Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wie oft in meinem Leben ich an diesem kleinen Häuschen schon vorbeigelaufen bin. Jedenfalls geht das schon viele lange Jahre so. Tagein, tagaus. Wenn ich zum Schulbus gehe, wenn ich Janet besuche, wenn ich zum Bäcker gehe, zum Friseur oder einfach nur zum Briefkasten. Schon eigenartig. Egal, wo ich hinwill, alles führt an diesem Haus vorbei. Ein Haus, das sich in der vergangenen Zeit so gut wie gar nicht verändert hat. Zumindest nicht merklich. Darin gewohnt hat allerdings zu meiner bisherigen Lebenszeit niemand.
Dafür ist genug Leben in den anderen Häusern. Dort leben auch heute noch die gleichen Familien wie zu meiner Kinderzeit. Nachbarn zwar, doch viel mit ihnen zu tun haben wir nicht. „Spießerclub“ nennt Kevin diese Horde gerne. Kevin ist der, den meine Eltern zirka drei Jahre vor mir gezeugt haben, nebenbei der allerbeste große Bruder, den man sich wünschen kann. Nach meiner Geburt mussten meine Eltern sehr geschockt gewesen sein, sie machten nämlich siebzehn Jahre Pause und probierten es noch einmal. Heraus kam Baby Joel. Gerade mal sieben Monate alt und nach Mamas Überzeugung „das süßeste Baby aller Zeiten“.
Wir alle drei gelangten nach unserer Geburt im Krankenhaus an diesem Haus vorbei über die Straße in unser Heim. Die Straße, über die auch mein Opa mit dem Leichenwagen aus unserem Haus weggefahren wurde. Eine Straße, die mit neuem und altem Leben, mit Geburt und Tod zusammenhängt. Die Straße des Lebens, sozusagen, eine Art guter vertrauter Freund, der einem den Weg in die Welt ebnet. Vertraut, ja. Aber nur bis zu diesem einen, eigentlich nichts zu bedeuten scheinenden Abend, dem einunddreißigsten August letzten Jahres, an dem ich IHN sah.
Er saß auf der Mauer vor dem alten Fachwerkhaus. Er war grau. Durch und durch grau, von Staub, Dreck. Seine nackten Füße waren grau, seine flickenübersäte Leinenhose, sein Hemd, dessen Ursprungsfarbe nicht mehr zu erkennen war. Seine Haut an Armen und im Gesicht, sein wahrscheinlich braunes Haar, alles war grau. Er sah fast so aus, als wäre er ein Bestandteil der Straße, wie ein Chamäleon, das sich seiner Umgebung anzupassen versuchte. Was eigentlich ein trauriger Anblick hätte sein sollen, war aber keiner. Denn aus dem faden Grau heraus leuchteten zwei blaue Augen. Sie strahlten, sie blitzten aus dem Trübsinn heraus wie ein Stern an einem vernebelten Nachthimmel. Sie strahlten mich an, fingen mich ein. Die großen blau blitzenden Augen des kleinen grau erscheinenden Jungen, dessen Alter ich kaum schätzen konnte.
Ich kannte ihn nicht, hatte ihn noch niemals gesehen. Doch er lenkte mich ab, so dass ich mich nicht mehr aufs Radfahren konzentrieren konnte. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich das Tempo absichtlich drosselte oder ob mir die Fahrt an diesem Kind vorbei nur so schien, als wäre es Zeitlupe. Seine Augen ließen mich nicht los, bis ich schon fast einhundert Meter weiter bei Familie Tobias einbog. Ich sah ihn nicht mehr, als ich vom Rad stieg. Aber er sah mich noch. Das spürte ich ganz deutlich.
„Was willst du mir eigentlich erzählen? Dass du eine Erscheinung hattest, oder was?“ Meine beste Freundin gab sich nicht gerade große Mühe zu verstehen, wovon ich redete.
„Janet, ich sage dir, hier vor dem alten Haus saß er. Ein kleiner Junge, vielleicht sieben bis zehn Jahre alt.“
„Ellen, hier in der Nachbarschaft gibt es dutzende kleine Jungs. Du wirst einen von ihnen gesehen haben. Nils, Jason, Ben oder Tom…“
Ich ließ meine Freundin nicht aussprechen. „Es war keiner dieser Jungs. Er war noch niemals hier, das weiß ich ganz genau. Und irgendetwas stimmte mit ihm nicht.“
„Du meinst, er kommt von einem anderen Stern?“
„Janet, du nimmst mich einfach nicht ernst!“ Ich wurde wütend.
„Na hör mal, wie soll ich denn? Du schleppst mich hierher vor diese alte Ruine und willst mir ein seltsames Wesen zeigen. Hier ist aber niemand. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Ungläubigkeit?“
Darauf konnte ich keine Antwort geben, sondern starrte nur ganz verwirrt auf den Platz, auf dem vor zehn Minuten noch dieser kleine schmale, dürre Junge gesessen hatte. Und jetzt war er weg. Spurlos verschwunden, so als wäre er niemals dagewesen. Ich begann an mir selbst zu zweifeln.
„Wahrscheinlich hast du Recht, und ich habe mir das Ganze nur eingebildet. Aber ich hätte schwören können…“
„Schwöre besser nicht. Nicht, wenn du dir nicht vollkommen sicher bist. Und jetzt sei mir nicht böse, aber ich muss los. Jasper wartet auf mich.“ Janet verpasste mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann schwang sie sich wieder in ihr Auto und verschwand.
Jasper! Na toll! Seit drei Monaten hörte ich nichts anderes mehr von Janet. Was fand sie nur an diesem Kerl? Allein der Name sagte schon alles aus.
Gedankenverloren ließ ich meinen Blick umherschweifen. Irgendwo musste der kleine Kerl doch hergekommen oder zumindest irgendwo hin verschwunden sein. Meine Augen blieben auf dem alten Backsteinhaushaus haften. Ein Gebäude mit vielen Erinnerungen.
Während ich langsam, fast andächtig über die Wiese in Richtung des Gebäudes lief, fiel mir ein, dass es jetzt nicht mehr stehen würde
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Andrea Kochniss
Bildmaterialien: Pixabay.de
Cover: Andrea Kochniss
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1241-0
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