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Das andere Ufer

„Valley’s deep and the Mountain so high
If you wonna see god you got to move an the other side.“
(Barclay James Harvest – Hymn)

Das Tal ist so tief und die Berge so hoch,
wenn du Gott sehen willst, musst du auf die andere Seite gehen.

Wir werden getrieben, immer wieder, immer weiter, immer schneller und höher, von allen möglichen Seiten. Man sagt, wenn es dir gut gehen soll, musst du nur wo anders hin. Und so fühlen wir uns immer unzufrieden, sind immer auf der Suche. Auf der Suche nach etwas, irgendetwas, das uns zufriedener macht oder vielleicht sogar glücklich. Wir gehen den Berg hinunter, durch das tiefe Tal, den Berg auf der anderen Seite wieder hoch. Und wenn wir dann den Gipfel erreicht haben, ist da wieder etwas, was nicht „stimmt“, wir sind wieder nicht zufrieden. Wir gehen immer wieder durch alle möglichen Täler, kraxeln immer wieder jeden Berg hoch und doch passt es nie.
Wir wollen immer wieder ans andere Ufer unseres Flusses, haben das Gefühl, dass der Weg, auf dem wir uns befinden, nicht unser Weg ist. Aber es gibt für uns nur diesen einen Weg: der, auf dem wir uns gerade jetzt bewegen. Es mag sein, dass wir gerne einen anderen Weg gehen würden, aber das ist gerade jetzt, heute, in diesem Moment nichts weiter als ein Traum.
Wir haben gar nicht die Wahl, ob wir uns unserer Aufgabe, der wir heute entgegen sehen, stellen und sie so gut wie möglich zu meistern oder nicht.
Klar, wir können fliehen, wir können versuchen, auf „die andere Seite“ zu kommen. Mittel und Möglichkeiten bietet unsere moderne Welt genug. Sie ist darauf ausgerichtet, uns Fluchtziele aufzuzeigen. Ein neues Auto, ein Haus, „gesunde“ Nahrung, das neueste Kommunikationsgerät, der neue Fernseher.
Entertainment ohne Ende, von Gerichts- und Psychoshows über den Superstar bis hin zu detailliert gezeigten Leichenschauen, verbrannte, verstümmelte, geschändete usw. menschliche Körper. Arsch und Titten, Blödsinn, Heavy Metall, sanfte Schmusemuse und seichte Liebesfilme.
Um uns das alles leisten zu können, rackern die meisten wie die Blöden, kennen ihre Frauen, Männer und Kinder nicht, nicht einmal sich selbst.
Und wenn das dann alles vorbei ist, der Ausschalter endlich gefunden wurde, stehen wir wieder alleine da und haben nichts geschafft.
Wir rennen vor dem Leben davon. Denn es gibt nichts, aber auch gar nichts, was uns vor dem ganz normalen Leben schützen kann. Egal, was wir besitzen, egal, welchen Beruf wir ausüben, egal welche Position wir bekleiden oder wie „gut“ wir uns versichert haben.
Nichts kann uns davor bewahren, Leid zu erfahren. Körperliches Leid durch Krankheit, seelisches Leid durch Verlust von geliebten Menschen. Angst durch Armut, oder Angst vor der Angst. Angst vor Veränderungen, Liebeskummer, Betrug und all den vielen unerwünschten Widerständen, die unser Leben für uns parat hält.
Unser Leben findet statt zwischen Liebe und Leid, Lob und Tadel, Angst und Freude, Sieg und Niederlage.
Weil wir nicht leiden wollen, können wir auch nicht lieben. Denn Lieben heißt, bereit zu sein für Leid, für das Mitgefühl dem anderen Menschen gegenüber, den wir lieben. Und nur wenn wir selber fähig sind, mit dem geliebten Menschen mitzufühlen, können wir erhoffen, dass auch uns Mitgefühl entgegen gebracht wird.
Weil wir nur gelobt werden wollen, können wir Tadel nicht ertragen, denn wir wollen unsere Fehler nicht erkennen. Denn das tut weh oder beschämt uns vielleicht. Der Satz „Nobody is perfect“ gilt im Berufsleben meistens nicht. Viele täuschen eine Perfektion vor. Und darum können wir nicht aus unseren Fehlern lernen.
Weil wir Angst nicht als einen natürlichen Schutzmechanismus akzeptieren, können wir keine Freude empfinden. Denn eine Freude entsteht erst, wenn wir eine Angst überwunden haben.
Wir fürchten uns vor Niederlagen, also kämpfen wir gar nicht erst. Und so können wir auch nicht siegen. Oder wir werden zu Schlägern, die alles niedermachen, was sich uns in den Weg stellt. Und nehmen nicht unser eigenes Entsetzen über unser eigenes Verhalten wahr.
Durch unsere Fluchtversuche bauen wir Mauern auf. Mauern, die uns vor Schmerzen und Leid schützen sollen. Nur leider haben Mauern die Eigenschaft, undurchdringlich zu sein. Es mag sein, das sie uns eine Zeit lang vor Unerwünschtem bewahren, aber sie lassen uns auch das Schöne, Wunderbare unseres Lebens verpassen. Denn auch das kann dann unsere Mauern nicht durchdringen.
Und so wird unser Leben öde und fad, unser Alltag grau und sinnentleert. Ein Kuss auf die Wange wird zur Gewohnheit, nicht zur Zärtlichkeit. Ein Lächeln gefriert und ist unehrlich. Wir nehmen den Gesang der Vögel nicht mehr wahr und sind nicht in der Lage, eine solche Schönheit in unser Herz hinein zu lassen. Kinderlachen und Spielelärm wird uns lästig, neugieriges Fragen ist nervtötend und das Babbeln auf Kleinkindniveau kommt uns dümmlich vor.
Sexualität wird zum Gebrauchsgegenstand, der sich abnutzt wie alles andere auch. Anstatt sich immer wieder neu zu entdecken, Zärtlichkeit und Zartsein zu leben, Phantasie zu entwickeln und zu leben, laden wir uns lieber Pornos runter oder suchen neue Geschlechtspartner, es ist ja alles austauschbar und beliebig.
Wenn wir uns aber unseren Ängsten und Gefühlen stellen, können wir mehr über uns erfahren. Es mag sein, dass dabei Tränen fließen, bittere Tränen. Denn wir meinen, es zerreißt uns vor Schmerz und Leid. Aber das ist nur die Tiefe, die uns steckt. Um diese Tiefe zu erfahren, brauchen wir Mut, sehr viel Mut. Aber wir alle haben natürlicherweise diesen Mut und unser Körper, unsere Seele und unser Geist haben die Kraft, die uns in die Lage versetzen, solchen Tage zu überstehen.
Es gibt vieles, was uns unsere Lebensperspektiven zerstören kann. Verlust der Ehefrau/ des Ehemannes, Verlust eines Kindes durch Tod, oder dadurch, dass es einen Weg einschlägt, auf dem wir nicht mehr mitgehen können.
Eine chronische Krankheit, Arbeitslosigkeit, plötzliche Armut. Und vieles andere mehr. Die meisten von uns sind mit dem Gefühl aufgewachsen, das alles irgendwie immer zu regeln ist und das Leiden oder Verzweiflung etwas Schlimmes sind. Aber das stimmt nicht. Es ist normal. So widersinnig das auch für die meisten von klingt, Leiden ist normal. Wir haben aber nie gelernt, es auszustehen oder zu akzeptieren. Tränen sind tabu, gegen Schmerzen gibt es Tabletten und dann läuft alles wieder seinen Gang. Scheinbar.
Es mag richtig sein, zu therapeutischen Zwecken in schwierigen Situationen zu ärztlich verordneten Medikamenten zu greifen. Aber wenn wir uns nicht gleichzeitig mit unseren Schmerzen oder Problemen auseinandersetzen, wird daraus eine Sucht entstehen und dann ist die Richtung ganz klar definiert: es geht bergab.
Leiden, Schmerzen, Probleme sollten uns dazu bringen, unsere Ansichten, Gewohnheiten, Lebenseinstellungen zu überdenken und zu verändern. Das kann und wird sich meistens über einen langen Zeitraum erstrecken. Denn Lebenswege, die sich über vielleicht einige Jahrzehnte eingespielt haben, kann man nicht von heute auf morgen verwerfen. So kann es sein, dass die Tränen, die Trauer, der Schmerz, die Ratlosigkeit über einen längeren Zeitraum unsere täglichen Begleiter sind. Aber wir können gleichzeitig beobachten, das jeden Morgen die Sonne aufgeht, das jeden Morgen die der Tag neu erwacht. Ein neuer Tag, der uns neue Möglichkeiten bietet.
Wir können andere Menschen einladen, mit uns zu gehen, indem wir auf sie zugehen. Wir können unser Tätigkeitsfeld verändern, wir können neue Erfahrungen zulassen. Wir können unser Verhalten ändern. Wir können neue Bücher lesen, Bücher, die von Menschen geschrieben wurden, die ähnliches erlebt haben wie wir und es überlebt haben.
Wenn wir Hass und Wut, Enttäuschung, und Widerstand in unseren Gedanken und in unserem Herzen pflegen, werden wir auch genau das ernten. Wenn wir aber ehrlich versuchen, auf andere Menschen zuzugehen, wenn wir unsere Augen, Ohren und Herzen öffnen für das ganz normale Leben, können wir auf kurz oder lang alles überstehen. Wenn wir bereit sind, ganz normale, einfache Freuden zu genießen, werden sie auch zu uns kommen.
Nicht, dass es irgendetwas plötzlich kommt. Wenn ich ein Samenkorn in die Erde lege, wird es sprießen. Aber es dauert seine Zeit, bis daraus eine kräftige Pflanze gewachsen sein wird, die auch Früchte trägt. Und bis dahin werden Stürme, schwere Regen, vielleicht Schnee und Eis dazu kommen. Aber irgendwann wird diese Pflanze Früchte tragen, das ist ein Naturgesetz.
Ich erinnere mich an einen Tag kurz nachdem wir unsere erste Schäferhündin einschläfern lassen mussten. Meine Frau und ich waren unendlich traurig. Jetzt mag mancher lächeln, ein Hund ist doch nichts weiter als ein Tier. OK, wer dieser Meinung ist, sei’s drum. Ein Freund schrieb uns, ein Hund ist ein Stück Familie. Und so ist es auch für uns. Ich fuhr an diesem Tag zur Arbeit und hatte die ganze Fahrt über Tränen in den Augen. Im Dozentenraum angekommen, hatte ich noch ein wenig Zeit, um einen Kaffee zu trinken. Eine Kollegin sprach mich an. „Lutz, du siehst ja so traurig aus.“ Ich erzählte ihr, was geschehen war. „Oje, das kenn ich.“ Und schon erzählten sie und ein weiterer Kollege Geschichten über ihre Hunde. Das tat richtig gut. Die Arbeit konnte beginnen.
Das ist ein wenig von dem, was ich meine: Menschlichkeit, Mitgefühl. In diesem Team konnten wir ein gutes Stück davon leben.

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Tag der Veröffentlichung: 03.01.2011

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