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1. Dezember 2020

„Wieso nicht? Wir gehen am ersten Dezember immer auf den Weihnachtsmarkt!“ Greta stemmte ihre kleinen Fäuste in die Seiten. Sie starrte ihren Vater aus funkelnden Augen an, die dem Sternenhimmel hätten Konkurrenz machen können.

Gretas Papa nieste einmal herzhaft in die Armbeuge und wickelte im Anschluss seinen Schal enger um den Hals. „Schatz, ich weiß. Aber es lässt sich nicht ändern. Du weißt doch, dieses Jahr ist alles anders. Dieser Virus hat gerade alles im Griff.“

Greta krabbelte zu ihrem Vater auf die Bettkante. Sie war zwar erst fünf Jahre alt, aber sie war nicht dumm. Das war das Besondere an dem kleinen Mädchen, das mit ihrem Papa zusammenlebte, der gerade krankgeschrieben war. Nicht wegen dieses komischen Carola-Virus, oder wie der hieß. Papa hatte einen Test gemacht. Er hatte nur eine normale Erkältung.

„Davon abgesehen gibt es dieses Jahr gar keinen Weihnachtsmarkt“, sagte Papa.

Natürlich wusste Greta das. Aber sie wollte trotzdem über den Weihnachtsmarkt auf Burg Schleihenthal schlendern, den Duft von gebrannten Mandeln und Zimtwaffeln riechen. Eine Zuckerwatte essen und auf dem kleinen Kinderkarussell mitfahren, am liebsten auf dem goldenen Schwan, bei dem man sich an dessen Flügeln festhalten musste und das Gefühl hatte, zu fliegen.

„Aber mir ist langweilig. Was soll ich machen?“

„Nutze deine Fantasie. Oder lies ein Buch. Das kannst du doch schon.“

Das konnte Greta wirklich. Das hatte sie sich selbst beigebracht, sie war ein schlaues Kind. Aber es war nicht das gleiche wie auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Das wollte sie Papa gerade sagen, da sah sie, dass er eingeschlafen war. Das hatte er sich verdient, er war krank.

Eine stille Träne rollte über ihre Wange, bevor sie von der Bettkante rutschte. Mit hängenden Schultern ging sie in ihr Kinderzimmer. Greta fühlte sich schrecklich allein gelassen. Die ganze Welt war einfach nur doof im Moment.

Greta nahm eines ihrer Bilderbücher aus dem Regal. Nikolaus und der dumme Nuck. Ihr Lieblings-Weihnachts-Bilderbuch. Greta krabbelte auf ihr Bett, machte es sich dort bequem und schlug das Buch auf.

Im selben Moment gab es einen Knall. Gegen die Fensterscheibe. So, als hätte jemand einen Stein dagegen geworfen.

Greta legte ihr Buch beiseite und trat zum Fenster. Es war bereits dunkel, aber sie konnte eines genau sehen. Vor dem geschlossenen Fenster flatterte ein riesengroßer Vogel. Ein Schwan, um genau zu sein. Ein goldener Schwan. Als er Greta erblickte, schlug er mit dem Schnabel gegen die Fensterscheibe. Es erzeugte den gleichen Ton, den Greta schon kurz zuvor gehört hatte. Greta öffnete das Fenster. Der Schwan ließ sich mitten in Gretas Zimmer nieder und schaute sie aus seinen schwarzen Augen an.

„Wer bist du?“, fragte Greta.

Der Schwan antwortete nicht. Stattdessen breitete er seine Flügel aus und deutete auf seinen Rücken. Greta verstand sofort. Sie kletterte zwischen die Flügel, und sogleich erhob sich der wunderschöne Vogel durch das Fenster hinaus in die Dunkelheit.

Genauso hatte Greta es sich immer vorgestellt, wenn sie auf dem goldenen Schwan auf dem Karussell des Weihnachtsmarktes saß. Der kalte Wind blies ihr ins Gesicht, als der Schwan immer mehr an Geschwindigkeit aufnahm und Richtung Schleihenthaler Wald flog. Die Schneelandschaft unter ihr glitzerte in reinstem Weiß, Schneeflocken tanzten vor ihren Augen. Greta breitete die Arme aus. Das hier war mit Abstand das Aufregendste, was sie bisher erlebt hatte. Der Schwan drehte genau eine Runde über das verschneite kleine Dorf, dann flog er zurück und setzte Greta zuhause ab. Greta bedankte sich noch mit einer Umarmung um den schlanken Hals, dann erhob der Schwan seine Schwingen und war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.

Kaum hatte Greta das Fenster geschlossen, öffnete sich die Zimmertür und Papa stand ziemlich verpennt im Türrahmen. „Mensch, Greta, ich hatte vielleicht einen verrückten Traum!“ Papa kratzte sich am Kopf und schaute sich im Zimmer um. „Kalt hast du es hier. Hattest du das Fenster auf?“

Greta kletterte auf ihr Bett, als wäre nichts gewesen. Auf seine Frage gab sie keine Antwort. „Was hast du denn geträumt?“

„Ich habe von dir geträumt. Von dir und einem goldenen Schwan. Ihr seid über Schleihenthal geflogen.“

„Also, das ist nun wirklich völlig verrückt, Papa! Sicher hast du Fieber.“ Greta machte es sich auf ihrem Bett bequem und griff wieder nach ihrem Buch. „Soll ich dir was vorlesen?“

2. Dezember 2005

 Als Gernot an diesem Morgen aufwachte, spürte er, dass dies nicht sein Tag werden würde. Ein extrem kalter Tag, wie er feststellen musste.

Gernot schaute auf seinen Radiowecker. Die Digital-Anzeige blinkte in vier grünen Ziffern: 00:00. Das schrie förmlich nach einem Stromausfall.

Verschlafen hatte er also wahrscheinlich auch noch. Gernot schwang seine Beine aus dem Bett und rutschte mit dem linken Bein wie von einer fremden Macht geleitet auf dem Bettvorleger knapp einen Meter weiter und legte einen unfreiwilligen Spagat hin, was ihm sein vierzig Jahre alter Körper sehr übelnahm. Es dauerte länger, diese akrobatische Übung zu beenden, als sie begonnen hatte. Unter Flüchen, die definitiv nicht in die Adventszeit gehörten, machte er sich auf den Weg ins Bad.

In seiner Hektik schnitt Gernot sich mit dem Rasierer glatt in sein Kinngrübchen. Das Blut spritzte auf abenteuerliche Weise quer durchs Bad und traf das weiße Hemd, welches Gernot für später auf dem Klosett bereitgelegt hatte.

„Ja, verflucht noch mal, zum Teufel! Wieviel kann eigentlich an einem einzigen Tag schiefgehen?“, brüllte er. Erst tupfte er die blutende Wunde mit dem sowieso schon versauten Hemd ab, dann nahm er aus dem Allibert ein Pflaster und klebte es sich aufs Kinn. Super, nun sah er zusätzlich auch noch dämlich aus.
„Herr Tetzlaff?“, kam eine Stimme aus dem Off. Dann ein zaghaftes Klopfen.

Gernot warf sich seinen Morgenmantel über und lief zur Wohnungstüre. Als er sie öffnete, stand Frau Schwabing von gegenüber im Flur.

„Tut mir leid, dass ich Sie stören muss. Aber ich glaube, die Heizung ist kaputt. Ist es bei Ihnen auch so kalt?“, fragte die ältliche Dame, die immer wie eine der letzten übriggebliebenen Hippies gekleidet war.

„Ja. Ich befürchte, dass es heute Nacht einen Stromausfall gegeben hat und die Heizung dabei ausgegangen ist.“

„Könnten Sie mal nachschauen und sie wieder einschalten? Mein Katerchen Osiris und ich frieren ganz furchtbar.“

„Normalerweise wirklich gern, aber ich bin total im Stress, ich müsste schon längst auf der Arbeit sein. Heute geht wirklich alles schief.“

„Ach, bitte, Herr Tetzlaff! Ich verstehe, dass Sie in Eile sind, aber ich schaffe es wirklich nicht mehr in den Keller, ohne mich eventuell dabei zu verletzen.“

Gernot seufzte auf. Er wusste, aus dieser Nummer kam er sowieso nicht mehr raus, und ein Unmensch war er auch nicht. Er lief so, wie er in seinem Morgenmantel gekleidet war, barfuß in den Heizungskeller.

Es war, wie er gedacht hatte. Die Heizung ließ sich problemlos wieder einschalten und durch ihr sonores Summen vernehmen, dass sie funktionierte. Schnell hechtete Gernot wieder die Treppe hinauf. Frau Schwabing stand immer noch im Flur und wartete auf ihn, ein seliges Lächeln auf dem Gesicht.

„Vielen lieben Dank, junger Mann. Sie sind wahrlich ein Engel. Trinken Sie das.“ Sie hielt ihm ein dunkelblaues Glas entgegen.

„Was ist das?“

„Fragen Sie nicht. Trinken Sie es einfach. Das wird Ihnen guttun und den Stress von Ihnen nehmen. Vertrauen Sie mir.“

Gernot tat der alten Frau den Gefallen lediglich, um endlich seine Ruhe zu haben. Nach dem ersten Schluck merkte er, dass es pures Wasser war, und so stürzte er den Rest komplett hinunter.

Gernots restlicher Tag verlief erstaunlich reibungslos und entspannt. Gernot rutschte nicht auf dem Weg zum Auto auf der gefrorenen Pfütze vor dem Haus aus. Zum Meeting kam nicht er selbst zu spät, sondern sein Geschäftspartner, der unterwegs in einen Stau geraten war. Der Geschäftsabschluss entwickelte sich zu seiner vollsten Zufriedenheit, und seine Lieblingskollegin lud ihn zum Mittagessen auf den Weihnachtsmarkt ein.

Am Abend kam Gernot mit einem ähnlich seligen Lächeln nach Hause, wie Frau Schwabing es heute Morgen auf den Lippen gehabt hatte. Als er sein Auto parkte, stand Frau Schwabing am offenen Fenster ihrer Wohnung. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und gaben ihr ein wenig das Aussehen von Frau Holle.

„Guten Abend, Herr Tetzlaff. Wie war Ihr Tag?“

„Erstaunlich gut, Frau Schwabing. Danke.“

„Also hat das Apatit-Wasser seine Wirkung getan?“

„Das was?“

„Das Heilwasser, welches ich Ihnen heute Morgen zu trinken gegeben habe. Der Apatit wirkt als Heilstein sehr beruhigend und entspannend.“

Gernot lächelte. „Wissen Sie, Frau Schwabing, an diesen Esoterik-Kram glaube ich nicht.“

„Ach, das macht gar nichts, Herr Tetzlaff. Die Hauptsache ist doch, dass es gewirkt hat, oder?“ Frau Schwabing blinzelte Gernot noch einmal zu und schloss das Fenster. 

3. Dezember 1985

Vorsichtig steuerte Marlene ihr altes Damenrad über die verschneite Straße. In diesem kleinen Eifelstädtchen, in das sie genau heute gezogen war, gab es noch echte Winter. Das hatte sie gewusst, theoretisch, aber nun erlebte sie es am eigenen Leib. Sie liebte den Winter. Sie liebte jede Jahreszeit, aber hierauf war sie nicht vorbereitet gewesen.

Marlene parkte ihr Fahrrad vor dem kleinen Tante-Emma-Laden. Sie hoffte sehr, dass sie hier alles bekam, was sie für ihr Abendessen brauchte. Für den Rest würde sie morgen mit dem Zug nach Köln fahren und ihren Vorrat auffüllen.

Marlene wickelte sich noch einmal in ihren dicken Wintermantel ein, rückte ihre Pudelmütze zurecht und betrat den Laden.

„Moin!“, grüßte sie aus der Gewohnheit heraus. An der Obst- und Gemüse-Auslage direkt am Eingang stand ein Mann um die Fünfzig Jahre, also nur unwesentlich älter als Marlene. Er trug einen weißen Kaufmanns-Kittel und sortierte die saftig grünen Äpfel, die einen angenehmen Duft verströmten. Er bemerkte Marlene und lächelte. „Ein bisschen spät für einen Morgengruß, finden Sie nicht?“

„Verzeihung, ich komme aus Hamburg. Da sagt man das so. Zu jeder Tageszeit“, sagte Marlene.

Nach dieser Äußerung musterte er Marlene noch einmal von oben bis unten. Sein Lächeln verschwand nicht. „Sie sind die Nichte von Trude Görlitz, richtig?“

„Ja genau.“ Marlene zog ihren rechten Handschuh aus und hielt sie dem Mann entgegen. „Marlene Runge, hallo. Ich bin hergezogen, um die Pflege meiner Tante zu übernehmen.“

Der Mann nahm Marlenes kalte Hand an. Seine war angenehm warm. „Günther Himmel, freut mich, Sie kennenzulernen. Willkommen in Erpenich. Womit kann ich Ihnen helfen?“

„In erster Linie brauche ich Paketschnur. Haben Sie welche? Damit wäre mir und meinem Rad schon sehr geholfen.“

„Ihrem Fahrrad?“ Herr Himmel runzelte die Stirn. „Wollen Sie es verschicken?“

Marlene lächelte. „Nein. Ich brauche die Schnur, um sie um die Reifen zu wickeln. Die Schnur fungiert dann in einer Art Schneeketten. Die Reifen greifen so besser in Schnee und Eis. Verstehen Sie?“

„Die Idee ist mir tatsächlich noch nie gekommen, aber ja, das klingt logisch.“ Herr Himmel ging in den hinteren Teil des Ladens und griff hinter der Kasse in einen Karton, um Marlene im Anschluss eine Rolle Paketschnur zu reichen.

„Vielen Dank.“

„Sehr gerne. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Ich melde mich, wenn ich etwas brauche.“ Marlene schlenderte gemütlich durch den Laden und griff hier und dort in Regale und Auslagen.

Zwischenzeitlich betraten ein paar Jugendliche den Laden, ein junges Mädchen und zwei Jungs. Sie lachten und schüttelten sich den Schnee aus den Haaren.

„Hi, Onkel Günther!“, rief das Mädchen. „Einmal die neue BRAVO bitte. Und ein Päckchen Zimt-Kaugummi.“

Marlene kam mit ihrem Einkaufskorb zeitgleich mit den jungen Leuten an der Kasse an. „Entschuldigung, Herr Himmel, Kichererbsen in Dosen haben Sie nicht zufällig?“

„Kicher-Was?“, fragte der Größere der Jungs und lachte, während er Marlene abschätzig betrachtete. Die anderen beiden stimmten mit ein. Marlene ging nicht darauf ein.

„Kichererbsen? Nein, die führe ich leider nicht“, sagte Herr Himmel.

„Das macht nichts. Dann nehme ich das Glas Bohnen hier. Das tut es auch für heute Abend.“

Nachdem Herr Himmel die Jugendlichen abkassiert hatte, legte Marlene ihre Ware auf den Tresen. Er betrachtete Marlenes Auswahl genau, bis er sagte: „Ich kann Ihnen zu den Kartoffeln einen hervorragenden Braten aus der Metzgerei meines Schwagers anbieten. Die ist lediglich eine Straße weiter.“

„Nein, Danke. Ich esse kein Fleisch.“

Marlene wurde angestarrt, als käme sie von einem anderen Stern. Von allen vier Anwesenden gleichermaßen.

Als Herr Himmel seine Stimme wiedergefunden hatte, räusperte er sich und sagte: „Nun gut, dann aber vielleicht ein Zehnerpack Eier? Ein Spiegelei hat ja auch seinen Charme.“

„Nein, vielen Dank. Ich esse auch keine Eier. Genaugenommen esse ich gar nichts Tierisches. Daher bin ich rundum zufrieden mit meinem Einkauf. Wieviel macht das bitte?“ Marlene zückte ihr Portemonnaie, um den Vorgang zu beschleunigen. Sie hatte keine Lust auf ermüdende Diskussionen und das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

Herr Himmel nannte ihr kurz angebunden den Betrag, Marlene bezahlte ihn und verließ den Laden mit demselben Lächeln, mit dem sie ihn betreten hatte. Sie spürte, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde und sie für die weitere Zukunft soeben den Stempel der verrückten Fremden im Dorf bekommen hatte.

4. Dezember 1997

 „Die Polizei geht davon aus, dass das Tier aufgrund eines Streiches aus dem Zoo entwendet wurde. Der Görnbeeker Zoo appelliert eindringlich an die mutmaßlichen Entführer, das Tier baldmöglichst zurückzubringen.“

„Unglaublich, auf was für verrückte Ideen manche Menschen kommen. Die haben doch kein Herz. Geschweige denn, auch nur ein wenig Verstand.“ Mama schaltete das Radio aus. „Möchtest du mir beim Spritzgebäck helfen, Gregor?“, wandte sie sich an ihren Sohn.

Der Vierzehnjährige schüttelte den Kopf, während er zur Garderobe in den Flur ging. „Nee, ich wollte noch ein bisschen raus gehen.“

„Gehst du allein?“

„Weiß noch nicht. Mal sehen.“

„Gut. Sei aber bitte zuhause, bevor es dunkel wird.“

„Mach ich.“
Mamas Seufzer war das Letzte, was Gregor hörte, bevor er die Haustüre hinter sich zu zog. Mama hatte es schwer mit ihm. Gregor war nicht der typische Teenager, der mit seinen Kumpels an der Skaterbahn oder auf dem Spielplatz abhing und heimlich Kippen rauchte und Bier trank. Er war Einzelgänger, hauptsächlich auch deswegen, weil die anderen Kids in seinem Alter seine Interessen nicht teilten. Vielleicht gab es noch andere, die so waren wie er, aber wenn, dann lebten sie nicht hier in Görnbeek und gingen schon gar nicht auf seine Schule.

Gregor ging eine Weile am Hafen entlang, bis dieser Weg sich in das kleine Wäldchen kurz vor dem Strandbad erstreckte. Die Bäume waren kahl, aber geschneit hatte es noch nicht. Stattdessen hatte es geregnet, und der Waldweg war matschig. Das störte Gregor nicht. Er trug seine Stiefel, die nur für den Wald bestimmt waren. Sie waren schon sehr abgenutzt, weil Gregor den Wald liebte. Er liebte dessen Ruhe, seinen erdigen Duft und ganz besonders, dass der Wald keine Meinung über ihn hatte. Die Natur hatte keine Vorurteile.

Schon bald entdeckte Gregor seinen Lieblingsplatz. In den letzten Monaten hatte er nach und nach ein Tippi aus Ästen gebaut, die er im Wald gesammelt und an einen Baumstamm gelehnt hatte.

Und dann sah er ihn.

Der vermisste Flamingo stand mitten im Tippi. Wunderschön, mit lachsfarbenen Federn und einem glänzenden gebogenen Schnabel. Der Vogel starrte Gregor an.

„Hey, wo kommst du denn her?“, fragte Gregor.

Der Vogel zitterte.

„Wer hat dir das angetan, hm? Welche Idioten?“ Gregor trat noch einmal aus dem Tippi heraus und schaute sich um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Gregor legte sanft eine Hand auf den hübsch geschwungenen Hals des Tieres, da geschah es. Die Welt um Gregor herum verschwamm, ihm wurde schwindelig, und er hatte das Gefühl, nach vorn katapultiert zu werden. Sein Herz raste, Panik erfasste ihn, aber sein Bauchgefühl sagte, dass er das Tier nicht loslassen durfte. Das es ihm eine Botschaft übermitteln wollte.

Vor Gregors Auge wurde die Welt langsam wieder klar, aber sein Lieblingsort sah nicht mehr so aus, wie er es gewohnt war. Der Großteil der Bäume des kleinen Wäldchens waren entfernt worden. Dafür waren mehr Parkbänke hinzugefügt worden. Ein gepflasterter Weg schlängelte sich durch eben diese Bänke und Bäume. Mülleimer quollen über. Von Vogelzwitschern keine Spur mehr. Menschen hasteten mit kleinen flachen Bildschirmen in der Hand oder am Ohr über die Wege. Die meisten Menschen trugen Masken im Gesicht. Ob das an der schlechten Luft in der Zukunft lag?

Einem kleinen Hund wurde nicht mal die Zeit gegeben, sein Geschäft zu verrichten. Sein Herrchen zerrte ihn einfach während des Telefonierens weiter. Die wenigen Bäume, die noch da waren, sahen krank aus. Gregor hätte am liebsten weinen mögen. „Warum zeigst du mir das alles?“, fragte er.

„Der Mensch ist auf dem besten Weg, sich selbst abzuschaffen. Der Mensch braucht die Natur. Aber die Natur braucht den Menschen nicht. Irgendwann wird die Erde diesen lästigen Parasiten namens Mensch versuchen, loszuwerden. Ihn auszurotten, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Und ich kann es ihr nicht mal verdenken.“

Gregor hielt es nicht mehr aus. Er ließ den Flamingo los, und ein Gefühl, als würde ein Gummiband an ihm ziehen, holte ihn zurück ins Hier und Jetzt.
Auf dem Nachhauseweg hob Gregor alles auf, was nur ansatzweise wie Müll aussah.

Als Gregor heimkam, begrüßte ihn der Duft von gebackenen Plätzchen.

„Hast du schon gehört?“, empfing ihn seine Mutter. „Der entführte Flamingo ist wieder zurück im Zoo. Er stand plötzlich einfach so wieder in seinem Gehege.“

5. Dezember 2019

Eigentlich war Elisabeth nur in die Stadt gefahren, um für ihren Enkel einen Schokoladen-Nikolaus zu kaufen, den sie ihm heute Nacht in den Winterstiefel stecken wollte. Der kleine Mann sollte überraschend bei ihr übernachten, da sich ihre alleinerziehende Tochter einen heftigen Infekt mit Fieber eingefangen hatte.
Nun stand Elisabeth gefesselt vor der Buchhandlung und kam dort nicht weg. Allerdings nicht, weil sie im Schaufenster vielleicht ein Buch entdeckt hätte, was ihr gut gefiel.

Nein, vor dem Laden hockte eine Taube, ganz klar flugunfähig. Ihr linker Flügel hing herab, und sie hatte sich unter eines der Außenregale verkrochen.

Elisabeth schaute sich zunächst ratlos um, bis ihr nichts anderes einfiel, als den Laden zu betreten.

Die Buchhandlung war überfüllt. Nicht verwunderlich. Es war Weihnachtszeit und zudem auch noch ein Tag vor Nikolaus. Elisabeth schaute sich nach einem freien Mitarbeiter um, was sich als schwieriges Unterfangen herausstellte. Sie reihte sich bei einem jungen Mann ein, der in der Fantasy-Abteilung stand und eine junge Mutter mit Baby beriet. Elisabeth wartete geduldig ab, bis die Beratung über den neuesten Vampir-Erotik-Roman beendet war und brachte dann ihr Anliegen zur Sprache.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich brauche ihre Hilfe. Vor ihrem Laden sitzt eine verletzte Taube. Könnten Sie sich bitte darum kümmern?“

„Ach, schon wieder so ein Mistvieh! Tut mir wirklich leid, wenn Sie sich dadurch belästigt fühlen. Ich sorge dafür, dass sie sofort entsorgt wird“, antwortete der Verkäufer.

„Wie bitte? Entsorgt? Nein, bitte! So war das nicht gemeint. Ich möchte, dass ihr geholfen wird. Können Sie nicht irgendwo anrufen? Den Tierschutz vielleicht? Ich habe mein Handy leider nicht dabei, sonst würde ich es selbst machen.“

Der Mann schaute Elisabeth an, als hätte sie völlig den Verstand verloren. „Sie möchten eine Taube retten? Ich bitte Sie, davon gibt es doch jetzt schon zu viele. Diese Viecher werden nicht umsonst Ratten der Lüfte genannt.“

Elisabeth hätte diesen Schnösel am liebsten mit Ratte des Ladens beschimpft, so wütend machte sie seine Äußerung. Sie erinnerte sich jedoch rechtzeitig an ihre gute Erziehung und sagte: „Vergessen Sie es. Haben Sie dann bitte einen leeren Karton für mich? Ich kümmere mich selbst um das Tier.“

„Also, für so eine Gefühlsduselei haben wir hier wirklich keine Zeit. Sie sehen doch, was hier los ist. Es ist Weihnachtsgeschäft. Ich wünsche Ihnen noch eine besinnliche Adventszeit.“ Er wandte sich von ihr ab und sprach die nächste Kundin an, die hinter Elisabeth stand.

Als der Verkäufer mit der Kundin in eine andere Abteilung zog, sagte sie leise: „Du hast wohl noch nie etwas von Nächstenliebe gehört, du dämlicher Esel!“

„Verzeihung?“, sagte eine männliche Stimme links von ihr. Elisabeth drehte sich um und schaute in sanfte braune Augen. Der Mann hatte ein freundliches Gesicht, welches von graubraunen Locken umrahmt war. „Ich kam nicht umhin, Ihr Gespräch zu belauschen. Ich denke, ich kann Ihnen behilflich sein.“

Elisabeth verschlug es die Sprache. Sie wusste beim besten Willen nicht, wann ein Mann es das letzte Mal geschafft hatte, ihr so dermaßen die Sprache zu verschlagen. Sie wurde rot, als ihr der Gedanke durch den Kopf ging, wobei er ihr alles behilflich sein könnte.

„Tut mir leid, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Dingel, mein Name. Roman Dingel.“ Er streckte ihr die Hand hin. Sie nahm sie an. Verdammt, sie war warm, wenn auch rau.

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Elisabeth Krantz. Es tut mir leid, ich bin gerade etwas durch den Wind.“

„Das macht gar nichts. Zeigen Sie mir, wo das verletzte Tier sitzt?“

„Das Tier? Ach so, ja, die Taube. Natürlich.“ Elisabeth ließ gezwungenermaßen die angenehme Hand los und ging voraus.

Die Taube saß noch unter dem Regal, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Elisabeth Hilfe holte. Roman begutachtete die Situation kurz und zückte dann sein Handy. Wie sich herausstellte, war Romans Tochter im Nachbarort Tierärztin, die sich auch um verletzte Wildtiere kümmerte.

„Warten Sie kurz bei dem Patienten? Ich kümmere mich um einen Karton, damit wir die Tauben-Dame sicher in die Praxis fahren können.“

Wir? Elisabeth kam nicht umhin, zu schmunzeln, als Roman die Buchhandlung betrat. Kurze Zeit später kam er wieder heraus, ein unwiderstehliches Lächeln im Gesicht, einen Karton in der Hand und sagte: „Na bitte, geht doch.“

Ja, geht doch!, dachte Elisabeth. Sie lächelte. 

6. Dezember 1984

Als Karin die Türe des Kindergartens aufschloss, lag Erpenich noch in dichtem Nebel in der Dunkelheit. Es war zum Glück nicht kalt, aber die Feuchtigkeit kroch in den letzten Tagen schon arg in die Kleidung.

Karin war die Erste an diesem Nikolausmorgen, aber das war nicht verwunderlich. Sie war in diesem Jahr dafür zuständig, die am Vortag fleißig geputzten Gummistiefel der Kinder mit Äpfeln, Nüssen, Mandarinen und einem Schokonikolaus zu befüllen.

Karin fand es immer etwas gruselig, ganz allein so früh im doch recht abgelegenen Kindergarten zu sein. Daher schloss sie die Türe hinter sich gleich wieder ab, um zu vermeiden, ungebetenen Besuch zu bekommen. Auf ihrem Weg betätigte sie jeden Lichtschalter, der in Reichweite war. Ihr Ziel war es, so schnell wie möglich in die Küche zu gelangen und dort das Radio anzumachen. Dann fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein.

Sie schaltete das Licht in der Küche ein. Sofort fielen ihr zwei Dinge auf. Es war eiskalt. Ein Blick nach oben bestätigte ihren Verdacht: Die Dachluke war offen.
Gänsehaut kroch Karins Nacken hinauf, was nicht allein an der Kälte lag.

Hatten sie und ihre Kolleginnen gestern eventuell vergessen, die Luke zu schließen?

Nie und nimmer, flüsterte ihr Bauchgefühl.

Karins Puls beschleunigte sich, ihr Atem ging schneller. Panik war auf dem besten Weg, von ihr Besitz zu ergreifen, doch sie wusste, dass das in dieser Situation ganz und gar nicht hilfreich war. Ihr Blick huschte im Raum hin und her, um die Lage einschätzen zu können. Die Luke war offen, ja, aber sie hing auch halb aus den Angeln. Sie war definitiv mit Gewalt geöffnet worden. Die Kisten mit den Nikolausleckereien standen auf den ersten Blick unberührt auf dem Tisch, auf den zweiten fielen Karin drei rotbackige Äpfel auf, die am Boden lagen. Jemand war durch die Luke eingedrungen und von oben wahrscheinlich auf den Tisch gesprungen.

Das einzig Richtige in dieser Situation wäre gewesen, die Polizei anzurufen und das Gebäude zu verlassen. Aber das Telefon stand im Büro, und das lag genau wie die Eingangstüre ganz am anderen Ende des Gebäudes.

Der Einbrecher könnte schon wieder fort sein, aber wusste sie das sicher?

Karin verhielt sich so leise wie möglich, um ihr Gehör zu schärfen. Und genau in dem Moment hörte sie ein Scheppern. Aus dem Raum der Marienkäfergruppe, dessen Tür im rechten Winkel zur Küchentür lag.

Genau nebenan.

Karin hatte einen Vorteil. Sie kannte sich im Gebäude aus. Seit fünfzehn Jahren verbrachte sie hier als Vollzeit-Angestellte mehr Zeit als zuhause.

Karin löschte das Licht, sowohl das in der Küche als auch das im Flur. Aus einer der Küchenschubladen holte sie das Nudelholz. Sie zog ihre Winterstiefel aus, um so wenig Geräusche zu machen, wie irgend möglich. Sie schlich auf Zehenspitzen aus der Küche und spinkste vorsichtig um die Ecke. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass die Türe der Abstellkammer des Gruppenraumes geöffnet war und dort das Licht einer Taschenlampe herumschwirrte. Karins Herz klopfte mittlerweile bis zum Hals, doch das hier musste sie zu Ende bringen. Sie schlich weiter, so leise sie konnte. Sie hielt den Atem an, und sobald sie in die Nähe der Tür gelangte, schlug sie sie zu und drehte den dazugehörigen Schlüssel im Schloss herum. Kaum war das erledigt, schlug jemand von innen wie von Sinnen auf die Tür ein.

„Wer ist da? Lass mich raus, du Schlampe! Ich bring dich um, ich schwöre es dir! Sobald ich es hier raus geschafft habe!“

Karin starrte noch einen Moment gebannt auf die Tür, dann entwich die ganze angehaltene Luft aus ihr heraus. Der Einbrecher warf sich mit aller Wucht gegen die Türe, dass sie fast aus den Angeln flog. Das erweckte Karin aus ihrer Starre. Sie warf vor Schreck das Nudelholz von sich, rannte ins Büro, rief die Polizei an und stürmte anschließend aus dem Gebäude, aber nicht, ohne die Türe zweifach abzuschließen.

Als die Polizei kurze Zeit später das Gebäude stürmte und im Anschluss den Einbrecher abführte, konnte Karin in der Dämmerung erkennen, dass er absurderweise ein Nikolauskostüm trug. Der Mann starrte sie finster an, und bei dem Gedanken an die Worte, die er durch die geschlossen Tür zu ihr gesagt hatte, wurde ihr übel.

7. Dezember 1976

 Acht langweilige Stunden. So lange waren sie gefahren, um nach München zu kommen. Michaels Eltern hatten unterwegs fünf Mal halten müssen, weil er Pipi machen musste. Mama und Papa hatten das nicht toll gefunden, aber sie hatten auch keine andere Wahl gehabt, wenn sie nicht wollten, dass ihr vierjähriger Sohn ins Auto pullerte.

Nun parkten sie vor diesem riesengroßen Haus, das Michael noch nie gesehen hatte.

„Wir sind da, Michi!“, sagte Mama strahlend. Sie stieg aus, und Michael beobachtete, wie sie auf das Haus zuging. Kaum war sie dort angekommen, wurde auch schon die Haustüre aufgerissen. In dieser Tür erschien eine Frau, die den kompletten Türrahmen ausfüllte. Sie kreischte auf. Michael befürchtete schon, ihr tue etwas weh, dann riss sie Mama an sich.

Papa seufzte laut auf und schnallte sich dann ab. „Na komm, Sohn. Begrüßen wir deine Großtante Edeltraud.“

Michael schnallte sich selbst ab, während Papa ausstieg. Vorsichtig öffnete er die Tür und kletterte aus dem Auto.

Es war kalt. So unfassbar furchtbar kalt. Michael konnte Atemwölkchen vor seinem Gesicht sehen. Dann erst bemerkte er den Schnee. Der Ort hier, das Haus, die Bäume, die Straße, die Autos – alles lag unter einer dichten weißen Schneedecke, die wie Zuckerwatte aussah.

„Ach herrje, da ist ja der kleine Bub!“ Diese Großtante Edelkraut kam auf ihn zugestampft, packte ihn an den Oberärmchen, hob ihn hoch und drückte ihn an ihren gewaltigen Busen. Großtante Edelkraut roch nach Sauerkraut und brachte Michael beinahe dazu, das Atmen zu vergessen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ sie ihn wieder herunter. Michael atmete tief durch.

„Mein Güte, der Bub sieht ja aus wie Josef. Gott hab ihn selig.“

Michael wusste nicht, wer Josef war. Aber ihm war immer noch kalt.

„Jetzt aber schnell rein, Kinder, bevor wir noch erfrieren. Ich habe uns was Gutes gekocht, da könnt ihr euch aufwärmen.“

Im Haus war es kuschelig warm. Im Wohnzimmer gab es einen großen offenen Kamin, der Hitze ausstrahlte, die für das ganze Haus reichte. Während die Erwachsenen sich unterhielten, hockte Michael sich auf den Boden vor dem Kamin und beobachtete die tanzenden Flammen. Manchmal knisterte es auch. Michael war völlig fasziniert. Daher dauerte es auch eine Weile, bis er seine Aufmerksamkeit der großen Terrassentür widmete. Es wurde schon dunkel draußen, trotzdem konnte er eine kleine Hundehütte erkennen. Michael stand auf, ging zur Türe und schaute hinaus. Die Hände legte er zum Schutz an die Augen, um besser erkennen zu können, was da draußen vor sich ging. Ein kleiner Hund hockte darin. Michael klopfte vorsichtig an die Scheibe, und der Hund verließ die Hundehütte. Er war mit einem Seil an die Hundehütte gebunden, schaute Michael durch die Fensterscheibe an und zitterte. Er hatte genau solche Atemwölkchen vor der Nase wie eben Michael.

„Michi, kommst du bitte essen?“, rief Mama.

Michael konnte sich nur schwer vom Anblick des Hundes lösen, kam aber trotzdem zum Tisch und kletterte auf den letzten freien Stuhl. Auf dem Esstisch standen Schüsseln mit Rotkohl, Klößen und Braten.

„Großtante Edelkraut?“, fragte Michael.

„Ja, mein Bub?“, antwortete sie.

„Der Hund muss reinkommen.“

„Der Peppi darf nicht rein. Er ist ein Hund.“

Großtante Edelkraut tat Michael einen Kloß auf den Teller.

„Aber dem Peppi ist kalt. Der friert.“

Tante Edelkraut lachte. „Aber Bub, das ist doch ein Hund. Der friert nicht. Außerdem hat ein Hund im Haus nichts verloren. Und nun iss deinen Kloß.“

„Michael, hör bitte darauf, was Großtante Edeltraut sagt“, schaltete Mama sich ein. Sie goss Soße auf seinen Kloß.

Die Erwachsenen unterhielten sich weiter und Michael aß seinen Kloß. Irgendwann hatten sie ihn vergessen. Michael rutschte vom Stuhl. Er ging zur Garderobe, nahm seine Jacke ab und verließ das Haus durch die Haustür. Er stellte einen Schuh dazwischen, damit sie nicht zuging. Michael stapfte durch den Schnee ums Haus. Mittlerweile war es dunkel geworden, aber das machte ihm nichts. An der Hundehütte angekommen, legte er seine Jacke über den in der Hundehütte liegenden, zitternden Dackel. „Du darfst nicht rein. Aber ich schenke dir meine Jacke. So wie Sankt Martin.“ Damit hatte der Junge alles getan, was in seiner kindlichen Macht stand.

Michael streichelte den Hund über den Kopf und ging zurück ins Haus.

8. Dezember 2014

Horst war noch keine ganze Woche hier, aber diese Streiterei ging schon die ganze Zeit. Quasi ununterbrochen. Also, nicht in der Nacht. Da schliefen sie. Ausschließlich. Dachte Horst allerdings an seine Zeit in den Zwanzigern mit seiner Hilde zurück, hatten sie beileibe nicht nur geschlafen in der Nacht. Ach, Hilde... Bei dem Gedanken an seine kürzlich verstorbene Frau schmerzte sein Herz, aber er hatte auch ein Lächeln im Gesicht.

„Da diskutiere ich gar nicht mit dir drüber, Punkt! Ich habe dir das letzte Woche schon gesagt!“ Horsts Enkelin Anja verschränkte die Arme vor der Brust. Mit bösen Augen funkelte sie ihren Mann Christian an, die Unterlippe trotzig nach vorne geschoben. Das hatte sie schon als Kind so gemacht, wenn sie wütend gewesen war, weil sie nicht bekommen hatte, was sie wollte. Mach kein Schippchen, hatte ihre Mutter dann immer gesagt. Und Opa Horst hatte seine kleine Nichte auf den Schoß genommen und getröstet.

Christian stand da, nicht minder beleidigt, die Hände in die Seiten gestemmt. „Es handelt sich um einen Abend, Anja! Einen einzigen Abend! Es ist der Junggesellen-Abschied von Toni. Der ist mein bester Freund. Glaubst du, da gehe ich nicht hin, nur weil du das nicht willst?“

„Ihr wollt nach Amsterdam, Christian. Nach Amsterdam! Hältst du mich eigentlich für blöd?“ Sie tippte sich energisch an die Stirn.

„Darum geht es doch gar nicht. Niemand hält dich für blöd. Du könntest lediglich ein wenig lockerer sein.“

„Achso, ich bin dir nicht locker genug? Weil du kiffen und saufen willst? Wenn du das machst, ist es doch mit den Weibern auch nicht mehr so weit weg.“

„Du glaubst, ich gehe dir fremd? Ist das dein Ernst? Ich bin dir treu, verdammte Scheiße! Wie oft muss ich dir das eigentlich noch sagen?“

„Sagen kann man viel, wenn der Tag lang ist.“

Christian atmete tief durch. Dann verließ er das Wohnzimmer, stapfte durch den Flur und betrat sein Büro. Das Knallen der Türe setzte einen Punkt.

Horst, der in der Küche saß, fand, die jungen Leute könnten beide etwas lockerer werden. Er stand auf, holte einen Topf aus dem Schrank und aus der Vorratskammer eine Flasche Glühwein, die er dort schon eine Weile bunkerte. Ganz in Ruhe leerte er die Flasche in den Topf. Dann griff er in seine Hosentasche, nahm das Döschen heraus, welches er immer bei sich trug, öffnete es und nahm eine Prise des Krauts heraus, welches sich darin befand. Gerade, als die letzten Krümel in den Topf fielen, betrat Anja die Küche.

„Tut mir leid, dass du den Stress zwischen Christian und mir immer mitkriegen musst.“

„Ach, mach dir mal keinen Kopf, Mädchen. Ich habe schon schlimmeres erlebt.“ Horst rührte seelenruhig seinen Glühwein. Der Duft von weihnachtlichen Gewürzen zog durchs Haus.

„Aber das muss nicht sein. Du bist zu uns gezogen, weil du nach Omas Tod nicht allein leben wolltest. Du brauchst deine Ruhe.“

Horst ließ den Topf einen Moment aus den Augen und schenkte seine gesamte Aufmerksamkeit seiner Enkelin. „Na hör mal. Ich bin zwar fast 80 Jahre alt, aber das Leben liebe ich schon noch.“

Anja lächelte. „Was kochst du da schönes?“

„Ich mache uns einen Glühwein warm.“

Anja, die kurz vor dem Streit von der Arbeit nach Hause gekommen war, trat an den Herd und atmete mit geschlossenen Augen ein. „Oh, das riecht super, Opa. Eine tolle Idee. Draußen ist es eiskalt, ich werde einfach nicht warm.“

„Hol doch mal drei Tassen aus dem Schrank. Dann schenke ich uns was ein.“

„Drei?“

„Natürlich. Oder möchtest du deinem Christian nichts geben?“

„Ach, der ...“ Trotz ihrer Äußerung holte Anja drei Weihnachtstassen aus dem Schrank. Horst stellte den Herd aus und goss die Tassen voll. Zwei davon reichte er Anja. „So, und nun ab ins Büro zu deinem Männe. Er wird sich freuen.“

„Danke Opa. Schön, dass du hier bist.“ Anja hielt die Tassen von sich weg und küsste Horst auf die Wange.

Für den Rest des Tages war kein Streit mehr zu hören. Ab und zu kam ein Kichern aus Christians Büro. Und Horst schlich ein Lächeln ins Gesicht, während er seinen speziellen Glühwein trank. 

9. Dezember 2001

 

Als Ella heute Morgen aus ihrem Zimmerfenster schaute, war sie überwältigt von der überraschenden Schneepracht, die sich ihr darbot. Doch dann schob sich gleich der nächste Gedanke in ihren Kopf. Später auf dem Schulhof würde niemand von einer heftigen Schneeballschlacht verschont. Ella hasste es, wenn gerade die Jungs besonders harte Bälle formten und versuchten, ihre Mitschüler – bevorzugt jüngere, schwächere, kleinere oder einfach die, die anders waren – am Kopf zu treffen. Von der Schule aus waren Schneeballschlachten wegen erhöhter Verletzungsgefahr verboten, aber daran störte sich niemand.

Ella gehörte in der zwölften Klasse selbst zu den Älteren, ihre Zeit, in der sie harte Schneebälle abbekommen hatte, war längst vorbei. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als Celine ihre beste Freundin geworden war. Celine war das beliebteste Mädchen im Jahrgang, die Jungs flogen wie wahnsinnig auf sie ab. Selbst das ein oder andere Mädchen hatte sein Herz an diese Schönheit verloren, das spürte Ella.

Um dem ganzen Schnee-Hick-Hack am Morgen zu entgehen, war sie einfach später zur Schule gegangen, gerade noch so, dass sie nicht zu spät zum Unterricht kam. Auch in den beiden Pausen hatte sie es geschafft, sich im Pausen-Kiosk zu verziehen, um dort auszuhelfen, weil jemand krank geworden war.
Aber nach Schulschluss funktionierte das nicht mehr. Celine hatte gemerkt, dass ihre beste Freundin sich vor etwas drückte und drängte sie, mit ihr gemeinsam das Gebäude verlassen.

Wie befürchtet war draußen schon der heftigste Schneekrieg im Gange. Schneebälle kamen aus allen Richtungen geflogen. Ella duckte sich, als direkt neben ihr an der Wand ein solcher Schneeball einschlug. Eisstückchen spritzten davon in sämtliche Richtungen. Ein paar davon trafen Ellas Gesicht. Celine bückte sich gleich und nahm eine Hand voll Schnee auf, um in das Geschehen einzusteigen.

Amir, ein extrem schüchterner Junge aus der fünften Klasse, der kaum Deutsch sprach, kam aus dem Gebäude. Und ehe Ella irgendwie reagieren konnte, kam von rechts Tom aus ihrer Klasse angesprungen, die große Hand voll Schnee und seifte Amir nicht gerade zimperlich das zarte Gesicht ein. Der kleine Kerl hustete und prustete, als Tom von ihm abließ und gehässig lachte.

In Ellas Bauch bildete sich ein Wutklumpen. Sie hockte sich hinunter zu Amir, der nach der Attacke auf seinen Hintern in den Schnee gefallen war.

„Hey, Amir. Geht es dir gut?“

Amir hatte eine Schramme an der Nase, seine Augen waren mit Tränen erfüllt. Er traute sich kaum, Ella anzusehen. Zu groß waren die Scham und der Schmerz. Ella spürte Amirs Gefühle, als wären sie ihre eigenen. Sie fühlte Tränen in ihren Augen brennen und hoffte, dass sie sich nicht durchsetzten.

Amir antwortete nicht, aber er ließ sich von Ella hochhelfen. Dann rannte er so schnell wie möglich über den Schulhof davon.

„Boah, Ella! Nun stell dich nicht so an! Der Zwerg hat ein bisschen Schnee abbekommen, na und? Da muss er durch. Du bist so eine elende Heulsuse!“, sagte Celine. Und dann lachte sie.

Ella packte ihren Rucksack und verließ ohne weitere Worte den Schulhof.

 

Ella konnte nicht aufhören zu weinen. Ihre Wut auf Celine machte es nicht besser. Ihre beste Freundin hatte sie in dieser beschissenen Situation nicht nur im Riss gelassen. Sie hatte sie auch noch als Heulsuse bezeichnet.

Der Gedanke daran schmerzte tief in Ellas Herz, und das brachte sie noch mehr zum Heulen. Ella empfand es selbst als furchtbar, wie nah sie am Wasser gebaut war. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, anders als alle anderen zu sein. Nicht dazuzugehören.

Ella saß auf der Bank im Stadtpark und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. War da irgendwo der Planet, von dem sie eigentlich kam? Und wenn ja, wann holte man sie wieder ab?

Sie musste endlich lernen, wie die anderen zu sein. Sich ein dickes Fell zulegen, wie Mama immer sagte. Das habe ihr auch geholfen. Aber wie machte man das? Wie konnte man all diese überwältigenden Gefühle abstellen? Wie sollte sie ihr Herz stumm machen, wenn Wut, Trauer, Angst, Mitgefühl oder ihr besonders ausgeprägter Gerechtigkeitssinn sie überwältigten?

Amir stand mit einem Mal vor Ella. Er griff in seine Jackentasche und holte ein Bonbon hervor, welches er ihr wortlos hinhielt. Sie nahm es, er lächelte und rannte davon.

Ellas Tag war gerettet.

10. Dezmeber 1977

 Agatha Frost hatte ihren letzten Thriller vor 15 Jahren geschrieben. Aber die Liebe zur Spannung, ihr Hunger nach Attraktionen hatte sie auch nach ihrem gestern groß gefeierten Neunzigsten Geburtstag nicht losgelassen. Täglich schaltete sie nach dem Aufstehen sofort ihr Radio ein, um die Nachrichten nicht zu verpassen.

„Und nun zum Lokalteil. Die Polizei sucht mit einem Großeinsatz nach dem Einbruch in die Privatgemächer des Grafen auf Burg Schleihenthal nach den mutmaßlichen Verbrechern. Bei dem Beutezug wurde ein geschätzter Bargeldbetrag von fünfzehntausend D-Mark vermutet. Bei den Verdächtigen handelt es sich um zwei Männer im Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahren. Einer der Täter war groß und schmal, der andere klein und kräftig. Weitere Angaben konnten die Zeugen nicht machen, weil die beiden Männer mit Strumpfhosen maskiert waren. Die Polizei bittet die Bürger darum, die Augen offen zu halten und gegebenfalls Hinweise der Polizei mitzuteilen.“

Oh! Ein Einbruch! Man hatte den schnöseligen Grafen bestohlen. Ein arroganter Zeitgenosse, aber ein Verbrechen blieb nun mal ein Verbrechen.

Solch einen großen Einbruch hatte es in Agathas Heimatstadt lange nicht mehr gegeben. Eigentlich war es in Erpenich schon immer furchtbar langweilig gewesen, daher hatte Agatha als junges Mädchen begonnen, spannende Geschichten zu schreiben, die in das Genre Thriller fielen. Das Schreiben fiel ihr aber mittlerweile schwer. Die Finger wollten nicht mehr so flink über die Tasten ihrer Schreibmaschine flitzen, und mit der Hand schreiben war aufgrund ihrer Arthritis nicht mehr möglich. Auch ihre Augen spielten nicht mehr so richtig mit.

Dafür war ihr Verstand noch hellwach.

Agatha rollte in ihrem Rollstuhl, den sie nur zuhause benutzte, zum Telefon auf dem großen Sekretär ihres Büros. Sie wählte eine Nummer und wartete, bis der Angerufene abnahm.

„Körschgen.“

„Körschgen, hier ist Frost. Sie müssen mich sofort abholen. Es gibt einen neuen Fall.“

„Sie meinen den Einbruch?“

„Richtig. Und ich habe der Beschreibung nach eine Ahnung, wer die Verdächtigen sein könnten.“

Keine zehn Minuten später war das ältliche Pärchen mit dem Benz unterwegs Richtung Schleihenthal.

„Sind Sie sich wirklich sicher? Ich meine, das ist schon eine heftige und zugleich auch mutige Vermutung“, sagte Körschgen.

„Wie Sie sich gerade schon selbst bestätigt haben, kommt das Wort Vermutung von Mut. Außerdem müssten Sie wissen, dass ich nie falsch lag in den vergangenen Jahren.“

Körschgen hielt schräg gegenüber der Kirche auf dem Bürgersteig. Im Anschluss half er Agatha aus dem Auto und führte die gebrechliche alte Dame am Arm über die Straße. Gemeinsam betraten sie die katholische Kirche des kleinen Eifeldorfes Schleihenthal.

Agatha liebte diese Kirche, sie kannte sie seit ihrer Kindheit. Hier fand sie Ruhe vor der hektischen Welt da draußen. Ehrfürchtig tauchten sie und Körschgen ihre Fingerspitzen ins Wasser und bekreuzigten sich. Ganz vorne am Altar stand der junge Pater Anselm, direkt unter der Statue des gekreuzigten Jesus, welche von der Decke hing. Rechts daneben waren zwei Burschen, der eine dick und klein, der andere groß und schmal, damit beschäftigt, das Krippenbild aufzubauen.

Als Pater Anselm Agatha bemerkte, kam er eilig auf sie zu.

„Frau Frost! Was freue ich mich, sie zu sehen. Ich hoffe, sie hatten gestern einen ganz wundervollen Geburtstag? Noch einmal alles Gute nachträglich.“ Er schüttelte ihre kleine Hand euphorisch.

„Was ist los, Pater Anselm? So fröhlich und gelöst kenne ich Sie kaum.“

„Stellen Sie sich vor, Frau Frost: eine unbekannte Person hat anonym eine beträchtliche Summe für Misereor gespendet! Mehrere tausend Mark! Ist das nicht fantastisch?“

Agathas Blick fiel auf die beiden jungen Männer, die sich beim Erwähnen der Geldsumme kaum merklich ansahen.

„Ach, wirklich? Das ist ja unglaublich. Von mir war es nicht, aber ich bin hier, um Ihnen ebenfalls etwas zu spenden.“ Agatha griff in ihre Handtasche, holte ihr Portemonnaie hervor und drückte dem Pater mehrere blaue Scheine in die Hand. Dann deutete sie auf das Krippenbild. „Ich freue mich schon auf die Messe am Heiligen Abend. Haben Sie noch einen schönen Tag.“

Als Agatha und Körschgen die Kirche verließen, fragte der Chauffeur: „Warum haben Sie dem Pater gegenüber ihre Vermutung nicht geäußert?“

Agatha lächelte. „Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, Körschgen. Vielleicht lag meine Spürnase zum ersten Mal doch falsch.“

11. Dezember 2013

Christa fror. Noch dreizehnmal schlafen, dann war Weihnachten. Geschneit hatte es aber noch nicht ein einziges Mal. Was war denn das für ein langweiliger Winter ohne Schnee? Das ist doch das Einzige, was an dieser Jahreszeit schön ist. Den Flocken zuzusehen, wie sie vom Himmel herab tanzen, vom Wind herumgewirbelt werden. Wie sie dann auf dem kalten gefrorenen Boden fallen, um dort liegenzubleiben. Und wenn genug davon die Erde bedeckt hat, baut man einen Schneemann oder ein Iglu. Aber nichts davon war möglich. Es war nur trüb und kalt. Nicht mal die Sonne schien. Und nun kamen Mama und Oma auch noch auf die Idee, einen Spaziergang zu machen.

Christa liebte Oma. Sie sah aus wie Mama in alt. Nur Oma zuliebe ließ Christa sich jetzt auf diesen Spaziergang ein.Sie überquerten die befahrene Hauptstraße, aber nur um gleich danach in den großen, anliegenden Wald zu gehen. Die Bäume waren alle nackt und kahl, kein einziges Blatt hing mehr an ihren Ästen. Sämtliche Blätter, die auf dem Boden lagen, waren nicht mehr herbstlich bunt, sondern nur noch schmutzig braun. Christa seufzte. Sie konnte nicht anders. Es kam einfach so aus ihr heraus. „Mir ist langweilig.“

„Dir ist immer langweilig. Aber du kannst nicht ständig nur vor dem Fernseher sitzen“, sagte Mama.

Christa senkte den Kopf. Mama verstand sie sowieso nicht. Ihr ging es nicht um Fernsehen. Sie wollte Sommer. Oder wenigstens Frühling, wenn schon im Winter kein Schnee fiel.

Oma lächelte Christa noch einmal verständnisvoll zu und vertiefte sich dann in ein Erwachsenen-Gespräch mit Mama, das Christa nicht interessierte. Nach einer Weile schaute sie sich im Wald um, was blieb ihr anderes übrig? Vielleicht tauchte ja doch noch irgendwo ein Reh oder ein Wildschwein auf, das den Spaziergang wenigstens ein bisschen spannend machen würde. Aber es war weder ein Wildschwein noch ein Reh, das ihre Aufmerksamkeit weckte. Eine Nuss, genaugenommen eine dicke Walnuss, fiel vom Himmel direkt vor Christas Füße. Christa blieb ruckartig stehen.

„Wo kommt die denn her?“, fragte Mama.

Christa, Mama und Oma blickten sich um. Weit und breit war kein einziger Walnuss-Baum zu sehen, von dem die Nuss hätte heruntergefallen sein können.
Christa bückte sich und hob die Nuss auf. Da ertönte plötzlich ein lautes „Kraaahh!“ direkt über ihr. Erschrocken ließ Christa die Nuss wieder auf den Gehweg fallen.

„Seht mal, da ist ein Rabe auf dem Baum“, sagte Mama und deutet auf einen Ast direkt über ihnen. Christa schaute nun auch nach oben und entdeckte den schwarzen gefiederten Vogel sofort. „Kraaahh!“, rief er wieder und schlug aufgeregt mit den Flügeln.

„Was will der von mir?“, fragte Christa, denn sie fühlte sich von dem Raben direkt angesprochen. Er sah ihr sogar in die Augen.

„Ich glaube, er möchte, dass du die Nuss für ihn öffnest“, sagte Oma.

„Was? Die Nuss? Wieso?“, fragte Christa verwirrt.

„Ich denke, er hat Hunger und schafft es nicht allein“, sagte Oma.

„Glaubst du wirklich? Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Mama.

Christa sah noch einmal zu dem Vogel hoch und trat dann entschlossen auf die Nuss. Mit einem Knirschen zerbrach die Schale und die legte den kernigen Inhalt frei. Der Rabe sagte gar nichts und schaute Christa erwartungsvoll an.

„Und jetzt?“, fragte Christa.

„Nun müssen wir weitergehen, damit er sich auch traut, die Nuss zu essen“, sagte Oma und zog Christa an der Hand weiter.

Auch Mama folgte den beiden, obwohl sie etwas ungläubig über das Ganze lächelte.

Doch kaum waren sie weit genug entfernt, flatterte der Rabe auf den Boden, pickte ein paar Krümel der zerbrochenen Nuss auf, um dann das größte Stück mit dem Schnabel aufzunehmen und davon zu fliegen. Hoch oben in der Luft rief er noch einmal „Kraaahh!“

Für Christa hieß das eindeutig: „Danke schön!“ 

12. Dezember 2016

 Kira war jetzt schon sieben Monate alt. Damit war das wuschelig-braune Hundemädchen umgerechnet fast schon so alt wie ein Grundschulkind.

Seit vier Monaten wohnte Kira bei ihren beiden Menschen. Sie war gern mit den beiden zusammen. Am liebsten mochte Kira es, wenn der Mann mit ihr Spiele spielte wie Bällchen werfen. Schmusen und Kuscheln mit den beiden fand sie auch ganz toll, aber das allerschönste war, wenn sie rennen durfte. Rennen, schneller als der Wind, so dass die felligen Ohren flatterten und der Boden unter ihren Pfoten Staub aufwirbelte.

Der Mann und die Frau mussten die Woche über arbeiten. Kira hatte keine Ahnung, was dieses Wort eigentlich bedeutete. Für sie jedoch hieß es, dass sie von Montag bis Freitag jeden Tag sechs Stunden allein bleiben musste. Das war natürlich alles andere als schön, aber anscheinend ging das nicht anders. Um das wieder gutzumachen, ging die Frau vor der Arbeit jeden Tag mit Kira spazieren. Eine ganze Stunde lang. Da konnte Kira dann laufen, so viel und so schnell sie wollte. Sie durfte nämlich ohne Leine laufen, weil Kira brav genug war, nicht vom Weg abzukommen oder wegzulaufen. Sie erschnüffelte Spuren von den verschiedensten Tieren, die im Wald lebten: Wildschweine, Füchse, Hasen und Rehe. Manchmal tat sie auch Dinge, die die Frau überhaupt nicht toll fand und fürchterlich zu schimpfen anfing. Wenn Kira schmackhafte Hasenköttel aß oder sich im duftenden Häufchen eines Wiesels oder Wildschweines wälzte. Kira konnte die Aufregung dann gar nicht verstehen. Die Menschen aßen doch auch Sachen, die ihnen besonders gut schmeckten oder benutzten Parfum, um gut zu riechen. Das, was Kira tat, war doch nichts anderes. Aber anscheinend waren die Menschen da anderer Meinung. Sie steckten Kira dann in die Badewanne und wuschen ihr den mühsam aufgetragenen Duft wieder aus dem Fell am Hals.

Im Winter ist es kalt, auch im Wald, und so zog die Frau auf den Spaziergängen immer Handschuhe an. Sie hatte ja kein wärmendes Fell zwischen den Fingern wie Kira zwischen den Zehen ihrer Pfoten. Es war gut, dass die Frau Handschuhe trug, so bekam sie keine kalten Finger, wenn sie für Kira Stöckchen warf, die Kira dann in Windeseile holte und der Frau zurückbrachte. Manchmal zog die Frau auch einen Handschuh aus, wenn sie für Kira aus ihrer Jackentasche eines der Leckerchen holte, die übrigens aussahen wie Hasenköttel. Oder wenn sie an ihr Handy-Dingsbums gehen musste, das zwischendurch immer mal wieder komische Geräusche machte. Wie auch heute. Die Frau zog den rechten Handschuh aus und klemmte ihn unter ihren linken Arm, während sie konzentriert las, was auf dem Handy-Dingsbums stand. Während die Frau nur auf ihr Handy-Dingsbums konzentriert war, bekam sie nicht mit, wie der Handschuh unter ihrem Arm hervor rutschte und auf den Waldweg landete. Sie lief einfach weiter. Kira blieb stehen, um abzuwarten, ob die Frau nicht doch irgendwas merkte. Aber nein. Nichts zu machen. Kira lief zurück zum Handschuh, und erst jetzt merkte die Frau, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie blieb stehen und drehte sich zu Kira herum. So merkte sie erst, dass sie ihren Handschuh verloren hatte. Kira nahm den Handschuh in die Schnauze und brachte ihn der Frau zurück. Die Frau war sehr überrascht und erfreut. „Kira, du bringst mir ja meinen Handschuh! Das ist aber lieb von dir.“ Die Frau nahm Kira den Handschuh ab und streichelte ihr über den Kopf. „Dafür bekommst du aber eine Belohnung.“ Die Frau griff in ihre Jackentasche und gab Kira ein Leckerchen. Kira wartete, bis die Frau ihren Handschuh wieder angezogen hatte und einen neuen Stock warf, dem Kira voller Freude hinterherrannte, dass die Ohren nur so im Wind flatterten. 

13. Dezember 1971

Der Topf mit dem Weihnachtsstern in Mamas Hand zitterte. Weil Mama zitterte. Erich sah ihr in die Augen, die starr und weit entfernt wirkten, aber gleichzeitig auch, als lauere hier irgendwo hinter den Gärtnerei-Regalen ein Monster, welches Mama zwar schon gewittert, aber noch nicht gesehen hatte.
„Mama, geht es dir gut?“ Die Frage war überflüssig. Der Elfjährige erkannte solch kleine Zeichen mittlerweile wie ein Profi. Doch irgendwie musste er sie ansprechen, zumindest ein bisschen aus diesem gruseligen Zustand herausholen.

„Was?“ Sie sah ihn an, die Augen schreckgeweitet. Ihr Atem ging schnell, viel zu schnell. Und für Mitte Dezember, bei diesen eiskalten Temperaturen, standen auch zu viele Schweißperlen auf ihrer Stirn.

Erich griff nach ihrer Hand. „Gib mir den Blumentopf, Mama.“

Sie gab ihn ihm nicht, er nahm ihn aus ihrer Hand. Dann führte er seine verängstigte Mutter an der Hand durch die Gärtnerei, vorbei an Grünpflanzen, Tannenbäumen, Adventskränzen, Blumenerde, Blumenübertopfe bis hin zur Kasse. Dort mussten sie warten. Warten in der Öffentlichkeit in Mamas Zustand war das Schlimmste.

Sie reihten sich hinter dem glatzköpfigen Mann, der hinter der hübschen Frau mit dem Baby stand, ein. Mama ließ Erichs Hand los, ging einen Schritt zurück und griff sich an den Hals. „Ich kriege keine Luft!“ Sie sprach zu laut. Der Mann vor ihnen drehte sich um. Er musterte sie ganz seltsam von oben bis unten, als wolle er die Situation einschätzen.

Erich griff nach Mamas Hand und zog sie wieder zu sich.

„Ich kriege keine Luft!“, wiederholte Mama. Ihr Atem ging noch hektischer. Wenn das überhaupt noch möglich war. Nun wurde auch die junge Frau aufmerksam.

„Brauchen Sie einen Krankenwagen?“

„Nein, keinen Krankenwagen!“ Erich schüttelte heftig den Kopf. Bitte nicht. Jedes Mal, wenn sie einen Krankenwagen riefen und die Männer Mama untersuchten, schauten sie sich ganz seltsam an und schüttelten die Köpfe. Sie habe nichts, sie sei kerngesund. Und dann fuhren sie wieder weg.

Einmal hatten sie sie mitgenommen, da war sie für ein paar Wochen in der Psychiatrie gelandet. Die Medikamente hatten Mama müde gemacht. Und Erich war mit Papa und seinen jüngeren Geschwistern allein zuhause gewesen. Das war Erichs schlimmste Zeit.

Mama gehörte nach Hause. Zuhause ging es ihr gut. Ihr ging es immer nur schlecht, wenn sie außer Haus war. Dann bekam sie Angst. Aber manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass Mama raus musste. Sie war nunmal die Mama. Sie musste für die Familie kochen. Und wer kochen musste, musste auch einkaufen. Eigentlich waren Erich und Mama für heute schon fertig gewesen mit dem Einkauf. Aber Mama hatte unbedingt noch einen Weihnachtsstern haben wollen, den sie Oma zum Geburtstag schenken wollte. Und nun hatten sie den Salat.

„Aber deine Mutter bekommt keine Luft. Was ist, wenn sie einen Herzinfarkt hat?“, sagte die junge Frau.

Daraufhin kollabierte Mama fast. „Oh mein Gott, ich könnte einen Herzinfarkt haben!“

„Nein, Mama! Hör auf! Du hast keinen Herzinfarkt.“ Erich wusste nicht genau, wovor Mama immer eine solche Angst hatte, aber ein Herzinfarkt war es nicht.
Erich atmete tief durch und nahm allen Mut zusammen. „Darf ich bitte mit meiner Mutter vorgehen?“

Der glatzköpfige Mann trat zur Seite. Er sah aus, als wäre er froh, wenn er Erich und seine Mutter endlich los wäre. Mama ließ sich von Erich weiterziehen.

„Ich muss hier raus, Erich. Ich glaube, ich falle gleich um!“

„Du fällst nicht um, Mama.“ Nun standen sie hinter der jungen Frau mit dem Baby.

Sie machte keinen Platz. „Ich glaube, Sie brauchen dringend einen Arzt.“ Die Frau ignorierte Erich einfach. Sie sollte Mama nicht ansprechen, das war nicht gut. Er wusste, was richtig war. Aber die Leute nahmen ihn nie ernst, weil er ein Kind war.

„Mama geht es wieder gut, sobald wir hier raus sind. Also lassen Sie uns bitte durch.“

Die Frau sah ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen an. Dann trat sie zur Seite. Erich stellte den Blumentopf auf die Theke und bezahlte, ohne Mamas Hand loszulassen. Als das alles geschafft war, zog er Mama endlich an die frische Luft. Ab dem Moment war es wie immer, wenn sie beängstigenden Situationen entkamen: Aus Mama entwich die Anspannung wie die Luft aus einem Ballon. Sie lehnte sich an die Wand und atmete still tief durch.

„Danke, Erich. Du bist wirklich mein Engel. Es tut mir unendlich leid.“ Dann weinte sie. Und Erich drückte sie, bevor sie sich auf den Heimweg machten. 

14. Dezember 1980

„Entschuldigen Sie, könnten Sie mir sagen, ob in dieser Marmelade Zimt enthalten ist?“

Es traf Christine wie ein Schlag. Sie war sich in diesem Moment absolut sicher, dass sie noch niemals zuvor etwas so Schönes wie diesen Mann gesehen hatte. Und das wollte schon was heißen. Sie hatte mit ihren vierunddreißig Jahren schon einige Männer gesehen, aber niemand von denen hatte sie wirklich haben wollen. Sie war immer noch unverheiratet. Eine Schande, besonders in ihrem Dörfchen. Und für ihre konservative Familie.

Der schöne Mann schaute nun auch endlich von dem Glas Marmelade auf, welches er in der Hand hielt. Wahrscheinlich hatte er auf eine Antwort der Person gewartet, die sich in dem Häuschen des Weihnachtsmarktstandes befand, vor dem er gerade stand. Die hatte er aber nicht bekommen, weil Christine einfach zu verzaubert war.

Als er sie ansah, lächelte er. Weil sie lächelte. Er konnte nicht anders.

„Zimt? Ja. Ist das ein Problem?“, sagte Christine, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.

„Leider ja. Es soll ein Geschenk für meine Mutter sein, aber sie reagiert hochallergisch auf Zimt. Schade. Dabei liebt sie Orangen so sehr.“

Christine schaltete schnell. „Dann schlage ich das Orangen-Zitronen-Gelee vor. Das schmeckt auch weihnachtlich, aber statt Zimt mit Anis.“ Sie griff nach einem Glas ganz am anderen Ende der Auslage und zeigte es ihm.

„Oh, das klingt auch interessant. Machen Sie all diese ausgefallenen Marmeladen und Gelees selbst, die Sie hier verkaufen?“

Christiane grinste, nicht ohne Stolz. „Ja. Nach einem alten Familienrezept. Früher hat meine Tante sie hergestellt. Die letzten fünf Jahre hat sie mich in ihre Kunst eingeweiht, und dieses Jahr habe ich den Stand zum ersten Mal alleine. Sie gönnt sich während der Adventszeit einen Urlaub.“

„Aha, dann sind Sie also auch eine Künstlerin. Ich nehme drei davon.“

Christine nickte und packte drei Gläser in eine Papiertüte. „Das macht fünfzehn Mark. Wieso auch? Bist du ebenfalls Künstler?“ Sie war wie selbstverständlich zum Du übergegangen und ärgerte sich kurz danach sofort darüber. Was, wenn er es ihr übelnahm?

Der schöne Mann zahlte die fünfzehn Mark, nahm die Papiertüte entgegen und sagte: „Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Josef Zirbler mein Name. Ich komme aus Zürich und bin hier, um eine Autorenlesung zu halten.“

Christine hatte es geahnt. Dieser Mann war kein gewöhnlicher. Das hatte sie gleich gespürt. Er war Autor. Das machte ihn so schön. Von innen.

Sie reichte ihm die Hand über den Verkaufstresen hinweg. „Christine Imgrund, Hallo. Du hältst eine Autorenlesung? Hier auf dem Weihnachtsmarkt?“

„Ja, am Stand der Stadtbücherei. Komm doch vorbei, ich würde mich freuen.“ Josef fiel eine seiner aschbraunen Locken in die Stirn, die sich unter seiner Wollmütze hervorgekämpft hatte.

Christine wurde warm ums Herz. Was schon was hieß bei dieser klirrenden Kälte. Aber zu einfach wollte sie es diesem schönen Mann auch nicht machen.

„Na ja, das kommt ganz darauf an. Was schreibst du denn so?“

„Ich bin Kinderbuchautor. Zuletzt habe ich ein Bilderbuch über ein verliebtes Schneehuhn geschrieben, dass sich in der Wüste verirrt hat, und daraus werde ich heute vorlesen.“

Nun hatte er sie. Endgültig. Sie fühlte sich gerade selbst wie ein Huhn, dass sich vor lauter Liebe verlaufen hatte.

„Okay, ich bin dabei.“ Sie grinste. Konnten verliebte Hühner grinsen?

Josef hauchte sich in die hohlen Hände. „Schön, das freut mich. Dann bis gleich.“ Er wandte sich ab, kam aber keine zwei Sekunden später wieder zurück. „Nach dem Lesen ist meine Kehle immer so trocken. Hast du Lust, danach mit mir einen Glühwein trinken zu gehen?“

„Nur, wenn die Geschichte vom verliebten Huhn gut ausgeht.“

„Ich nehme dich beim Wort.“ Josef grinste und verließ Christine mit einem Augenzwinkern. 

15. Dezember 2006

Penguin, Marcs elfjähriger Kater und Mitbewohner, lag tot auf seiner Fußmatte, als der junge Mann am Abend nach der Weihnachtsfeier nach Hause kam.

Man hätte meinen können, Penguin wäre eventuell angefahren worden, hätte sich mit letzten Kräften nach Hause geschleppt und sei dann auf der Fußmatte gestorben, weil er es nicht mehr durch die Katzenklappe geschafft hatte. Aber dann hätte man sich die Katze nicht richtig angeschaut. So, wie das Tier zugerichtet worden war, wäre es ihm nie und nimmer möglich gewesen, selbstständig nach Hause zu kommen.

Penguins Leiche lag auf der rechten Seite. Auf der linken Bauchseite fehlte ein mehr als faustgroßes Stück Fleisch. Dort, wo man eigentlich die Gedärme hätte sehen müssen, war nichts als ein schwarzes Loch. Es sah aus, als hätte jemand diesen Teil aus dem Kater herausgerissen. Vielmehr rausgebissen, und dem Rest des Leichnams dann auf der Fußmatte abgelegt. Denn hier war das Verbrechen nicht geschehen. Der Untergrund um den Kater herum war absolut sauber. Keine Spur von Blut.

Marc lief es bei der Vorstellung daran, wie sehr sein geliebter Kater gelitten haben musste, eiskalt den Rücken herunter. Seine Knie wurden weich und er erbrach sich in das verschneite Gebüsch neben der Haustür. Er liebte Horrorfilme, die Bücher von Stephen King. Aber das hier war selbst für ihn zu viel.

Wer machte sowas? Ein Tier derart verletzen und dann wortlos auf die Fußmatte des Besitzers legen? Marc konnte sich niemanden aus der Nachbarschaft dabei vorstellen. Die hatten den freundlichen und kontaktfreudigen Kater alle geliebt. Selbst die Hunde hatten ihn gemocht, beziehungsweise akzeptiert und respektiert.

Nachdem Marc sich einigermaßen beruhigt hatte, hockte er sich neben die Leiche Penguins und streichelte ihn am unversehrten Kopf. Das Tier war nicht nur eiskalt, sondern auch steifgefroren. Er lag also schon mehrere Stunden dort, vielleicht wurde er gleich heute Morgen dort abgelegt, nachdem Marc in sein Auto gestiegen und zur Arbeit gefahren war.

Marc kontrollierte auf seinem Handy die Uhrzeit. Kurz vor Mitternacht. Das Adrenalin, welches mit dem Entdecken dieses furchtbaren Ereignisses durch seinen Körper gejagt war, hatte ihn zwar im ersten Moment hellwach gemacht, aber nun war er einfach nur müde. Vom Weihnachtsessen, vom Alkohol und den ganzen inhaltlosen Small-Talks, die er hatte führen müssen. Marc schloss die Tür auf. Als erstes nahm er aus dem Bad ein altes Handtuch und deckte seinen alten Freund damit zu. Aus dem Keller, der heute Abend einen ganz seltsamen Eigengeruch hatte, holte er einen Karton. Marc legte Penguin samt Fußmatte, die sich nicht von dem steifgefrorenen Tier lösen ließ, in den Karton mit dem festen Vorhaben, ihn morgen im Garten zu begraben. Marc schloss die Haustüre und stellte den Karton ins Bad.

Jetzt wollte er nur noch ins Bett. Er ließ sogar das Zähneputzen ausfallen und zog sich, so schnell es ging, die Decke über den Kopf. Er schloss die Augen. Trotz Müdigkeit ließ es sich nicht vermeiden, dass ihm die ein oder andere Träne aus den Augen lief. Sein Herz schmerzte, als vor seinem inneren Auge Penguin erschien, der durch die Katzenklappe stieg.

Und dann hörte er das Kratzen zum ersten Mal. Zum ersten Mal an diesem Abend, denn das Geräusch an sich kannte Marc. Es war das Kratzen, welches er hörte, wenn Penguin versucht hatte, durch die geschlossene Katzenklappe zu kommen.

Penguin war tot. Tote Katzen konnten nicht durch Katzenklappen gehen. Marc hielt den Atem an und lauschte noch einmal intensiv. Hoffte er, das Geräusch noch einmal zu hören, um es besser einschätzen zu können? Oder hoffte er, es nicht zu hören, in der Hoffnung, sich getäuscht zu haben? Er wusste es nicht. Und dann wiederholte es sich.

Marc setzte sich kerzengerade im Bett auf. Der Geruch, der eben nur im Keller gewesen war, schlich sich nun auch durch die Ritzen seiner Schlafzimmertür. Die Dielen knarzten, als würde etwas über den Boden kriechen, geradewegs auf sein Bett, auf ihn zu. Marc schaltete die Nachttischlampe an. Sofort verschwanden die Geräusche und der Geruch. Marc spürte seinen heftigen Puls bis in die Ohren. Gegen seinen Willen stand er noch einmal auf, um zu kontrollieren, ob die Leiche seines Katers noch da war. Das war sie. Völlig unberührt. Die Katzenklappe war zu.

Marc konnte zwar doch noch relativ schnell einschlafen, aber er ließ die ganze Nacht das Licht brennen.

Am nächsten Morgen wollte Marc als Erstes seinem treuen Freund eine anständige Beerdigung zukommen lassen. Doch jetzt war der Kater wirklich verschwunden, und die Katzenklappe offen. Hatte das Wesen, das Penguin getötet hatte, ihn letztendlich doch noch geholt?

Marc fand keine Antwort. Nur die pure Angst, die zielstrebig in seinen Nacken gezogen war. 

16. Dezember 1994

 Eine Reise in die USA in ihrem Alter!

Was stellten sich Inges Kinder eigentlich vor? Dass sie das mit ihren fast siebzig Jahren einfach so wegsteckte? Die waren doch völlig verrückt. Waren noch so jung und hatten überhaupt keine Ahnung, was es bedeutete, alt zu werden.

Trotzdem hatte sie sich dazu überreden lassen, mitzufliegen. Schließlich wollte auch sie ihren ältesten Sohn Eduard nach so einer langen Zeit noch mal sehen. Wer weiß, wie lange sie noch lebte. Man wusste ja nie. Vielleicht stürzte sie ja auch mit ihrer gesamten restlichen Familie mit dem Flugzeug ab.

Oh Gott!

„Oma, warum siehst du aus wie Stinkekäse?“ Inges jüngster Enkel Lasse kletterte auf ihren Schoß und betastete ihr Gesicht. Sie waren gerade erst am Flughafen angekommen und hatten ein paar der wenigen frei gebliebenen Sitzbänke ergattert.

„Lasse! Das sagt man nicht. Und schon mal gar nicht zu seiner eigenen Oma!“ Inges Schwiegersohn nahm Lasse von Inges Schoß und zog ihn auf seinen eigenen. Lasse kämpfte sich frei und krabbelte zurück auf den Schoß seiner Oma. „Aber ich mag Stinkekäse.“ Er schlang seine Ärmchen um ihren Hals und vergrub seine kalte Nase an ihrem Hals.

„Lass den Jungen doch. Er hat ja recht. Ich sehe aus wie Stinkekäse. Weil ich mich so fühle. Ich habe solche Angst vor dem Flug, ich könnte mir in die Hose machen. Mir ist speiübel.“

„Aber Mama, was soll den passieren? In einem Flugzeug ist es heutzutage doch viel sicherer als im Auto“, sagte ihre Tochter Renate. Sie setzte sich ihr gegenüber, nachdem sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch gesucht und es gefunden hatte. Sie putzte sich geräuschvoll die vor Kälte rote Nase.

„Mein Auto steuere ich aber selbst. Im Flugzeug muss ich dem Piloten vertrauen, einem Menschen, den ich noch nie im Leben gesehen habe.“ Inge schaute sich um. „Ich muss nun aber wirklich aufs Klo, sonst mache ich mir in die Hose.“

„Kassandra, gehe doch bitte mal mit deiner Oma aufs Klo“, sagte Renate.

Inges Teenager-Enkelin sah nicht von ihrer Zeitschrift auf. Sie hatte die Aufforderung ihrer Mutter wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Sie trug Kopfhörer, ihr Walkman lief auf voller Lautstärke. Renate beugte sich vor und klopfte ihrer schräg gegenübersitzenden Tochter aufs Knie. Kassandra schien aus einer anderen Welt katapultiert. Sie zuckte zusammen und nahm den Kopfhörer ab. „Was denn?“

„Du und deine Musik immer! Man dringt überhaupt nicht mehr zu dir durch!“

„Wolltest du mir das sagen? Oder ist noch was?“

„Nicht so frech, Fräulein! Geh bitte mit deiner Oma zur Toilette, sie findet sie alleine nicht.“

„Sag das doch gleich!“ Kassandra stoppte die Kassette und hängte sich den Kopfhörer um den Hals. „Komm, Oma.“

Inge folgte ihrer abenteuerlich gekleideten Enkelin, die ein wenig aussah, als wären ihre Sachen nicht nur viel zu groß, sondern hätten auch schon einige mehrere Vorbesitzer gehabt. Wenn sie allerdings so in die Menschen rundherum schaute, schien das irgendwie gerade Mode zu sein.

„Ich warte vor der Türe, bis du fertig bist“, sagte Kassandra, nachdem sie ihre Oma in eine Toilettenkabine verfrachtet hatte. Inge zog sich umständlich erst die dicke Winterjacke aus und dann die Hose herunter. Erleichtert ließ sie sich auf die Klobrille fallen und alles andere laufen.

„Ach Kind, ich bin so furchtbar aufgeregt, ich weiß gar nicht, wie ich das abstellen soll“, sagte sie durch die geschlossene Tür.

„Hör doch Musik. Das hilft mir immer, wenn ich nervös bin oder Angst habe.“

„Ach, wirklich?“

„Ja, probier doch mal aus.“ Kassandra wartete, bis ihre Oma die Toilettenkabine verließ, und hielt ihr den Kopfhörer hin. Skeptisch setzte sie das komische Ding auf ihre Ohren. Kassandra drückte eine Taste auf ihrem Walkman. Inge hatte kurz Sorge, dass ihr die Trommelfelle schon platzen würden, bevor sie das Flugzeug überhaupt betreten hatte, da wurde sie positiv überrascht. Die Musik war gitarrenlastig, aber sehr angenehm. Der junge Mann sang von einem Bett voller Rosen. So viel Englisch verstand auch Inge. Sie lächelte.

Kassandra lächelte ebenfalls. „Und? Hilft es schon?“

„Ja, tatsächlich.“

„Gut. Dann darfst du meinen Walkman den Flug über behalten.“

„Ach Kind, das musst du nicht tun!“

„Ich möchte es aber. Ich liebe dich, Oma! Ich will, dass es dir gut geht.“ Kassandra drückte Inge fest, bevor sie ihr die Tür aufhielt, um zurück zu den anderen zu kommen.

17. Dezember 2017

Ole konnte das nicht verstehen. Was sollte daran schön sein, einem Baum das einzige Bein abzuhacken und ihn von seiner Familie, den anderen Bäumen im Wald, zu trennen? Geschenke konnte man doch sicherlich auch ohne Baum bekommen, oder?

Es war nur noch eine Woche bis Heiligabend. Noch hatten Oles Eltern keinen Baum gekauft, aber das würden sie bald. Das wusste er, weil seine Eltern ihn gefragt hatten, ob er das erste Mal mitkommen wollte. Er wäre ja nun immerhin sechs Jahre alt und somit ein großer Junge.

Ole schlich unbemerkt aus dem Haus. Er stieg in den Bus Richtung Innenstadt. Das war nicht das erste Mal, dass er alleine Bus fuhr. Das tat er jeden Morgen, um in die Schule und wieder nach Hause zurückzukommen. Daher war der Busfahrer auch nicht erstaunt, ihn so ganz alleine unterwegs zu sehen.

Ole fuhr ganz bis zum Bahnhof. Dort, an der Endstation der Buslinie, stieg er aus. Er wusste ganz genau, wo er hinwollte. Da war er erst vor zwei Monaten einmal mit Papa gewesen. Die Anwaltskanzlei Rödel&Spann. Zum Glück konnte Ole schon gut lesen, so fand er an dem großen Gebäude gleich die richtige Etage mit den richtigen Büroräumen. Ole spaziert hinein.

Der junge dürre Mann, Herr Aliu, saß am Empfangstresen. Den hatte Ole schon das letzte Mal kennengelernt und sehr nett gefunden.

Ole reckte sich vor dem Tresen, so hoch er konnte und sagte: „Guten Tag. Ich möchte bitte sofort mit Herrn Spann reden.“

Herr Aliu, der Ole jetzt erst bemerkt hatte, stand auf und beugte sich über den Tresen, um den potentiellen Klienten in Augenschein nehmen zu können.

„Hallo, junger Mann. Dich kenne ich doch.“ Er lächelte.

Ole hätte gerne auch gelächelt, aber das kam dem Ernst der Sache nicht zugute.

„Könnte ich bitte denn jetzt Herrn Spann sprechen?“

Herr Aliu räusperte sich. „Entschuldigen Sie bitte die Unhöflichkeit meinerseits, junger Mann. Wen darf ich denn anmelden?“

„Mich.“

Herr Aliu schmunzelte.

Was war hier eigentlich so witzig?

„Wie ist denn Ihr Name?“

„Ole Koppel. Ich wohne in der Hasenstraße 12 in Erpenich.“

„Einen Moment bitte, Herr Koppel. Ich schaue, was sich machen lässt.“

Herr Aliu nahm den Telefonhörer in die Hand und drückte auf einen Knopf an der Telefonanlage. „Herr Spann, ich habe hier den jungen Herrn Ole Koppel. Der möchte dringend mit Ihnen sprechen ... In Ordnung.“ Als Herr Aliu aufgelegt hatte, sagte er: „Herr Spann bittet Sie in sein Büro. Bitte gehen Sie den Flur entlang. Gleich die erste Tür links.“

Ole betrat das große helle Büro. „Ich brauche bitte einen Anwalt!“

Herr Spann, der gerade noch sein Handy am Ohr hatte, legte es weg und stand auf. „Willkommen, Herr Koppel. Was kann ich für Sie tun?“

Ole schritt auf den Schreibtisch zu und kletterte auf den Stuhl gegenüber dem von Herrn Spann.

„Tannenbäume abhacken und zum Weihnachtsbaum machen, ist Mord. Ich will nicht, dass meine Eltern das machen. Aber sie hören nicht auf mich. Sie müssen es ihnen verbieten.“

Herr Spann notierte sich Oles Anliegen auf einem Zettel. Dann sagte er: „Ich finde auch, dieses Vorhaben bedarf keines Aufschubes. Ich bin dafür, ihre Eltern gleich telefonisch mit dieser Sache zu konfrontieren.“

Ole nickte, und Herr Spann griff nach seinem Handy. Er drückte ein paar Mal auf dem Touchscreen herum. Ziemlich schnell meldete sich Oles Vater.

„Hallo Nils, Till Spann hier. Dein Sohn sitzt hier und hat mich um Hilfe in einem Konflikt zwischen ihm und euch gebeten.“

„Was? Gott sei Dank! Wir suchen ihn schon überall!“

Als Ole seinen Papa so besorgt durch den Lautsprecher hörte, bekam er ein schlechtes Gewissen. Aber nur ein bisschen.

„Dein Sohn weigert sich, Teil eines Verbrechens zu werden. Er fordert euch auf, keinen Tannenbaum ins Haus zu holen.“

Papa seufzte. „Aber es ist Weihnachten. Das geht nicht ohne Baum.“

„Ich hätte einen Vorschlag zur Güte. Wie wäre es mit einem künstlichen Tannenbaum?“, fragte Herr Spann.

Schweigen auf beiden Seiten. Ole überlegte kurz, dann nickte er. „Einverstanden.“

Dann meldete sich auch Papa aus dem Handy. „Einverstanden. Und Ole: Dürfen wir dich denn jetzt abholen kommen? Dann kaufen wir gleich den künstlichen Tannenbaum. Deal?“

„Deal!“, Ole grinste. Er beschloss, später Anwalt zu werden. Vielleicht sogar Baum-Anwalt. 

18. Dezember 1978

Ein unangenehmes Scheppern riss Maria aus ihren Träumen. Schlagartig war sie wach. Das hasste sie am meisten. Wenn sie nicht sanft aus dem Schlaf herausgleiten konnte.

Maria stand auf und trat ans Fenster. Im Halbdunkel entdeckte sie ein Transportfahrzeug und drei Männer in Arbeitskluft. Sie zog ihren Morgenmantel an und verließ das Schlafzimmer.

Marias Mann saß in der Küche am Fenster, schaute auf die verschneite Straße und trank seinen Kaffee und ein Marmeladenbrot. Das Radio spielte „Lasst uns froh und munter sein“ in der Version von Wencke Myrhe. Maria trat zur Fensterbank und drehte es etwas leiser.

„Guten Morgen, Liebes“, sagte Alfred. „Kaffee?“

Maria nickte. „Ja, gern. Was machen die da draußen?“

„Die neue Straßenlaterne wird aufgestellt.“

„Eine weitere Straßenlaterne? Direkt vor unserem Schlafzimmerfenster! Aber ich kann nicht schlafen, wenn es nachts so hell ist!“ Maria ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Sie griff sich an die Stirn. Kopfschmerzen kündigten sich an.

„Ach, Liebes! Wozu haben wir denn Vorhänge?“

„Du weißt, dass die nicht ausreichen. Ich muss es absolut dunkel haben. Ich bin so empfindlich, was grelles Licht angeht.“

„Und auch, was Lautstärke angeht.“ Alfred drehte das Radio wieder etwas lauter.

„Ich muss sofort runter und die davon abhalten!“ Maria sprang auf. Alfred erwischte sie gerade noch am Handgelenk.

„Willst du so raus? Im Nachthemd? Du holst dir den Tod. Und machst den Arbeitern womöglich noch eine Freude.“ Alfred grinste. „Trink erst mal deinen Kaffee. Danach sieht die Welt schon anders aus.“

Die Welt sah auch nach dem Kaffee nicht anders aus. Maria war empfindsamer als andere Menschen. Sie hätte es gern anders, aber so war es nun mal nicht. Alfred verstand das nicht. Ihre mittlerweile erwachsenen Kinder verstanden es nicht. Und ihre Mitmenschen da draußen schon mal gar nicht.

Maria zog sich an. Sie stellte eine frische Kanne Kaffee auf ein Tablett, richtete einen Weihnachtsteller mit ihren selbstgebackenen Zimtsternen und Vanillekipferln an und stellte sie dazu. Drei Kaffeetassen vervollständigten ihr kleines Buffet.

Maria trat hinaus in die lausige Kälte, trotz Kopfschmerzen setzte sie ein Lächeln auf und trat auf die Männer zu.

„Guten Morgen!“, rief sie. Noch war es nicht zu spät. Der Laternenpfahl stand noch nicht.

„Guten Morgen!“, riefen die drei Männer zurück. Der Älteste kam auf sie zu. „Kann ich Ihnen helfen, schöne Frau?“

„In erster Linie möchte Ich ihnen helfen. Ein warmer Kaffee gefällig?“, fragte sie.

Der Jüngste, wahrscheinlich der Azubi, kam herangestürmt und machte auf der Ladefläche des Transporters Platz. Maria stellte das Tablett ab.

„Womit haben wir denn das verdient?“, fragte der Junge. Strahlend ließ er sich von Maria eine Tasse Kaffee eingießen und griff gleich danach nach einem Zimtstern. „Hm, köstlich!“, schwärmte er.

„Vielen Dank. Die sind nach einem langjährigen Familienrezept.“

Der Junge lächelte. Er hatte warme braune Augen. Maria spürte gleich seine Freundlichkeit und Einfühlsamkeit. Ihr Bauch sagte ihr, dass an dem Jungen nichts falsches war. Und ihr Bauchgefühl trügte sie nie. Mittlerweile, mit Mitte sechzig, war sie auch klug genug, sich auf dieses Gefühl zu verlassen.

Sie goss nun auch den anderen Männern eine Tasse ein. Maria blinzelte in die Sonne. „Ein herrlicher Morgen, oder?“, sagte sie. „Viel zu schade, um so hart zu arbeiten.“

Der Älteste lachte. Nachdem er einen Schluck Kaffee genommen hatte, wischte er sich über den Schnauzer. „Ich würde bei dem Wetter auch lieber Schlitten fahren, als zu arbeiten, aber was will man machen?“

„Müssen Sie die Laterne denn genau an dieser Stelle aufbauen?“, fragte sie.

„Na ja, so ist die Anweisung unseres Vorgesetzten“, sagte der Älteste.

Der Junge taxierte Maria. „Warum? Stört es Sie?“

„Ja, ich bin sehr lichtempfindlich. Und die Laterne stünde genau vor unserem Schlafzimmerfenster.“

„Das tut uns leid. Da können wir aber nichts machen.“ Der Älteste stellte seine Tasse ab und begann, im Werkzeugkasten zu wühlen.

„Ach, komm, Chef! Zwei Meter weiter würde doch keinem auffallen“, sagte der Junge. „Mich würde das auch nerven.“

Der Ältere schaute zwischen Maria und dem Jungen hin und her. Sie schaute ihn flehentlich an. Dann sagte er: „Ach, Scheiß drauf. Wir machen es. Fällt wahrscheinlich tatsächlich niemandem auf.“

Maria atmete auf. „Vielen Dank. Sie haben gar keine Ahnung, was mir das bedeutet. Nun lasse ich Sie aber in Ruhe arbeiten.“

„Kein Ursache.“ Der Junge tätschelte ihren Arm. „Und frohe Weihnachten.“ 

19. Dezember 2011

Zu seinem zwölften Geburtstag hatte Toni einen neuen Laptop bekommen. Das Modell, welches sein Freund Luis ihm empfohlen hatte, weil man damit angeblich am besten zocken konnte.

Ganz tief in ihm drin, wenn er ehrlich war, interessierte ihn die Zockerei überhaupt nicht. Er spielte diese ganzen Ballerspiele bloß, weil er Luis einen Gefallen tun, ihn nicht enttäuschen wollte.

Jetzt, so ganz allein in seinem Zimmer kurz vor Weihnachten, saß Toni an seinem Schreibtisch. Er schob den Laptop beiseite und öffnete die unterste Schreibtischschublade. Dort holte er einen Schreibblock und seinen Lieblingsstift hervor. Den graublauen Bleistift, den er im letzten Jahr in der Schule von seiner Mitschülerin Anneke bekommen hatte. Schon komisch, dass ausgerechnet ein Mädchen, mit dem er gar nichts zu tun hatte, ihn beim Wichteln gezogen hatte und ihn anscheinend so gut kannte, um zu wissen, dass er gerne schrieb. Dieses Jahr hatte Toni Anneke gezogen. Und noch überhaupt keine Ahnung, was er ihr schenken sollte. Er wollte ihr ein genauso treffendes Geschenk machen, wie sie es ihm ein Jahr zuvor gemacht hatte. Aber ihm wollte absolut nichts einfallen.

Toni klappte den Schreibblock auf. Am Kopf des ersten Blattes prangte die Überschrift Weihnachtsgeschenke.

Er hatte sämtliche Namen seiner Familie aufgeschrieben: Mama, Papa, seine drei Schwestern, seine beiden Onkels, Oma, Opa und seinen besten Freund Luis. Für alle hatte er schon ein Geschenk.

Das Geschenk für Anneke war immer noch offen.

Die Türe zu Tonis Zimmer ging auf. Toni drehte sich um und erkannte seine jüngste Schwester Lena im Türrahmen.

„Du sollst doch anklopfen!“

„Ich weiß!“ Lena betrat das Zimmer, schloss die Tür und setzte sich auf Tonis ungemachtes Bett. „Was machst du?“

„Nichts, was dich was angeht.“ Toni klappte den Schreibblock zu und legte ihn auf den Laptop.

„Mir ist langweilig!“, sagte Lena.

„Dann guck doch Fernsehen.“

„Das ist langweilig.“

„Mal ein Bild.“

„Das ist noch mehr langweilig.“

„Dann lies halt eins deiner Bilderbücher.“

Lena seufzte theatralisch. „Aber die Geschichten kenne ich doch schon alle. Kannst du mir nicht eine erzählen?“

„Nein, heute nicht. Ich habe keine Zeit für dich.“

Lena rutschte von der Bettkante. Sie schlich auf ihren Bruder zu, kletterte auf seinen Schoß und lehnte ihren Kopf an seine Brust. „Ach bitte, Toni! Ich mag deine Geschichten so sehr. Du erzählst immer die allerbesten.“

So sehr seine Schwestern Toni auch nervten, so wenig konnte er ihnen irgendetwas abschlagen. Ganz besonders Lena, die einfach die süßeste von allen war.

„Na gut, aber wirklich nur eine ganz kurze.“

„Oh, fein!“ Lena klatschte begeistert in die Hände.

Toni brauchte nicht lange zu überlegen, bis ihm eine geeignete Geschichte einfiel. Bei Geschichten war es so, dass er das Gefühl hatte, sie hingen wie Helium-Ballons an Fäden in der Luft, er musste nur nach irgendeinem Faden greifen, der ihm gefiel, dran ziehen, und am Ende hielt er den Ballon mit der kompletten Geschichte in der Hand. Er musste sie nur noch erzählen.

Dieses Mal fand er einen Ballon, in dem die Geschichte eines winzigen Vampires steckte, der sich verflogen hatte und am Ende im Nasenloch eines schlafenden Riesen steckte.

„Und wenn der Riese niesen muss?“, fragte Lena am Schluss.

„Dann wird der Vampir herausgeschleudert und kann wieder nach Hause.“

„Das war eine tolle Geschichte, Toni. Aber jetzt muss ich schlafen gehen.“

Toni setzte seine Schwester ab.

„Gute Nacht, Toni!“

„Gute Nacht, Lena. Pass auf, dass dir kein Vampir in die Nase fliegt, wenn du schläfst.“

Lena kicherte.

Kaum hatte Lena das Zimmer verlassen, fiel es Toni ein, wie ein Blitz. Er griff nach Schreibblock und Bleistift und begann, eine Geschichte zu schreiben.

Für Anneke. 

20. Dezember 2008

Es war die fünfzehnte Adventszeit, die Fluse erleben durfte. Die Katze wusste nicht, warum jedes Jahr um die gleiche Zeit solch ein Spektakel gemacht wurde. Sie wusste bloß, dass es zur selben Zeit draußen kälter, nässer oder dunkler war. Oder gleich alles auf einmal. In den jungen Jahren war ihr das Wetter noch wurscht gewesen, aber nun, im fortgeschrittenen Katzen-Senioren-Alter, ging das auf ihre Knochen. Da gab es nichts Schöneres, als sich vor den herrlich knisternden Ofen im Wohnzimmer zu legen. Vorzugsweise auf den kuscheligen roten Flauschteppich, der grundsätzlich nur in der Adventszeit vom Dachboden geholt wurde.

Der Mann kam gerade rein und brachte eine Kiste neues Holz mit. Er selbst und das Holz waren voll Schnee.
Fluse sagte: „Komm endlich rein und mach die vermaledeite Tür zu, es zieht wie Hechtsuppe!“, aber der Mann war nicht ganz so intelligent, wie die Menschen es sich einbildeten, zu sein. Er verstand daher nur: „Miau!“

Zum Glück war die Frau aber nicht ganz so blöd. Sie kam aus der Küche herausgerauscht und schloss die Türe hinter dem Mann. Wenigstens einer, der hier Fluses Anweisungen verstand.

Fluse schaute zu, wie der Mann das Holz neben den Kamin stapelte. Kurz drauf nahm er ein Scheit davon und legt ihn aufs Feuer. Fluse strich um die Beine des Mannes herum, um ihm zu danken. Ein bisschen Honig ums Maul schmieren konnte nie schaden.

Köstlicher Küchenduft vermischte sich mit dem Geruch des Feuers. Es wurde Zeit, mal nachzuschauen, was die Frau in der Küche Leckeres fabrizierte. Das wenigste von dem, was sie da kochte, war für Fluse. Das hatte sie über all die Jahre gelernt. Aber das war nicht so schlimm. Ihr schmeckte gar nicht alles, was die Menschen mochten. Und was sie mochte, das klaute sie sich einfach. Da bekam die Frau nichts von mit. Und der Mann schon gar nicht.

Fluse schlängelte sich durch den Küchenspalt. Hier spielte das Radio Musik, die ebenfalls nur in der Adventszeit gespielt wurde. Die Frau stand mit dem Rücken zu Fluse an der Arbeitsplatte. Sie jaulte mit der Musik mit, was Fluse ein bisschen weh tat. Um genauer zu sehen, was die Frau da an der Arbeitsplatte trieb, sprang sie erst auf den Stuhl, dann auf den Tisch. Aha, die Frau backte Plätzchen! Die rochen so lecker. Aber schmeckten gar nicht.

„Ach Fluse! Runter vom Tisch! Da hast du nichts verloren!“

Fluse verstand, was die Frau sagte, es interessierte sie allerdings nicht. Die Frau hatte die Hände voll Teig und Mehl, da würde sie sie eh nicht anfassen, also konnte Fluse auch sitzenbleiben. Dieses Sternen-Förmchen hier, das so nah an der Tischkante lag, war sowieso viel interessanter. Fluse zückte die linke Vorderpfote, legte neckisch den Kopf schief und schibbelte das Förmchen Stück für Stück zur Tischkante, bis es herunterfiel.

„Mann!“, rief die Frau über das Musik-Gedudel hinweg.

Aua, das tat nun richtig in den Ohren weh!

Der Mann erschien in der Küche. „Was ist denn los? Hm, hier riecht es aber lecker!“ Er griff nach einem der Plätzchen, die zum Abkühlen auf dem Kuchengitter lagen.

„Vorsicht, die sind noch heiß! Nimmst du bitte die Katze mit? Die macht hier nur Unfug.“

Der Mann nahm Fluse auf den Arm. „Na komm, du Flohbeutel. Wir machen es uns auf der Couch gemütlich“.

Okay, das klang auch nicht schlecht. Im Wohnzimmer waren nur die vier Kerzen auf dem Adventskranz an. Das machte zusammen mit dem Ofen tolles Licht im Raum. Mittlerweile wusste Fluse, dass Kerzen heiß waren. In ihrem ersten Jahr hatte sie sich übel die linke Vorderpfote daran verbrannt.

Fluse wartete noch, bis der Mann sich endlich ruhig hingesetzt und den Fernseher eingeschaltet hatte, dann tapste sie noch eine Weile auf seinem Bauch herum, bis sie sich gemütlich zusammenrollte und unter seinen Streicheleinheiten am Hals einschlief.

Adventszeit war toll. 

21 Dezember 1993

 Marios zuhause war nur einen Steinwurf von der Burg Schleihenthal entfernt. Seine Mutter hatte dort bis zu ihrem Tod vor einem Jahr als Reinigungsfachkraft gearbeitet. Manchmal, als Kind, war Mario mitgegangen und hatte auf dem Gelände gespielt. Man sagte diesem Ort nach, dass es dort spukte. Mario glaubte eigentlich nicht an sowas, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass der Arbeitsunfall seiner Mutter nicht einfach nur ein Unfall gewesen war, bei dem sie sich zufällig das Genick gebrochen hatte.

Nun, drei Tage vor dem Heiligen Abend, stand Mario am Fenster und starrte in Richtung der Burg. Erkennen konnte er nur die Mauer, die sich komplett um das Gebäude und das dazugehörige Gelände schlängelte, um es zu schützen.

Die Stereo-Anlage lief auf voller Lautstärke. Seine aktuelle Lieblingsband war Nirvana. Er hörte das aktuelle Album der Band rauf und runter. Mario fand sich und seine Gefühlslage nirgendwo besser wieder als in diesen Songs.

Wie aus dem Nichts tauchte vor dem Fenster das Gesicht seiner besten Freundin Marketa auf. Er hatte nicht mit ihr gerechnet und erschrak daher bis ins Mark.

Marketa wedelte mit der einen Hand vor seinem Gesicht herum. Dann deutete sie auf zwei Pizzakartons, die sie in der anderen Hand hielt. „Machst du mir die Tür auf?“, brüllte sie.

Mario ging zur Haustüre und öffnete sie. Marketa beugte sich vor und gab Mario einen Kuss auf die Wange. „Du hast die Klingel nicht gehört.“

Er nahm ihr die Pizzakartons ab und ließ sie hinein. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst mit Ruby verabredet?“

„Sie hat mit mir Schluss gemacht. Per Telefon! Kannst du dir das vorstellen?“ Marketa zog ihren Parka aus.

„Das tut mir leid. Aber wieso? Ich meine, ihr wart doch so glücklich.“

„Anscheinend war nur ich glücklich. Aber was solls. Die kann mich mal. Wenigstens auf dich ist immer Verlass. Gucken wir einen Horrorfilm? Das ist die beste Ablenkung bei Liebeskummer. Ich habe ES mitgebracht.“

So war Marketa. Sie plapperte ununterbrochen, während sie 1000 Dinge auf einmal tat. Sie machte die Stereoanlage aus, schaltete den Fernseher ein, warf den Videorekorder an und zog Mario dann am Ärmel auf die Couch. Noch während der Vorspann lief, biss sie in das erste Stück Pizza. Mit vollem Mund fragte sie: „Hast du `n Bier?“

Mario stand mit einem Seufzer auf. Ein Grinsen konnte er sich aber nicht verkneifen. Auf dem Weg zum Kühlschrank fiel sein Blick aus dem Fenster. Auf der Mauer balancierte eine Frau. „Was zum Teufel macht die da?“, fragte er.

„Was?“ Marketa drehte sich zu ihm herum.

„Die Frau da. Die balanciert auf der Burgmauer. Ist die lebensmüde? Die wird sich noch das Genick brechen!“ Mario schluckte, als ihm bewusst wurde, was er da gesagt hatte. Marketa sprang von der Couch auf und gesellte sich neben ihn.

„Wo denn? Ich sehe nichts.“

„Komisch, ich jetzt auch nicht mehr. Aber ich schwöre, sie war da.“

„Vielleicht ist sie heruntergestürzt. Lass uns schnell nachschauen.“ Schon rannte sie zur Tür hinaus. Mario lief ihr hinterher.

Eine Frau war weit und breit nicht zu sehen. Ein Hinweis, dass hier vor Kurzem noch eine gewesen wäre, gab es auch nicht.

„Vielleicht hast du es dir nur eingebildet?“, fragte Marketa.

„Das glaube ich nicht. Ich habe sie ganz sicher gesehen.“ Und dann sah Mario das Foto auf der Mauer. Eine uralte Schwarzweiß-Fotografie. Auf dem Bild war eindeutig die Frau zu sehen, die er eben noch zu sehen geglaubt hatte. Neben ihr ein junger Mann in Marios Alter.

„Krasser Scheiß! Mario, der Typ sieht genauso aus wie du!“

Mario fröstelte es. Marketa hatte Recht.

„Kennst du den?“

Mario schüttelte den Kopf. Er drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand Wenzel und Katharina von Greißel.

„Das ist doch der alte Graf! Ich werd bekloppt. Wie kann der dir so ähnlich sein? Glaubst du, der ist ... Vielleicht ist der wirklich dein Vater?“

„Da habe ich nie drüber nachgedacht, aber so abwegig wäre es nicht.“

„Oh Mann, dann wärest du ja ein richtiger Graf!“

„Das mag sein. Aber was bringt mir das, wenn mein Vater mich nicht anerkennt? Er muss es gewusst haben.“

Marketa grinste. „So kenne ich dich. Aber sei nicht dumm. Steck das Foto ein. Wer weiß, wofür das mal gut ist.“

Mario lächelte ebenfalls. Er steckte das Foto in die Bauchtasche seines Hoodies. „Ich glaube, drinnen wartet noch ein Film, ein Bier und eine Pizza auf uns. Das ist alles, was heute Abend zählt.“

22. Dezember 1989

„Im Ernst, Kinder. So geht das nicht!“

Merle hatte sich vor den Kindern ihrer Wohngruppe aufgebaut. Richtig böse war sie nicht. Das versuchte sie zwar ab und an, aber das schaffte sie einfach nie.
Fatima kannte sie am längsten, sie war schon drei Jahre hier. So lange war es her, dass sie ihre Eltern bei einem Auto-Unfall verloren hatte.

„Aber wir waren es nicht, Merle. Wirklich nicht.“ Fatima nahm Britta bei der Hand. Die Kleine zitterte wie Espenlaub. Das tat sie immer in Situationen, die sie nicht richtig einschätzen konnte. Fatima hatte ihr gegenüber mit der Zeit einen gewissen Beschützerinstinkt entwickelt. Sie war über die letzten sechs Monate wie eine kleine Schwester für sie geworden.

„So, ihr wart es nicht? Keiner von euch? Wer war es dann? Der Heim-Geist? Schon wieder?“, fragte Merle. Sie seufzte. „Kinder, ich weiß, Weihnachten ist eine aufregende und auch verlockende Zeit für euch. Das erlaubt euch aber nicht, euch an allem frei zu bedienen, was in der Küche herumsteht. Dieses Lebkuchenhaus haben wir doch gemeinsam gemacht, um es dem Bürgermeister zu überreichen, wenn er am Morgen des Heiligabend zu Besuch kommt. Und nun fehlt diese Ecke hier. Wie sieht denn das aus?“ Merle ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Weinte sie jetzt? Okay, das war neu. Selbst für Fatima. Britta begann auch zu weinen. Die anderen drei Mädchen schauten betroffen drein.

Fatima schritt auf Merle zu. „Nicht weinen, Merle.“ Sie strich ihr unbeholfen über den Kopf. „Wir kriegen das schon wieder hin. Ich helfe dir.“

Merle wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Lass gut sein, Fatima. Ich mache das schon. Tut mir leid, wenn ich grob zu euch war. Geht jetzt ins Bett. Wir sprechen morgen früh noch mal in Ruhe darüber.“

 

Fatima konnte lange nicht schlafen. Kaum, dass sie im Bett waren, war Britta zu ihr unter die Decke geschlüpft. Die Kleine wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her. Zudem konnte Fatima es einfach nicht verstehen, dass irgendjemand sich an dem schönen Lebkuchenhaus zu schaffen gemacht haben sollte. Es war eine Gemeinschaftsarbeit der Kinder und Merle gewesen, alle waren stolz auf das Ergebnis gewesen, und nun sollte es einer von ihnen angeknabbert haben? Das ergab keinen Sinn.

Es war schon fast halb vier Uhr morgens, als Fatima endlich eindöste. Und so gut wie im selben Moment wieder aufwachte, als sie ein Geräusch hörte. Fatima schlug die Augen auf. Sie hielt den Atem an, in Erwartung, das Geräusch noch mal zu hören.

Da! Da war es wieder. Ein kratzendes Geräusch, ähnlich wie Knabbern. Fatima wusste genau, dass es keine Geister gab. Aber gab es hier, im Heim, nicht vielleicht doch einen?

So leise wie möglich drehte Fatima ihren Kopf. Alle vier Mädchen schliefen tief und fest. Fatima zog sich vorsichtig aus der Umklammerung Brittas. Auf leisen Sohlen verließ sie ihr Bett und schlich in die Küche. Das Lebkuchenhaus stand immer noch genauso da wie am Vorabend. Aber es hatte einen Bewohner bekommen. Eine kleine Maus hockte im Innern des Häuschens und knabberte seelenruhig ein Loch in den Fensterrahmen.

Fatimas Herz klopfte wild. Sie hatte den Übeltäter gefunden. Mucksmäuschenstill hockte sie sich auf einen der Stühle und schaute der süßen Maus mit ihren großen Kulleraugen zu, wie sie sich den Bauch vollschlug. Sie sollte ihr böse sein, aber sie konnte es nicht.

„Fatima! Du?“, sagte eine Stimme hinter ihr.

Fatima drehte sich zu Merle um. „Schh!“, machte sie, den Zeigefinger vor den Lippen. Dann winkte sie die junge Erzieherin zu sich. Merle hockte sich neben das Kind.

„Oh mein Gott! Eine Maus!“

„Ja, eine Weihnachtsmaus. Schau, sie putzt sich.“

Merle seufzte. „Es tut mir leid, dass ich euch verdächtigt habe.“

„Ist schon gut. Was machen wir jetzt mit der Maus?“

„Wir werden sie mitsamt dem Haus in den Garten setzen müssen. Das kann jetzt eh niemand mehr essen. Dann haben die Tiere draußen wenigstens etwas davon.“

„Und was sagen wir den Kindern?“

„Dass ich heute Nacht einen Weihnachtswichtel dabei erwischt habe, wie er das Haus gestohlen hat. Und ich werde mich bei ihnen entschuldigen.“

Fatima lächelte. „Das finde ich schön.“ Sie sah Merle an. „Ich glaube, ich werde auch Erzieherin, wenn ich groß bin.“

 

23. Dezember 1982

Rosenkohl.

Oh, bitte nein! Ich hasste Rosenkohl!

Der war so bitter. Und so matschig, wenn man darauf rumkaute.

Mama legte mir drei Stück davon auf den Teller.

Würg! Wollte sie, dass ich mich auf meinen Teller übergab? Ich schob den Rosenkohl mit der Gabel ganz weit an den Rand und holte dafür die Frikadelle etwas näher.

„Mama, glaubst du, das Christkind findet auch ohne Schnee den Weg zu uns?“, fragte meine jüngere Schwester Christiane.

„Das Christkind braucht keinen Schnee für seinen Schlitten. Der fliegt doch, du Dummbatz!“, gab mein älterer Bruder Egon zur Antwort. Anschließend schob er sich eine komplette Frikadelle am Stück in den Mund. Da mein Bruder mein großes Vorbild war, versuchte ich, es ihm nachzumachen. Ich verschluckte mich fürchterlich und drohte, an diesem Fleischklops zu ersticken. Zum Glück merkte mein Vater schnell, was los war, riss mich vom Stuhl und hielt mich kopfüber an den Beinen in der Luft. Mama stand bloß kreischend daneben. Der Klops purzelte quasi sofort an einem Stück aus meinem Mund auf den Boden. Für unseren Schäferhund Arko war somit schon heute Bescherung.

Als Papa mich wieder umgedreht und auf die Beine gestellt hatte, war mir kurz schwindelig. Aber ich war sehr froh, dass er mir das Leben gerettet hatte.

„Alles gut, kleiner Mann?“, fragte er.

„Ja, Danke, Papa.“

„Gut, dann iss jetzt deinen Rosenkohl. Damit aus dir was wird. Dann passiert sowas nicht mehr.“

„Aber ich mag keinen Rosenkohl“, sagte ich kleinlaut. Mir tat der Hals immer noch weh.

Mama seufzte lautstark. „Du magst überhaupt kein Gemüse, Andreas. Egal, ob Rosenkohl, Blumenkohl, Erbsen oder Bohnen. Ich weiß nicht, wie das noch weitergehen soll. Du kannst nicht immer nur Pommes, Spaghetti oder Schnitzel essen.“

„Tu ich ja gar nicht. Ich esse auch Fischstäbchen und Chips und Kroketten.“

„Und Eis!“, fügte Christiane hinzu. „Eis darf man nicht vergessen, das ist ganz doll lecker.“

„Hier geht es aber nicht darum, ob etwas lecker ist. Es muss ja auch irgendwie Gesundes in euch Kinder rein. Wo sollt ihr denn sonst eure Vitamine herbekommen?“, sagte Mama.

Opa, der zwar schon die ganze Zeit mit am Tisch gesessen, aber sich noch nicht zu Wort gemeldet hatte, tat das jetzt. „Papperlapapp! Im Krieg haben wir auch nur das gegessen, was es gerade gab. Es war hart, aber sieh mich an: Ich lebe noch und bin auch gesund. Die Kinder haben heutzutage das große Glück, aussuchen zu können, was sie essen möchten. Soll der Junge also essen, was er mag.“ Opa zwinkerte mir zu und zündete sich eine Zigarre an. Mit dem Essen selbst war er schon fertig.

Ich war meinem Opa sehr dankbar. Er stand immer auf meiner Seite, egal, was ich in den Augen meiner Eltern verkehrt machte.

„Trotz allem sollte man schon ein bisschen auf die Gesundheit der Kinder achten. Das Christkind möchte es ganz sicher auch so. Wer weiß, vielleicht kommt es ja gar nicht, wenn ihr euer Gemüse nicht aufesst“, sagte Mama.

Christianes Augen wurden groß. In Windeseile verschwanden zwei Stücke Rosenkohl in ihrem Mund.

„Na na, langsam, Püppi. Ich will nicht das nächste meiner Kinder vor dem Erstickungstod retten müssen“, sagte Papa.

Christiane glaubte noch an das Christkind. Ich nicht. Vor ein paar Wochen hatten wir Kinder wie jedes Jahr den Quelle-Katalog vorgelegt bekommen, aus dem wir die Sachen ausschneiden sollten, die wir uns vom Christkind wünschten und diese auf unseren Wunschzettel kleben. Die fertigen Wunschzettel haben wir dann in der Küche auf die Fensterbank gelegt, damit das Christkind sie abholen konnte.

Das Christkind war meine Mutter. Ich hatte sie letztes Jahr heimlich beobachtet, wie sie die Zettel weggenommen hatte. Dann hat sie die Bestellkarte aus dem Katalog geholt und da alles eingetragen.

Der Trick, auf diese schwindlerische Art, Gemüse in mich reinzukriegen, funktionierte bei mir also nicht. Ich nahm mir noch eine Frikadelle, schnitt sie diesmal in kleine Stücke und schob sie mir vorsichtig nacheinander Stück für Stück in den Mund.

Papa schob seinen leeren Teller von sich. Im Anschluss strich er sich über den prall gefüllten Bauch. „Also, ich wäre jetzt bereit, den Tannenbaum zu schmücken. Wer ist dabei?“

Ich natürlich! Rosenkohl-Christkind hin oder her! 

24. Dezember 2022

Drei Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal an Weihnachten in mein Elternhaus nach Erpenich gereist bin, um mit meiner Familie Weihnachten zu feiern.

Seither hat sich einiges getan. Meine Frau hat sich von mir getrennt und ich bin seit Jahren weder allein. So bot es sich einfach an, an die fast dreihundert Kilometer in die Eifel zu fahren, um mit meinen Eltern, meinen Geschwistern und Opa den Heiligabend zu verbringen. Auf Opa freue ich mich besonders. Er ist mittlerweile weit über neunzig Jahre alt. Wer weiß schon, wie lange er noch leben und ein weiteres Weihnachtsfest erleben wird.

Kaum, dass ich geklingelt habe, wird auch schon die Türe aufgerissen.

Eine Mini-Version meiner Schwester steht vor mir, und so denke ich kurz, ich hätte eine Zeitreise zurück in die Achtzigerjahre gemacht.

„Onkel Andreas!“, kreischt das kleine Wesen. Es springt an mir hoch und hängt einem Klammeräffchen gleich an meinem Hals.

„Hallo Emily!“, begrüße ich mein Nichtenkind und verpasse ihr einen Schmatzer auf die Wange.

„Hast du das Christkind mit seinem Schlitten vielleicht unterwegs gesehen?“, fragt Emily, als ich sie wieder absetze. Ich ziehe mir gerade den Mantel aus, als meine Mutter samt meinem Neffen Fabian im Flur erscheint.

„Das Christkind hat keinen Schlitten, es fliegt. Wofür hat es sonst Flügel? Du bist sooo doof!“, beantwortet Fabian an meiner statt Emilys Frage.

„Niemand ist hier doof, Fabian. Das sagt man nicht!“, tadelt meine Mutter. Im nächsten Moment fliegt sie auf mich zu, ähnlich wie Emily vorher, und fällt mir um den Hals. „Andreas, mein Schatz! Schön, dass du da bist. Die anderen verhungern schon, wir warten mit dem Essen nur auf dich.“

Das Essen, oh je. Das liegt mir am meisten im Magen. Ich begrüße meine Mutter innig. Sie riecht so gut nach einem Gemisch aus Vanille und Gesichtscreme wie immer. Ich glaube, Mütter verlieren ihren typischen, individuellen Müttergeruch nie. Was ich sehr beruhigend finde.

Wir betreten gemeinsam das Esszimmer, wo mein Vater, mein Bruder Egon, seine Frau Anna, meine Schwester Christiane und ihr Mann Heinz schon sitzen. Opa sitzt in seinem Ohrensessel vor dem Fernseher und scheint kaum geistig anwesend.

Der Weihnachtsbaum steht wie all die Jahre zuvor schon neben dem Ofen und trägt exakt den gleich Schmuck wie immer. Ich glaube, meine Familie ist eine der wenigen, die ihren Baum noch mit Lametta schmücken. Als jemand, der selbst so nachhaltig wie möglich zu leben versucht, versetzt mir das einen Stich, aber gleichzeitig verpasst es mir auch einen wohligen Nostalgie-Schub.

„Frohe Weihnachten, liebe Familie!“, rufe ich in die Runde.

„Brüderchen!“ Christiane ist die einzige, die aufsteht und mich drückt. Die Männer der Familie schlagen bei meinem Rundgang um den Tisch nacheinander in meine ausgestreckte Hand ein. Ich gehe auf Opa zu, verpasse ihm einen Kuss auf die Glatze. Er scheint aus seiner Trance aufzuwachen, sieht mich an und lächelt. „Frohe Weihnachten, mein Junge.“

„Nanu, Opa, du rauchst ja gar nicht“, kommentiere ich das Fehlen seines Markenzeichens, der Zigarre.

„Ich darf ja nicht. Wegen der Kinder. Hat damals auch keinen gestört. Ihr seid alle groß geworden und gesund. So ein Quatsch!“

Ich tätschele ihm die Schulter und drehe mich wieder zum Rest der Familie. „Wo darf ich denn sitzen?“

„Bitte neben mir, Onkel Andreas. Ich habe dir extra einen Platz freigehalten“, ruft Emily eifrig.

„So, dann gehe ich mal das Essen holen. Christiane, Anna, helft ihr mir?“, sagt Mama.

Okay, gleich wird es spannend.

Die drei Frauen laden nacheinander Schüsseln mit Kartoffel-Klößen, Apfelmus, Rotkohl, Erbsen und Möhren und Semmelknödel auf den Tisch. Und ganz zum Schluss die Gans. Mein Blick huscht über den Tisch, um abzuchecken, was davon ich essen möchte, und was nicht.

„Ach, Frau Schwiegermutter, der Vogel sieht ja wieder mal gut aus!“ Heinz klatscht in die Hände und reibt sie sich dann genüsslich.

„Gut, liebe Familie. Dann haut mal rein. Damit aus euch was wird“, eröffnet Papa das Essen. Wildes Geklapper mit Vorlegebesteck an den verschiedenen Schüsseln und Platten beginnt, bis jeder etwas von dem auf dem Teller hat, was er mag. Ich selbst halte mich erst mal zurück. Erst, als Fabian sagt: „Boah, Oma, das schmeckt so lecker!“, und die anderen ihm beipflichten, nehme ich mir zwei Klöße, einen Löffel Rotkohl und mehrere Löffel Erbsen und Möhren. Ich hoffe, dass ich mit dieser Taktik durchkomme, ohne großes Aufsehen zu erregen.

Fehlanzeige. Papa reißt der Gans einen Schenkel aus und legt ihn mir auf den Teller.

„Nein, Danke Papa. Ich esse kein Fleisch mehr.“

Das Geklapper des Bestecks und auch das Gemurmel werden so abrupt unterbrochen, dass man meinen könnte, jemand hätte die Pause-Taste gedrückt.

„Wie, du isst kein Fleisch mehr?“, fragt Papa, der als erster aus der Starre erwacht.

Ich lege den Schenkel selbst zurück auf die Platte. „Genaugenommen esse ich gar nichts Tierisches mehr. Ich lebe seit knapp einem Jahr vegan.“

„Wie jetzt, vegan? Aber wieso denn?“, fragt meine Mutter. Sie hält die Hand an ihre Brust.

„Wegen der Tiere. Ich möchte nicht, dass sie für mich ausgebeutet werden.“

„Na ja, das kann ja alles sein. Aber das kann doch nicht auf Kosten deiner Gesundheit gehen.“ Meine Mutter schaut mich an, als hätte ich ihr gerade meine Drogen-Abhängigkeit gebeichtet. Sie weint fast.

„Mama, so ist das nicht. Die vegane Ernährung ist eine der gesündesten Arten, sich zu ernähren.“

Meine Schwester, ihres Zeichens Ärztin, schaltet sich ein. „Es kann aber doch nicht gesund sein, wenn man gewisse Nährstoffe, die nur in tierischen Lebensmitteln vorhanden sind, supplementieren muss. Das ist doch völlig unnatürlich.“

„Nicht unbedingt, Schwesterchen. Lebensmittel erhalten heutzutage deutlich weniger Vitamine und Mineralstoffe als früher. Nicht nur ich supplementiere, sondern auch im Tierfutter sind Zusätze wie Vitamin B12 und Vitamin D enthalten – wie sollen die Tiere ohne Tageslicht Vitamin D produzieren? Also nimmst du über einen Umweg auch gerade Supplemente zu dir.“

Fabian schaut das Stück Fleisch, das er auf der Gabel hat, skeptisch an.

„Für deinen Tofu wird der Regenwald abgeholzt. Das weißt du schon?“, fragt Egon mit seinem typisch besserwisserischen Gesicht.

„Stimmt. Für Soja wird der Regenwald abgeholzt, aber nicht für meinen Tofu. Etwa achtzig Prozent des importierten Sojas werden zu Tierfutter. Soja für Tofu stammt in der Regel immer aus Europa, oft sogar aus Deutschland. Da bist du nicht richtig informiert.“

Schweigen. Endlich komme ich dazu, auch mal einen Bissen von meinem Essen zu nehmen, bevor es kalt wird.

„Ach, du weiß ja gar nicht, was du verpasst!“, sagt mein Schwager.

„Schön, dass es dir schmeckt. Aber ich verpasse nichts. Ich habe mich ja bewusst dazu entschieden, keine tierischen Lebensmittel zu essen. Für mich ist das kein Verzicht. Ich boykottiere sie. Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich auf meinem Teller habe. Es schmeckt übrigens wie immer köstlich, Mama!“ Ich küsse meine Mutter auf die Wange.

„Papperlapapp!“, meldet sich Opa aus dem Off. „Über Jahre habt ihr versucht, dem Jungen beizubringen, das Gemüse gesund ist. Nun ist der Junge groß und ernährt sich nur von Gemüse und ihr flippt aus.“ Er lacht und bekommt einen Hustenanfall. „Lasst ihn essen, was er mag, es wird schon richtig sein. Im Krieg hatten wir auch kaum Fleisch, und seht mich an. Ich lebe immer noch und bin gesund. Wir haben Weihnachten, Herrgott nochmal!“

Ich danke meinem Opa tief in meinem Herzen.

„Kommt jetzt endlich das Christkind?“, fragt Emily.

„Ja, mein Schatz. Sobald du dein Gemüse gegessen hast.“

Als meine Mutter klar wird, was sie gesagt hat, bricht sie in schallendes Gelächter aus. Keiner am Tisch kann sich zurückhalten und fällt mit ein.

Na endlich!

Frohe Weihnachten! 

Impressum

Texte: Andrea Kochniss
Bildmaterialien: Quelle Bildmaterial: Natalia Lavrinenko auf pixabay
Cover: Andrea Kochniss
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2023

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