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Prolog

Hinter der dichten Nebelwand sah die Sonne wie mit einer blinden Eisschicht überzogen aus. Kühl und schlicht erhob sie sich über die weiten, unendlich scheinenden Ländereien.
Verborgen in einem tiefen Wald unterhalb einer steilen Klippe lag ein betoniertes Gebäudezentrum, dass von gesicherten Drahtzäunen umgeben war. Stille lag über den schattigen Platz, allein von dem Rauschen der Bäume in der Umgebung durchbrochen.
Passanten hätten vermutlich geglaubt, dass es sich um ein Gefängnis handelte- und vielleicht war das auch gar nicht so verkehrt.
Doch gab es an diesem Ort noch nie zufällige Passanten, da er strengster Geheimhaltung unterlag.
Niemand kümmerte sich darum, wer oder was an diesem Ort versteckt wurde, wieso. Niemand wusste, dass dieser Ort überhaupt existierte.

Durch die Fenster der einzelnen Zimmer drang kaum Licht, da das meiste von dem Gestrüpp des Waldes aufgefangen wurde.
Absolute Stille.
Im Zimmer 603 lag ein junges Mädchen auf dem Rücken, an die Decke starrend. Blonde Locken umrahmten ihr ausdrucksloses Gesicht. Sie trug einen schwarzen bequemen Overall, so wie jeder in diesem Gebäude. Ihre Gedanken befanden sich in einer ganz anderen Welt, hier in diesem Zimmer wusste sie auch nicht, was sie sonst tun sollte, ihr blieb gar nichts anderes übrig.
Das Mädchen runzelte leicht die Stirn, sie schloss Augen. Eine Melodie wiederholte sich immer wieder in ihrem Kopf, immer wieder. Sie seufzte leise und glitt langsam in Träumereien ab. Wann war sie wieder in ihr Zimmer gesperrt worden? Sicher, es musste keine halbe Stunde her sein, doch sie glaubte, es war mindestens ein halber Tag. Seid Jahren hatte sie keine Uhr mehr gesehen, das Zeitgefühl war ihr vollkommen abhanden gekommen.
Wie alt war sie eigentlich? Wer war sie? All diese Fragen...
Und dabei wusste sie nicht einmal, warum sie hier war. Warum man sie aus ihrer Familie gerissen und hierher gebracht hatte. Sie hatte niemandem je etwas getan, sie erinnerte sich daran, dass sie in dem Jahr, in dem sie gefangen genommen worden war, in die dritte Klasse gekommen war. Ja, sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, nicht einmal alt genug, um zu wissen, was recht und was unrecht war.

Und nun war sie hier... und alles andere war egal. Das Mädchen hätte gerne ihre Mutter noch einmal gesehen. So gerne hätte sie sich verabschiedet, aber nicht einmal dazu hatte sie eine Möglichkeit gefunden. Sie waren in der Nacht gekommen, bei Wind und Nebel und hatten sie mitgenommen.
Den ersten Tag hatte sie in Ketten verbracht, sie erinnerte sich noch gut daran, ihr Körper war kalt gewesen, steif vom ewigen Sitzen, ihre Augen schmerzten vom stundenlangen Weinen. Und die einzige Frage die sich in ihrem Kopf immer wiederholt hatte war: Wieso?
Die Leute hatten ihr viele Fragen gestellt, hatten sehen wollen, was sie tut, wie sie es tut.
Und dann hatten die Leute sie hier eingesperrt. Mit dem Versprechen auf den Lippen, dass sie hier nicht wieder rauskommen würde.

Der Gedanke schmerzte leicht, doch es war nicht mehr allzu schlimm. Ihr Leben hatte schon lange keinen Sinn mehr, sie hatte sich damit abgefunden. Seufzend drehte sie sich auf den Bauch und betrachtete ihre Hände gedankenverloren.
Lange Zeit starrte sie nur auf ihre Handflächen, als wollte sie sich die Linien einprägen, die sich über ihre Haut zogen. Wieso nur hatte man sie hier eingesperrt? Der einzige Anhaltspunkt war, was die Wärter auf ihrer Station sagten. Sonnenkind. Sie hatten sie in diesem Gebäude eingesperrt, weil hier der schattigste Ort dieses Zentrums war. Hier hatte sie keine Kraft, dort, wo die Sonne keinen Einfluss hatte, sagten die Wärter. Dort, an der Klippe, waren andere Wesen eingesperrt, mit denen sie nichts zu tun hatte. Aber diese hatten überhaupt keine Sonne. Diese armen Wesen...
Was hatte sie je getan?

Nachdenklich musterte sie ihre Hände und ihre Augen wurden leicht feucht, sie senkte ihre Augenlider leicht.
Mit der rechten Hand vollführte sie die Bewegung, die man tut, wenn man schnippst. Sie rieb Daumen, Zeige- und Mittelfinger aneinander und schnippste noch einmal. Aus ihren Fingerkuppen trat ein helles Licht aus, versprühte Funken und schien immer heller zu werden, formte sich zu einer kleinen, züngelnden Flamme.
Und war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Sie seufzte. Die Wärter hatten Recht. Hier konnte sie nichts ausrichten, selbst wenn sie wollte.

Sie ließ den Kopf zu Boden sinken und schloss die Augen, als jäh ein ohrenbetäubender, schriller Laut aus der Ferne zu ihr hinüber drang. Mit klopfendem Herzen riss sie die Augen auf. Alarm. Sie lauschte dem Ton der Sirene, wie weit es entfernt war, dass Geräusch.
Sie lauschte.

Nein, es war weiter weg, drang aus einem anderen Gebäude. Ihres war nicht betroffen. Enttäuscht holte sie tief Luft und ihr Herzrasen beruhigte sich langsam wieder. Es war doch immer das gleiche. Und immer wieder hoffnungslos.

Doch der Alarm hörte auch nach ein paar Minuten nicht auf, so wie sonst eigentlich. Langsam wurde sie neugierig. Schließlich rappelte sie sich vom Boden auf, wartete kurz, bis der Schwindel sich legte und trat dann zum Fenster.
Neugierig schielte sie an den Fenstergittern vorbei nach draußen, um zu erkennen, ob sich etwas auf dem Hof abspielte.
Doch der Hof war der leer. Nichts, sie konnte nichts erkennen.
Sie wollte sich abwenden, doch in dem Moment geschah doch etwas. Sie presste sich an die Fensterscheibe, lehnte sich zur Seite, um am Gitter vorbei sehen zu können.
Eine Gestalt rannte über den Hof. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, vermutlich kannte sie die Person auch gar nicht. Sie erkannte nur, dass es ein Junge war. Er rannte.
Ihr Herz klopfte wieder. Würde er es schaffen? Es war noch nie einer entkommen. Nie...

Gespannt sah sie zu, wie der Junge auf das Tor zuhielt, sein Overall hob sich vom hellen Boden ab. Etwas blitzte in seiner Hand...
Ihr Mund öffnete sich überrascht, als es einen lauten Knall gab, die Fensterscheibe des Wärterhauses zersplitterte und der Junge rannte darauf zu. Wo hatte der Junge nur die Waffe her?
Würde er es wirklich schaffen? Es war fast wie ein Wunder. Wenn einer es schaffte, er würde die Polizei verständigen, sicher. Und dann wären sie alle frei.
Lass es ihn schaffen, dachte sie bei sich, lass ihn abhauen. Ich will zu meiner Mutter...

Sie beobachtete ihn, was er tat. Ihr Herz klopfte und ihr Gedanke war nur, lass es ihn schaffen, tu es!
Ein paar Sekunden später öffnete sich langsam das Tor. Vor Aufregung hätte sie fast geschrien. Der Junge stürzte aus dem Wärterhaus und rannte auf das Tor zu. Ein Stück nur noch und sie wären alle frei. Tränen der Freude bildeten sich in ihren Augen.
Mutter, dachte sie.
Dann ertönte ein lauter Knall und der Junge sank in die Knie. Eine leichte Staubwolke bildete sich, als der Körper auf den Boden fiel und eine Blutlachte breitete sich langsam aus, wie ausgelaufener Kirschsaft. Er war tot, erschossen.
Das war der Lohn der Fliehenden.
Wie hypnotisiert starrte das Mädchen auf die Leiche, konnte den Blick nicht abwenden. Ihre Hoffnung war im Keim erstick worden.
Ohne ein Wort zu verlieren, wandte sie sich vom Fenster ab und legte sich auf ihr Bett und starrte wieder an die Decke. Wofür hatte sie eigentlich gehofft?
Niemand kam hier lebend raus.
Wozu auch? Sie kannte ja nicht einmal ihren Namen.


1. Kapitel: Schicksalshafte Begegnung


Nach einigen Regentagen schien endlich wieder die Sonne. Die Luft war warm und die Sonne schien ihre Energie an die sattgrünen Pflanzen abzugeben.
Kendra hatte ihr Kinn mit der rechten Hand abgestützt und blickte abwesend aus dem Fenster. Im Hintergrund spielte eine leise, rhythmische Musik, sie ließ das eine Kugelschreiberende in ihrer anderen Hand zum Takt immer wieder auf die Tischoberfläche aufschlagen.
Grüne Haarsträhnen verbargen Kendra teilweise die Sicht. Doch ihr Blick war gar nicht auf die Ländereien gerichtet oder auf etwas, was in dieser Welt Materie besaß. Er war ins Leere gerichtet, in ihr Innerstes und spielte sich in einer völlig eigenen Welt ab.
“Kendra.” Kendra ließ die Hand sinken, mit der sie ihr Kinn abgestützt hatte und sah ihre schwarzhaarige Freundin Emily an, die neben ihr saß. “Träumst du?”, fragte Emily und strich sich eine lose Strähne hinter das Ohr. Emily hatte die Eigenschaft, ihre schönen Haare besonders kreativ zu frisieren- momentan waren ihre Haare von ein paar dünnen neonblauen Strähnen durchzogen und zu zwei toupierten, hoch gesetzten Zöpfen gebunden. Zwei glitzernde, sternenförmige Spangen zierten ihre Haare nahe an ihrem gerade geschnittenen Pony.

“Du weißt aber schon, dass die Ferien in zwei Wochen zu Ende sind?”, fragte Emily mit hochgezogenen Augenbrauen. “Wir müssen diese Mappe also auch in zwei Wochen abgeben. Also streng dich mal ein wenig mehr an.”
Kendra seufzte und strich sich mit den Händen ihre langen, von Natur aus grünen Haare zurück- das sie naturgrün waren, wusste niemand, wer hatte schon naturgrüne Haare? Kendra empfand es besser, vorzugeben, sie regelmäßig zu färben, wofür sie sich extra ein wenig grüne Haarfarbe gekauft und als Kulisse ins Badezimmer gestellt hat.
“Ich kann mich einfach nicht konzentrieren”, jammerte Kendra. “Es tut mir Leid, Emily, ich weiß auch nicht was los ist.”
“Du bist eine hoffnungslose Träumerin, Kendra”, gab Emily verärgert von sich und erhob sich von ihrem Stuhl. “Das ist es, woran es liegt. Anstatt Dinge in Taten umzusetzen, träumst du, und zwar den lieben langen Tag. Ist ja ganz süß, aber in der Schule wird dich die Einstellung nicht weiterbringen.”
Kendra verdrehte die Augen. “Es sind Ferien, Emily”, gab sie mit einem resignierten Unterton zurück. “Es ist nur natürlich, in den Ferien ein wenig entspannen zu wollen und an etwas anderes zu denken als an Schule.”
“Das ist aber etwas anderes”, konterte Emily, “Das ist unser Abschlussjahr an der High School. Ich habe das Gefühl, dass du die ganze Sache nicht ernst nimmst.” Eindeutig gereizt und mit gerunzelter Stirn fing Emily an, ihre Schreibsachen zusammen zu packen.

Erstaunt sah Kendra ihr dabei zu. “Was tust du denn?”, fragte sie entgeistert.
“Ich packe”, erwiderte Emily energisch. “Du kannst dich nicht konzentrieren und ich habe heute keine Geduld für deine Träumereien. Deswegen pack ich jetzt meine Sachen, gehe nach Hause und danach etwas in die Stadt, um mich vom Stress erholen.”
Kendra nickte verstehend. Ihr Blick wanderte unruhig durch den Raum, dann sah sie Emily eine Weile zu, wie sie ihre Tasche packte.
“Kann ich mitkommen?”, fragte sie schließlich. Emily zuckte nur die Schultern, setzte sich ihre riesige Sonnenbrille auf- sie mochte es nicht, wenn ihr jemand in die Augen sehen konnte- die sie wie ein Insekt wirken ließ und wandte sich zum Gehen.
“Warte”, sagte Kendra schnell und schnappte sich von der Stuhllehne ebenfalls eine kleine Tasche. Schnell sammelte sie ihre Brieftasche von der Kommode neben ihrem Bett auf und folgte dann Emily hinaus.
Kendra rief ihrer Mutter zu, die in der Küche beschäftigt war, dass sie noch eine Weile mit Emily weggehen würde, woraufhin sie die Antwort bekam, dass sie nicht zu spät zum Essen kommen sollte.

In der Innenstadt war die Luft wärmer und der Himmel war wolkenlos- die Sonne strahlte mit ihrer gesamten Kraft auf das dunkle Asphalt der Straßen und auf die gläsernen Scheiben der Läden. Sie reflektierte sich auf den dunklen getönten Scheiben von Emilys Sonnenbrille und machten ein Hindurchsehen unmöglich.
Kendra konnte spüren, wie sich die Blicke von einigen Leuten in ihren Rücken bohrte- Intoleranz war noch immer eine weit verbreitete Seuche. Kendra hielt den Blick auf ihre verschränkten Finger gesenkt und lauschte dem gedämpften Ton der Musik, die Emily über ihren Mp3-Player hörte.
Die beiden gingen durch die Straßen der Stadt ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, sie gingen einfach. Kendra’s Gedanken begannen langsam wieder abzuschweifen...

Jäh packte Emily sie am Arm und zog sie zielstrebig auf einen Laden zu. Schockiert blickte Kendra durch die Ladenfenster und stellte fest, dass der Laden so gut wie überfüllt war.
“Wollen wir nicht lieber in einen anderen Laden?”, fragte sie daher und verminderte ihr Tempo.
Emily warf ihr einen Blick zu, der keine Widerrede erlaubte. “Spinnst du? Ich liebe diesen Laden! Ich kann doch nicht einfach daran vorbeigehen, wenn Ausverkauf ist.”
“Ausverkauf?”, wiederholte Kendra mit einem verzweifelten Unterton. “Ach komm, wir können doch später wiederkommen, wenn der Laden wieder leerer ist.”

“Vergiss es”, sagte Emily, “Jetzt oder nie!” Kendra behielt ihr vermindertes Tempo bei, ihr Gesichtsausdruck war unglücklich. Seufzend blieb Emily stehen und ließ Kendra los. “Meinetwegen, dann machen wir es so. Ich gehe eben in den Laden und du wartest einfach solange hier draußen, okay? Es dauert ja auch nicht lange.”
Kendra war noch immer nicht hundertprozentig zufriedengestellt, doch sie nickte nur und setzte sich auf eine Bank im Schatten der Häuser, während Emily sie dankbar anlächelte und dann im Laden verschwand.
Nun, immerhin hatte Kendra nun wieder etwas Zeit, ihren Träumereien hinterher zu hängen.
Ihr Blick glitt zuerst durch die Straßen, hinauf zum Himmel und anschließend zum Boden, der ihr am neutralsten erschien, um sich in Gedanken zu verlieren.
In ihre eigene Welt verziehen, darin war Kendra wirklich sehr gut.

Die Zeit rann davon, ohne das Kendra davon etwas mitbekam. Sie spürte die warme Sonne auf ihrer Haut und ihren Haaren und hörte die Geräusche des Alltags, doch ihre Gedanken waren nicht mehr in dieser Welt.

Plötzlich hörte sie ein Klatschen, dass sie aus ihren Gedanken riss. Verwirrt sah sie sich um, woher das Geräusch gekommen war. Mit einer Hand strich sie sich die Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.
Kurz darauf fiel ihr Blick auf eine Brieftasche, die am Boden lag. Rasch erhob sie sich und sammelte die Brieftasche auf. Sie war aus dunkelbraunem Leder, mit einer goldenen Signatur, die sie nicht entziffern konnte. Kendra öffnete die Brieftasche und rückte ihre Tasche auf die Schulter, da sie drohte, von der Schulter zu rutschen.
In der Brieftasche war eine Menge Geld. Und ein Ausweis war auch dabei. Mit spitzen Finger zog sie den Ausweis heraus und betrachtete das Foto. Es war eine Frau im mittleren Alter, mit blonden, zusammengebundenen Haaren und mandelförmigen, rehbraunen Augen.
Schnell steckte sie den Ausweis wieder ein und sah sich um, ob so eine Person hier irgendwo herumlief, damit sie ihr die Brieftasche wiedergeben konnte. Doch in dem Strom von Menschenmassen konnte sie so ein Gesicht nicht erkennen, die Menschen schienen zu einem Strom verschmolzen zu sein, ohne Gesicht.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit breitete sich in Kendra aus. Was sollte sie jetzt tun?
Sie tat das erste, was ihr in den Sinn kam.

Schnell ging sie zu der Stelle, wo die Straße sich spaltete und bog um die Ecke, um zu sehen, ob die Frau vielleicht dort lang gegangen war, doch auch hier konnte sie keinen einzelnen Menschen ausmachen.
Seufzend resignierte Kendra, und wandte sich um, um wieder zur Bank zu gehen und dort auf Emily zu warten. Sie würde die Brieftasche wohl bei der Polizei abgeben oder vielleicht eine Nummer in der Brieftasche finden, bei der sie anrufen konnte.

Als sie sich abwandte und zurückgehen wollte, bemerkte sie zu spät, dass jemand dicht hinter ihr ging und prallte gegen diese Person.
Kendra verlor ihr Gleichgewicht und stürzte rückwärts zu Boden. Ihr Gesicht wurde rot, wie peinlich!
Peinlich berührt blickte sie zu Boden und fragte sich, was die Person wohl von ihr dachte. Schnell sammelte sie ihre Sachen auf, die aus ihrer Tasche gefallen waren und steckte sie zurück. “Ä-ähm”, stammelte sie, “Tut mir Leid, ich hab nicht aufgepasst, ich hoffe, Sie haben sich nicht weh getan.”
Kendra rappelte sich auf, am Boden sitzen bleiben würde sicher nur noch peinlicher wirken.

Hastig klopfte sie sich den Schmutz von den Klamotten und ihrem Schienbein, auf dem sich eine kleine Schrammwunde abbildete.
Ihre Finger zitterten bei ihren Bewegungen. Wieso musste das auch ihr passieren? Ihre Wangen glühten geradezu rot, als sie sich gerade aufrichtete und der Person entschuldigend ins Gesicht lächelte.
Doch das Lächeln verblasste nach und nach.

Vor ihr stand ein junger Mann, vielleicht um die zwanzig Jahre alt. Er war ungefähr einen Kopf größer als Kendra und sah sie ausdruckslos, mit aufgerissenen, hellblauen Augen an. Unter seinen Augen bildeten sich dunkle Schatten.
Kendra bekam ein mulmiges Gefühl, der Blick war ihr unheimlich. So ausdruckslos und... kalt. Sein Gesicht war von unordentlichen, honigblonden, ungefähr kinnlangen Haaren umrahmt, die ihm an einigen Stellen vom Kopf abstanden und einen verwuschelten Eindruck machten. Nicht ungepflegt, eher... chaotisch.
Sein Kinn war halb von einem weiten, wolligen Kragen verdeckt, er trug einen einfachen, schwarzen Wollpullover mit Lederschnüren, die irgendwie nicht ganz dazu passen wollten.
Kendra fragte sich, wie er es bei dieser Temperatur darin aushielt...
Er stand einfach nur da und starrte sie ausdruckslos an und zu spät bemerkte Kendra, das sie genauso starrte.
“Ähm- Entschuldigung?”, versuchte Kendra es noch einmal. “Ist alles in Ordnung mit ihnen?”
Wieder kam keine Antwort, er starrte sie nur an, ohne eine Gefühlsregung. Ihr mulmiges Gefühl wurde schlimmer.
“Hey, Kendra, da bist du ja”, erklang plötzlich Emilys Stimme. Sie trat an dem jungen Mann vorbei und stellte sich vor Kendra. An ihrem Arm baumelte eine prall gefüllte Einkaufstasche, wahrscheinlich voller Schrott, den sie letztendlich doch nicht brauchte.
“Ich habe dich schon gesucht, du kannst doch nicht einfach so weggehen”, beschwerte sie sich, dann wanderte ihr Blick zum Mann und sie sah wieder zu Kendra. “Und wer ist das?”

Kendra zuckte mit den Schultern. “Keine Ahnung, ich hab ihn angerempelt, aber..” In dem Moment tat der junge Mann die erste Reaktion, die Kendra ihn hatte tun sehen. Er lächelte und sagte mit einer dunklen Stimme: “Tut mir Leid, dass ich dich angerempelt habe. Ich bin neu in der Stadt und wollte mich eigentlich mit ein paar Leuten hier treffen, aber sie sind nicht gekommen. Wisst ihr, ich kenne hier noch niemanden.” Er sah Kendra nett an. Selbst wenn er diese aufgerissenen Augen hatte, plötzlich wirkte er sehr unschuldig und lieb.
Kendra gruselte es leicht. “Mein Name ist Liam. Und wie heißt ihr?”

Kendra machte den Mund auf, um zu antworten, doch Emily war schneller. “Ich bin Emily und das ist Kendra. Cool, gehst du noch auf die High School? Wir könnten in eine Klasse kommen, wenn du neu bist”, überlegte Emily und grinste ihn an.
Doch Kendra kannte Emily gut genug und sie brauchte ihr gar nicht in die Augen sehen um zu wissen, dass das Lächeln nicht echt war.
Liam schüttelte den Kopf. “Nein, ich gehe nicht mehr auf die High School. In welche Klasse geht ihr denn?”, fragte er neugierig.
“Das ist unser Abschlussjahr”, erwiderte Emily stolz. “Wenn du neu in der Stadt bist, kennst du wohl noch niemanden. Vielleicht könnten wir uns ja mal treffen, oder so.. Einfach das du ein paar Leute kennen lernst. In dieser kleinen Stadt kennt eigentlich jeder jeden.”

Liam sah sie freundlich an. “Wirklich? Nun, ich habe bis jetzt ein paar kennen gelernt, ich gebe morgen eine Feier, sozusagen als Begrüßung.
Bitte haltet mich nicht für aufdringlich, aber ihr scheint sehr nett zu sein und es ist mir wichtig, ein paar nette Leute aus der Stadt kennen zu lernen. Wie wäre es, wenn ihr morgen zu mir nach Hause kommt? Ich bin in der Rosewellstreet Nr. 51 eingezogen. Es werden auch noch andere kommen.” Sein Lächeln blieb auf den Lippen.

Irgendwie war er ja echt süß, befand Kendra und erwiderte sein Lächeln. Gleichzeitig spürte sie, wie sich Emily verkrampfte. “Wir sollten lieber nicht gehen”, entschied Emily. “Wir kennen ihn doch kaum.”
Liams Blick huschte zu Emily und für einen Moment hatte er wieder den kalten Blick auf seinen Zügen. Dann lächelte er wieder. “Das ist schade, dass ihr so denkt. Es geht mir doch nur darum, ein paar Leute kennen zu lernen. Wirklich, es wäre mir sehr wichtig.”

Kendra stupste Emily an. “Ach, komm. Wir haben doch eh nichts vor für morgen.”, versuchte Kendra. “Er wird uns schon nicht auffressen, richtig, Liam?”
Liam lächelte nur und nickte dann ganz leicht.
“Siehst du. Ach, komm schon Emily... bitte.”

Emily sah bedrückt aus, dann sah sie Kendra betroffen in die Augen und senkte schließlich seufzend den Blick. “Meinetwegen...”, murmelte sie dann.
Kendra jubelte und umarmte Emily. “Cool! Sag mal Liam, wann sollen wir denn da sein?”

Liam senkte den Kopf etwas. “Um sieben Uhr Abends wäre gut. Freut mich, dass ihr kommt, das ist wirklich sehr nett von euch. Ich hoffe, wir sehen uns dann morgen.”
Damit winkte er ihnen zu und verschwand dann um die Ecke.

Kaum war Liam verschwunden, sah Emily sie betroffen an. Kendra erwiderte ihren Blick verständnislos. “Was denn?”, fragte sie.
“Du kennst ihn doch gar nicht. Ich finde, das ist keine gute Idee, zu einem Fremden nach Hause zu gehen”, befand Emily.
“Dafür lernen wir ihn morgen kennen”, erwiderte Kendra trotzig. “Komm schon, irgendwie ist er doch süß. Außerdem sind wir doch zu zweit, und wenn du deinen Freund mitnimmst, kann uns überhaupt nichts passieren. Bitte, Emily, es ist mir wichtig.”

Emily nickte seufzend. “Aber bleib bitte in meiner Nähe. Ich habe kein gutes Gefühl bei ihm.” Kendra umarmte ihre Freundin dankbar. “Danke. Ich wette, es wird morgen sehr lustig. Wir kennen doch schon viele Leute aus der Rosewellstreet!”

Emily nickte schwach lächelnd. “Ja.... allerdings...”, murmelte sie sehr leise, so das Kendra sie nicht verstehen konnte.


2. Kapitel: Geflüster


Obwohl die Sommerzeit bald anbrechen würde, war der Abend kühl und frisch. Federwolken zeichneten sich auf dem pastellfarbenen Himmel ab, die Vögel zwitscherten bunt durcheinander
In der Rosewellstreet lebten die reichen Leute, die Familien mit den Stammbäumen, die bis ins tiefe Mittelalter reichten und die konservativen Leute, die immer ein Jahrhundert früher lebten als der Rest der Welt.
Das Haus, in dem Liam lebte, lag im hintersten Teil der Straße. Es besaß zwei Stockwerke, wobei das erste Teilweise von einer riesigen, uralten Trauerweide verdeckt war und einen bleichen, weißen, schäbigen Anstrich hatte. Das Haut hatte spitze, geschwungene Dächer, und einen asiatischen Touch. Der Garten war von einem schwarzen Zaun umrahmt, um deren Stangen sich grüne Dornenränke mit blutroten Rosenblüten schlängelten.

Kendra und Emily standen unschlüssig vor dem schwarzen, prächtigen Tor und starrten das Haus am Ende des Vorgartens an.
Emily trug ihre Sonnenbrille, ihre schwarzen Haare toupiert und offen und ein schwarz-rot gepunktetes Tüllkleid. Kendra dagegen hatte ihre pastellgrünen Haare locker mit goldenen Bändern verflochten und ließ den Zopf über ihre Schulter nach vorne fallen. Sie trug ebenfalls ein Kleid, allerdings ein schlichtes, blass rosafarbenes mit einer Seitenschleife. Kendra sah sehr zart aus in dem Kleid, vollkommen im Gegensatz zu Emily. Im Grunde waren sie wie Tag und Nacht- und trotz allem unzertrennlich wie Zwillingsschwestern.

“Glaubst du mir jetzt, dass es eine schlechte Idee war?”, fragte Emily mit einer Mischung aus Unmut und Genugtuung in der Stimme. Kendras Blick war starr auf das Gebäude gerichtet und sie sah Emily nicht an. Schließlich seufze sie und zuckte hilflos mit den Schultern. “Man zählt die Toten nicht vor dem Abend”, sagte Kendra, “Lass uns erst einmal sehen, wie der Abend wird.”
Ihre Hand wanderte zur Klingel und schließlich drückte sie das kühle Metall und ein schriller Ton drang durch das Gebäude.
Mit klopfendem Herzen trat sie einen Schritt zurück und blickte wieder zu dem Haus hinüber. Kendra zuckte zusammen, als ein Geräusch ertönte, dass sich anhörte, als ob ein Korken aus einer Flasche gezogen wurde, dann ertönte ein Rauschen. Die Freisprechanlage.
“Guten Abend, wie kann ich Ihnen behilflich sein?”, schnarrte eine weibliche, ältere Stimme. Emily und Kendra sahen sich für den Bruchteil einer Sekunde an, dann erwiderte Emily: “Entschuldigung, wir wollten einen gewissen Liam..” Emily stockte und sah ratlos Kendra an, doch die zuckte mit den Schultern, sie wusste den Nachnamen ebenfalls nicht, “ Ja, wir wollen Liam besuchen kommen. Er hat uns eingeladen”, schloss Emily dann schnell und wartete die Antwort ab.

Wenige Sekunden verstrichen, dann erklang wieder die schnarrende Stimme. “Ah ja, ich verstehe. Er erwartet sie sicherlich schon. Ich lasse euch ein.” Dann ertönte ein Klick und das Eingangstor schwang anmutig auf. Kendra fühlte sich mit einem Mal wie auf dem Präsentierteller, als sie unsicher den Weg bis zur Haustür betrat. Emily dagegen schien vollkommen gelassen und betrachtete den Vorgarten, während sie sich der Tür näherten. “Nicht schlecht, oder?”, kommentierte Emily. Sie biss sich auf die Unterlippe und wickelte sich eine Haarsträhne um einen ihrer zarten Finger. Dank ihrer Sonnenbrille konnte man nicht sehen, was in ihr vorging, doch Kendra ahnte, dass sie noch immer äußerst misstrauisch war.
Kaum hatten die beiden die Haustür erreicht, schwang diese auch schon auf. Eine etwa fünfzig Jahre alte Frau schaute hinaus. Ihre ergrauten Haare waren zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden und ihr Mund war klein und verkniffen, ihr Blick gebieterisch. “Schönen guten Abend”, sagte sie mit klarer, spitzen Stimme. Der erste Eindruck von ihr war sehr nobel. War Liam etwa reich? Aber soweit es Kendra von der Rosewellstreet gehört hatte, konnte es gar nicht anders sein. “Ich werde euch hinauf in den Gesellschaftssalon begleiten. Der junge Herr wartet bereits sehnsüchtig auf euch.”

Die alte Frau trat einen Schritt zurück, um die beiden einzulassen, dann schloss sie die Tür leise hinter ihnen. “Bitte, folgt mir.” Sie machte eine einladende Geste auf die Wendeltreppe, die zu einem Geländer über der riesigen Eingangshalle führte. Kendra war schwer beeindruckt. Das gesamte Haus strahlte etwas unvergängliches und trotzdem sehr Klares aus. Der Boden schimmerte und ihr war, als könnte sie ihr Spiegelbild darin erkennen.
Sie folgte der Frau hinauf in die nächste Etage und von dort einen getäfelten Korridor entlang bis zu einer schweren dunklen Tür. Sie öffnete die Tür und bat mit einer würdevollen Geste hinein. “Ich wünsche einen angenehmen Abend”, beendete sie ihre Floskelnreihe und schloss die Tür hinter den beiden, als sie eingetreten waren.

Kendra sah sie neugierig und nervös gleichermaßen um. Der Raum war genauso klar und voller Atmosphäre, dass sie sich wie in einem Märchen vorkam. Es war alles in Holz in allen unterschiedlichen Farben und mit einigen Verzierungen und Schnörkeln geschmückt. Es waren nicht annähernd so viele Leute anwesend, wie sie gedacht hatte. Als Kendra den Blick durch den Raum schweifen ließ, kam sie auf 13 Personen, mit ihr und Emily auf 15.
Im Hintergrund spielte eine ruhige, wunderschöne Melodie, die Kendra nicht einzuordnen wusste. Doch sie bezauberte sie.

Kendra zuckte heftig zusammen, als Emily plötzlich einen spitzen Schrei ausstieß und sich alle zu ihr umwandten, als sie eine Gestalt ansprang, die Kendra von ihrem Blickwinkel aus nicht erkennen konnte. Doch dann blitzte ein schwarzer Haarbüschel mit einer dunkelgrünen Strähne hervor und sie konnte sich denken, um wen es sich handelte. Es war Tom, Emilys Freund. Er hatte wunderschöne grüne Augen, die von dunklen, langen Wimpern umrahmt wurden und ein zauberhaftes Lächeln. Kendra konnte schon verstehen, warum Emily mit ihm zusammen war.

Tom strich Emily liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht und zog sie an sich, um sie zärtlich und innig zu küssen und Kendra sah automatisch weg. Der Moment war ihr zu intim, als wenn sie die beiden dabei begaffen würde. Die anderen geladenen Gäste schienen ihre Meinung jedoch nicht zu teilen. Ungeniert starrten sie die beiden an, als wären sie gerade vom Himmel gefallen.
Nun ja, dachte sie leicht enttäuscht, jetzt wo Tom da ist, wird sich Emily wohl nur noch mit ihm beschäftigen. Vielleicht hätten wir heute Abend wirklich nicht her kommen sollen!
Fast schon frustriert, obwohl der Abend noch gar nicht richtig angefangen hatte, setzte sich Kendra auf eine dunkelrote Couch, die wunderbar mit der Einrichtung harmonierte und füllte sich ein Glas, dass einladend auf dem Tisch stand.
Vorsichtig nippte sie daran, während sie über den Glasrand hinweg Emily und Tom beobachtete. Gerade hatten sie noch herum geknutscht, doch jetzt schienen sie in ein ernsthaftes Gespräch vertieft, denn sie tuschelten leise und gestikulierten dabei. Innerlich zuckte sie mit den Schultern. Wieso auch nicht? Nur blöd, dass sie jetzt wieder alleine da saß...

“Wieso denn so deprimiert?”, fragte plötzlich jemand und Kendra fuhr herum. Liam stand hinter ihr und lächelte sie an, sein starrer Blick, der schon einen wahnsinnigen Touch hatte, ruhte auf ihr. Seine Arme ruhten lässig auf der Lehne hinter ihr. “Schön, dass ihr kommen konntet. Ich hatte gehofft, dich wiederzusehen”, fügte er dann hinzu. Er trat um die Couch herum und ließ sich neben ihr nieder. “Und? Was ist los mit dir? Du siehst traurig aus.” Er runzelte leicht die Stirn und schien ehrlich besorgt. Kendra vermutete, dass er sich diesen Abend wohl wirklich nicht so vorgestellt hatte, dass sie hier rumsass und Trübsal blies.

Kendra wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, so, wie man es tat, wenn man sich verschluckt hatte oder keine Luft bekam. Dann stellte sie das Glas ab und lächelte ihn freundlich an. “Nein, nein, keine Sorge. Mir geht es gut”, erklärte sie dann und versuchte fröhlich zu klingen.
Liam erwiderte das Lächeln. Er hat ein süßes Lächeln, fiel Kendra plötzlich auf und ihre Wangen wurden leicht rot. Liam strich ihr vorsichtig eine grüne Haarsträhne aus dem Gesicht. “Du siehst gut aus heute Abend”, sagte er schließlich. “Es muss ein ganz schöner Aufwand sein, die Haare so zu färben oder? Aber die Farbe gefällt mir.”

“Oh nein, das ist nicht..” fing sie an, doch dann verging ihr Lächeln und sie schalt sich einen Dummkopf, so gedankenlos vor sich hin zu plaudern. “Du hast Recht, es ist wirklich schlimm. Aber ich mag die Farbe sehr, deswegen nehme ich das Übel des permanenten Färbens gerne auf mich.” Liam schien aus irgendeinem Grund sehr zufrieden.

“Weißt du, ich finde dich sehr interessant, Kendra”, sagte er freundlich, nahm sich ein zweites Glas, und füllte seins und Kendras Glas auf. Er reichte ihr das Glas. “Wieso erzählst du mir nicht ein wenig von dir?”
Wie lieb er aussieht, dachte sie wieder, fast wie ein Unschuldsengel, mit seinem süßen Lächeln!
Sie nippte wieder an ihrem Glas und ihr trockener Hals konnte nicht genug von der Flüssigkeit kriegen, selbst das Brennen des bitterene Alkohols störte sie kaum noch. Es machte das Gefühl eher intensiver, dass sich gerade in ihr ausbreitete. Aufgeregt trank sie das Glas aus. “Ganz einfach”, sagte Kendra mit einem schüchternen Unterton. “Mein Leben ist so langweilig, du würdest sicher nichts darüber hören wollen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich sagen sollte.”

Liam nippte ebenfalls an seinem Glas. “Komm schon, irgendwas muss es geben. Erzähl mir was über deine Eltern. Oder deine Kindheit.” Wieder füllte er ihr Glas nach.
Kendra beäugte das Glas, während sie nachdachte. Sie war äußerst empfindlich Alkohol gegenüber, sehr sogar. Das war der Grund, warum sie so gut wie nie trank, da sie nach wenigen Gläsern schon nicht mehr stehen konnte. Deswegen wurde sie oft ausgelacht, aber was sollte sie schon tun?

Trotzdem griff sie nun nach dem Glas. Aufregung floss durch ihre Adern. “Nein, wirklich nicht”, sagte sie dann schließlich nuschelnd. “Wir kennen uns ja gar nicht. Aber gut. Ich finde, meine Kindheit war sehr schön. Die Welt war damals irgendwie viel schöner und... bunter. Ich erinnere mich, dass ich damals in Santa Monica gelebt habe. Das kommt mir schon wie Ewigkeiten vor...” Sie nahm wieder einen tiefen Schluck. Warum, konnte sie nicht sagen. Aber ihr Hals war furchtbar trocken und sie war so nervös. Hoffte sie etwa wirklich, dass der Alkohol diese Aufregung legen würde?
Es war erst das dritte Glas, okay, es war hochprozentig, soviel konnte selbst sie herausschmecken. Aber wieso wurde ihr schon schwindelig?
Ärgerlich strich sie sich durch die Haare und stellte das Glas weg. Als Liam es wieder nachfüllen wollte, schüttelte sie abwehrend den Kopf. “Nein, nein , nicht mehr”, bat sie. “Ich vertrage nicht so viel.”
“Na gut”, erwiderte Liam und stellte die Flasche weg. “Der Abend ist ja noch lang, nicht wahr?” Er lächelte wieder charmant.
Kendra wollte fortfahren, doch dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. “Wieso interessiert dich das überhaupt?”, fragte sie plötzlich.
“Ich weiß nicht”, erwiderte er nüchtern. “Reines Interesse. Ich sagte doch schon, dass ich dich für eine sehr interessante Person halte, richtig?”
“Ähm... richtig”, erwiderte sie und wurde rot.

Liam hob seine Hand und kam ihr damit plötzlich sehr nahe. Er streifte ihre Wange mit den Fingerspitzen, worauf Kendra erschauderte, und strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Plötzlich näherte er sich ihr. Ihre Haut prickelte und ihr wurde ganz heiß, als er immer näher kam.

Sie wollte etwas sagen, aber konnte nicht. Sie konnte sich nicht rühren. Liam kam ihr so unvorstellbar nahe, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spüren konnte, samtig und heiß. Nun kribbelte es überall und es verlangte eine Menge Selbstbeherrschung, um der Versuchung nicht nachzugeben.
“Hey, Liam. Kommst du mit? Die anderen wollen in den Hintergarten!”, rief plötzlich eine junge Frau dazwischen. Liam nahm sofort Abstand und lächelte sie wieder nüchtern an. “Ja, ich komme schon”, rief er dann zurück und erhob sich geschmeidig.

Kendras Herz klopfte wie wild und eine innere Hitze erfüllte sie. Nun griff sie doch wieder nach der Flasche und füllte ihr Glas nach, einmal, zweimal. Doch das Rasen ihres Herzens ließ nicht nach.

Nachdem sie glaubte, sich einigermaßen beruhigt zu haben, erhob sie sich schwankend, um den anderen im Garten Gesellschaft zu leisten.


Draußen war es wunderschön. Der Himmel hatte sich mittlerweile blutrot gefärbt und Kendra glaubte, zu träumen. Der Rasen und die Blüten im Garten waren sattgrün und wunderschön. So voller Natur.... genießerisch sog sie die Luft ein und trat die Stufen hinunter in den Garten, wo die anderen am beeindruckenden Springbrunnen in der Mitte sassen. Sie schwankte dabei leicht, doch nicht stark und es fiel kaum auf, zumindest ihr nicht.

Doch sie interessierte nicht die Menge, die am Springbrunnen sass, sondern wunderschöne Blumenhecke am Ende des Gartens. Noch immer schwankend ging sie darauf zu und atmete die frische Luft dabei ein. War sie je glücklicher gewesen?

Als sie die Hecke schließlich erreichte, berührte sie bezaubert eine der Blüten, die an der Hecke wuchs. Sie fühlte sich wirklich glücklich.
Doch plötzlich wickelte sich einer der Blumen um ihr Handgelenk, es fühlte sich an wie eine Liebkosung.
Spinne ich?, dachte sie berauscht. Vermutlich bildete sie es sich nur ein. Sowas konnte doch nicht wirklich sein, oder? Das kommt davon, wenn man zu viel Alkohol trinkt, dachte sie ironisch. Gerade sie sollte darauf achten, so gut wie möglich darauf zu verzichten! Die Rose löste sich wieder von ihrem Handgelenk und zog sich wieder in die Hecke zurück.
Kendra fühlte sich innerlich berührt und sie lächelte schwach.


In dem Moment spürte sie ein anderes Ziehen an ihrer Fessel. Erstaunt blickte sie herunter und erkannte, dass sich eine erdfarbene Wurzel herumgeschlungen hatte. Auch sie zog kräftig an ihr und langsam bekam es Kendra mit der Angst zu tun. Spürte man Einbildungen eigentlich? Denn dieses Ziehen war eindeutig fühlbar und es fühlte sich so... echt an. So viel echter als die Realität.
Komm her. Diese zwei Worte hallten durch ihren Kopf. Wie gelähmt starrte sie die Pflanze an. So etwas war ihr ja noch nie passiert!
Kurz darauf hallten die Worte wieder durch ihren Kopf und plötzlich wusste sie, was zu tun war. Neugierig ließ sie sich auf die Knie nieder und legte sich dann flach auf den Bauch. Die Ränke gaben nach und verzogen sich wieder leicht. Doch Kendra drückte im Rausch ein Ohr an die Erde.
Eine sanfte Melodie drang an ihr Ohr. So eine süße Stimme, wie sie noch nie eine gehört hatte. Ihre Augen schlossen sich genießerisch und plötzlich mischte sich etwas anderes dazu. Ein tumbes Schlagen mit energischem Widerhall, dass durch die ganze Erde fuhr und ihren Körper erzittern ließ. Der Herzschlag der Erde.

Kendra hatte gar nicht gemerkt, dass sie so betrunken war. Aber es gefiel ihr und sie schloss die Augen, als wäre sie endlich Zuhause angekommen.
“Was tust du da?” Diese scharfen Worte jagten Kendra aus ihrem Halbschlaf hoch. Entsetzt rappelte sie sich auf und wäre fast wieder umgekippt, so sehr schwankte sie. Liam stand vor ihr und wirkte eindeutig gereizt. Es durchfuhr Kendra wie ein Schock. Plötzlich war ihr, als würde eine ganz andere Person vor ihr stehen. Sein netter Gesichtsausdruck war von seinen Zügen gewichen, stattdessen blickte er sie kalt, ja, wahnsinnig an. Auf einmal wirkte er grausam und furchteinflößend. “Was hast du da getan?”, wiederholte er eisig.

“N-nichts”, stotterte Kendra. “Ich... war nur müde und... ich bin umgefallen.” Liam packte sie grob am Oberarm. “Lüg nicht!”, zischte er. “Glaubst du, ich weiß nicht, was du gerade getan hast? Glaubst du, ich weiß nicht, was du bist? Ich hab es gewusst, seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe! Einige Leute kannst du vielleicht hiners Licht führen. Aber nicht mich, hörst du, nicht mich!” Seine Stimme hatte sich immer weiter gesteigert, bis er sie schließlich angeschrieen hatte. Kendra war total verängstigt. Was zur Hölle war hier nur los?!

“Nein, bitte nicht”, stammelte sie leise. “Lass sie los”, erklang es plötzlich. Emily und Tom waren von hinten auf Liam zugegangen und starrten ihn böse an. “Was soll das?”, zischte Emily wütend. “Du hast sie doch nicht mehr alle! Siehst du jetzt, was ich meinte, Kendra?”
Kendra sagte jedoch nichts, sondern starrte alle drei abwechselnd fassungslos an.
Liam sagte nichts mehr, sondern sah nun die beiden anderen feindselig an.
“Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen”, murrte Emily. “Es tut mir Leid, Kendra. Ich bin dafür, das wir hier verschwinden. Und jetzt gibt es keine Widerrede, Kendra!” Sie sah Liam herausfordernd an.
“Auf Wiedersehen! Und wagen Sie es ja nicht, noch einmal in ihre Nähe zu kommen!” Emily stützte Kendra, während Tom sie auf der anderen Seite fest hielt und besorgt fragte, ob alles okay sei.

Liam sah ihnen mit einem eiskalten Blick hinterher. Selbst als die drei das Haupttor passiert hatten, hatten sie das Gefühl, dass Liam ihnen mit seinen Blicken folgte.

Während Tom Kendra in sein Wagen hievte, fragte Kendra stammelnd: “W- was hat er gemeint? Sagt es mir. Was meinte er damit? Ich weiss nicht, was er meint....”


“Ich weiß es auch nicht”, gestand Emily bedrückt. “Vergiss es, okay? Schlaf erst einmal. Der Idiot hat nur Unsinn geredet. Schlaf.” Sie strich Kendra über die grünen Haare und lächelte ihr aufmunternd zu.

Kurz darauf fuhren sie aus der Straße heraus und machten sich auf den Weg nach Hause. Kendra schlief nicht. Sie starrte mit halb geöffneten Augen aus dem Fenster. DAS hatte sie hundertprozentig nicht geträumt, egal, wie viel Alkohol im Spiel gewesen war. Irgendetwas ging vor, dass wusste sie. Während der Wagen an der Landschaft vorbeizog und die Dunkelheit einkehrte, nahm sich Kendra fest vor, Liams Worte nicht zu vergessen.
Schließlich schloss sie die Augen und verfiel in einen unruhigen Schlaf.


Kapitel: Spinnennetz

Als Kendra ihre Augen wieder öffnete, durchfuhr ein pochender Schmerz ihren Kopf. Das Bild vor ihren Augen verwackelte und sie brauchte einen Moment um sich zu fangen. Stöhnend setzte sie sich auf. Eine unnatürliche Hitze erfüllte ihren Körper und schien aus ihr herausbrechen zu wollen. Natürlich war es schwachsinnig, aber sie glaubte, wenn sie sich aufsetzte, würde es vermutlich besser werden. Müde strich sie sich die schweißnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht, dabei berührten ihre Finger die hitzige Stirn und wieder durchfuhr eine Welle ihren Körper. Mit trübem Blick sah sie sich um.
Die kühlen, schlichten Wände und die eigenwillige Einrichtung ließen Kendra erkennen, dass sie sich in ihrem Zimmer befand. Wie war sie nur hier her gekommen? Jäh vernahm sie ein Geräusch und wandte sich um, als ihre Mutter den Raum betrat. Ihr Blick sprach von Besorgnis, aber ihre Lippen zierte ein warmes Lächeln. „Wie schön, du bist wieder wach“, freute sie sich und setzte sich an das Bettende von Kendra. „Ich hatte mir furchtbare Sorgen um dich gemacht, nachdem deine Freunde Tom und Emily dich hierher gebracht hatten. Aber was war denn los? Es ist doch sonst nicht deine Art, Alkohol zu trinken?“ In den Augen ihrer Mutter las sie einen unausgesprochenen Vorwurf und Kendra senkte den Blick.
„Es tut mir Leid“, flüsterte sie beschämt. „Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich wollte es auch einmal probieren. Alle aus meiner Klasse trinken Alkohol- nur ich nicht. Ich fühle mich so… zurückgeblieben.“ Ihre Mutter runzelte verärgert die Stirn und strich sich eine braune Locke aus dem Gesicht. „Wir haben darüber ein ausführliches Gespräch geführt, nicht wahr? Du weißt, dass Alkohol nicht gut für dich ist, sogar schlimmer, als für jeden anderen. Ich möchte nicht, dass du das nochmal tust. Ich hatte wirklich ernsthaft Sorgen um dich!“
Kendra hob den Blick nicht, ein schlechtes Gewissen nagte an ihr. „Es tut mir Leid“, wiederholte sie. Was sollte sie schon machen? Hätte sie jetzt gegen ihre Mutter aufbegehrt, dann wäre ihr schlechtes Gewissen ins unermessliche gestiegen. Natürlich, es war ein nur allzu deutliches Verbot. Wenn ihre Mutter keinen oder einen nichtsnutzigen Grund gehabt hätte, hätte Kendra kein Problem damit gehabt, für ihr Recht zu kämpfen. Aber wie zum Teufel sollte sie sich gegen eine Person stellen, die nur ihr bestes für sie wollte?
Demütig hielt sie den Blick gesenkt und wartete darauf, dass ihre Mutter das Wort ergriff. Doch diese sprach das Thema nicht noch einmal an, sondern legte eine wunderbar kühle Hand auf ihre Stirn. Doch Kendra hatte das Gefühl, dass die Kühle sondern in die Wärme verschmolz. „Du bist noch immer so warm.“, stellte sie fest . „Aber keine bange, ich werde dir eine Medizin machen, dann geht es dir besser.“ Sie erhob sich und machte eine abwehrende Handbewegung. „Leg dich hin und ruh dich aus. Ich bin gleich wieder da.“
Kendra stieß die Luft aus und ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen. Hastig riss sie sich die Decke vom Körper und warf sie zu Boden. Ihr war, als könnte ihr Körper wieder atmen und sie schloss die Augen. Erst jetzt erinnerte sie sich wirklich an den vorherigen Abend. War sie nicht mit Emily und Tom bei diesem geheimnisvollen Liam gewesen?
Kendra verzog das Gesicht bei dem Gedanken an diesen blonden Jungen mit dem starren Blick. Ihr war er nun definitiv unheimlich. Nachdenklich starrte sie an die weiße Decke. Liam hatte gesagt, dass er wüsste, was sie wäre. Was hatte er nur damit gemeint? Ob er vielleicht verrückt war? Sein Blick sagte ja genug, und in Büchern las sie immer wieder, das man Psychopathen zuerst an seinen Augen erkannte. Aber trotzdem wollte sie ihn nicht als Psychopath abstempeln. Es war zu einfach… denn trotz seines verwirrenden Blickes schien er vollkommen bei Verstand, ja, sogar sehr scharfsinnig. Oder hatte sie sich das eingebildet? Nein, dafür war das zu deutlich. Sie erinnerte sich an die Melodie, die aus dem Erdboden gedrungen war, an das wohlige Gefühl, dass es ausgelöst hatte. Nein, das konnte doch alles keine Einbildung sein, geschweige denn die Folge des Alkohols. Oder doch? Aber sie hatte die Melodie deutlich gehört, das Erbeben der Erde deutlich gespürt. Das konnte man sich doch nicht einbilden?!
Und dieser Liam wusste etwas. Aber was sollte sie schon ausrichten? Sie glaubte nicht mehr daran ,dass er mit ihr darüber reden würde. Als sie ihn gestern Abend das letzte Mal gesehen hatte, schien er furchtbar aufgebracht. Nein, sie würde wohl seine Nähe meiden. Das würde sonst hundertprozentig nicht gut gehen. Dabei… hatte er sie beinahe geküsst. Kendra spürte, wie die Hitze deutlich zunahm, als sie an seinen warmen Atem auf ihren Lippen dachte. Ein wohliger Schauer durchlief sie. Oder hatte er das geschauspielert? Was war wahr, was nicht? Und wieso konnte Kendra hinter all dem einfach keinen Sinn erspähen?
Kurz darauf betrat Kendras Mutter wieder den Raum, in der Hand ein Glas mit einer klar grünlichen Flüssigkeit. Skeptisch wälzte sich Kendra aus dem Bett und betrachtete das Glas, dass sie ihr nun entgegenhielt. Fragend sah sie ihre Mutter an, dann nahm sie es ihr aus der Hand. „Trink“, forderte ihre Mutter auf und lächelte fürsorglich. Kendra warf dem Glas noch einen misstrauischen Blick zu, dann trank sie das Glas in wenigen Zügen aus. Kendra verzog das Gesicht. Es war bitter und fade und hatte einen leichten Untergeschmack von… Alkohol. „Ich dachte, ich darf kein Alkohol trinken?“, fragte sie sarkastisch und gab ihr das Glas zurück. „Das war auch kein Alkohol“, erwiderte sie freundlich. „Was das war, sag ich aber nicht, damit könntest du wohl eh nichts anfangen, glaube mir. Aber ich habe genug Erfahrung mit Alkohol, um zu wissen, dass das Zeug ausgezeichnet wirkt.“ Sie zwinkerte scherzhaft und tätschelte ihrer Tochter den grünen Haarschopf. „Danke“, nuschelte Kendra verlegen.
Eine Weile herrschte eine peinlich berührte Stille zwischen beiden. Dann, nach einigen Minuten, räusperte sich Kendra. „Mama“, sagte sie vorsichtig. „Was bin ich?“ Ihre Mutter erstarrte und ihr entgleisten für wenige Sekunden die Gesichtszüge, doch sie hatte ihr Lächeln sehr schnell wieder auf den Lippen, wenn auch etwas angespannter. „Was du bist, mein Schatz? Ich weiß nicht, wie du das meinst“, erwiderte sie und schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. Kendra seufzte. „Ehrlich gesagt: Ich weiß es auch nicht. Aber…. Dort auf der Feier hat einer der Gäste zu mir gesagt, dass er weiß, was ich bin. Ich wusste auch nicht, was er meint.“ Fragend sah sie ihre Mutter an. Diese brachte eine Weile nicht heraus, dann streichelte sie ihr noch einmal über die Haare, als wolle sie sie beruhigen. „Keine Sorge, Liebling. Der Typ war wohl auch leicht angetrunken und wusste nicht, was er sagte. Ich wüsste nicht, was er meinen könnte. Vielleicht ist es auch einer dieser Jugendsprüchen. Da komme ich eh nicht mit.“ „Ja“, murmelte Kendra. „Vielleicht hast du Recht.“ „Mach dir darüber keine Sorgen“, versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen, „ Alles nur Blödsinn.“ Sie küsste ihr auf die grünen Haar und lächelte wieder. Kendra erwiderte das Lächeln.
Kurz darauf erhob sich ihre Mutter. „Ich werde etwas zu essen machen. Schlaf du solange. Übrigens, Emily und Tom wollen dich nachher besuchen kommen. Ist das okay?“ „Ja, ja, natürlich“, erwiderte Kendra verwirrt. Ihre Mutter lächelte noch einmal und schloss dann die Tür hinter sich, als sie den Raum verließ. Kendra starrte einen Moment lang auf die geschlossene Tür, dann legte sie sich wieder zurück auf ihr Bett, und schloss die Augen. Das Mittel, dass ihre Mutter ihr gegeben hatte, schien wahrlich Wunder zu wirken, denn die Hitze in ihrem Körper schien sich zusammenziehen, so als würde etwas in ihrem Körper sie anziehen und in sich aufnehmen. Kühle stieg ihr von den Gliedmaßen an in den Körper und sie atmete tief aus. Sie musste unbedingt wissen, was das für ein Zeug war. Ob es wohl auch gegen Fieber wirkte? Nach wenigen Minuten machte die Hitze für eine überrollende Müdigkeit Platz. Kendra streckte sich ausgiebig, dann rollte sie sich eng zusammen und schloss die Augen.
Als sie die Augen wieder öffnete, schienen schon einige Stunden vergangen sein, denn die Sonne ging bereits unter. Der Himmel, den sie durch das Fenster erblicken konnte, färbte sich vom Horizont an dunkelrot und verwässerte sich nach außen immer weiter bis zum azurblauen Himmel. Es sah aus, als hätte jemand einen Farbtopf ins Wasser gekippt. Müde und entspannt rappelte sich Kendra auf und trat zum Fenster. Von hier hatte sie einen wunderbaren Ausblick auf die Landschaft hinter ihrem Haus. Ein weites, verwildertes Feld erstreckte sich dort und mündete in einem dunklen Wald, der das gesamte Feld säumte. Kendra wusste, dass am Ende des Feldes, am Rande des Waldes ein kleiner Tümpel war. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals mit ihrer Mutter dort gewesen war und einen kleinen Frosch gefangen hatte. Sie hatte ihn mit nach Hause nehmen wollen, aber ihre Mutter sagte, dass der kleine Frosch seine Freiheit verdiene.
Kendra blickte eine Weile fast wehmütig aus dem Fenster, dann fasste sie nach dem Fenstergriff und öffnete das Fenster weit. Ein kühler Windstoß kam ihr entgegen und sie fragte sich, wieso sie nicht früher daran gedacht hatte. Die Kühle war angenehm und liebkoste ihre Haut wie kalter Satin. Behände stützte sie sich mit den Händen auf der Fensterbank ab und sprang hinaus. Blitzartig drehte sie sich um, als sie ein leises Klicken hörte, da sie glaubte, es sei die Tür. Doch diese blieb geschlossen, also musste sie sich geirrt haben.
Beruhigt wandte sie sich um und genoss das aufregende Gefühl des kühlen Grases unter ihren nackten Fußsohlen. Als sie schließlich genug herumgewandert war, ließ sie sich zwischen den hohen Grashalmen nieder und begann verträumt an einigen Grashalmen zu zupfen. Doch anstatt ihren Tagträumen nachzuhängen musste sie noch immer an Liam denken. Sie konnte sich simpel keinen Reim auf ihn machen und das nervte sie. Ihr ganzes Leben lang hatte sie mit dem guten Gewissen gelebt, dass alles einen Sinn hatte. Doch ihr gelang es einfach nicht, einen Sinn hinter all den letzten Geschehnissen zu finden. Kendra dachte so angestrengt nach, dass es ihr Kopfschmerzen bereitete. Was sollte sie nur tun?
„Ich weiß nicht mehr weiter“, murmelte sie leise. Nachdenklich und mit ernstem Gesichtsausdruck zog sie ihre Beine an und schlang die Arme herum. „Was soll ich tun? Hab ich mir das wirklich nur eingebildet?“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Hilf mir wer… irgendwer…“ Kendra blickte einen Moment stumm geradeaus, dann senkte sie den Kopf und legte die Stirn an ihre Knie. Etwas kitzelte sie an ihren Füßen. Wahrscheinlich ein kleiner Käfer, der sich auf ihre nackte Haut verirrt hatte. Doch das Kitzeln hörte nicht auf und das Tier schien immer größer zu werden und sich um ihr Gelenk zu schlängeln. Eine Schlange?
Erschrocken sah Kendra auf und betrachtete ihren Fuß. Der Schock, der sie nun überrollte, ließ es ihr zuerst kochend heiß und dann eiskalt werden. Es war genau wie an dem Abend mit Liam. Genau dasselbe. Also hatte es definitiv nicht am Alkohol gelegen! Aber sie war doch nicht verrückt… oder doch?! Langsam begann Kendra an sich selbst zu zweifeln. Eine kleine, sattgrüne Ranke hatte sich um ihr Gelenk geschlungen und schien sie zu liebkosen. Die winzige Pflanze schimmerte grünlich und wog sich immer weiter empor, schlängelte sich mit windenden Bewegungen. Kendra überkam eine eisige Gänsehaut und sie wagte es nicht, sich zu rühren. Was sollte das? Tränen stiegen ihr in die Augen und brannten wie Feuer. Immer wieder fragte sie sich in Gedanken, was hier nur vor sich ging. Sie war sich sicher, dass das einfach nicht sein konnte. Aber Einbildung…
Schließlich befreite sich Kendra aus der seelischen Starre und entriss sich dem Griff der kleinen Pflanze. Als sie aufsprang, zitterte sie vom Schock und sie biss fest die Zähne zusammen. „Zum Teufel…“, murmelte sie leise. „Was geht hier nur vor?!“
Eines war auf jeden Fall sicher- sie wollte so schnell wie möglich von diesem Feld weg. Also rannte sie leichtfüßig den Weg zurück zu ihrem Fenster und sprang hinein. Zur Vorsicht schloss sie ihr Fenster wieder und griff mit zitternden Fingern nach dem Telefon. Kendra rief Emily an und sagte ihr aufgeregt, dass sie diese sofort sehen wolle!

Als diese kurz darauf auftauchte, hatte sich Kendras Zittern glücklicherweise gelegt. Emily trug wie immer ihre geliebte Sonnenbrille und zur Abwechslung einmal ihre dunklen Haare offen. Da diese jedoch leicht verzottelt und ungekämmt wirkten, vermutetet Kendra, dass es eher an Zeitmangel lag als das es wirklich gewollt war. Auch ihre Kleidung wirkte nicht wie immer gut überlegt und ausgeflippt, sondern bestand dieses Mal nur aus einer Jeans und einem schlichten, roten Shirt. Schmunzelnd überlegte Kendra, dass Emily so wohl mehr angestarrt werden würde, als wenn sie sich so ausgeflippt wie sonst präsentiere- das war halt Emily.
Emily seufzte und schloss leise die Tür hinter sich, als sie in Kendras Zimmer trat. „Ich sehe, dir geht’s schon wieder besser“, bemerkte Emily, setzte sich auf das Bett und musterte Kendra neugierig. „Geht es dir wirklich gut?“
Kendra ging ein paar Schritte nervös auf und ab, dann schüttelte sie den Kopf. „Nicht wirklich“, sagte sie nervös. „Emily, es ist schon wieder passiert! Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bilde mir alles doch nicht etwa ein?! Das ist alles so verrückt…“ Emily schüttelte besorgt den Kopf. „Kendra, wovon zur Hölle redest du?“ Fast verzweifelt gestikulierte Kendra mit den Händen. „Na, du weißt schon. Letztens, auf Liams Anwesen. Da hat sich eine Pflanze um mein Bein geschlängelt! Ich schwöre es, ich bilde mir das nicht ein. Anfangs dachte ich, dass es am Alkohol lag. Aber heute ist es wieder passiert, einfach so. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Emily, sag mir, was ich machen soll.“
Emily sah sie noch immer besorgt an. „Bist du dir sicher?“, fragte sie und Kendra konnte einen kleinen, verzweifelten Unterton wahrnehmen. „Ja, natürlich, ich bin mir hundertprozentig sicher, und es macht mich wahnsinnig“, gestand Kendra gequält. „Ich verstehe das nicht- was ist nur los mit mir?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte Emily traurig.
Kendra sah Emily noch kurz verständnislos an, dann senkte sie den Blick und sank auf ihr Bett zurück. Emily sah hilflos zu ihr hinüber, schwieg aber und biss sich verzweifelt auf der Unterlippe herum.
Nach einigen Minuten hob Kendra ruckartig den Kopf und sah Emily eindringlich an. „Ich gehe zu Liam“, sagte sie fest entschlossen. Emily verzog ihren knallroten Schmollmund und sah sie verständnislos an. „Was redest du da? Das ist unmöglich! Hast du vergessen, wie er das letzte Mal reagiert hat? Du kannst da doch nicht ernsthaft hin wollen.“ Kendra hörte echtes Entsetzen in Emilys Stimme.
„Wie könnte ich das vergessen“, murmelte Kendra und senkte die Stimme. „Aber er ist der einzige, der etwas weiß. Erinnerst du dich? Er hat mir gesagt, er wüsste, was ich bin. Und er klang nicht so, als würde er einen blöden Witz machen. Ich glaube, das ist meine einzige Möglichkeit, etwas herauszufinden.“ Emily seufzte. „Kendra, bitte, tu das nicht. Ich meine, du hörst dich an, als hättest du zu viele Fantasy Bücher gelesen! Was sollte schon mit dir los sein? Glaubst du, dass du vielleicht magische Kräfte hast oder eine Prophezeiung erfüllen musst, wie in den großen tollen Geschichten, die man immer liest? Wenn du da hin gehst, wird dir das nichts nützen, das sag ich dir. Der Typ wird höchstens wieder auf dich los gehen.“
Kendra schüttelte den Kopf. Auf eine intime Weise fühlte sie sich entblößt, denn Emily sprach eigentlich wirklich ihre Gedanken aus, selbst wenn sie das nicht einmal vor sich selbst zugeben wollte. Natürlich glaubte sie nicht daran, irgendeine Prophezeiung erfüllen zu müssen oder etwas in der Art. Aber war das mit der Pflanze nicht etwa als Zeichen zu deuten? Möglicherweise war sie etwas Besonderes, jemand von Bedeutung. Oder sie hatte Kräfte. Kendra kam das alles so unglaublich irreal vor, das sie ungläubig den Kopf schüttelte. Und trotzdem war es wie eine kleine Hoffnungskerze, eine Idee, die so verrückt war, dass sie sogar stimmen konnte.
Doch was Kendra am meisten beschäftigte, war Emilys Zweifel an ihr. Ungewollt stiegen ihr Tränen in die Augen. „Du... du glaubst mir nicht, habe ich recht?“, fragte sie leise. „Du glaubst, ich habe zu viel Fantasie und denke mir das nur aus. So ist es doch, oder?“ Emily schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Kendra. Das klingt einfach alles nur so... unwirklich. Ich mache mir Sorgen um dich. Gehe nicht hin, um meinetwillen.“ Emily nahm die Sonnenbrille nicht ab, aber Kendra konnte so erkennen, dass Emilys Sorge echt war.
Ein flaues Gefühl breitete sich in Kendras Magengrube aus und sie seufzte schwer, als könnte sie etwas von der Last ausatmen, die sich in ihrem Bauch ausbreitete. Emily war ihr wichtig, sie war ihre beste Freundin. Könnte sie ihr so etwas ausschlagen, wenn es Emily wichtig war? Vermutlich sorgte sie sich wirklich nur und hatte mit ihrer Sorge auch recht. Vielleicht wurde Kendra doch wahnsinnig?
Doch ein unbestimmtes Gefühl sagte Kendra, dass das nicht stimmte. Sie musste auf jeden Fall die Wahrheit erfahren. „Fein. Ich werde nicht hingehen“, sagte Kendra und setzte das deprimierteste Gesicht auf, zu dem sie fähig war. Sofort stieß Emily erleichtert die Luft aus und nahm die Sonnenbrille ab. Sie blickte Kendra mit ihren wunderbar klaren Augen an und umarmte Kendra. „Bitte sei mir nicht böse. Ich werde für dich da sein, versprochen. Das kommt alles wieder in Ordnung, ja?“
Kendra nickte stumm. In Gedanken war sie jedoch ganz woanders. Sie hatte den Entschluss gefasst, so schnell wie möglich zu Liam zu gehen. Kendra war davon überzeugt, dass er ihr helfen konnte.


4. Kapitel: Mondschatten


Vollmond, dachte Kendra. Der Mond streichelte die Landschaft mit seinen zierlichen, kühlen Strahlen und tauchte alles in ein magisches Licht. Kendra stand vor dem Fenster, mit den Händen auf der Fensterbank abgestützt. Ihre grünen Haare fielen ihr in einem langen Zopf über die Schulter. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Röhrenjeans. Vielleicht war es etwas klischeehaft, aber so fühlte sich Kendra, als könnte sie mit der Dunkelheit der Nacht verschmelzen.
Vorsichtig öffnete sie das Fenster einen Spalt und kletterte hinaus. Sie ließ das Fenster wieder zufallen und machte sich auf, über das Feld zu rennen. Die langen Halme des ungepflegten Feldes leisteten in ihrem verworrenen Gebilde guten Widerstand und für kurze Zeit war es recht schwer, überhaupt voranzukommen. Doch dann gewöhnte sie sich an das Tempo und die Bewegungen, die sie machen musste, um so schnell wie möglich voranzukommen und hatte nach kurzer Zeit das Feld passiert.
Kendra atmete schneller als gewöhnlich, nachdem sie das Feld passiert hatte. Nachdenklich blickte sie zurück zu dem Ort, an dem sie lebte. Für sie schien das alles selbst mit der kurzen Distanz, die sie zurückgelegt hatte, in weite Ferne gerückt zu sein- als wäre sie von einer Welt in die andere getreten, so unerreichbar schien das Gebäude plötzlich für sie zu sein. Und es machte ihr deutlich, dass es jetzt kein Zurück gab- sie hatte einen Schritt getan, also musste sie jetzt auch den nächsten tun.
Kendra holte tief Luft und schnellte wie vom Blitz getroffen herum, um ihren Weg fortzusetzen. Entschlossenheit spiegelte sich in ihrem Blick, gleichzeitig fragte sie sich, wie weit diese wohl halten würde.

Bis zu dem Anwesen von Liam dauerte es um einiges länger, als Kendra vermutet hatte. Vermutlich war ihr der Weg auch nur mit dem Auto so kurz vorgekommen. Als sie dort ankam, war sie sehr erschöpft und sie fragte sich, was sie sich eigentlich davon erhoffte. Möglicherweise hatte Emily doch Recht behalten...
Als Kendra das Anwesen sah, überkam sie ein Gefühl der Übelkeit und das flaue Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich und schien nach dem Rest des Körpers zu greifen. Kurz darauf fing sie an zu zittern. Wieder holte sie tief Luft, doch irgendwie schien es dieses Mal keine Auswirkung zu haben. Leise sprach sie sich selbst Mut zu, schloss kurz die Augen und trat dann auf den Eingang zu. Ohne zu zögern klingelte sie- Kendra wusste, wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie zögern, darüber nachdenken und wieder verschwinden. Was genau sie sagen sollte, wusste sie auch noch nicht genau. Aber in der Angelegenheit verließ sie sich wie jeher auf ihre Bauchgefühl und improvisierte. Es dauerte auch gar nicht lange, da wurde die Tür geöffnet und die Frau vom letzten Mal blickte ihr mit einem stechenden Adlerblick entgegen. Dieses Mal trug sie jedoch ein knielanges Kleid mit Rüschen und Puschen. „Ja, bitte? Wissen Sie eigentlich wie spät es ist? Hätten Sie nicht etwas früher kommen können?“
„Tut mir Leid“, murmelte sie leise. „Aber es ist dringend. Ist Liam noch wach?“ Die Frau musterte sie eine Weile kritisch, dann verschwand sie für eine Weile und Kendra wurde immer nervöser, mit jeder Sekunde, die verstrich. Einmal wanderte ihr Fuß sogar einen Schritt zurück und die Idee an Flucht erschien ihr plötzlich um weites besser. Doch dann tauchte die Dame wieder auf und lächelte nun gezwungen. „Der junge Herr ist bereit, Sie zu empfangen. Bitte treten Sie ein“, sagte sie mit einer Stimme, als hätte sie diesen Satz immer und immer wieder im Kopf wiederholt. Kendra schluckte trocken und trat mit rasendem Herzen ein. „Er befindet sich oben in seinen Privaträumen. Ich werde Sie dort hinführen.“ Kendra nickte und folgte der Frau. Obwohl Kendra erst einmal hier gewesen war, durchkam sie ein Gefühl der Vertrautheit. Stirnrunzelnd versuchte sie, dieses Gefühl zu hinterfragen, doch es gelang ihr nicht. Also nahm sie es hin und versuchte sich stattdessen mental auf das Treffen mit Liam vorzubereiten.
Sie und die Dame gingen durch den Empfangsraum, in dem sie zum Anfang der Feier gewesen waren. Von dort aus jedoch nahm sie eine Treppe nach oben, die Kendra dort noch gar nicht wahrgenommen hatte. Am Ende einer der Gänge klopfte die Frau dann an und öffnete die Tür so, dass Kendra eintreten konnte.
Kendra warf der Frau einen misstrauischen Blick zu und trat dann ganz langsam ein, jederzeit bereit auf eine Falle. Als sie sich im Raum befand, huschte ihr Blick sofort durch das gesamte Zimmer. Es war sehr stilvoll in dunklen Farben gehalten und wirkte dank der Ordnung und der Schlichtheit sehr rein. Aber wo war Liam? Sie konnte ihn nirgends sehen. Ein ungutes Gefühl bereitete sich in ihr aus und sie wollte gerade wieder gehen, als die Zimmertür hinter ihr krachend ins Schloss fiel, worauf sie zusammen zuckte.
„Es war dumm von dir noch einmal hierher zu kommen“, behauptete eine dunkle Stimme, die schon fast flüsterte. Liams Stimme. Ruckartig wandte sich Kendra herum und starrte direkt in sein Gesicht. Seine Hand lag flach an der Tür, also war er es gewesen, der sie zugestoßen hatte.
Liam trug zur Abwechslung einmal kein Oberteil, dass ihm bis über das Kinn reichte, sondern ein einfaches, schwarzes Shirt. Sein Mund sah ein wenig verkniffen aus und seine Haare noch zerzauster, als sie es sonst schon waren. Doch unter seinen Augen lagen wie eh und je tiefe Schatten, die seine weit aufgerissenen Augen riesig wirken ließen. Doch dieses Mal wirkte sein Blick nicht nur irrsinnig, sondern auch gefährlich.
Kendra wollte etwas sagen, ihr wollte jedoch nichts gescheites einfallen. Sie öffnete den Mund, brachte jedoch nur Gekrächze heraus und schloss ihn wieder. Liam seufzte, es klang fast enttäuscht. „Was willst du hier? Dir müsste doch klar sein, dass ich dich jetzt nicht wieder gehen lassen kann?“
Nun begann aus dem mulmigen Gefühl in ihrem Bauch eine erstickte Panik zu entstehen. Ihr Herz begann zu rasen und sie spürte, wie sich auf ihrer Haut eiskalter Schweiß bildete. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest. Kannst du mir das bitte einmal erklären? Ich... ich will nur wissen, was hier los ist. Das ist überhaupt der einzige Grund, warum ich zu dir gekommen bin.“
Liam sah sie einen kurzen Moment zweifelnd an, als wüsste er nicht, ob sie sich über ihn lustig mache. Dann stieß er einen kurzen, rauen Lachton aus. Daraufhin ging alles so schnell, dass Kendra gar nicht wusste, was zuerst geschah.
Plötzlich sah sie, wie ihr Blickfeld verwackelte, sie spürte seinen klammernden Griff und wie sie mit dem Rücken hart auf dem Boden aufkam. Kendra sah kurz den Sternenhimmel durch das riesige Fenster funkeln, kühl und unnahbar und doch wunderschön, dann sah sie, wie sich Liams Gesicht davor schob. Erst danach spürte sie den Druck, der sich durch den Fall auf ihren Rücken entlud. Sie ächzte leise, als sie gewahr wurde, dass Liam wie eine Raubkatze über ihr kniete und sie mit einem simplen Griff am Boden hielt.
„Verarschen kann ich mich alleine! Versuch das bloß nicht noch einmal!“, fauchte er leise. Kendra überlief eine Gänsehaut; seine Stimme hätte nicht bedrohlicher klingen können, selbst wenn er sie angebrüllt hätte. „Ich... wirklich, ich sage die Wahrheit!“, sagte sie hastig, versuchte eine beruhigende Bewegung mit den Händen zu machen, doch dann fiel ihr ein, dass sie diese ja gar nicht bewegen konnte. „Im Ernst! Es würde mir wirklich helfen, wenn du es mir sagen würdest. Glaubst du, ich wäre sonst freiwillig hier her gekommen, wenn ich etwas wüsste?“ Liam grinste gehässig. „Na klar, ich kenne euch doch! Macht euch einen Spaß daraus, andere Leute zum Narren zu halten und macht euch in eurer Arroganz über sie lustig! Aber glaub mir, ich werde nicht denselben Fehler noch einmal begehen! Ich werde dich weg sperren lassen, genau wie alle anderen deiner Art, die es bis hierher geschafft haben. Dann bekommt ihr endlich, was ihr verdient. Glaub mir, ich werde dafür sorgen, dass du da nie wieder raus kommst!“
Kendra sah ihn entsetzt an. „Du bist verrückt“, schlussfolgerte sie mit einem tauben Gefühl auf der Zunge. „Du bist doch nicht mehr ganz dicht, jetzt lass mich gefälligst gehen!“ Doch stattdessen stieß Liam ein wütendes Geräusch aus, dann sah Kendra nur noch die blassen Konturen seiner Hand und dann verstummte die Welt um sich herum und sie fiel in ein dunkles Loch.

Als sie wieder erwachte, dröhnte für einen kurzen Moment ihr Kopf, bevor sie die Übelkeit überrollte. Erschöpft lehnte sie sich nach vorne und würgte trocken, kurz darauf verschwand die Übelkeit jedoch wieder und sie lehnte sich müde zurück. Kendra holte erschöpft tief Luft und schmeckte dabei einen moderigen Geschmack auf der Zunge. Verwirrt öffnete sie blinzelnd die Augen und sah sich um. Sie lag auf einem eiskalten Steinboden, in deren Ecken es bereits schimmelte. Es roch nass und eiskalt. Der gesamte kleine Raum, in dem sie sich befand, bestand aus eiskaltem Stein, abgesehen von der offenen Seite, die mit verrosteten Gitterstäben verschlossen war. Durch die Spalten der Eisenstäbe flackerte sanftes Licht. Kendra glaubte, einen Moment im Mittelalter gelandet zu sein. Aber das konnte nicht sein, denn die Lichtquelle war eindeutig eine lose Glühbirne. Also wo befand sie sich?
Erst langsam kehrte die Erinnerung an das Geschehene zurück und es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Entsetzt schlug sie die Hände vor ihr Gesicht zusammen und und ein schlechtes Gewissen Emily gegenüber rumorte in ihrem Bauch. Emily, dachte sie wehmütig, ich war so blöd! Wieso habe ich nicht auf dich gehört? Hilf mir, Emily...
Doch Emily schien ihre Gedanken nicht zu empfangen, so wie Kendra es gehofft hatte. Warum nur war sie so blöd? Ihr stiegen Tränen in die Augen und frustriert biss sie sich auf die Unterlippe. Nie machte sie etwas richtig. Sie senkte den Kopf und ihre Haare fielen wie ein seidener Vorhang über ihr Gesicht. So verharrte sie mindestens zehn Minuten, die sich wie eine Ewigkeiten hinzogen und eine tiefgründige Leere mit sich brachten.
Schließlich hob Kendra wieder ihren Kopf. Sie wirkte noch immer tief frustriert, doch nun erhob sie sich. Kendra war mittlerweile alt genug. Sie durfte sich nicht immer auf Emily verlassen. Ihre beste Freundin war klug und schön und vor allem zäh. Sie hatte immer auf Kendra aufgepasst. Es wurde Zeit, das Kendra selber handelte, anstatt auf Hilfe zu warten. Geschmeidig erhob sich Kendra und trat dicht an die Gitterstäbe heran. Der Blick nach links und rechts war äußerst schwierig, dass einzige, was sie erspähen konnte, war die Lampe, die an der Wand ihr gegenüber eingemauert war. Wenn sie nach links schaute, konnte sie eine dünne Stange aus der Wand herausragen sehen. War das eine kaputte Zelle? Sie wusste es nicht, aber probieren ging über studieren. Sie zwängte ihren Arm durch die Gitter und griff nach der Stange, die merkwürdig lose war. Ihr Herz machte einen heftigen Sprung. Plötzlich kam sie sich wie in einem Computerspiel vor, indem immer alles genau so gerichtet war, wie der Held es gerade brauchte. War das nicht eigentlich viel zu einfach?
Vermutlich hätte Kendra nicht darüber nachdenken sollen, denn prompt schloss sich eine kalte Hand um ihr Handgelenk. Ihre Hand, die bis zu dem Zeitpunkt hartnäckig an der Stange gerüttelt hatte, war erstarrt, und somit hatte Liam, der ihr gegenüber stand, kaum ein Problem, sie von der Stange zu lösen. „Das solltest du lieber nicht versuchen“, sagte er ruhig. Eisern umklammerte er ihr Handgelenk und führte ihre Hand schließlich an seinen Mund. Kendra entfuhr ein kleines Angstgeräusch, als Liam seine geschwungenen Lippen öffnete und ihren kleinen Finger in den Mund nahm. Nasse Wärme umhüllte ihren kleinen Finger und Kendra schwankte zwischen Scham-und Wohlgefühl. Schließlich nahm er den kleinen Finger aus seinem Mund und fuhr mit der Zunge über ihre Handkante. Kendras Puls beschleunigte sich um das mehrfache, als er plötzlich verharrte. Verzweifelt versuchte sie, ihre Hand mit einem Ruck zu befreien, doch Liam warf ihr nur einen wütenden Blick zu. Schließlich öffnete er den Mund und biss ihr kräftig in die Hand. Sie spürte, wie die Zähne tief in ihr Fleisch drangen und Blut sickerte hervor. Ein spitzer Schrei entwich ihren Mund und sie zog ihre Hand mit einem Ruck zurück. Tränen standen ihr in den Augen, als sie ihre blutende Hand sah. Sein Zahnabdruck war zu erkennen, er war sehr tief eingegraben und die Abdrücke waren mit Blut gefüllt.
Mit einem irren Ausdruck in den Augen leckte er sich einen Tropfen Blut aus dem Mundwinkel und lächelte dann wieder sein liebes Lächeln. Kendra fühlte sich angewidert, barg die eine Hand in der anderen und trat zwei Schritte zurück. „Warum tust du das?“, stieß sie schrill aus. Sie vermochte es nicht mehr, ihre Angst zu unterdrücken und sie wollte es auch gar nicht mehr. Ihre Stimme überschlug sich mehrfach. „Sag es mir! Sag es! Wann habe ich dir je etwas getan? Lass mich raus, hörst du? Raus! Jetzt, bitte! Ich flehe dich an... Ich habe nie etwas getan, nie!“
Doch Liam lachte nur hasserfüllt auf und ignorierte, was sie sagte. „ Keine Sorge, die Wunde wird schnell verheilen. Aber ich denke, es wird eine hübsche Narbe über bleiben.“ Liam trat dicht an die Gitterstäbe heran und umfasste sie. Kendra wich erschrocken einen Schritt zurück, taumelte und landete auf dem Boden. Verständnislos sah sie zu ihm auf, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben.
„Sobald die Sonne aufgeht, bringe ich dich in ein Lager“, sagte er leise, doch seine Stimme hallte an den Wänden wider und so war es kein Problem, ihn zu verstehen. „In ein Lager, hörst du? Und da wirst du dann für immer versauern, das schwöre ich dir. Das ist es, was du verdient hast. Was alle von deiner Sorte verdienen, denn ihr seid alle gleich, wie Ungeziefer, die zertreten gehören. Freue dich schon mal darauf.“ Er lächelte lieb und hob seine rechte Hand, als Erinnerung an das, was er gerade getan hatte. „Ich hoffe, du wirst an mich denken.“
Angeekelt wandte Kendra den Kopf ab, als Liam anfing zu lachen. Doch dann holte sie tief Luft und sagte mit fester Stimme: „Ich weiß nicht, was daran so witzig sein soll! Ich komme her, weil ich etwas von dir wissen will, und du sperrst mich hier ein, ohne Vorwarnung. Was soll der Scheiß?Ich bin doch überhaupt erst hierher gekommen, weil ich davon überzeugt war, dass du etwas weißt. Also gib mir wenigstens eine Antwort.“ Kendra sah ihn verzweifelt an. Sie wusste,was er vor hatte und es erfüllte sie mit Schrecken. Andererseits schien er der einzige, der wenigstens zugeben wollte, dass etwas nicht mit ihr stimme. Und somit der einzige, der ihr Informationen geben konnte.
Liam runzelte daraufhin die Stirn und sah sie ernst an; man konnte ihm direkt ansehen, wie hart er nachdachte. „Du weißt anscheinend wirklich nichts, oder?“, fragte er leise. „Nichts?“ Als Kendra den Kopf schüttelte, lachte er leise.
„Unglaublich! Man hat dir anscheinend wirklich nichts gesagt, nicht? Hat man dich wie ein kleines Baby im Wald ausgesetzt?“ Liam kniete sich fließend auf den Boden, hielt die Gitter jedoch umfasst und beobachtete sie wie ein Tier im Zoo. „Im Grunde kannst du einem wirklich Leid tun, weißt du? Du stellst dich letztendlich als wirklich enttäuschend heraus. Dabei hatte ich mir die ganze Angelegenheit wirklich lustig vorgestellt.“ Er seufzte theatralisch. Im schwachen Licht tanzte ein aufregendes Leuchten in seinen Augen. Liam wirkte unheimlicher denn je.
Er zuckte mit den Schultern. „Aber was soll's. Meine Arbeit ist so gut wie erledigt. Und dort, wo ich dich hinbringe, wirst du eh alles erfahren.“
Kendra schnaufte enttäuscht. „Das ist nicht fair!“, sagte sie laut. „Sag es mir doch einfach.“ Liam lächelte schräg. „Tut mir Leid, Kleine. Aber das Leben ist nicht fair.“ Kendra holte tief Luft und sah Liam vorwurfsvoll an. „Aber das heißt nicht, dass du auch unfair sein musst“, sagte sie leise. Sie spürte ihre Wunde pochen. Ein Stechen zog sich den ganzen Arm hoch. Kendra holte tief Luft und schloss die Augen, um den Schmerz zu unterdrücken. Das Blut, dass ihren Arm hinunter floss, tropfte rhythmisch auf den Boden. Ein resignierendes Seufzen füllte die Luft. „Weißt du, mir ist eh langweilig und da du ja so darum bettelst, etwas zu erfahren... warum nicht?“
Eine Weile war Stille. Kendra sah ihm einen Moment ins Gesicht, doch sein starrer Blick erschrak sie wieder und sie wandte den Blick in einem Sekundenbruchteil wieder ab. Obwohl sie ihn nicht ansah, konnte sie sein triumphierendes Lächeln beinahe spüren. „Na gut“, sagte er schließlich. „Eigentlich ist es wirklich unglaublich. Du bist nicht normal, um es so zu sagen. Du bist nicht einmal ein Mensch. Und von dieser Welt kommen tust du sowieso nicht!“ Er räusperte sich. „Wesen wie dich nennt man die Kinder der Natur. Aus der... naja, Welt, aus der ihr kommt, gibt es verschiedene Wesen wie Kinder der Nacht, Kinder der Sonne, und so weiter und so fort. Du bist eine 'Andere'.“ Er klang leicht gelangweilt, als hätte er das schon tausendmal erklärt. „Auf jeden Fall scheint ihr alle dem Menschen sehr ähnlich zu sein- abgesehen von irgendwelchen Gendefekten. Jede Art hat ihre eigene Art von... Kräften. Du zum Beispiel als Kind der Natur kannst mit Pflanzen und der Erde kommunizieren, mit ihr interagieren. Allerdings“, er grinste, „braucht ihr alle regelmäßig das Element um euch herum, dem ihr angehört. Ansonsten seid ihr nicht besser als jeder Normalsterbliche auch.“ Liam grinste dreckig.
„Du glaubst mir nicht, oder? Denkst du, dass ich verrückt bin? Ich sehe es an deinem Blick. Glaub, was du willst. Spätestens, wenn du im Lager angekommen bist, wirst du sehen, was die Wahrheit ist.“ Kendra hob zynisch eine Augenbraue. „Wenn ich also so ein komisches Wesen aus einer anderen 'Galaxie' sein soll- was suche ich dann hier?“
Liam zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Soweit ich weiß kommen die meisten wegen Verbannung hierher, Flüchtlinge. Aber eigentlich ist es auch egal. Wir Menschen können jedenfalls davon profitieren, denn ihr spielt uns direkt in die Hände.“
Kendra schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist wirklich verrückt!“, stieß sie hervor. Erstarrt beobachtete sie, wie seine Knöchel weiß wurden und seine Finger zitterten, die er um die Gitter geballt hatte. „Wenn du dich mit diesen Leuten angelegt hast, wenn du gesehen hast, was sie tun. Wenn du aufgehört hast, an den Unglauben zu glauben, dann weißt du, was ich meine.“ Er lächelte wieder sein merkwürdig liebenswürdiges Lächeln. Mittlerweile glaubte Kendra, dass ihr dieses Lächeln mehr als alles andere an ihm Angst macht.
Sie starrte ihn weiterhin ungläubig an, Liam seufzte tief und erhob sich. „Du wirst es schon sehen“, sagte er tonlos und wandte sich dann um. „Und guck nicht so böse. Es ist deine eigene Schuld, dass du hier sitzt, denk daran. Es war nicht meine Blödheit, die dich hier her geführt hat.“ Kurz darauf konnte Kendra seine Schritte hören und schließlich erklang ein Knall, als eine schwere Tür ins Schloss fiel.
Kendra stieß zitternd die Luft aus, als sie sich sicher war, alleine zu sein. Die Kälte ballte sich in ihrer Zelle. Grüne Haarsträhnen verbargen ihr die Sicht auf den eiskalten Boden und das Tropfen des Blutes verstummte. Liam machte ihr definitiv Angst. Sie dachte, dass sie sich ihm gegenüber sehr gut geschlagen hatte. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie das in seiner Gegenwart noch einmal schaffen würde. Er war definitiv bösartig, wahnsinnig. Und sie war ihm ausgeliefert. Der Gedanke fröstelte sie mehr als jede Kälte es je vermochte. Emily, dachte sie nur wehmütig, wo bist du nur? Sie überlegte einen Moment, ob sie es noch einmal versuchen sollte, auszubrechen. Aber der Respekt und die Angst vor Liam hielten sie zurück wie eiserne Ketten. Resigniert senkte sie den Kopf. Wieso schaffte sie es nie, alleine zurecht zu kommen?
Aber immerhin hatte sie endlich eine Antwort erhalten. Sie klang unglaubwürdig, die echten Worte eines Wahnsinnigen. Aber Kendra wusste selbst, was ihr bisher passiert war und wie es sich ausgewirkt hatte. Einen Augenblick lang dachte sie an ihre Mutter. Hier würde sie sicher niemand finden. Und dann würde sie ihre Mutter nie wieder sehen . Tränen traten ihr in die Augen und sie legte sich auf den eiskalten Boden und rollte sich zusammen. Sie wollte nicht schlafen, irgendetwas verpassen. Aber was blieb ihr schon anderes übrig in dieser Situation?
Nachdenklich hob sie eine ihrer Hände und führte sie dicht vor ihr Gesicht, als könnte sie nicht glauben, dass es ihre eigene war. Eine Weile starrte sie die Handfläche an, ohne Gesichtsregung. Dann ballte sie entschlossen die Faust und senkte schließlich die Lider.
Im Endeffekt wusste Kendra nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, als sie das nächste Mal bemerkte, dass sie nicht mehr alleine in dem Raum war. Bestimmt war es bereits morgen, dessen war sie sich sicher. Ihre Freunde und ihre Familie machten sich sicher schon Sorgen. Das schlechte Gewissen nagte an ihr und sie fühlte sich noch unwohler als sie es eh schon durch die Gesamtsituation tat.
Als sie Schritte hörte, zuckte sie unmerklich zusammen und setzte sich auf. Kendra wusste nicht, ob sie noch einmal die Kraft hatte, ihm und seinen kranken Spielchen noch einmal so gefasst gegenüber zu treten. Aber sie musste es zumindest versuchen. Ganz besonders für sich selbst, für ihr Selbstwertgefühl.
Als sie schließlich einen Schatten ausmachen konnte, zog sie die Schultern an und richtete sich halb auf. Ihre angespannten Gesichtszüge entspannten sich jedoch jäh und wichen purer Verblüffung, als die Gestalt in ihr Blickfeld trat und zu ihr hinunter blickte- oder zumindest sah es so aus.
„Emily?!“ Noch nie war Kendra so glücklich, ihre beste Freundin zu sehen. Freudig sprang sie auf und umfasste mit der unverletzten Hand eine Gitterstange. „Es tut mir Leid, es tut mir Leid! Ich war so blöd, ich hätte auf dich-“ „Psst“, machte Emily scharf und sah sie beinahe drohend an. „Bist du verrückt geworden, hier so durch die Gegend zu schreien? Warum schickst du diesem Liam nicht gleich eine Postkarte, das ich dich besuchen komme!“ Kendra sank augenblicklich das Herz und sie senkte schuldig den Kopf. „Es tut mir Leid“, flüsterte sie. „Wie bist du denn hier rein gekommen? Woher wusstest du, wo ich bin?“
Emily seufzte und lächelte dann geheimnisvoll. „Das erkläre ich dir später“, sagte sie freundlich. „Aber erst einmal müssen wir hier raus- sonst ergeht es mir bald genauso wie dir und keinem von uns ist geholfen.“ Nun hob Kendra wieder den Blick, nun wirkte er jedoch fassungslos. „Soll das heißen, du...?“ Emily lächelte schief. „So in etwa. Aber alles später, bitte.“ Kendra nickte. „Gut. Aber wie willst du mich hier raus holen?“, fragte sie leise.
Emily grinste und hielt einen Gegenstand hoch, der im schwachen Licht aufblitzte. „Der Schlüssel“, keuchte Kendra. „Wie bist du denn daran gekommen?“ Emily zuckte mit den Schultern. „Das erzähl ich dir alles später, wirklich. Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Bevor der Typ wieder zu sich kommt, dem ich die Schlüssel abgeknöpft habe.“
Erleichtert erhob sich Kendra und beobachtete Emily, wie sie konzentriert das Schloss öffnete. Schließlich trat sie zur Seite und öffnete die Tür, die leicht quietschte. „Jetzt aber schnell“, raunte sie leise. Und wieder einmal war Kendra im Übermaße fasziniert von ihrer besten Freundin. Hastig schlüpfte sie aus der Zelle hinaus in den Gang und fühlte sich schon um vieles freier und leichter.
Emily nahm sie an der Hand und rannte mit ihr durch den Gang, eine gewundene Treppe nach oben. Oben angekommen war die Atmosphäre schon viel freundlicher und das beklommene Gefühl in Kendra löste sich langsam wieder. An der milchig weißen Wand lag zusammen gesunken eine Art Wache. Sie trug zumindest eine Art Uniform. Wie unter einem Schock starrte er gegen die gegenüberliegende Wand und leise, gurgelnde Geräusche drangen aus seiner Kehle. Kendra starrte ihn entsetzt an und warf Emily einen fragenden Blick zu. Diese schien jedoch vollkommen unbekümmert und zuckte mit den Schultern. „Das wird schon wieder“, murmelte sie leise. Dann griff sie wieder nach Kendras Hand und zog sie ungestüm den Gang entlang. Kendras Blicke hafteten an dem Mann, bis sie um die Ecke bogen und er außer Sichtweite war. Während sie durch das Gebäude irrten, lagen Kendra tausend Fragen auf der Zunge und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, sobald sie hier entkommen waren.
Irgendwann fand sich Kendra in dem Saal wieder, in dem Liam sie zuvor überwältigt hatte und ihr Herz machte einen kleinen Freudensprung. „Wir sind gleich draußen“, flüsterte sie heiser. „Ich kenne das hier...“
Emily blieb jäh mit einem gewaltigen Ruck stehe und Kendra, die hinter ihr gerannt war, rannte ungebremst in sie hinein, als eine vertraute Stimme den Raum erfüllte. „Ich würde nicht durch den Eingangsbereich flüchten“, sagte Liams Stimme kühl, „Sie wird streng bewacht, ihr hättet keine Chance. Gebt lieber gleich auf. Denn, ich versichere euch, meine Wachen werden nicht so freundlich mit euch umspringen, wie ich es tue.“
Kendra sah sich ruckartig um und ein Verzweiflungsstich durchbohrte ihre Brust. Würde ihre Flucht jetzt doch noch verhindert werden? Liam lehnte mit verschränkten Armen direkt neben der Tür, durch sie gerade hereingekommen waren und blickte die beiden mit halb gesenkten Augenlidern an. Emily lächelte schief. „Glaubst du, davon lassen wir uns aufhalten? Narr! Lass dir nächstes Mal was besseres einfallen.“ Liam sagte einen Moment lang nichts, dann richtete er sich auf und starrte sie wütend an. „Ich hätte es wissen müssen“, sagte er mit verzerrter Stimme. „Aber umso besser, kann ich gleich zwei von euch abliefern.“
Emily legte spöttisch lächelnd den Kopf schräg. „Wovon träumst du dann nachts?“, fragte sie höhnisch. „Nimm mich lieber nicht auf die leichte Schulter!“ Bei den Worten musterte Liam sie argwöhnisch, dann nickte er. „Gut“, antwortete er leichthin. Er griff hinter sich und zog schließlich drei Wurfmesser hervor, die im Licht der Lampe aufblitzten.
Emily sah ihn ernst an, wie er dort mit seinen Messern stand, dann hob sie mit einer bedeutungsschweren Bewegung ihre beiden Hände und nahm ihre Sonnenbrille ab. Diese schob sie nach hinten zu Kendra zu und flüsterte: „Nimm die Brille und verschwinde durch das Fenster. Das Linke ist offen.“
Kendra nahm verdutzt die Brille und blickte hinter sich. Das eine Fenster war tatsächlich nur angelehnt. „A... aber was wird aus dir?“, stammelte sie, auf ihrem Herzen schien ein Stein zu lasten. Bis Emily ihren Kopf leicht zu ihr wandte und sie bedrohlich anblickte. Ihre Pupille war verschwunden, von der Iris verschlungen, die von einem metallischem Blau erfüllt war, die kleine Wirbel schlug und wie flüssiges Lava umherzog. „Ich sagte, verschwinde“, zischte sie leise. „Ich komme gleich nach!“ Ihre Augen glühten noch heller auf und sie wandte sich wieder Liam zu, der nun ernst und konzentriert wirkte. Kendra zuckte augenblicklich zurück und sah sie entsetzt an.
„Lauf, verdammt nochmal“, rief Emily nun. Kendra zuckte zusammen und wandte sich um. „Nein!“, hörte sie Liam schreien, doch da hatte sie das Fenster schon aufgerissen und war hinaus gesprungen. Der Boden war sicher keine drei Meter unter ihr, und doch schien es ihr mindestens zehn Meter tiefer. Ihr Mund öffnete sich bereits zu einem Schrei, als sie schon auf dem Rasen landete. Grashalme bohrten sich in ihren Mund und die Knochen schmerzten ihr von dem Aufprall auf die Erde. Trotzdem rappelte sie sich auf und rannte stolpernd über den Rasen, hinüber zur Einfahrt.
Kendra hätte vor Erleichterung beinahe aufgeschrien, als sie den Wagen von Tom an der Straße parken sah, hastig durchquerte sie die Einfahrt. Sie musste gar nicht lange suchen, denn Tom lehnte bereits an der Beifahrertür und öffnete schnell die Hintertür, um sie reinzulassen. „Wo ist Emily?“, fragte er mit einer Spur Sorge in der Stimme. Kendra ließ sich keuchend auf die Hinterbank fallen und schüttelte den Kopf. „Sie ist... noch drin. Sie ist mit Liam beschäftigt.“
„Und mit dir? Alles in Ordnung?“ Kendra nickte erschöpft. „Ja, vielleicht, ein wenig geschockt. Aber es geht“, sagte sie und fasste langsam wieder Atem. „Gut“, erwiderte Tom und blickte dann wieder zu dem Anwesen hoch. Wenn Emily nicht bald wieder kam, würde er wohl oder übel eingreifen müssen.

Emily jedoch schien selbstbewusst wie eh und je zu sein, in ihrem Gesicht standen Gelassenheit und sogar ein wenig Herablassung geschrieben. Liam hingegen sah nun ein wenig nervöser aus, behielt jedoch seinen starren Blick und sein merkwürdig eingefrorenes Lächeln bei. „Wie schön“, sagte er leise, „ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder ob ich sauer sein soll, dass du dich eingemischt hast. Die eine ist mir zwar entkommen- aber für dich werde ich eh viel mehr Honorar bekommen. Jeder weiß, wie schwer ihr zu fangen seid. Ich habe Geschichten gehört.“
„Hast du das“, erwiderte Emily langsam, „Dann sollte dir klar sein, dass du es nicht schaffen kannst. Ich bin dir meilenweit voraus.“
„Das wollen wir erst einmal sehen“, erwiderte Liam kalt und sein Lächeln verschwand von seinen Zügen. „Ich bin ein Jäger der Organisation. Ich bin zum Jagen geboren worden, glaub nicht, dass du die einzige bist, die ihre Vorteile hat.“
Und bevor Emily reagieren konnte, war Liam verschwunden. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, vor Angst. Hatte sie ihn unterschätzt? Keine Sekunde später spürte sie einen heftigen Schlag auf ihrer Brust, sie verlor den Boden unter den Füßen. Als sie wieder auf den Boden aufschlug, knallte sie mit dem Hinterkopf auf den harten Boden und sie spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Ihr blieb keine Zeit zum Handeln, denn Liam war bereits über ihr, hielt sie mit einer Hand zu Boden gedrückt und starrte sie aus kürzester Entfernung an. In der anderen Hand hielt er seine Wurfdolche, bereit, jeden Moment zuzuschlagen. „Keine Sorge“, sagte er ruhig, „Ich werde dich nicht töten, lediglich bewegungsunfähig machen.“
Emily sah ihn entsetzt an und keuchte kurz. „Wie... hast du das gemacht?“, fragte sie verwirrt. Nun war es Liam, der ein wenig verächtlich aussah. „Ich habe dir doch gesagt,du bist nicht die einzige mit Vorteilen. Gewöhne dich lieber an den Gedanken.“
Emily stieß so etwas wie ein Lachgeräusch aus, natürlich! Wieso hatte sie nicht eher daran gedacht? Von nun war ihr klar, dass sie ihn auf keinen Fall unterschätzen durfte. Aber dazu war es leider zu spät. Sie bemerkte selbst, dass sie in einer auswegslosen Situation gefangen war. Sollte sie sich falsch bewegen, würde Liam sie sofort mit seinen Messern erwischen. Es blieb ihr nur eine Alternative.
„Du zwingst mich, etwas zu tun, was ich eigentlich vermeiden wollte“, zischte sie leise. „Spare dir die Mühe“, erwiderte Liam gelassen, „für dich ist es bereits zu spät.“ Nun musste Emily lächeln und auf einmal wurde das hellblaue, metallische Leuchten ihrer Augen dunkler, ein dunkelblau floss mit hinein, als würde jemand Farben zusammenrühren und schließlich bildete sich eine Spirale aus allen möglichen Blautönen. Bevor Liam zurückweichen konnte, war es bereits zu spät.
Emily blickte ihn aus kürzester Entfernung an und mit einem Mal verharrte Liam über ihr, mit weit aufgerissenen Augen starrte er ihr in die unheilvolle Spirale, die ihn immer weiter hineinzog in eine Illusion, aus der es für ihn kein Erwachen gab- zumindest für die nächsten Stunden. Emily bemerkte, das Liam zitterte, er schien sich dagegen zu wehren. Sie musste es unbedingt schaffen, ihn gänzlich in die Illusion hineinzuziehen, ansonsten war sie wirklich verloren.
Ihr Kopf schien beinahe zu bersten unter der geistigen Anstrengung und ein Stechen durchzog ihren Kopf. Sie wusste, warum sie diese Fähigkeit so selten wie möglich anwandte. Schließlich konnte sie spüren, wie Liam innerlich zusammensackte und sie konnte ihn gefahrlos von sich runterrollen.
Mühsam stand sie auf und blickte zu Liam hinüber, der noch immer leicht zitterte, aber nun eindeutig durch die Auswirkung der Illusion. Diese Kraft würde ihm sicher viel Energie rauben, wenn er schwacher Natur war, überlebte er es vielleicht nicht. Aber diese Möglichkeit war für Emily ausgeschlossen.
Schnell wandte sie sich ab und kletterte auf den Fenstersims. Ein letzter Blick zurück, dann sprang sie aus dem Fenster, um den anderen beiden zu folgen.


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Tag der Veröffentlichung: 27.03.2010

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