Alea iacta est- Der Würfel ist gefallen...
Wie am Tag, der Dich der Welt verlieh'n
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten
Bist all sobald und fort und fort gedieh'n
Nach dem Gesetz wonach Du angetreten
So musst Du sein, Dir kannst Du nicht entflieh'n
So sagten schon Sibyllen, so Propheten
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt, geprägte Form
Die lebend sich entwickelt.
Johann Wolfgang von Goethe
Der Wald wirkte ruhig und friedlich, als Alex ihn betrat. Der große, runde Feuerball ging bereits unter und tauchte das Firmament in ein herrliches Orange. Die Hitze vom Tag, die ständig den Schweiß ins Gesicht getrieben hatte, war fast erloschen und eine angenehme Kühle machte sich langsam breit. Sie legte sich wie ein sanfter Schleier auf Alex' Haut und umhüllte ihn wie ein durchsichtiger Mantel. Die Sträucher bewegten sich leicht in einem Takt. Er genoss die kurze Briese die ihn umgab und dabei seine Armhaare aufrichten ließen.
Sobald der Himmel sich wieder verfärbt hatte, umschwärmten ihn gelb-grüne Pünktchen und begleiteten ihn von nun an durch den Wald. Er konnte ihr leises summen hören und wenn er eine geöffnete Hand in die Luft hielt setzten sich sogar ein paar von ihnen darauf. Ihre kleinen Beinchen die aufgeregt auf der Innenfläche herumtibbelten und ihn so kitzelten, brachten ihn zum schmunzeln. Dass Glühwürmchen so zutraulich waren, hätte er nie für möglich gehalten. Er hatte immer gedacht sie wären scheue Tierchen.
An einer Weggabelung bog er nach links ab und kam zu einer Sackgasse. Beim ersten hinsehen sah es jedenfalls nach einer aus, doch nachdem Alex sich durch das Dickicht kleiner Äste von Büschen gekämpft hatte, gab er den Blick auf einer wunderschönen Waldwiese frei. Der Mond tauchte sie in silberweißes Licht und konnte nebenbei sein Antlitz in dem kleinen See bestaunen.
Er setzte sich auf seinem Stammplatz. Es war ein Baumstumpf einer durch Unwetter umgekippten Kastanie. Niemand schien dieses unberührte Fleckchen Erde zu kennen, außer er und die Mondscheintänzerin. Insgeheim nannte er sie so, da sie immer im Mondschein auf dem Gewässer tanzte. Leider auch nur zur Sommerzeit.
Sein Brustkorb hob und die Lungen füllten sich, als er die frische, würzige Luft des Waldes tief in sich einsog. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht als er spürte wie sich jemand der Lichtung näherte. Als er beobachtete wie sie den ersten Fuß auf das Wasser setzte, überlegte er wer sie war, woher sie kam und was sie wohl hierher verschlagen hatte. Alex rang mit dem Gedanken zu ihr hinzugehen und sie einfach zu fragen. Eigentlich besaß er eine gesunde Portion Selbstvertrauen, doch bei ihr versteckte es sich. Nicht das er in sie verliebt gewesen wäre. Er wollte eben nicht das sie davon lief, da er nicht einschätzen konnte ob sie scheu war oder nicht. Obwohl er nicht einmal sagen konnte, ob sie wusste das er sie beobachtete. Denn jegliche Andeutungen dafür sah oder spürte er nicht. Entweder verbarg sie es gut, es gefiel ihr oder sie hatte schlichtweg keine Ahnung.
Nun stand sie da, in der Mitte des Sees und begann zu tanzen. Es waren weiche, elegante Bewegungen, die davon zeugten das Tanzen ein großer Bestandteil in ihrem Leben war. Ob er wollte oder nicht sie hatte ihn wieder in ihrem Bann gezogen und vergaß alles um sich herum. Ihre Statur war schlank und groß, die Haut so weiß wie frisch gefallener Schnee, das Haar schwarz wie Ebenholz und der Mund rot wie Blut. Alex fand das sie ein perfektes Schneewittchen abgeben würde. Als ein Lichtstrahl auf ihre grünen Augen fiel, funkelten sie wie Smaragde. Sie trug ein silbriges - glänzendes Kleid, das sich ihrer Figur sehr schön anpasste. Das einzige was von ihrer Schönheit etwas ablenkte, waren ihre Füße die alleinig das Wasser berührten. Sie hatten einen lila- bläulichen Farbton angenommen. Was ihn verwunderte.
Ein bestialischer Gestank lag plötzlich in der Luft. Dieser brachte ihn dazu zu würgen und sich fast zu übergeben. Er biss in der Nase und brannte in den Augen. Schnell zog er den Kragen seines T- Shirts so hoch, dass er diesen nicht mehr ertragen musste. Dadurch das es nach verwestem Fleisch roch, musste er direkt an den Tod denken. Leichte Noten von Erbrochenem und Blut nahm er ebenfalls war. Meine Fresse, wer so riecht, sollte dringend sein Parfüm wechseln. Is ja abartig, dachte er angewidert.
Ein lautes und schrilles Lachen hallte durch den Wald und ließ alle Bewohner aufschrecken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt Alex den Kopf gesenkt und presste aus Verzweiflung die Hände auf seine Ohren. Er hatte das Gefühl sein Trommelfell würde zerplatzen.
Nach einer Weile nahm er vorsichtig die Hände wieder runter und schaute auf. Gott sei Dank hatte das Lachen aufgehört. Woher kam es nur? Und von wem stammte es? Hatte dieser übelriechende Geruch damit zu tun? Alex stand auf und schaute sich um. Konnte aber niemanden entdecken. Seltsam... Was ging hier nur vor sich?
Das Knacken einiger Zweige die auf den Boden lagen lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den See. Er drehte sich um sah aber niemanden. Die Mondscheintänzerin und die Glühwürmchen waren verschwunden. Kein Wunder bei so einem Gelächter konnte man nur die Flucht ergreifen. Er hätte es auch getan, wenn es nicht so sehr in seinen Ohren geschmerzt hätte. Was sollte er nun tun? Nach Hause gehen, dem Ursprung des Gestankes nachgehen oder die schöne Unbekannte suchen? Alex hatte keine Ahnung. Die Stimme der Vernunft rief ihm zu das er sich lieber aus dem Staub machen sollte, weil es gefährlich werden könnte. Doch die Neugier drängte ihn, dass er den Geschehnissen auf den Grund gehen sollte.
Ohrenbetäubende Schreie ließen ihn vor Schreck zusammen zucken und rissen ihn so aus seinen Gedanken. Er duckte sich und suchte dann Schutz bei den Büschen. Verdammt noch mal! Was ist hier los, fragte er sich Stirn runzelnd und blieb einige Minuten dort.
Langsam erhob sich Alex aus seinem Versteck und ließ den Blick umherschweifen. Die Lichtung wirkte nach wie vor friedlich und war wunderschön. Doch das Geschrei lenkte von der Idylle ab. Es war windstill und kühl, aber ihm warm. Fast heiß. Durch die Aufregung hatte sich sein Körper so erhitzt, dass er nun schwitzte. Von dem Brüllen taten ihm nicht nur die Ohren weh, sondern auch der Kopf. Dadurch konnte er kaum einen vernünftigen Gedanken fassen.
Das Kreischen endete so plötzlich wie es begonnen hatte. Erleichtert atmete Alex auf und fuhr sich durchs kurze dunkle Haar. Nun setzte er sich in Bewegung und rannte los. Er wollte wissen was in diesem verfluchten Wald vor sich ging. Auch wenn es bedeutete, dass er sich in Gefahr begab. Vielleicht brauchte die Mondscheintänzerin oder jemand anderes Hilfe. Sein stark ausgeprägtes Helfersyndrom ließ nicht zu dass er jetzt nach Hause lief und sich ängstlich verkroch.
Er kämpfte sich wieder durch die Büsche um die Waldwiese zu verlassen. Dann folgte er dem Gestank. An einer Weggablung blieb er stehen und überlegte wo er lang laufen sollte. Rechts, links oder weiter gerade aus? Der Geruch war überall. Er schien den Wald komplett eingehüllt zu haben. Es war unmöglich die eigentlichen Standort aus zu machen. Dennoch wollte er noch nicht aufgeben. Er entschied sich den linken Weg zu nehmen. Gerade als er los laufen wollte, vernahm er hinter sich ein Schmatzen. Es war leise, kaum hörbar. Alex drehte sich um und ging diesem Geräusch entgegen. Dabei versuchte er so leise wie möglich zu sein. Doch was er dann sah, hätte er nie zu Träumen gewagt. Horrorfilme waren ein Witz dagegen. Zwei überdurchschnittlich große Gestalten ohne Haut und Eiszapfen-artigen Zähnen knieten auf dem Boden und fraßen die Reste zweier Körper auf. Sofort wusste er von wem das Brüllen stammte. Von der jungen Frau gab es keine Spur. Er hoffte inständig das sie nicht unter den Opfern war.
Ihm wurde schlecht. Sein Magen fühlte sich an, als ob dieser sich umgedreht hätte. Er kämpfte dagegen an, sich nicht übergeben zu müssen. Sein Herz überschlug sich fast und er war unfähig sich zu bewegen. Er stand einfach da und gaffte die Wesen an. Sie waren so abscheulich und hässlich. Ob er wollte oder nicht, er konnte nicht wegsehen. Hier war der Gestank noch viel intensiver. Seine Augen tränten und er hatte das Gefühl als hätte sich der Geruch in seine Nase fest gebissen.
Was waren das für Kreaturen? Und woher kamen sie? Hatte Mutter Natur sie in die Welt gesetzt oder irgendein kranker Irrer erschaffen? Alex' Gefühl riet ihm letzteres. Warum konnte er nicht erklären.
Alex verschwinde von dort
, sprach eine ruhige, tiefe Stimme mit warnendem Unterton zu ihm. Doch er rührte sich nicht. Wie gelähmt schaute er weiterhin die Hautlosen an.
Eines der Geschöpfe schien ihn bemerkt zu haben, denn es drehte sich zu ihm um. Das andere fraß weiter und schmatzte genüsslich dabei.
Verschwinde endlich von da, Alex
, wieder sprach die Stimme zu ihm und der Ton war drängender. Dennoch bewegte sich der junge Mann keinen Millimeter weg.
"Mhhh Ragadon, schau mal wir haben ein Dessert.", zischte das eine Biest. Dieser Laut war sehr scharf. Es war, als würden tausende Nadeln in seinem Trommelfell gerammt werden.
Das andere Monsrum wandte sich jetzt ebenfalls Alex zu und musterte diesen mit seinen stechenden gelben Augen. Er fühlte sich wie durchbohrt.
"Ja, aber er ist kein Mensch, sein Fleisch ist viel zu zäh."
"Das ist doch egal. Wir haben doch eben schon zwei gegessen, da können wir bei ihm ruhig eine Ausnahme machen.", grinste das andere Scheusal. Bei einem Menschen oder einem menschlich aussehendem Wesen hätte Alex gemeint, dass das Grinsen einem Haifisch ähnelte, doch dieses war viel angst einflößender. Er schluckte hart. Eigentlich war er kein Mann der schnell Schiss vor etwas bekam. Doch diese Viecher ließen sogar den Mutigsten wie ein verschrecktes Kaninchen aussehen.
Die Biester kamen nun mit bedrohlichen Schritten auf ihn zu.
Lauf jetzt, verdammt
, rief ihm die Stimme diesmal zu. Endlich erwachte er aus seiner Starre. Er drehte sich um und rannte los. Leider kam er nicht weit, denn er hatte nicht darauf geachtet wohin er lief. So kam es, dass er mit der Mondscheintänzerin zusammenstieß - Gott sei Dank, sie lebte noch - und sie mit voller Wucht zu Boden warf. Er selbst konnte sich gerade noch so auffangen. Perplex schaute er zu ihr runter. Sie erwiderte mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Blick. Kaum merklich
schüttelte Alex den Kopf, rappelte sich auf und half dann ihr wieder auf die Beine zu kommen.
"Komm, wir müssen hier weg, bevor die Viecher uns noch einholen", meinte er und nahm ihre Hand.
Sie nickte zaghaft. Doch genau als sie loslaufen wollten, spürte er einen Lufthauch vorbeiziehen und kurz darauf erklang ein merkwürdiges Geräusch. So als ob ein fester Stoff auseinander gerissen wurde. Blut spritzte in alle Himmelrichtungen. Auch er bekam eine Menge ab. Sein helles T - Shirt färbte sich binnen weniger Sekunden dunkelrot. Das Gesicht war von etlichen Tropfen übersät. Schmale Rinnsale liefen ihm von seinen Armen herab und tropften auf den Boden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das hautlose Wesen an. An den Haaren hielt es den Kopf der jungen Frau. Ihr Körper sackte wie in Zeitlupe in sich zusammen.
Alex war geschockt. Sein Herz hämmerte fast schmerzhaft gegen seine Brust. Dieses hässliche Wesen hatte die arme Tänzerin getötet. Ihr einfach den Kopf mit seinen krallenartigen Händen abgerissen und nun grinste es ihn hämisch an. In seinen Augen tanzte der Wahnsinn. Diese Tat zeugte nicht nur von äußerster Brutalität, sondern auch von übernatürlicher Kraft und Schnelligkeit. Wie sonst hätte es so schnell bei ihnen sein und dann den Kopf abtrennen können? Oder gab es etwa drei Wesen?
Eines erschütterte Alex aber noch mehr als diese Handlung. Nämlich das vertraute Gefühl mit Blut besudelt zu werden. Warum kam es ihm so bekannt vor? Was hatte erlebt, woran er sich aber nicht mehr erinnerte?
Lauf,
rief die Stimme ihm wieder zu. Ohne es wirklich zu registrieren setzte er sich in Bewegung.
Er hetzte durch den Wald und bekam an Armen und Beinen Schnittwunden der Dornenbüsche ab. Doch es war ihm egal, er spürte es nicht einmal. Er wollte nur noch nach Hause, weg von den hautlosen Kreaturen..
1
Luisa wachte auf und fühlte sich wie überfahren. Viel zu lange hatte sie mit ihrem besten Freund Massimo telefoniert.
Langsam, noch ziemlich verschlafen setzte sie sich auf, nahm die Fernbedienung der Stereoanlage in die Hand und schaltete diese ein. Ihr Zimmer wurde von der wunderschönen Stimme Amy Lees von Evanescence durchflutet.
Sie rutschte zur Bettkante und stand auf. Wirklich Lust auf die Schule hatte sie nicht. Besonders weil sie heute zwei Stunden mit ihren verhassten Fächern Mathe und Physik hatte. Das waren Fächer, wofür sie Morde begehen würde, nur um bei diesen nicht mitmachen zu müssen. Es war ja nicht so, dass sie darin schlecht war - es hielt sich im Mittelfeld -, sie mochte einfach nur nicht den Umgang mit Zahlen.
Luisa ging zu ihrem Kleiderschrank und suchte sich Kleidung für die Schule heraus. Dadurch, dass sie manchmal recht unschlüssig war, was sie anziehen sollte, geriet sie öfter mit der Zeit aneinander. Leider verlor sie den Kampf immer. Ihre älteren Zwillingschwestern waren da schon organisierter. Sie legten sich am Vorabend Sachen für den nächsten Tag heraus. Aber mal davon abgesehen, dass die beiden mindesten zwei Stunden im Bad brauchten. Einmal hatte sie das ebenfalls ausprobiert, doch für sie war das nichts. Denn im Endeffekt zog sie etwas anderes an.
Nun ging sie ins Bad und duschte erst einmal ausgiebig. Das angenehme Wasser auf ihrer Haut erfrischte sie, sodass ihre Lebensgeister erwachten. Es war ganz praktisch sein eigenes Reich mit angrenzendem Badezimmer unter dem Dach des Hauses zu haben. Besonders wenn man noch zwei ältere Geschwister hatte, die extrem zickig und eitel waren.
Luisa konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie Mordpläne gegen die beiden gehegt hatte. In die Tat umgesetzt hatte sie diese aber nie. Sie wollte ja schließlich nicht wegen denen ins Gefängnis kommen. Obwohl sie sich eigentlich nicht sicher war, ob sie dafür wirklich in den Knast kommen würde. Denn sie fand, dass sie der Welt einen Gefallen täte, wenn sie ihre Schwester um die Ecke brächte. Tief in ihrem Herzen hatte sie Nathalie und Sophie natürlich lieb, zugeben würde sie das aber niemals. Nicht mal unter Folter. Stattdessen schrieb sie Horrorkurzgeschichten über sie. So konnte sie am besten ihren Ärger freien Lauf lassen.
Als Luisa mit dem Duschen fertig war, trocknete sie sich ab und zog sich an. Ihre langen, gewellten Haare föhnte sie und ließ sie als geflochtenen Zopf über die Schulter fallen. Danach ging sie zurück ins Zimmer schaltete die Anlage aus, zog sich ihre schwarze Strickjacke an, setzte den Rucksack auf und verließ das Zimmer.
Auf den Weg hörte sie ihre Schwestern wegen irgendetwas kichern. Ihr Lachen hörte sich wie das von den Hyänen aus "der König der Löwen" an. Wie schade das war, dass einzige was sie an dem Zeichentrickfilm gemocht hatte. Nun würde es ihr Albträume bescheren.
Luisa ließ ein Seufzer erklingen und betrat mit griesgrämigem Gesicht die Küche. Ihre Mutter Zuzanna saß am weiß - grünen Küchentisch und vor ihr lag eine Zeitschrift, in der sie ein Kreuzworträtsel löste. In der linken Hand hielt sie ihren Kaffeebecher fest, den sie ein wenig Hin und Her drehte.
Lächelnd schaute sie auf, als Luisa sich an den Tisch setzte. "Na Schätzchen, alles klar bei dir?" Den polnischen Akzent ihrer Mutter mochte sie gern, sie fand es schade, dass sie selbst keinen besaß.
"Bis jetzt noch", murmelte sie und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
Zuzanna nickte wissend und musterte sie dann amüsiert. "Bist du auf der Flucht?" Ihre Tochter hatte sich mit samt dem Rucksack auf den Stuhl gesetzt.
"Wenn die Hyänen kommen, schon", murrte Luisa und fixierte mit mürrischem Blick die Küchentür, wo sich mit etwas Abstand die Treppe befand. Bei, der jeden Moment ihre Schwestern herunter kommen konnten.
Zuzanna lachte. "Heute sind sie wenigstens Hyänen, gestern waren sie noch sabbernde Zombies. Du hast deine Schwestern aber wieder lieb."
"Das sind sie immer noch. Hast du sie eben nicht lachen gehört?"
Ihre Mutter schüttelte noch immer lachend den Kopf. Der Streit ihrer Töchter war stets sehr amüsant, einschreiten brauchte sie aber nicht, denn sie wusste, dass das Wortgefecht nicht auswarten würde, handgreiflich würden sie nicht werden.
“Egal, Themawechsel. Schläft Papa noch oder ist er schon wieder arbeiten?”
“Weder noch. Er war überhaupt noch nicht zu Hause gewesen. Hat sich wohl die Nacht wieder mit einem Buch um die Ohren geschlagen”, vermutete ihre Mutter und nippte an ihrem Kaffeebecher.
Luisas Vater Raphael war ein angesehener Buchlektor und Übersetzer bei dem berühmten Buchverlag Heyne. Da sie selbst Kurzgeschichten schrieb, war sie sehr stolz auf die Arbeit ihrer Eltern, auch wenn die beiden nicht immer viel Zeit hatten. Ihre Mutter war Buchagentin und brachte ‘No-Name-Autoren’ mit ihren Büchern zu Verlagen, die auf Nummer sicher gehen wollten. Denn es gab genügend Verlage die Unsummen an Geld verlangten. Die aber ein normal Verdiener gar nicht aufbringen konnte, deshalb waren diese Unternehmen für Luisa auch Abzocker. Klar die Druckkosten, die dabei entstanden, waren hoch, auch die damit verbundene Werbung, doch wenn man nicht das nötige Geld als Buchverlag dafür besaß, dann sollte man das Herausbringen von Büchern lassen und nicht ahnungslosen Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Leider gab es auch genügend Buchagenten, die ebenfalls nicht mit offenen Karten gegenüber ihren Schützlingen spielten. Zuzanna konnte deswegen immer richtig wütend werden.
Die Kurzgeschichten die Luisa selbst verfasste, kannten ihre Eltern noch gar nicht, bis jetzt war sie sich auch noch nicht sicher, ob sie ihnen diese je zeigen würde.
“Ach so. Mal sehen, ob ich ihn nachher ausquetschen kann, wenn ich ihn sehen sollte. Möchte gern wissen, was es diesmal für ein Buch war”, grinste Luisa spitzbübisch. Raphael Mertens war verschwiegen wie ein Grab, doch seine Tochter wusste genau, wie sie ihn um den Finger wickeln konnte.
Zuzanna verdrehte lächelnd die Augen. “Das war klar.”
In der zweiten Etage des Hauses klappte eine Tür zu. Aufgeregte Plauderei war zu hören und Schritte, die die Treppe nach unten folgten. Gleichzeitig läutete es an der Haustür. Wie ein geölter Blitz sprang Luisa von ihrem Stuhl auf und wäre fast mit ihrem Rucksack hängen geblieben.
“Ich muss los, die hirnlosen Hyänen kommen und meine Rettung steht vor der Tür”, gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und stürmte aus der Küche.
“Ist gut, Süße. Bestell' den hübschen Jungs und der süßen Kate schöne Grüße von mir!”, rief Zuzanna ihrer Tochter nach.
Diese riss die Tür auf tat zwei große Schritte nach draußen und ließ sie dann zu fallen.Massimo und Marc beobachteten fast jeden Morgen dieses kleine Schauspiel amüsiert.
“Na Kleene, biste wieder auf der Flucht?”, lachte Marc.
“Ja”, murmelte Luisa, begrüßte die beiden jungen Männer mit einer raschen Umarmung und stieg dann ohne ein weiteres Wort in Marcs Auto ein. Dieser musste nur noch mehr lachen.
“Ach Isa, piccolo
Bratwurst, du amüsierst mich immer wieder. So schlimm sind doch Nathalie und Sophie gar nicht”, stieg er bei der Fahrerseite ein. Massimo schüttelte schmunzelnd den Kopf und stieg hinten bei Luisa mit ein.
“Schön das Ich dich erheitere, Bockwurst”, brummte sie und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. “Du wohnst ja auch nicht mit ihnen zusammen und musst sie seit sechzehn Jahren ertragen!”
“Ich hab ‘ne Bockwurst, bin aber keine”, ärgerte er sie weiter.
“Bruderherz, hör auf sie zu ärgern, sonst kommst du demnächst noch in ihren Kurzgeschichten vor”, meinte Massimo. Marc war der drei Jahre älterer Bruder von ihm, und wie man unschwer erkennen konnte, war der Ältere auch der Frechere. Er war hochgewachsen, Massimo war etwas kleiner. Beide hatten schwarzes kurzes Haar, wobei sich die Frisuren unterschieden. Massimos waren glatt und sein Pony fiel ihm lässig in die Stirn. Marc stand zurzeit auf den Strubbellook. Ihre Augenfarbe war hellbraun und sie hatten als Besonderheit feine, blitzartige Linien darin. Ziemlich ungewöhnlich für Menschen, doch Luisa hatte sich daran gewöhnt. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass die Blitze eine hypnotische Wirkung hatten. Ihre Körperstatur war sportlich und ihre Bewegungen waren von unnatürlicher Anmut. Luisa fand dass sie neben den beiden immer, wie ein Bauerntrampel aussah. Kein Wunder, warum die Mädchen bei ihnen Schlange standen.
“Dann mache ich doch erst recht weiter, vielleicht werde ich ja berühmt”, lachte Marc wieder.
“Ja, als Leiche machst du dich bestimmt gut”, knurrte sie.
Marc drehte sich zu ihr um und setzte ein verängstigtes Gesicht auf. “A-a-aber Luisa, d-d-das kannst du doch nicht machen. Wie gemein du bist.”
Luisa verdrehte die Augen. “Hör auf zu sabbeln und fahr endlich los!”
Fast wie auf Befehl startete Marc den Motor und fuhr los. “Auf nach Alex, dem alten Schweinehund!”
Vor dem großen Einfamilienhaus hielt er an und hupte zweimal, damit Alex mit seiner kleinen Schwester Kate raus kam. Sie war die beste Freundin von Luisa und Massimo.
“Topal, Abholservice ist da!”, rief er aus dem geöffneten Autofenster.
“Wenn jetzt nicht alle in dieser Straße wach sind, sind die Leute hier entweder taub oder tot”, bemerkte die Blonde und seufzte.
“Tja, so deckt man neuerdings Morde auf, kleine Isa, noch nicht gewusst?”, drehte Marc sich zu ihr um und grinste sie breit an.
“Wenn du Mordermittler wärst und ich die Leiche, wäre ich freiwillig wieder auferstanden!”
“Schade, du wärst bestimmt eine hübsche Leiche”, streckte er ihr die Zunge raus.
“Aber nicht so hübsch wie du”, konterte sie und zeigte ihm den Mittelfinger.
“Könntet ihr Mal langsam aufhören, von Leichen zu reden? Da vorn steht schon ein Polizeiauto”, mischte sich Massimo mit ein und schaute auf das silber- blaue Polizeiauto drei Häuser weiter.
“Yeah, Action im Pappelweg!”, freute sich Marc und klatschte in die Hände.
“Das glaubst auch nur du. Als ob hier irgendetwas Weltbewegendes passieren würde. Schon vergessen? Wir wohnen in der unspektakulärsten Stadt Deutschlands! Die sind bestimmt nur wegen Ruhestörung oder so ´n anderen Scheiß hier”, meinte Luisa und schaute desinteressiert zu dem Haus, vor dem das Auto parkte.
Marc seufzte. “Isa sei doch mal nicht so pessimistisch. Sei positiv und hoffe das sich die Frankowskis in die Flicken bekommen hatten und dann gegenseitig kalt gemacht haben”, fingen seine Augen an zu leuchten.
“Familienmord oder wie?”, murmelte sie und runzelte nachdenklich die Stirn. Wenn das wirklich so wäre, wäre Gardelegen Gesprächsthema Nummer eins in den Nachrichten, aber mal wieder negativ.
Marc nickte eifrig mit dem Kopf. “Ja.”
Massimo schüttelte verständnislos, wegen dem Gesprächsthema der beiden, den Kopf. “Habt ihr zwei ‘nen Knall? Wollt ihr unbedingt Mord und Totschlag und Leichen haben?”
Der Ältere hob den Zeigefinger und bewegte diesen hin und her. “No, no fratellino, deine Fragestellung war falsch, nicht haben, sondern sehen.”
“Und wozu? Hast du irgendwie ein Fetisch oder so?”
“Nö, aber als angehender Rechtsmediziner ist es doch nur vom Vorteil, wenn ich schon mal ein paar Leichen sehe, nicht dass ich nachher in der Uni abklappe und merke der Beruf ist nix für mich”, grinste er.
“Als ob die dich da rein lassen würden.”
“Ach, probieren geht über studieren”, grinste er noch immer.
Massimo seufzte und schüttelte ein zweites Mal den Kopf, sagte aber nichts mehr. Manchmal fand er seinen Bruder merkwürdig …
Aus dem Einfamilienhaus kamen endlich die erwarteten Personen heraus. Alex hatte ein breites Grinsen auf den Lippen, doch als er das Polizeiauto sah, blieb er stehen und runzelte verwirrt die Stirn. Man brauchte kein Gedankenleser zu sein, um zu wissen, was er dachte. Was um Himmelswillen wollten die Bullen so früh am Morgen im Pappelweg? Seine intensiven dunkelblauen Augen leuchteten in der Morgensonne, er wandte den Blick ab und ging weiter. Kate ging ihrem Bruder hinter her und nahm das alles gar nicht wahr, sie starrte ausdruckslos vor sich hin. Fast monoton öffnete sie die Autotür von Marcs Wagen und setzte sich neben Massimo. Ihre Freunde wussten, dass man sie jetzt am besten noch in Ruhe lassen sollte, sie war noch nicht ganz wach. Immerhin hatte sie ihre hellbraunen, schulterlangen Haare gekämmt und sich angezogen. Es gab nämlich schon mal einen Vorfall indem sie im Schlafanzug gekleidet und zerzausten Haaren in die Schule wollte.
“Morjän!”, begrüßte Alex alle Anwesenden im Auto mit einem Grinsen, dabei stellte er seinen Rucksack auf den Boden zwischen seinen Beinen ab.
“Du hast es also durchgezogen, was?”, grinste Marc zurück und schaute bewusst auf Alex’ Haare. Auch wenn sein bester Freund so fröhlich wie immer aussah, spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch er würde ihn jetzt nicht ausquetschen, er würde warten bist der Neuseeländer von selbst anfing zu erzählen. Was so gut wie immer der Fall war.
“Jepp, sieht geil aus, wa?” Alex hatte sich am gestrigen Nachmittag bei einem Friseur seine Traumfrisur machen lassen. Es war eine Art Rockabillyfrisur, nur dass er nicht so eine Haartolle hatte wie Elvis und auch keine Pomade. Seine Seitenhaare waren kurz rasiert, bis auf ein paar Zentimeter und sein Pony und Deckhaar wurden toupiert und nach hinten gekämmt. Dadurch, dass er aber schon von Natur aus dichtes Haar hatte, brauchte er wenig, bis gar nicht toupieren. Alles im allem wirkte diese Frisur dennoch lässig und sie stand ihm sehr gut.
“Jau, wollen wir heiraten?”, wuschelte Marc ihm durchs Haar.
“Ey Mann! Meine Frisur, ick hab doch die Haare schön”, lachte er und strich sich die Haare wieder zu recht.
“Themawechsel. Gib’s zu, die Bullen sind wegen dir hier. Du hast irgendwo viele, viele bunte Pillen versteckt und um zu verhindern, dass die Bullen darauf kommen, haste sie zu den Frankowskis geschickt”, meinte Marc und startete den Motor.
“Ick?”, schaute Alex ihn fragend an.
“Ja”, nickte er bestätigend.
“Ick?”
“Yo”
“Ick?”
Marc nickte wieder.
“Woher haste dit denn jewusst?”, tat er überrascht.
“Tyahahaha, ich bin Gott und weiß alles”, grinste Marc. Alex schüttelte lachend den Kopf.
“Oh man, ich sitz' hier mit zwei Kloppies und einem Mädel im Auto, das mit offenen Augen schläft, wie toll der Morgen doch beginnt”, seufzte Luisa und lehnte ihren Kopf an Massimos Schulter.
“He, und was ist mit mir?”, schaute er auf sie runter.
“Du bist manchmal unser Spießer”, öffnete sie ihre hübschen grünen Augen.
“Spießer, wie nett”, murmelte er.
“Jepp, finde ich auch”, schloss sie wieder die Augen und lächelte dabei.
Massimo schüttelte grinsend den Kopf und betrachtete kurz seine beste Freundin. Sie hatte das süße und unschuldige Aussehen eines Engels, aber das giftige und mörderische Mundwerk des Teufels.
Marc bog nun von der Schillerstraße in die Straße der Freundschaft, hielt kurz an einem Zebrastreifen, der in der Nähe der Otto- Nuschke- Straße war, ließ ein paar Schulkinder über die Straße und fuhr dann weiter bis zum Geschwister Scholl Gymnasium. Dort brachte er wieder das Auto zum Stehen und Luisa, Massimo und Kate stiegen aus. Das blonde Mädchen hatte ein Gesicht aufgesetzt, bei dem man denken konnte, ihr stand eine Hinrichtung bevor. Kates Mine war noch immer ausdruckslos, mal sehen, wann ihre Lebensgeister diesmal erwachen würden. Massimo war, der einzige der einen normalen Gesichtsausdruck hatte. Marc war wie immer amüsiert. Man konnte sehen, dass er überlegte, was für einen Spruch er wieder raus hauen könnte.
Sein Bruder bemerkte es und schüttelte den Kopf. “Marc sag nichts. Halt einfach die Klappe und fahr!”
Marc verzog das Gesicht zu einer beleidigten Grimasse und maulte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.
“Ey maulende Myrte, fahr los. Ick wollt eigentlich heute noch in Magdeburg ankommen und nicht erst nächstes Jahr um drei”, grinste Alex.
“Ja, ja Sklaventreiber”, startete er den Motor und fuhr wieder los. Das Dreiergespann ging ins Schulgebäude.
2
„Porca miseria!
Was ist denn heute in Magdeburg los? Jede Ampel ist rot. Ist hier heute 'Tag der roten Ampel'?“, regte sich Marc auf, als sie an der vierten Ampel anhalten mussten. Sie waren gerade auf den Weg zu der Otto von Guericke Universität, an der sie seit einem Jahr studierten. Marc hatte Humanmedizin gewählt, weil er Rechtsmediziner werden wollte. Alex war ein begeisterter Filmemacher und eigentlich strebte er den Beruf des Regisseurs und Kameramanns an, doch leider hatte er die Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule in Ludwigsburg verpasst. Da man aber als Regisseur eine gute Menschenkenntnis brauchte, wollte er diese mit einem Psychologiestudium verbessern und vertiefen.
„Jede Stadt hat so ihre Macken“, grinste Alex und merkte selbst, wie fern sich seine Stimme anhörte. Die ganze Autofahrt über war er völlig in Gedanken versunken. Er musste an die Geschehnisse von vor fünf Tagen denken, die jedes Mal wie ein Film vor ihm abliefen, sobald er die Augen schloss. Niemanden hatte er von den Hautlosen, der getöteten Mondscheintänzerin oder den Überresten zweier Körper erzählt. Er wollte es einfach nur vergessen, auch wenn er wusste, dass es eigentlich ein Fehler war.
Marc schaute seinen besten Freund an und Alex spürte, wie dessen Blick sich tief in sein Inneres zu graben versuchte. „Äh ... wer von uns beiden studiert Psychologie?“
Er rollte mit den Augen. „Sag endlich was ...“ Er, wurde durch ein nerviges Quietschen unterbrochen. Langsam drehte er seinen Kopf in die Richtung der Windschutzscheibe und stieß dann einen Seufzer aus. „Nicht die schon wieder“, murmelte er und ließ die Fensterscheibe runter. Sie hatten Besuch von den Scheibenputzern bekommen.
Alex schnaubte und verkniff sich das Lachen.
„Fensterputzen?“, fragte der eine und grinste dümmlich, hatte aber schon die halbe Frontscheibe eingeschäumt.
„Nein, ich will nicht, dass ihr meine Fenster putzt. Das kann ich alleine!“
Der andere fing nun an, Alex' Seite einzuschäumen.
„Ich habe Nein gesagt. Kann es sein das ihr nur ein Wort auf Deutsch könnt, sonst aber nichts?“, fragte Marc.
Keine Antwort. Sie machten fröhlich mit ihrer Arbeit weiter.
„Hallo? Könnt ihr damit mal aufhören? Ihr sollt das lassen! Haut ab, grüßt die Hühner!“, fuhr er sie an.
„Und vergesst den Hahn nicht, sonst ist der beleidigt“, fügte Alex hinzu.
Marc warf ihm ein „Sehr hilfreich “- Blick zu und wandte sich wieder den Fensterputzern zu, die jetzt voller Dreistigkeit Geld für ihre nicht bestellte Arbeit verlangten.
„Ihr habt ja wohl was Falsches geraucht! Als ob ich euch für etwas Geld gebe, was ich nicht wollte! Sind wir hier bei wünsch dir was?“, zeigte er ihnen einen Vogel. Die Ampel schaltete sich wieder auf Grün. Doch gerade als Marc los fahren wollte, ertönte ein lauter Knall und etwas Schwarzes flog durch die Luft.
„Was war das denn?“, fragte Alex und schaute sich erschrocken um.
„Ich glaube vor uns ist gerade ein Unfall passiert“, vermutete Marc, schaltete das Warnblinklicht ein, schnallte sich ab und stieg aus. Alex tat es ihm nach. Sie waren beide die Ruhe selbst, was bei Alex etwas ungewöhnlich war, zwar hatte er ein Helfersyndrom, doch er neigte auch dazu, schnell impulsiv zu werden. Die Fensterputzer liefen vor Schreck zu einem Gebäude, entfernten sich aber nicht ganz von dem Unfallort.
Der Italiener schaute sich um und sah, dass jemand regungslos auf dem Bürgersteig lag. Er eilte zu seinem Kofferraum und seinen Erste Hilfe Koffer und ein Warndreieck heraus.
„Hier stell das mal auf!“, drückte er Alex das Dreieck in die Hand und rannte danach zu dem Gehweg.
Dort hockte er sich hin und musterte den Bewusstlosen. Es war eine Frau in einem Motorradanzug. Vorsichtig klappte er das Visier nach oben und sprach sie an. Doch sie reagierte nicht. Er öffnete zu erst den Kinnriemen und entfernte diesen danach. Dann kniete er sich hinter ihrem Kopf und zog sachte mit beiden Händen den Helm ab und stützte dabei den Kopf. Nachdem er den Helm vollständig entfernt hatte, legte er den Kopf sanft auf den Boden. Marc schaute sich nach Alex um, denn mit den herumstehenden Gaffern konnte er nichts anfangen. Er entdeckte ihn, ein paar Autos weiter vorn.
„Alex!“, rief Marc ihm zu.
Alex nickte und rannte zu ihm. Er hatte derweil, dass Warndreieck aufgestellt, den Rettungsdienst angerufen, die Polizei alarmiert und war zu den Unfallverursachern gegangen, um zu sehen, ob diese verletzt waren. Sie hatten Glück. Der Fahrer und seine Frau waren unversehrt, sie standen nur unter Schock.
„Hilf mir mal, um festzustellen, ob sie noch atmet“, meinte Marc, als der Neuseeländer bei ihm ankam. Er kniete sich seitlich neben der Verletzten, um Halswirbelsäule und Kopf zu stabilisieren.
„Und?“, fragte Alex gespannt.
„Sie atmet noch“, stellte Marc erleichtert fest. Nun brachten sie die Verletzte in eine stabile Seitenlage.
„Gibt es noch mehr Verletzte?“, fragte Marc Alex, während sie auf den Rettungswagen warteten.
„Nee, das Pärchen steht nur unter Schock. Sie haben den Unfall verursacht“, antwortete er und stand wieder auf. Als er sich die ganzen Gaffer anschaute, bekam er eine unbändige Wut in seinem Bauch.
„Das ist Kino, was? Soll ich euch vielleicht noch Popcorn besorgen und Cola?“, blaffte er die herumstehenden Leute an.
Marc schaute seinen besten Freund an und war froh das dieser wieder ganz der Alte war. Das vollkommen Ruhige wirkte irgendwie fast beunruhigender als der Unfall.
„Hier ist jemand bewusstlos, schwebt womöglich in Lebensgefahr, aber euch ist das scheißegal, Hauptsache ihr habt was zu gaffen, was? Zum Kotzen ist das!“, regte er sich weiter auf.
Plötzlich kam ein weiteres Auto angebraust mit dem Warndreieck. Der Fahrer bremste ab, doch es war zu spät, er fuhr direkt in Marcs Mercedes, den dieser zu seinem achtzehnten Geburtstag, von seinem Bruder Valentino, geschenkt bekommen hatte. Die Abbremsung hatte aber Schlimmeres verhindert, sonst hätte der Raser noch weitere Autos erwischt und wäre womöglich tot.
Alex schaffte es, gerade noch so von der Straße weg zu kommen, sonst wäre er nun Matsch.
Besorgt schaute er zu dem Fahrer. Was war mit ihm? Ging es ihm gut? Schnell rannten er und ein paar Leute, die wohl keine Gaffer mehr sein wollten, zu dem Auto hin. Doch Wut zierte ihre Gesichter, als der Fahrer aus dem Auto krabbelte, als wäre nichts gewesen.
Da aber die anderen schon auf den Mann einredeten, schluckte Alex seinen Frust runter und ging zu Marcs Wagen. Dieser hatte einen erheblichen Schaden erlitten. Er öffnete die Beifahrertür, holte seinen und Marcs Rucksack heraus und ging danach zurück Marc. Einen Augenblick später trafen endlich der Rettungswagen und das Polizeiauto ein.
3
Nach über einer Stunde Verspätung kamen Alex und Marc an der Universität, ihrem eigentlichen Zielort an. Sie mussten noch eine Zeugenaussage machen und den restlichen Weg zu Fuß dorthin gehen. Für Alex war es nicht weiter schlimm. Seine Vorlesung begann erst in ein paar Stunden, doch er wollte schon früher da sein, weil er etwas in der Bibliothek nachlesen wollte. Aber Marc hätte schon längst da sein sollen, denn er hatte wieder Praktikum und musste noch seine Papiere abholen. Er war bestimmt der Letzte unter seinen Kommilitonen.
Sie bogen in einem Gang ein und liefen Professor Lambrecht mit dem Marc einige Seminare und Vorlesungen hatte, in die Arme. Er war auch der stellvertretende Direktor der Universität.
“Herr Rubins, wo kommen Sie denn jetzt erst her?“, fragte dieser irritiert.
„Es tut mir leid. Wir wurden in einem Unfall verwickelt“, antwortete Marc.
„In einem Unfall?“, wiederholte Herr Lamprecht entsetzt. Der junge Italiener zeigte ihm die Bescheinigung von der Polizei, dass sie eine Zeugenaussage tätigen mussten.
„Na ja, nicht direkt. Ein paar Autos vor uns wurde eine Motorradfahrerin angefahren und schwer verletzt. Wir haben nur Erste Hilfe geleistet.“
„Nur Erste Hilfe. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es sein müsste“, lächelte Herr Lamprecht.
„Da haben Se recht. Den Gaffern hat heute Popcorn und Cola gefehlt“, stimmte Alex ihm zu.
„Beeilen Sie sich, dann sind Sie nicht der Letzte aus Ihrer Klasse, der sein Praktikum beginnt“, zwinkerte er ihm zu. „Nehmen Sie also wieder dieses Schreiben hier und geben Sie es wie gewohnt bei Direktor Doktor Linkmann ab.”
Marc nickte grinsend und nahm die Dokumente entgegen. “Danke.”
Alex setzte plötzlich ein trauriges Gesicht auf. “Marc, wie kannst du mich denn einfach so alleine lassen?”, dabei schniefte er.
“Oh, armer kleiner Alex, nicht traurig sein, Papa Marc ist doch nicht aus der Welt, der geht sich nur die Leichen anschauen”, tätschelte er seinem besten Freund den Kopf. Jedenfalls versuchte er es, es war nicht leicht an dessen Kopf zu kommen, denn dieser war mit seinen 1. 90 Metern ein halber Riese.
Professor Lambrecht musste wegen den beiden lachen. “Ihr Quatschköpfe!”
Dieser Professor war einer von Marcs Lieblingsprofessoren, er war ein freundlicher und humorvoller Mann Anfang 60.
“Tyahahaha, wer wenn nicht wir, Lampi?”, grinste er. “Gut ich werde dann mal los, vermisst mich nicht zu doll”, ging er Richtung Ausgang zurück.
4
Alex befand sich in der Universitätsbücherei und wollte ein wenig in den Büchern für das Fach angewandte Psychologie stöbern. Er fand ein Interessantes und setzte sich damit an einen der Tische. Doch er blätterte nur desinteressiert darin herum, er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Diese merkwürdigen Kreaturen von vor fünf Tagen kreisten in seinem Kopf herum. Die letzten Nächte konnte er deshalb nicht schlafen, er musste ständig an deren hässliche, stinkende Gestalt denken, an, dass was sie getan haben und an die Tänzerin. Er würde nie wieder in den Wald gehen, obwohl er dies immer gern getan hatte. Aber eigentlich müsste er dort noch mal hin, vielleicht konnte man diese Bestien ja irgendwie beseitigen. Alex konnte nicht zulassen, dass diese weiterhin in dem Wald ihr Unwesen trieben. Es gab so viele Waldspaziergänger und Jogger. Die Pilzzeit begann auch schon bald wieder. Er fragte sich wer wohl ihre Opfer in der Nacht waren und ob diese aus Gardelegen oder Umgebung stammten. Wenn diese Kreaturen nachts töteten, dann töteten sie bestimmt auch tagsüber, dass konnte und wollte er nicht zulassen, also musste er etwas unternehmen, aber nur was? Alex wusste ja nicht mal was das, für Wesen waren, geschweige denn, wo sie herkamen, also was sollte er dann unternehmen? Vielleicht sollte er doch Marc einweihen. Alleine hätte er gegen diese Viecher bestimmt keine Chance …
Er versuchte sich wieder auf das Buch zu konzentrieren, doch es gelang ihm nicht, immer wieder tauchten Szenarien aus der Nacht in seinem Kopf auf, es war wie ’täglich grüßt das Murmeltier’. Seufzend klappte Alex das Buch wieder zu und starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster. Was sollte er nun tun? Seine Eltern anrufen? Nee, er würde das schon allein hinbekommen, außerdem befanden sie sich gerade bei Ausgrabungen in Ägypten. Es war beschissen teuer bis nach dort zu telefonieren und das Netz war auch nicht gerade toll.
Der hochgewachsene junge Mann stand auf und stellte das Buch zurück in das Regal. Zwar wusste er noch immer nicht wirklich, was er tun sollte, doch rum sitzen und Däumchen drehen war auch nicht so das Wahre. Er beschloss, in die Stadtbibliothek von Magdeburg zu gehen. Vielleicht gab es dort Literatur über ungewöhnliche oder monströse Wesen. War eventuell unwahrscheinlich, doch hier in der Universitätsbibliothek würde er erst recht nichts finden. Er musste schon spezifischer suchen. Trotzdem schlenderte er durch die Reihen, in der Hoffnung doch auf ein passendes Buch zustoßen. Leider ohne Erfolg.
Alex verließ die Uni und fuhr mit der Straßenbahn zur Zentralbücherei am Breiten Weg 109. Sie war groß und ging über drei Stockwerke, da ließ sich doch bestimmt etwas finden. Voller Hoffnung und Tatendrang betrat er die Bücherei. Doch er wäre dumm, wenn er einfach auf gut Glück suchen würde, da würde er bis zum nächsten Morgen noch suchen, also sprach er einen Bibliothekaren an und fragte nach Lektüren über unheimliche, grausame Wesen, die auf Wahrheit basieren sollten. Der freundliche Mitarbeiter lotste ihn zu einigen hinteren Reihen, wo er fündig werden könnte. Warum standen eigentlich abnormale Dinge immer eher irgendwo hinten? Hatten die Leute Angst davor, dass die Lebewesen die sie beinhalteten, raus kamen? Es gab vieles merkwürdige und fantastische auf der Welt, das wusste Alex, er selbst gehörte definitiv dazu, aber das Wesen aus Büchern lebendig wurden, ganz sicher nicht.
Eine ganze Weile verbrachte er damit Regale und Bücher zu durchforsten auf der Suche nach den Hautlosen von der Nacht, doch er fand sie nicht. Nur Geschichten über Werwölfe und Vampire (kaum etwas stimmte, was über diese beiden Arten geschrieben wurde), Irrlichter, Poltergeister, Kobolde, Drachen, Hydra, Inkubus und Succubus, Kelpies, Trolle, Zyklopen, Golems, Zombies und andere angeblich unheimliche Wesen. Nichts aber über seine hässlichen Kreaturen. Toll, was sollte er jetzt tun? Die anderen restlichen Büchereien abklappern und auch die in Gardelegen? Darauf hatte er, wenn er ehrlich war, keine Lust. Wenn diese Bibliothek nichts hatte, warum sollten dann die anderen? Seufzend stand er auf und räumte den Bücherstapel, der sich in der Zwischenzeit angesammelt hatte in die Regale zurück.
Alex schaute auf die Uhr es war erst 11:34 Uhr, Marc hatte noch lange nicht Schluss. Also was machte er nun? Auf weitere Sucharbeiten in Bibliotheken hatte er kein Bock und lernen konnte er heute vergessen. Solange er nicht mit seinem besten Freund über die Erlebnisse gesprochen hatte, würde er sich auf nichts anderes konzentrieren können. Genervt verließ er wieder die Bücherei.
Texte: Die Studienfächer Jura und Astrologie werden nicht an der Otto von Guericke- Universität in Magdeburg angeboten, besonders nicht Astrologie, das ist nach wie vor ein Fernstudium das überwiegend nur im Internet angeboten wird, aber da ich (fast) Schriftstellerin bin, habe ich die dichterische Freiheit walten lassen und diese Fächer einfach hinzu gedichtet. ;)
Bildmaterialien: Coverbild ist von den vielen Seiten des Google. ;)
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Und hättest du den Ozean durchschwommen,
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne;
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst.
Johann Wolfgang von Goethe