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Prolog



Das Fieber seiner jungen Freundin wollte nicht sinken. Die ganze Fahrt über war es gestiegen. Es tat ihm Leid, sie so zu sehen. Vielleicht sollten seine Kumpels ja Recht behalten, dass sein Fehler - so nannten sie hinterrücks seine Begleiterin - ihre gemeinsame Reise nicht durchstehen würde. Damals waren ihm deren Ansichten egal; doch nun, da es eintreffen sollte, fing er an zu zweifeln. Bald müssten sie in Portland umsteigen, um weiter mit den Zug nach Boston zu fahren. „Schaffst du es noch bis zum Bahnhof?”, fragte er sie liebevoll. Dabei hielt er ihr eine halbvolle Plastikflasche mit Wasser hin. „Ich muss”, sagte sie schwach und versuchte ein zartes Lächeln aufzubringen, um ihren Freund zu beruhigen. „Gut”, er erwiderte ihres, in welches er sich schon vor einem Jahr verliebt hatte.

„Ich versuche jemanden aufzutreiben, der uns vielleicht helfen kann.” Behutsam legte er seine Hand auf ihren runden Bauch, der unnachgiebig ihr samtweißes Kleid in Mitleidenschaft zog, wie auch ihre übrigen Sachen. Aber er wollte sich nicht beschweren. „Wie geht es dem Baby?” „Ihr geht es gut. Sie tritt schon eine ganze Weile wie verrückt!” Mit leicht verschwitztem Haar lehnte sie sich wieder an das kühle Fenster, nachdem sie einen kleinen Schluck aus der Flasche genommen hatte. Es war schon lauwarm, weshalb es ihr nur eben so ihren unerbittlichen Durst nahm. Ihr ging es nicht gut. Doch sie wollte es durchstehen, ihm zu Liebe; der sich so viel Mühe gab, dass sie eine Familie werden konnten. Der seine Eigene verlassen hatte, weil sie nicht von ihnen akzeptiert wurde.

Sein Leben hätte sie zerstört. Seine Zukunft ruiniert. Das hatten sie ihr damals an den Kopf geworfen. Sie boten ihr Geld an, viel Geld; damit sie abtreiben ließ. Doch das wollte sie nicht. Es war doch auch ihr Kind. Sie hatte doch auch ein Recht darauf, oder nicht? Sie wusste, dass sie Beide zu jung waren, zu naiv, um zu glauben, dass sie mit ihren sechzehn Jahren allein von so weit von Zuhause weg leben konnten. Aber ihre Liebe zueinander war doch groß genug, um diese Reise zu bestehen, nicht? Eine Träumerin war sie. Das sagten alle, die sie kannten. Sie würde nur mit ihrer Nase in Büchern stecken, während ihr Leben an ihr vorbeizog. Dass sie überhaupt einen Freund fand, grenzte schon an ein Wunder. So sagten es jedenfalls ihre ehemaligen Freundinnen.

Sie fanden es witzig, aber sie hatte daraufhin allein auf der Mädchentoilette geweint. Den Vater ihres gemeinsamen Ungeborenen hatte sie während ihres Praktikums in einer alten Bibliothek getroffen. Er suchte ein verschollenes Buch für seine Großmutter. Es war ein Kurzroman von einem unbekannten, jungen Autor, der schon vor über sechzig Jahren verstorben war. Seine Mary - so nannte er sie immer - solle ihn gekannt haben und das Buch solle ihr gewidmet sein. Sie erzählte ihm, dass sie einst dieses Buch besessen hatte. Aber bei einem Brand in der Schule, in der sie in ihrer Jugend unterrichtet hatte, war es vernichtet worden. Ihr Fehler war es gewesen, das sie es ständig bei sich getragen hatte. Jahrelang suchte sie nach einem weiteren Exemplar, aber es war vergebens.

Bevor sie die Augen für immer vor dieser Welt verschloss, wollte sie noch einmal etwas aus diesem Buch vorgelesen haben. Da ihr Enkel sie so sehr liebte und achtete, wollte er ihr diesen scheinbar unmöglichen Wunsch erfüllen. Dies war der Moment, an dem sie ihn kennen lernte und ihre kleine Suche nach diesem Schatz begann. Sie trafen sich jeden Tag, durchforsteten das Internet, besuchten viele Bibliotheken und klapperten Hunderte von Flohmärkten ab. Nach unendlichen drei Monaten war ihre gemeinsame Suche leider schon vorbei. Sie fanden den verschollenen Schatz mit dem seltsamen Titel »Wir waren hier«. Daraufhin verabschiedeten sie sich voneinander. Doch als er das Geschenk seiner Mary überreichen wollte, war es zu spät.

Sie war an dem Morgen verstorben, an dem er sie zum letzten Mal sprach. Er wollte nur schnell das Buch abholen und sofort wieder zurück, um ihr daraus vorzulesen. Seine zerbrechliche Liebe zu seiner kleinen Bibliothekarin lenkte ihn von seinem Vorhaben ab. Er kam zu spät heim. Seiner Großmutter konnte er nur noch von ihrem Sterbebett aus vorlesen. Als sie dachte, dass sie wieder allein sein würde, wurde das Mädchen, das Bücher so sehr liebte, einen Monat nach diesem Ereignis mit einem neuen Leben unter ihrem Herzen belohnt. So fingen ihre Probleme mit ihrer und seiner Familie an. Beider Familien waren nicht bereit es zu akzeptieren. Nur ihr Ritter - wie sie ihn nur aus Büchern kannte - war bereit sie mitzunehmen und ein Leben in einer anderen Welt aufzubauen.

Ohne groß darüber nachzudenken nahmen sie ihr weniges Hab und Gut und begannen eine weitere Suche, die sie nach Boston führen sollte. Der Ort, an dem sie neu anfangen wollten. Als sie ihrem Freund nachsah, rannen ihr heiße Tränen über die Wangen, die einige Spuren hinterließen. Denn seit geraumer Zeit spürte sie kein kleines Leben, das sie so sehr lieb gewonnen hatte, mehr in ihrem Leib. „Oh bitte...”, war ihr letzter Wunsch auf dieser Reise, die doch zu einem schönen Traum werden sollte. Lange ließ sie ihre Augen vor der Wahrheit verschlossen, bis sie sanft aus ihrem Traum gerissen wurde. Sie sah nicht sofort auf, da sie keine Angst verspürte. Wie konnte sie denn auch? Wenn es ihr Ritter war, der sie zurückholte. Das Erste was sie sah, waren seine blau-grünen Augen, in der eine Sonne ihr Unwesen trieb. Müde richtete sie sich etwas auf, um ihn anzuhören.

„Liebes, ich habe jemanden gefunden, der dir helfen kann. Er ist Arzt.” Seine Erleichterung sah man ihm immer noch an. Nur langsam richtete sich ihr Blick von ihrem Geliebten zu der Person, die neben ihm stand. Es war ein Mann, der groß gewachsen war. Seine festen Gesichtszüge und markanten Wangenknochen waren ein Zeichen dafür, dass er schon länger auf dieser Welt verweilte. Er war aber nicht alt. Nein. Er schien in den besten Jahren seines Lebens zu sein. Dieser Fremde war sehr gut aussehend, seine gefährlichen grauen Augen verleiteten einen schon zu den unanständigsten Sünden. Er schien kein Einheimischer zu sein.
Seine Haut hatte einen natürlichen, dunklen Ton, der durch die kalte Jahreszeit blass erschien und etwas Glanz verloren hatte. Aber das sollte nicht heißen, dass sein ganzes Auftreten nicht weniger prachtvoll erschien.

Er reichte ihr seine Hand, kurz nachdem er sie von der Last des Handschuhs befreit hatte. Mit einem Lächeln auf dem Lippen nahm sie seine Gäste an. Leichter Zweifeln überfiel sie plötzlich. Aber sie verdrängte diesen Gedanken wieder schnell. Wie konnte sie nur so gemein sein, wenn er doch nur helfen wollte. Erschöpft versuchte sie ihr Unbehagen zu vertreiben. „Wie geht es Ihnen?”, fragte er mit so einer dunklen und rauen Stimme, die nicht zu seinem südländischen Aussehen passen wollte. Sie war wohl nur da zu da, um einem Angst zu machen. „Nicht sehr gut. Ich mache mir Sorgen um das Baby”, sagte sie ehrlich. Obwohl sie wusste, dass ihr Ritter leicht zusammenzuckte; da er nicht über das ganze Ausmaß ihres Zustandes Bescheid wusste. Der unheimliche gut aussehende Mann; der von sich selbst behauptete Arzt zu sein; setzte sich neben ihr hin und legte ihren Mantel zur Seite, um ihren Bauch freizulegen.

Die junge Dame konnte es sich nicht erklären; aber sie hatte das Gefühl, als würde er sie entblößen wollen. Ihre Wangen erröteten leicht, was durch ihr Fieber nicht zu erkennen war. Sie ließ ihn gewähren, da er nur ihren Bauch abtasten wollte. Ihr Freund beobachtete alles. Er schien das Gleiche zu fühlen wie sie. Seine Züge zeigten leichte Spuren der Eifersucht. Sie kannte diesen Ausdruck. Er zeigte ihn öfter, wenn andere Jungs in ihrer Nähe waren. Seine Ängste waren auch begründet. Seine Liebe war von einer außergewöhnlichen Schönheit gesegnet, die man nur aus den angesagtesten Zeitschriften kannte. Kohlen schwarze Locken legten sich über ihre Schultern und schmeichelten ihr zartes Gesicht. Das Meer spielte sich in ihren Augen wieder. Nur er konnte sich glücklich schätzen, seinen Namen auf ihren Lippen zu haben. Von all dessen wusste ihr Helfer nichts - aber er schien mehr über den Zustand des Kindes zu wissen als sie.

Seine Züge hatte sich kein bisschen verändert, aber sie schienen alles zu wissen. „Was ist mit dem Kind?”, wollte der baldige Vater jetzt wissen. Seine Sorge schwankte in Ungeduld über. Der geheimnisvolle Fremde stand auf, richtete seinen Mantel und zog behutsam seinen schwarzen Handschuh wieder an, bevor seine Stimme das Unheil aussprach. „Sie sollten sofort, gleich bei der nächsten Haltestelle aussteigen und ein Krankenhaus aufsuchen.” Mitleid suchte man in diesem Satz vergebens. „Ist es so schlimm?” Nur mit weit aufgerissenen Augen und hilflosem Klang in der Stimme ihres Freundes konnte diese Frage in den Raum gestellt werden. „Ich werde auch aussteigen und sie Beide begleiten.” Ohne auch nur zu antworten, bestimmte er ihre Zukunft. „Mach dir keine Sorgen. Dem Baby geht es bestimmt gut. Du bist schließlich Ihr Vater. Sie hat deinen Willen.”

Mit einem Lächeln wollte sie den Schatten, der über ihrer kleinen Familie schwebte, vertreiben. Dabei war sie innerlich von einer solchen Angst erfasst, dass sie wie gelähmt war. Dank ihrer Hoffnung konnte sie auch ihrem Liebsten, ein wenig von seiner Furcht nehmen. „Gut.” Sein Ausdruck wurde, wie schon zuvor, wieder sanft. „Wir steigen bei der Nächsten aus. Ich werde unsere Sachen zusammenpacken. Halte noch etwas durch, ja?” „Ich muss”, war ihre Antwort, welches bald zu einem Gebet werden sollte. Der Zug hielt, wie erwartet, bei der nächsten Haltestelle an. Mit vorsichtigen Schritten stieg sie die Stufen herab; in der Hand die ihres Liebsten, der ihrem Leben ständig Halt gab. Der geheimnisvolle Mann war bereits ausgestiegen und wartete auf die Reisenden. Durch die Schatten der späten Abendstunde wurde dem sich liebenden Paar sein verhängnisvolles Lächeln verwehrt.

Die Kälte dieses Winters war seit der großen Himmelswende von vor zwanzig Jahren wieder einmal erbarmungslos. Die Menschen gingen nur noch selten auf die Straße. So war es auch dieses Mal. Niemand wusste was damals geschah, aber der Himmel hatte sich auf der ganzen Welt verändert. Ein bunter Schleier war über den ganzen Horizont ausgebreitet. Er ähnelte dem des Polarlichtes. Nur das dieser das ganze Jahr über präsent war. Das Wetter hatte sich drastisch verändert. Wenn es kalt wurde, dann war es auch kalt. Selbst der Nordpol wurde noch gemeiner. Und im Sommer wurde es so heiß, dass viele es nicht durchstanden und ihre letzten Augenblick verlebten. Im Frühling und im Herbst wurden die Menschen von grausigen Insektenplagen heimgesucht. Aber wenigstens war das Wetter noch halbwegs ertragbar. Heutzutage freute sich niemand mehr über diesen Traum in Weiß auf den Straßen.

Nur sie. Das Büchermädchen blieb kurz stehen, atmete die kühle Luft tief ein, schloss die Augen und ließ den sanften Zauber auf sich wirken. „Es ist wunderschön”, lächelte sie dem Himmel trotzig entgegen. „Ja, das ist es”, war alles was ihr Geliebter dazu sagte. Ihr scheinbarer Retter konnte diese Menschen nicht verstehen. Er sah keine Schönheit. Das Einzige was ihm in den Sinn kam, war, dass er sich den Hintern in dieser grässlichen Kälte abfror. „Kommen Sie! Dafür ist keine Zeit!” Mit schnellen Schritten folgten sie dem Unbekannten, der sie in eine verlassene Seitenstraße führte. Der hohe Schnee knirschte unter ihren Füßen, welches einem an den Nerven zerrte. Aber es konnte ihr gefallen. Es war wie das Naschen von Omas Schokoladenkeksen. Sie wurde unsanft von ihrem Wunschtraum gerissen, als ihr Freund stehen blieb.

„Wo gehen sie hin? Dieser Weg führt nicht in die Hauptstadt. Wenn wir durch die Unterführung gehen, dann sind wir schneller in der Stadt.” „Du scheinst wohl schon mal hier gewesen zu sein.” Der riesenhafte Mann grinste in sich hinein. Wieder einmal war ihm seine Beute in die Falle getappt. Es belustigte ihn immer wieder aufs Neue, wie leichtgläubig doch die Menschen waren. Langsam, mit einer unheimlichen, geschmeidigen Bewegung drehte er sich zu seinen Opfern um. In seinem Gesicht war alles Menschliche verschwunden. Der Ritter nahm seine Geliebte hinter sich und hielt einen Arm schützend vor sie. Er sagte nichts. Aber das brauchte er auch nicht. Die Angst, die er verspürte, war greifbar. „Was glaubst Du, was jetzt geschieht?”, wollte die drohende Gefahr wissen. Dabei lächelte er angsteinflößend und zeigte seine spitzen Zähne. Die nur einem Tier gehören konnten.

„Lauf!!” War alles was sie noch hörte, als ihr Traum sein tragisches Ende nahm. Mit bloßer Gewalt presste die Gestalt ihre klauenhafte Hand um das Gesicht ihres Geliebten und drohte ihm, das Leben aus dem Leibe zu jagen. Er schlug mit seinen tierähnlichen Fangzähnen eine Wunde in den Hals seiner Beute und saugte ihm das Blut aus. Hilflos sah sie das Schauspiel mit an. Der Schrei, der ihr die Kehle zuschnürte, hielt sich in Schweigen. Als das Licht vor seinen Augen verschwand, fiel ihm das Gewicht seiner Arme so unsagbar schwer, dass er sie sinken ließ und die Ohnmacht die Vorherrschaft gewann. Die grässliche Person vor ihr ließ sein erstes Opfer in den weichen Schnee fallen. „Jetzt zu dir.”, grinste er ihr schamlos entgegen. Mit langsamen Schritten ging er auf die junge Dame zu. „Was ist? Willst du nicht rennen? Deinen Stecher nicht im Stich lassen?”

Er genoss es, den verzweifelten Ausdruck in ihrem Gesicht zu sehen. Ihr Blick war starr auf ihren geliebten Ritter gerichtet, der dem Tode entgegen ging. Keine Silbe kam über ihre Lippen. „Antworte! Miststück!!”, schrie das Wesen vor ihr. Sie zuckte zusammen und sah ihrem Tod in die Augen. Bevor ihr klar wurde, was geschah, rammte er seine Klauen in ihre Schulter und schlug sie gegen die Hausmauer. Ihr Aufschrei raubte ihrem Gegenüber den Verstand. Er legte ihren Kopf zu Seite und stoß seine Hauer in ihr zartes Fleisch. Ihre Augen weiteten sich bei dieser grässlichen Tat. Ihr Körper war gelähmt. Ihre Gedanken galten ihrem Liebsten. Ihrem ungeborenen Kind. Sie spürte ihr Blut aus ihrem Körper weichen. Die Kreatur, die an ihrem Fleisch riss, hatte Gefallen an ihrem kostbarem, rotem Gold gefunden. Er stöhnte bei jedem Schluck hart auf. Drückte sein Becken gegen ihren empfindlichen Bauch. Er schien berauscht von ihr zu sein.

Aber dann spürte sie nichts mehr. Etwas hatte ihren Peiniger von ihr gerissen. Ihre Knie knickten ein und verschmolzen mit dem weißen Schnee. Sie hielt sich die Wunde an ihrem Hals. Sie sah auf und erkannte nur schwach eine weitere Person. Es war ebenfalls ein Mann. Ein sehr junger. Er hatte lange Haare, die ihm wild ins Gesicht fielen. Seine Augen waren kaum zu erkennen. Er hielt ein Schwert in der Hand und ließ seinen Gegner nicht mehr aus den Augen. „Steh auf. Steh auf und verschwinde!!” Der Klang seiner Stimme wollte nicht ganz zur ihr durchdringen. Aber das musste er auch nicht. In ihrem Kopf herrschte nur noch ihre Sorge um ihren Ritter. Sie sah zu ihm. Zu seinem regungslosem Körper. „Vergiss ihn! Er ist schon verloren.”, sagte der mysteriöse Mann ohne jegliches Mitgefühl. Ihn vergessen? Ihn allein lassen? Sich von ihm trennen? Nein. Das war nicht der Weg, den sie gehen wollten.

So sollte es nicht enden. „Ich muss..”, kam es ihr leise von den Lippen. „Ich muss leben.”, war ihr letztes Gebet an diesem traumhaften, schneebedeckten Abend. Ihr geschundener Körper ließ nach. Er gab auf. Sie fiel in den sanften, kühlen Schnee, wie einst ihr Ritter. Nur noch der Klang von Metall war in der verhängnisvollen Nacht zu hören. Die qualvollen Schreie des Schwächeren beraubten der Stille ihren Frieden. In ihren letzten Augenblicken sah sie die Schneeflocken auf sich fallen. Wie sie ihre Haut streichelten, ihr Halt gaben. „Wunderschön...”

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15 Jahre später.

Der sanfte Morgenwind forderte rot goldene Blätter zum Tanz auf. Die Welt war ihre Tanzfläche. Das zarte Rauschen der Bäume ihre Musik. Das liebliche Zwitschern der Vögel ihre Gäste. Ja. So fing jeder Herbstmorgen in ihrem noch so jungen Leben an. Aber wieso durfte sie dann nicht auch auf den Ball? Sie hatte doch auch ein Kleid. Das so samtig war, dass der Schnee eines seiner Kinder auf die Erde sandte, um ihre Haut zu schmeicheln. Auch die passenden Ballerinas nannte sie ihr Eigen. Dennoch wurde ihr der Einlass verwehrt. Jemand hatte vergessen ihr eine Einladung zum Weltenball zu schicken. Ihr Leben spielte sich hinter großen kunstvollen Fenstern ab, in der die Menschen nicht echt zu sein schienen. Jeder sagte einem das, was man hören wollte. Sie waren so unnatürlich förmlich. Nie wagte jemand zu sagen, was wirklich in einem vorging.

Schonen wollte man sie. Das sagte ihr Vater immer. Sie vertrug keine Aufregung. Keinen Stress. Ihr Körper würde dieser Belastung nicht standhalten. Diese Ausflüchte bekam sie ständig zu hören. Aber was war so schlimm daran, einen Fuß über die Türschwelle zu wagen? Nach draußen zu gehen und sich ins kühle Laub fallen zu lassen. Den Zauber auf sich wirken zu lassen und das Farbenspiel des Himmels zu sehen. Stattdessen wurden ihr ständig Dinge verboten. Selbst märchenhafte Speisen wurden ihr versagt. Sie war dieses Lebens müde. Wie oft hatte sie davon geträumt auf die große schwere Tür in der Eingangshalle, die ihr den Weg mit ihrem massiven Holz versperrte, einzutreten und sie mit aller Kraft aufzuschlagen? Dann müsste sie nur noch die letzte Hürde, die schrecklichen, angst einflößenden Schloßtore überwinden. Dem Wind, der versucht sie zurück ins Schloss zu drengen würde sie trotzen.

Einen Schritt nach dem anderen machen, um das weiche Grün unter ihren Füßen so lange wie möglich zu spüren. In den Himmel würde sie schauen und bitten, von der angenehmen Abendluft in die Arme genommen zu werden. Den schmalen Weg der Freiheit würde sie entlang gehen... Nein. Sie würde rennen. Sie würde so schnell laufen, bis sie das einsame Märchenschloss ihrer Vergangenheit überließ. Das war ihr Traum. Leider war dies nur Wunschdenken. Seit ihrer Geburt hatte sie ein schwaches Herz und bei zu großer Aufregung wurde ihr das Atmen zur Qual. Aber wenn sie nur für einen kurzen Moment die Augen schloss, dann erschien ein Ritter und befreite sie. Ja. So würde es sein. Sie glaubte ganz fest daran. „Fräulein Katalina. Ich bringe ihnen Ihr Essen.” Aus ihrem Traum gerissen öffnete sich ein Augenpaar. „Trete ein, Marie.”

Sie wandte ihren Blick vom Fenster ab und sah ihre einzige Freundin ins Zimmer treten. Ihr Hausmädchen war wirklich sehr nett. Ein silbernes Tablett gesellte sich zu ihr und nahm seinen Platz auf ihrem Tisch ein. „Ich hoffe es schmeckt Ihnen. Yolanda hat es dieses Mal mit sehr viel Liebe gemacht.” Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm sie das feine Geschirr vom Tablett. „Yolanda kocht doch immer mit sehr viel Liebe.” Ihre schmalen Lippen ließen ein kleines Lächeln zu. „Aber richte ihr dennoch Dank aus.” Der Duft von klarer Suppe vermischte sich mit der Luft. „Ich werde es ihr ausrichten.” Sie nahm das protzige Silber wieder an sich und schaute aus dem Fenster. „Marie? Wie war dein Tag heute?” „Eh was? Mein Tag?”, sie musste kurz überlegen.

„Naja, nicht sehr spannend. Der Bäcker wollte mir mehr für die Zimtschnecken berechnen, als sie es im Grunde wert waren. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm nur das zahle, was er verdient. Als ich rausging musste ich trotzdem den vollen Preis zahlen. Aber die dicke Vene pochen zu sehen, weil er sich wieder mal aufregte, war einfach nur köstlich.” Sie musste bei dem Bild vom wütenden Bäcker kichern. Sie war eine der wenigen, die ihre Persönlichkeit nicht dem Teufel schenkte. Sie hatte ein gutes Leben. „Der Arme. Marie, du bist wirklich unverbesserlich.” „Ich weiß”, sie lachte aus vollem Herzen. Wie es wohl war so zu lachen? Es war seltsam. Menschen lachen zu sehen, war wie einen sonnigen Tag am See zu verbringen. Das Mädchen beruhigte sich langsam.

„Fräulein Katalina. Ihr Tag wird heute auch sehr schön.” zwinkerte sie ihrer Herrin zu und bekam dadurch ihre volle Aufmerksamkeit. „Was?? Wirklich?” Ihre Augen bekamen ein seltenes Leuchten. Mit einem Nicken bestätigte Marie ihr Gesagtes. „Ihr Vater kommt von seiner Europa Reise zurück. Einige Geschäftsleute werden ein Bankett veranstalten und Ihr Vater wurde herzlich dazu eingeladen. Er erwartet Sie heute Abend dort.” Das blasse Gesicht des jungen Mädchens erhellte sich auf ein Mal. „Das sind wirklich gute Neuigkeiten.” Ihr Traum hatte sich ein kleines Stück erfüllt. Ein Ritter würde kommen und sie aus diesem Schloss befreien.

„Bezaubernd. Sie ist wirklich von außergewöhnlicher Schönheit...”
„Schauen Sie nur, wie sich ihr Haar dem Glanz des Lichtes hingibt. Jede Eisprinzessin würde vor Neid erblassen.”
„...eines der vielen Wunder dieser Welt. Sie ist wirklich eine würdige Roth.”

Katalina lauschte den vielen Lobungen aus der Ferne. Sie hielt sich an ein paar weißen Samthandschuhen fest, während sich schon wieder eine neue Masse von unbekannten, sehr wichtigen Leuten beim Bankett sammelte und sie wie ein seltenes Gemälde anstarrte. Sie warf etwas verwundert auf die großen, prachtvollen Spiegel im Raum einen Blick. Sie hatte ein wunderschönes bodenlanges Kleid an, das aus Satin bestand und in einem samtigem Weiß und Hellblau gehalten war. Sie stand inmitten eines märchenhaften Ballsaales mit hohen Fenstern und die dazwischen hängenden Spiegel waren in vergoldeten Holzschnitzereien eingefasst. Der wiederum einem noch größeren, beeindruckenden Hotel in Boston gehörte; aber sie verstand nicht, was sie dann unter so viel Schönheit an ihr fanden. Das tat sie nie.

Sie hatte schneeweißes Haar wie das einer alten Frau und rote Augen wie ein Kaninchen auf einer zweitklassigen Fotografie. Ihr war diese Art von Bewunderung lästig. Ihr war es unangenehm sich im Mittelpunkt von solch einer unnötigen Aufmerksamkeit und Lob zu sehen. Das Mädchen war von dem ganzen Begrüßen, Händeschütteln und dem dabei unentwegt freundlichem Lächeln ganz benommen. Da tat es ihr ganz gut, dass ihr Vater ihr erlaubt hatte sich zurück zu ziehen, wann immer ihr danach war. Sie tat es nur ihrem Vater zuliebe, der sich als deutscher Architekt einen Namen in der Welt gemacht hatte. Der Name Roth war immer der Erste der fiel, wenn es um prachtvolle Hotels ging. Jedes Mal, wenn ihr Vater ein neues Projekt begann, verbrachte er besonders viel Zeit mit ihr. Er sagte ihr immer liebevoll dass sie seine Inspiration für sein Schaffen sei.

Wenigstens konnte sie tolle Kleider tragen. Sie seufzte leicht. Ihr Vater kannte sie wirklich gut. Leider hatte sie es nie geschafft ihre Begeisterung zu verhehlen, wenn sie ein neues bekam. Sie sei immerhin auch nur ein Mädchen. Seit Stunden wurde sie von ihrer Umgebung erdrückt, obwohl sie versuchte hatte sich am Rande in Sicherheit zu bringen. Viele Unternehmer hatten versucht sie mit ihrem Finanzwissen zu beeindrucken, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Aber dabei ganz unverbindlich ihre Söhne, Neffen oder Enkel vorgestellt. Leider war sie zu intelligent, um nicht zu merken, dass ihre Bemühungen zu einer Heiratsvermittlung ausuferten. Die jungen Hoffnungsträger hingegen waren eher damit beschäftigt, sich nicht ihr Sakko beim Buffet schmutzig zu machen, als ihr zu gefallen.
Denn wo Ältere sie für einen Ausnahme hielten, wirkte sie bei ihren Gleichaltrigen eher kränklich und unscheinbar. Wie ein Geist. Es wurde allmählich Zeit, sich dieser Gesellschaft zu entziehen. Sie sehnte nur noch das Ende dieser eintönigen Geschäftsfeier herbei. Nur noch auf ein heißes Schaumbad konnte sie sich freuen. Allerdings hatte sie ihrem Vater versprochen, nach diesem anstrengenden Abend mit ihm essen zu gehen, da er sie jemandem vorstellen wollte. Allmählich aber jedoch lösten sich die Gäste in alle Winde auf und gaben dem jungen Mädchen ihre Freiheit zurück. Fürs Erste jedenfalls. Sie atmete erleichtert aus. Sie ließ ihren Blick über die vereinzelten Anwesenden schweifen und suchte nach ihrem Vater. Sie fand ihn auch gleich. Die prachtvolle offene Eingangstür dieses Märchenschlosses bildete einen goldenen Rahmen um ihn.

Er war ein großer Mann und wie immer sehr standhaft. Er sah eher wie ein mächtiger Kriegsherr aus, als ein feinfühliger Architekt. Seine schwarzen seidigen Haare und sein dunkler Anzug verschluckten förmlich das Licht im Vorraum. Neben ihm stand eine Frau mittleren Alters. Sie hatte mattes rotes Haar, das sie kunstvoll hochgesteckt trug. Sie hatte schon einige Sorgenfalten, aber dennoch war sie sehr hübsch anzusehen. Bei ihnen stand auch ein junger heranwachsender Mann, der sich furchtbar zu langweilen schien. Er musste auf etwas gewartet haben, denn er wurde immer ungeduldiger. Als sie sich dem lebhaften Gespräch näherte, galt all deren Aufmerksamkeit ihr. „Da ist sie ja.” Herr Roth empfing seine Tochter mit offenen Armen. Seine blassen blaugrauen Augen leuchteten ihrem Blick entgegen.

Er verbeugte sich tief und gab seinem Engel einen leichten Kuss auf die Stirn und umarmte sie mit seinen großen Armen. „Ich hoffe es war nicht all zu anstrengend, Liebes.” Mit leichtem Kopfschütteln erwiderte sie seine Umarmung „Nein Papa. Sie waren alle sehr nett zu mir.” „Das hoffe ich doch.”, grinste er ihr frech zu. Lächelnd wollte er ihr noch etwas sagen, doch dann wurden sie von einen bestimmten Satz auseinander gerissen. „So, nachdem die Prinzessin da ist kann ich ja gehen oder meine Kumpels warten sich noch ihr drittes Bein ab!” „Nicolei!!”, ermahnte ihn die peinlich berührte Frau mit den Sorgenfalten; die allem Anschein nach die Mutter dieses charmanten jungen Herren war. „Es tut mir leid, Richard. Es gibt keine Entschuldigung für sein Verhalten.” Jetzt war wenigstens geklärt, wer für ihre Sorgen verantwortlich war.

Der junge Herr schien zu erwarten, dass sein älteres Gegenüber aus allen Wolken zu fallen drohte, denn sein überraschter Blick verriet ihn. Was ihr Vater hingegen tat, war nichts anderes, als herzhaft zu lachen. Er hatte ein sehr lautes Lachen, das ziemlich untypisch für jemanden in seiner Position war. Es war so eines, das einem die gute Laune direkt aufzwang. „Entschuldige dich nicht dafür Meredith. Dein Sohn hat ja recht. Wir haben ihm genug von seiner Zeit gestohlen.” Verblüfft von seinem Frohsinn stimmte die Ältere mit seinem Lachen ein. Sie schien wahrlich erleichtert zu sein. „Wenn du es sagst.” Ihr Sohn machte hingegen einen leicht gekränkten Eindruck. Die sogenannte Prinzessin fragte sich, was jemand wie er in diesem Märchen zu suchen hatte. Sein kurzes stacheligen Haar, das er in Haargel ertränkt hatte und sein Piercing an Augenbraue und Lippe...

Er wollte einfach nicht in dieses Kunstwerk passen. Dieser blauschwarze Anzug, der wohl von einem bescheidenen Smoking Verleih stammen musste, war seiner nicht würdig. Ein zerrissenes T-Shirt mit einer provokanten Aufschrift würde so viel besser zu ihm passen. Der junge Mann war diese Vorstellungsnummer von seiner Mutter Leid. Nur weil sie wieder mal was zwischen ihren Beinen brauchte, musste er sich hier zum Affen machen. Wie ihn das nervte. Und dann hatte dieser reiche Fatzke auch noch eine Tochter, die einem Leichentuch ähnelte. Aber was musste er sehen? Dieses Ding starrte ihn auch noch unentwegt an, als wäre er einem Horrorfilm entsprungen. „Was ist? Was glotzt du so?” „Was?” Katalina löste augenblicklich ihre Starre und mied seinen Blick. „Sei nicht so unhöflich!” mischte sich die Mutter wieder ein und wandte sich zügig der Jüngeren zu.

„Es tut mir Leid. Er meint es nicht so.” Die Frau hatte wirklich Sorgen. „Also ich mach mich jetzt vom Acker. Mom, lass mal was springen!” Die Empörung war ihr ins Gesicht geschrieben „Was??” Bevor es zu einem Streit überging, mischte sich Herr Roth ein. „Schon gut. Ich übernehm das.” Mit seiner großen Hand zog er seine Lederbrieftasche aus seiner gefutterten Innentasche. „Hundert Dollar müssten für dich reichen.” Er überreichte ihm das Geld. Nicoleis Grinsen wurde größer und er griff auch gleich danach, so wie ein Spatz nach seinem Futter. „Aber ich will es zurück, plus die Hälfte von dem was ich dir jetzt gebe.” Roth machte ein ernstes Gesicht, was sehr selten bei ihm war. „Was? Das ist doch Abzocke! Und wer sagt denn überhaupt, dass Sie je einen Cent wieder sehen?” „Wenn du ein Mann bist, dann werde ich das schon!”

Die Lippen dieses großen Mannes formten ein schmales Lächeln. Und bevor noch einer reagieren konnte trennte Herr Roth seine beiden übrigen Gäste von diesem charmanten jungen Herrn und versuchte dessen Mutter zu besänftigen. Katalina schenkte ihm noch einen kurzen Blick und sah, dass die Worte ihres Vaters ihn trafen. Seine wütende Faust drohte die Farbe aus dem bemitleidenswerten Dollerschein zu pressen. Ihre Blicke trafen sich nur im Anflug eines Augenblicks, aber sie hatte das Gefühl das sie etwas zu sagen schienen, was ihr nicht vertraut war. Der junge Mann ließ diese Gesellschaft hinter sich und verließ das Märchenschloss. Er holte sein abgenutztes Handy aus der Tasche und klappte es auf. Er wählte flink eine Nummer. Am anderen Ende nahm jemand ab. Laute, ohrenbetäubende Musik dröhnte aus dem Hintergrund.

„Ja.” Es war Vico, sein Ansprechpartner, wenn es ums Geschäft ging.
„Hey.”, den genervten Klang in seiner Stimmer würde Nicolei heute wohl nicht mehr los werden. „Nico! Was geht Mann? Dachte schon wir hätten dich an den Feind verloren. Warte kurz! Ich geh kurz aufs Klo......Mann, sieht das scheiße hier aus!”
Genervt von Vicos ständigen Sprüchen verzog Nico das Gesicht. „Kannst du auch mal das Maul halten?”
„Hey Darling! Wenn du schon so anfängst leg ich gleich wieder auf!” Wie immer klang es gespielt. „Lass den Quatsch einfach. Weißt du, ob heute noch was ansteht? Ben hat mir gerade einen Besuch abgestattet. Könnte also noch vorbei kommen.” Er warf noch einen kurzen Blick auf Benjamin Franklin und steckte ihn unsanft in die Tasche seines Jacketts.
„Oh, sind mal ganz neue Sitten. Wie kommt’s?”

„Unwichtig. Was ist jetzt?” Die Geduld des jungen Herrn hielt sich an diesem Abend in Grenzen. „Immer mit der Ruhe. Dein Anruf kommt mir ganz gelegen. Du könntest etwas von T. übernehmen. Dieser Idiot hat‘s nämlich total vermasselt und die Quittung prompt serviert bekommen.” Ein langes Schweigen dehnte sich aus.
„Und?” fragte Nico, ohne zu viel Interesse daran zu zeigen.
„Er lebt noch, wenn es das ist, was du wissen willst. Kannst ihn ja mal im Krankenhaus besuchen. Aber der Typ sieht jetzt echt beschissen aus. Model kann er jetzt nicht mehr werden.” Das es Vico amüsierte war nicht zu überhören.
„Lass die Witze. Er ist immerhin noch einer von uns. Und jetzt sag mir wo T. die Ware hin schaffen sollte.” In seiner Stimme war jegliches Gefühl verschwunden.
„Na schön. Bist heute wohl wieder bester Laune, was?!” seufzte Vico gespielt auf.

Nicolei notierte sich zügig die Adresse auf seinem Handy und speicherte sie ab.
„Ach, Nico Schätzchen du muss den Schatz wohl oder übel noch vorher abholen.”
„Wenn es sein muss. Wo soll ich hin?” Der Abend würde sich wohl doch noch etwas in die Länge ziehen als gedacht.
„Dead Youth.” Es folgte eine kurze Pause. Dann brach Nicoleis Fassung ein wenig zusammen. „Was?? Sag nicht, das der Idiot es dort unter gebracht hat?” Seine Stimme bebte.
„T. hat versucht seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Da ist diesem Spinner wohl nichts anderes eingefallen.” In Vicos Stimme war kein Funken Mitleid raus zu hören.
„Wieso hast du dich nicht schon darum gekümmert?”
„Wie gesagt, dein Anruf kommt gerade gelegen.” Nicolei konnte Vicos Grinsen regelrecht hören.
„Du hättest doch auch schon dort sein können, Verdammt!”

„Tja, ich bin nur die Tippse. Ihr müsst eure Ärsche schon selber sauber halten. Mama kann sich ja nicht um alles kümmern.”
Nico versuchte sich zu beruhigen. Es hatte keinen Sinn sich mit seinem Mediator zu streiten. „Vico!! Wo ist das Zeug genau?”
„Der Idiot faselte irgendwas von Loxing.”
„Loxing?” Er musste kurz nachdenken. „Ah! Ich weiß was er meint. Versuch was zu drehen, damit die Typen ihre Füße still halten! Ich beeil mich!”
„Geht klar. Schuldest mir aber was.”
„Tu ich das nicht immer? Ich leg jetzt auf. Sag Bescheid, wenn was ist.” Er klappte sein Gerät wieder zu. Nico lief auf die Straße und winkte den nächsten gelben Wagen mit leuchtendem Schild auf dem Dach heran. Er sprang hinein.
„Dead Youth”, sagte Nicolei, ohne lange zu überlegen. Der Fahrer warf ihm skeptisch einen Blick über den Rückspiegel zu. „In der Aufmachung?”
„Tja, heute muss es mal Overdressed sein.”

Nicolei schaute aus dem Fenster des Taxis. Die Nacht schien ihn wieder einmal einzuholen.Wie immer fragte er sich wieso er diesem Geschäft nachging. Des öffteren wollte er aussteigen. Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit. Nur der Tod würde ihn noch von diesem Pakt erlösen. Den er sich an manchen Tagen herbeisehnte. Wenn es nicht schon genug war, dass er sein Leben verfuschte, hatte er jetzt auch noch einen Freund damit reingezogen. Wieso hatte er nur T. das machen lassen? Er wusste doch, dass das nur schief laufen konnte. T. war immerhin noch nicht lange in diesem Geschäft. Nico musste nicht lange grübeln, um zu wissen warum er es tat. Es war einfach und schlicht nur Mitleid. Der Typ hatte darum gebettelt sich was verdienen zu können. Und jetzt lag er im Krankenhaus und war sonst wie durch den Fleischwolf gedreht worden. Aber jetzt war keine Zeit für Gewissensbisse. Er musste so schnell wie möglich nach Dead Youth, bevor morgen noch ein Blutbad in der Frühausgabe der Boston Globe stand.

Katalina war, wie zu erwarten, schon wieder in ihrem Schlossturm eingesperrt. Sie bekam einen kurzen Anflug von Atemnot. Es war ihr etwas unangenehm, das Meredith ihre Schwäche mitansah. Aber sie konnte es nicht verhindern. Ihr Vater wollte alles stehen lassen um bei seinem Mädchen zu sein, aber seine Tochter bestand darauf, dass er seine Begleitung nach Hause brachte und sich wie ein Gentleman von ihr verabschiedete. Ja, so war sie nun mal. Sie wollte nicht, dass andere ihr Leben auf den Kopf stellten, nur um ihres zur erhalten. So viel Selbstsucht trug sie nicht im Leibe. Sie saß auf der tief liegenden Fensterbank und schaute der Nacht dabei zu, wie sie ein Schattenspiel für sie aufführte. Seit sie seinen Blick gesehen hatte hatte sie ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Seine Augen wollten ihr etwas sagen. Etwas Unheilvolles. Etwas, was ihm schaden wird.

Sie konnte es sich nicht erklären, aber ihre empfindsamen Sinne hatten sie noch nie getäuscht. Was konnte sie schon ausrichten? Sie hatte nicht die Kraft dazu. Aber es musste doch etwas geschehen. Eine Mutter machte sich schließlich Sorgen um ihr Kind, auch wenn sie keine Liebe zurück bekam. Das hatte sie bei der Frau mit ihrem glanzlosen rotgoldenem Haar gesehen. Ihre Sorge um ihren Sohn hatte sie verraten. Auch wenn sie versucht hatte dies zu überspielen, indem sie mit ihrem Vater lachte. Beide standen sich wohl sehr nahe. Sie konnte spüren wie ihre Zuneigung zueinander wuchs. Katalina musste lächeln. Ihr Vater hatte sie immer von seinen Frauen ferngehalten, um ihr nicht zu schaden. Denn obwohl er ihr Papa war, hatte er viele Geschichten über Damen zu erzählen. Sein Glaube, dass seine Tochter dies nicht bemerkte, war schon etwas töricht. Aber dieses Mal musste er es sehr ernst meinen.

So stellte er sie ihr dieses Mal vor. Und dass sie einen Sohn hatte, sagte alles. Das Glück ihres Vaters sollte nicht durch die Dummheit eines Jungen zerstört werden. Katalina ließ ihre Arme über ihre Knie hängen und ihr samtenes Haar an das kühle Glas gelehnt, schloss sie ihre Augen. Das schneeähnliche Wesen betete zu ihrem Schatten. „Ich weiß, ich habe lange kein Wort mehr über die Lippen gebracht, die nur für dich bestimmt waren. Aber bitte beschütze ihn. Er weiß nicht was er tut. Ich will nicht, dass ihm etwas geschieht.” Auch wenn niemand da war, der ihr antworten hätte können oder die Arme um sie schloss, wusste sie, dass es jemanden gab, der nur durch sie lebte.

Über die Bostoner Straßen blickend, ließ sich Luciano Tirados den angriffslustigen Wind über sein fliederfarbenes Haar wehen, als würde er ihm etwas erzählen wollen. Er zog die Luft tief in seine Lungen ein und konnte den Duft von Jasmin durch die ganze Stadt wahrnehmen. Auf seinen schmalen Lippen bildete sich ein sündhaftes Lächeln. Als ob er nur gewartet hätte, um loszuschlagen. „Ich habe verstanden”, teilte er seinem treuen Gefährten, dem Wind, mit. Und fiel in die unendliche Tiefe Bostons. Die Nacht verschluckte seinen Körper und zeigte ihm den Weg, dem ihm sein kleiner Schneeengel mitteilte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.01.2010

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Widmung:
Für Desiree Sie war mir immer eine gute Freundin

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