ja, ich meine es ernst – hören Sie auf«, betonte er Wort für Wort. »Sie haben es nicht nötig. Und außerdem ist es besser, den Laden zu verlassen, bevor er einen kaputtmacht.«

»Ist das wirklich Ihr Ernst? Bis vor einigen Wochen haben Sie doch immer gepredigt, dass ich mich durchbeißen soll. Schnauze halten und weitermachen – das haben Sie gesagt.«

»Und es hat augenscheinlich nicht geholfen«, stellte Wegner schnaufend fest. »Nehmen Sie es an, akzeptieren Sie es, finden Sie sich mit den Umständen ab …« Er lachte und schlug sich mit beiden Händen zugleich auf die Schenkel. »Wir können das Kind nennen, wie wir wollen – entweder Sie sind bereit, auf dem Drops herumzulutschen oder Sie lassen es. Das Ganze mit dem kleinen Unterschied, dass Sie sich hinterher keine Sorgen um Ihre Existenz machen müssen.«

»Also haben Sie einfach nur von meinem Gejammer die Schnauze voll«, hakte Busch mit gerunzelter Stirn nach. »Das ist kein Kurswechsel, sondern nur …«

»Wenn Sie wollen, dann höre ich mir auch die nächsten drei Monate Ihr Geheule brav an und gebe von Zeit zu Zeit meinen Senf dazu«, unterbrach Wegner, noch immer ungewohnt sanft. »Und wollen Sie auch wissen, warum?«

Busch nickte. »Natürlich!«

»Weil wir Freunde sind«, sagte Wegner und unterstrich diese Aussage nickend. »Sie haben mir geholfen, als ich am Boden war. Und heute helfe ich Ihnen, damit Sie nicht völlig untergehen und am Ende womöglich nur von Ihren vierhundert Eigentumswohnungen leben müssten.«

»Vierhundertsechzehn plus/minus ein paar Zerquetschte«, protestierte Busch eine Weile später lachend. Der junge Kommissar richtete sich ein Stück auf und schaute Wegner direkt in die Augen. »Ich habe verstanden, Cheffe!«

»Dann lassen Sie uns lieber noch mal über Ihren aktuellen Fall reden.« Der Hauptkommissar nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher und lehnte sich danach ganz entspannt in seinen Stuhl zurück. »Fangen Sie an, Busch! Fakten, Fakten, Fakten …«

»Mittlerweile sind es vier Leichen. Zwei Männer und zwei Frauen.«

»Fakten!«

»Wir haben sie tatsächlich in vier verschiedenen Stadtteilen gefunden. Vom Alter her könnten sie auch kaum unterschiedlicher sein.«

Statt seine Aufforderung mit Worten zu erneuern, beließ es Wegner bei einem heftigen Nicken.

»Das jüngste Opfer ist eine Frau, gerade mal sechsundzwanzig. Das älteste ein Mann, Anfang siebzig.« Busch rieb sich die Stirn, als wollte er damit weitere Details herauskitzeln. »Keine gemeinsame Vergangenheit, keine Verbindungen über Dritte … nichts. Absolut nichts!«

»Todesursache?«

»In allen vier Fällen stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Schädel.«

»Also sind sie allesamt erschlagen worden«, übersetzte Wegner. »Wenn ich Sie richtig verstehe, schnell und relativ schmerzlos.«

Busch nickte und griff nach seinem Kaffeebecher. »Bachmeier ist längst am Ende mit seinem Latein und mir gehen langsam auch die Ideen aus.«

Wegner schaute auf seine Uhr und schüttelte kurz den Kopf.

»Was ist los, Cheffe?« Busch musste grinsen, als er an seinen nächsten Satz dachte: »Haben Sie’s heute eilig? Ich dachte, wir gehen nahtlos vom Frühstück in die Mittagspause über. Im Schäferkamp hat ein neuer Steh-Inder aufgemacht. Hab gedacht, ich lad Sie ein und wir …«

»Daraus wird heut nix. Bin verabredet, um elf.«

»Darf ich fragen, mit wem?«

»Dürfen Sie, aber Sie werden keine Antwort bekommen.«

Busch schaute auf seine Uhr. »Also, haben wir nicht mehr lange«, stellte er in nüchternem Ton fest. »Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass Sie mir vielleicht einen Tipp geben könnten. Wo soll ich weitermachen, was haben wir bis heute übersehen und warum …?«

»Sie sollten die alte Leier doch langsam kennen«, unterbrach Wegner seinen jungen Kollegen erneut. »Womit haben wir bei jedem Mord angefangen?«

»Mit dem Motiv«, presste Busch lustlos heraus. Er schüttelte heftig den Kopf und demonstrierte damit, was er von diesem Ansatz hielt. »Eifersucht, Rache, letztendlich alles, was mit verletzten Gefühlen zu tun hat, schließe ich völlig aus.« Er hielt kurz inne, um zu überlegen. »Ach so … Gier können wir wohl auch von der Liste streichen. Bei den armen Gestalten war doch nichts zu holen.«

»Und wie sieht es mit Wut aus?«, warf Wegner dazwischen.

»Wer sollte denn auf vier verschiedene Obdachlose, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben, wütend sein? Und außerdem, wie könnte diese Wut dann aussehen?« Busch rieb sich die Stirn, auf der von Monat zu Monat immer weniger Haare sprießten. »Wenn Sie mich fragen, dann haben wir es mit der schlimmsten Sorte zu tun.«

»Und die wäre?« Wegner kannte die Antwort natürlich, weil diese Theorie von ihm selbst stammte. Aber er wollte es hören und deshalb tat Detlef Busch ihm den Gefallen: »Mordlust! Pure Mordlust … das scheußlichste aller Motive.«

Wegner wippte mit dem Kopf hin und her und sah aus, als arbeitete er an einer Widerrede. Er wollte gerade loslegen, als das Handy seines Kollegen ihn davon abhielt. Busch nahm das Gespräch an und lauschte nur einen Moment in den Hörer. Nachdem er aufgelegt hatte, huschte zuerst nur ein seltsames Grinsen über sein Gesicht.

»Was ist los? Kundschaft?«

»Kann man so sagen, Cheffe. An einem Film-Set hier in Hamburg ist der Hauptdarsteller erstochen worden. Vor laufender Kamera«, fügte der junge Kommissar mit gerunzelter Stirn hinzu. »Bachmeier ist schon vor Ort, ich soll so schnell wie möglich nachkommen.«

»Klingt nach einem Unfall! Und falls es anders ist, sollten sogar Sie und Ihr neuer Chef den Fall lösen können.«, Wegner lachte und wieherte dazu wie ein Ackergaul. »Da wird es Ihnen ausnahmsweise nicht an Beweisen mangeln. Und es gibt doch nichts Schöneres, als einen Mord schnell und unkompliziert aufzulösen. Also … ran an den Speck, Kollege!«

 

 

4

 

Nach seinem ersten Frühstück – einer bunten Auswahl von Bäckereiabfällen, die er fast jeden Morgen in einer Tonne im Hinterhof einer Backstube fand – hatte sich Volker Klein zu Fuß in Richtung Stadtpark aufgemacht. Eine Tüte mit seinem Mittagessen steckte in seiner Umhängetasche: zwei deformierte Rumkugeln und ein platt gedrückter Berliner. Ein gutes Gefühl, wenn auch gleich die nächste Mahlzeit gesichert war. Und obwohl es mittlerweile Dezember war und eigentlich den ganzen Tag nicht mehr richtig warm werden wollte, hätte er am liebsten jeden einzelnen Meter seiner Reise per pedes hinter sich gebracht. Er mochte Hamburg, er liebte die Hansestadt. Ihren Geruch, ihren rauen Charme und sogar den zunehmend dichter werdenden Dunst und Lärm, wenn, spätestens ab morgens um acht, alle Straßen verstopft waren; wenn irgendwann nichts mehr vor und genauso

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Melanie Schubert
Bildmaterialien: Cover: Titel: Photolights / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Lektorat: Michael Lohmann - worttaten.de
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4077-8

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