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Das Mädchen mit den Tausend Narben

Ich weiß nicht viel über dieses Mädchen. Ich weiß weder wie alt sie ist oder wie sie heißt. Aber das was ich weiß, erzähle ich euch jetzt.

Alle nannten sie nur das Mädchen mit den tausend Narben. Denn keiner wusste ihren richtigen Namen. An einem Tag habe ich sie weinend in einer Ecke sitzen sehen. Blut tropfte an ihren Armen hinunter. Sie sah mich mit solchen Augen an. Augen, die voller Trauer und Schmerz waren. Sie blickte mich nur an und schwieg. Ich war so dämlich und wendete meinen Kopf ab. Wenn ich dass nicht getan hätte, hätte ich ihr vielleicht helfen können. Doch ich habe mich in dem Moment so unwohl gefühlt, dass ich einfach nur noch von dort weg musste. Ich habe sie alleine gelassen.Man konnte auch öfters mitverfolgen, wie man sie beleidigte. Aber noch fieser waren die Bemerkungen und die Witze hinter ihrem Rücken. Alle hielten sie für komisch, krank und für einen Psycho. Unsere Lehrer unternahmen auch nichts. Man hätte echt glauben können, dass sie damit so wenig zu tun haben wollen, wie nur möglich. Wir sprachen dieses Thema mal in der Schule an und einer sagte, dass es einfach nur krank sei. Der nächste meinte: „Einmal ritzen und dann ein Problem weniger.“ Zwar hat sich die Lehrerin echt bemüht, dass den Schülern zu verdeutlichen. Aber funktioniert hat es nicht. Man machte seine Witze weiter. Alle sahen nur das eine und stempelten dieses Mädchen als Emo ab. Doch das war sie nicht.

Dieses Mädchen liebte den Herbst. Sie liebte die Farbenpracht, die die Blätter annehmen bevor sie braun werden. Sie liebte es, wenn sie im Wind flattern und dann langsam zu Boden sinken. Sie tanzte gerne mit ihnen. Und das waren auch die einzigen Momente in denen man dieses Mädchen glücklich sah. In diesen Momenten lachte sie, als wäre sie nicht von dieser Welt. Ihre Augen funkelten ganz abwesend. Es war immer so, als existiere nur dieser eine Moment für sie. Normaler weiße trug sie ihr langes Haar immer geschlossen. Doch in diesen Momenten waren sie offen. Sie flatterten mit dem Wind. Es war ein wundervoller Anblick. Sonst sah man sie nur monoton. Ihr Blick war sonst immer leer und ihr Körper war voll mit blauen Flecken und Schnittwunden. Die blauen Flecken fügte sie sich selber zu. Genau wie die tiefen langen Schnittwunden. Ich habe gehört, dass ihre Mutter an Krebs gestorben sei und der Vater in die Alkoholsucht abgerutscht ist. Man erzählt sich, dass er sie schlagen würde. Aber das waren alles nur Erzählungen. Keiner wusste wer sie wirklich war und was ihr passiert ist.Ich hätte sie vielleicht nur einmal fest in den Arm nehmen brauchen. Vielleicht wäre es dann nicht so weit gekommen.

Eines Tages war es so weit. Es war Herbst. Die Jahreszeit die sie so sehr liebte. Sie brachte sich um. Sie sprang von einer Brücke in den frühen Morgenstunden. Das war sicher. Es gab Gerüchte, dass sie dabei gelacht hätte. Ich bin mir ganz sicher, dass sie gelacht hat. Den es war ihre Jahreszeit, die sie so liebte. Es war ihr letzter Moment. Der Moment, indem sie schwebte. So schwerelos, wie eine Feder. Wenn man die Luft an seinen Ohren vorbei sausen hört und dann für immer aus dieser Welt verschwunden ist. Ich trauere ihr nach und zünde jeden Tag eine Kerze für sie an. In der Hoffnung, dass sie nur eine sieht und weiß, dass mindestens einer an sie denkt. Damit sie sieht, dass jeden Tag ein Licht leuchtet. Ein Licht nur für sie. Ich habe dieses Mädchen geliebt und weine immer noch um sie. Aber der Gedanke, dass es ihr jetzt besser geht, dort wo sie ist, lässt mich wenigstens ein bisschen lächeln.

Niemand kannte ihren Namen. Alle nannten sie das Mädchen mit den tausend Narben. Doch für mich, war sie das starke Mädchen. Für mich war sie das Mädchen des Herbstes.

Impressum

Texte: Maira Baker
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2013

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