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Der Stein. aufgelesen und aufgeschrieben von Benno Lutz

Der allererste Urlaubstag begann mit einem gemütlichen Frühstück. Pamela, meine Frau, war als erste aufgestanden. Ich durfte mich im Bett noch einmal auf die andere Seite drehen, weil ich am Vortag die ganze Urlaubsstrecke nach Römö alleine gefahren war. Wir machen hier oben seit Jahren unseren Sommerurlaub mit unserer Enkeltochter Alexa und unseren zwei Hunden immer im gleichen Ferienhaus. Wir packen unser Auto voll mit den üblichen Ferienklamotten, aber auch mit Fleisch, Wurst, Hundefutter, Wein, Knoblauch und anderen Dingen, die wir hier erfahrungsgemäß nicht in gewohnter Qualität oder gewohnten Preisen im Urlaub kaufen könnten. Im Auto finden sich mindestens zwei verschiedene Lenkdrachenmodelle und eine Lenkmatte, die wir in den Vorjahren gekauft hatten. Die alljährlichen Urlaube waren mit Ausnahme des wechselnden Wetters eigentlich untereinander austauschbar. Der einzige Unterschied war, dass wir älter und unsere Enkeltochter immer größer wurde. Und, dass wir im Laufe der Jahre mit immer neuen Hunden hierher kamen, weil die ersten nicht mehr am Leben waren. Natürlich bezeichneten wir das Urlaubshaus als „unser Ferienhaus“, was gefühlsmäßig zum Teil sicher stimmte. Mit den im Laufe der Jahre gezahlten Mieten hätten wir sicher schon das halbe Ferienhaus bezahlen können. Bei freundlichem Wetter kann man auf der einen Seite des Kiesweges, der zum Haus führt, Richtung Hafen schauen. In der Südrichtung wird die Sicht erst einmal durch die Deichkrone begrenzt. Hinter diesem hundert Meter weit weg liegendem Damm blickt man bis zum Horizont, über weite Sandstrände auf die flache Meeresenge zwischen den Inseln Römö und Sylt. Im Stundentakt ziehen die Fähren vorbei, wobei es den Anschein hat, als ob diese Fähren über den Sand fahren und nicht im Wasser der Nordsee. Wenn man etwas näher am Wasser steht, erkennt man die Fahrrinne, die dann gar nicht mehr so klein ist, wie sie aus der Ferne erscheint.
Zwischen den Ferienhäusern, die auf Heidegrundstücken stehen, verlaufen Kieswege. In etwa jedem dritten Jahr werden die Kieswege mit neuem Kies aufgefüllt, mit Steinen, die aus der Nordsee ausgebaggert wurden.

Diese Steine haben ganz unterschiedliche Farben. Einige davon erinnern an Bernsteine. Allerdings sind es nur bunte Kieselsteine. Diese Steine, die noch vor kurzem auf dem Meeresgrund langen, haben manchmal ganz eigenartige Formen. Eines Tages, ich ging gerade mit Daisy, unserer Labradorhündin spazieren, hatte ich mein Auge wie immer auf den Boden gerichtet. Auf dieser Insel muß man ständig aufpassen, wo man hintritt. Wenn es geregnet hat, wandern schwarze Nacktschnecken über den Weg. Und auch sonst sollte man nicht auf eine der Kröten treten, die gerade abends und nachts zahlreich unterwegs sind. Ich bückte mich hin und wieder und steckte den einen oder anderen der schönen oder seltsamen Steine ein. Das ganze Jahr über habe ich in irgendeiner meiner Windjacken immer einen solchen Stein dabei, weil ich glaube, dass ich dann hier wieder Urlaub machen kann. Wieder zurück im Ferienhaus schaue ich mir dann in Ruhe noch einmal die Steine an. Ein Stein hat mich besonders interessiert. Ich hob ihn auf und murmelte: „Eigenartig, von jeder Seite sehe ich in dem Stein etwas anderes.“ Auf der einen Seite sah es aus wie ein marmorner Löwenkopf, wenn man den Stein auf den Kopf drehte, sah es aus wie ein Reißzahn, der in der Steinmasse festsaß. Auf der anderen Steinseite konnte man eine Schnecke erkennen mit zwei Fühlern, drehte man den Stein halb herum, sah man einen grünlich braunen Pudelkopf, drehte man jetzt den Stein um eine weitere Vierteldrehung, sah man einen Elch, der nach links zu einem stiernackigem Neandertaler schaute. Von der anderen Seite sah man einen hellen Uhu, der nach rechts schaute und schließlich kam der Löwe wieder zum Vorschein. So viele Gesichter in einem einfachen Stein, einfach unglaublich. Ich stellte mir vor, dass die ganzen Figuren vielleicht einer uralten Sage entstammten. Aus welch anderem Grund sollten so viele Gesichter auf einem einzigen kleinen Stein versammelt sein?
Zu viele Fragen. Ich steckte den Stein ein und habe ihn gut aufgehoben. Doch irgendwie ist er verloren gegangen, ich finde ihn nicht mehr wieder. Vielleicht ist er dorthin zurückgekehrt, wo ich ihn weggenommen habe, damit ihn ein Kundiger findet, der weiß, was es mit ihm auf sich hat.
Vielleicht ist es ein ganz besonderer Stein, der einem Troll gehört oder einem dänischen Heidegeist. Wenn der Stein mal wieder auftaucht, kann ich ihn Dir gerne mal zeigen.


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Tag der Veröffentlichung: 02.05.2010

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