Cover

Anmerkungen

Die Orte Schleihenthal, Erpenich und Görnbeek sowie ihre Bewohner sind frei erfunden.

Jegliche eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Dieser Roman hat sich aus der Kurzgeschichte Der tollste Mann der Welt entwickelt, welche vor einiger Zeit in einer Kurzgeschichtensammlung der Autorin in den Shops erhältlich war.

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Die Protagonistin dieses Romans, Chrissie Weinfeld, ist vielen Lesern schon als beste Freundin von Sunny Dahlke aus dem Roman Engelsgerüchte bekannt

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Der immer wiederkehrende Wechsel zwischen den Zeitformen in Chrissies Tagebuchteilen dient zur Charakterisierung des Teenagers und ist im geistigen Vollbesitz der Autorin entstanden.

Für alle weiteren Fehler, die trotz ständigen Korrigierens überlebt haben, entschuldigt sich die Autorin zutiefst.

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Kapitel Eins

 Ich war spät dran.

Was ungünstig war, weil ich auf die Weise keinen guten Parkplatz mehr am Haus meiner Großeltern fand. Tatsächlich bringt es nicht wirklich viel, Einzelkind zu sein, wenn die eigene Mutter sechs Geschwister hat, die selbst ebenfalls Horden an Kindern haben.

Die ganze Straße stand voll von Autos meiner Sippschaft, und so blieb mir nichts anderes übrig, als meine eigene Klapperkiste in die Schlange einzureihen, die ausgerechnet am Haus der Familie Kessel endete.

Ich griff nach meiner Handtasche, die ich vor ein paar Minuten noch lieblos in den Fußraum auf der Beifahrerseite geschmissen hatte. Ich befreite sie von der Verpackung eines Schokoriegels, die hartnäckig an ihr klebte.

Nachdem ich ausgestiegen war, schloss ich mein Auto nicht ab. Wir befanden uns hier in der Schlehenstraße in Schleihenthal, hier sagen sich Fuchs und Hase noch Gute Nacht. Soweit ich zurückdenken konnte, hatte es hier noch nie ein Verbrechen gegeben.
Eilig schwang ich mir die Handtasche über die Schulter und lief los.

Die Einfahrt zu passieren gestaltete sich schwieriger als erwartet. Nicht nur Omas und Opas Autos parkten dort wie gewohnt, zusätzlich befanden sich dort noch ein pinkes Rutsche-Auto, diverse Sandkasten-Utensilien samt Sand und ein Seil, das quer von der Hecke der Nachbarn bis zur Haustüre gespannt war. Gut, so hatte ich wenigstens eine Ausrede für mein Zuspätkommen.

Ich machte vor dem Seil, das offensichtlich als Schranke genutzt wurde, Halt. Ein dunkelhaariger Zwerg hockte im Gebüsch und krähte: »Passwort oder Geld her!«

Da ich wusste, dass in der Schlehenstraße 11 keine Zwerge wohnten - im Übrigen auch kein anderes Fabelwesen, obwohl wir uns hier in der Eifel befanden - tippte ich auf einen meiner Cousins.

»Jakob?«, versuchte ich es.

»Falsches Passwort!«, krähte es aus dem Busch.

»Spar dir dein Passwort. Ich bin es, deine Cousine Chrissie. Lass mich einfach durch.«

»Das kann ja jeder sagen. Was, wenn du eine böse Hexe bist?«

»Wenn das so wäre, hätte ich dich längst samt Seil an den Ahornbaum gehext und das Haus mit fiesen Flüchen in Schutt und Asche gelegt. Also, was ist jetzt?«

Der Zwerg seufzte, ließ das Seil sinken und krabbelte aus dem Gebüsch. »Die anderen haben das Passwort auch nicht gewusst, aber die haben wenigstens bezahlt.«

»Linus. Da habe ich ja fast richtig geraten. Hat sich die Ausbeute denn gelohnt?«

Linus leerte die Taschen aus. Auf den ersten Blick waren das mindestens zehn Euro in Münzgeld.

»Nicht schlecht. Hast du schon mal überlegt, das beruflich zu machen?«

Linus schien einen Moment zu überlegen. »Hm, später vielleicht. Ich sollte vielleicht doch besser erst die Schule beenden«, sagte er dann.

»Gute Einstellung, besonders für einen Achtjährigen.«

»Neun!«, rief Linus empört aus.

»Was?« Ich war bereits über das Seil geklettert und hielt die Klinke der Haustür in der Hand.

»Neun, Chrissie, nicht acht. Ich bin schon neun!«

»Ja, tut mir leid!«, entschuldigte ich mich halbherzig, »Ich verwechsle das jedes Mal mit Jakob.«

»Der ist aber sieben!«, rief er mir nach, als ich schon im Haus verschwunden war.

Da sollte noch einer durchsteigen! Es glich schon einem Wunder, dass ich die neun Kinder meiner Onkel und Tanten den richtigen Eltern überhaupt zuordnen konnte.

Als ich die große Wohnküche betrat, herrschte geschäftiges Treiben. Die Terrassentür stand auf, der rauchende Teil meiner Familie befand sich dort. Ein Pulk von Frauen mehrerer Generationen, unter anderem Oma Lene und meine Mutter, wuselten an der Küchenzeile herum. Ein paar der Kinder deckten den Tisch, die Kleinste von allen jedoch, Lilly, hockte darunter. Das blonde, pummelige Feenwesen küsste den Hund im Sekundentakt mitten auf die feuchte Nase.

»Hallo Familie!«, machte ich mich bemerkbar.

Tatsächlich war Hund Rocco der Erste, der sich erhob und mich freudig begrüßte. Erst sprang er an mir hoch, um sich dann im Anschluss dafür zu entscheiden, die Schokoladenreste von meiner Handtasche zu lecken. Lilly war die Nächste, die auf mich zu rannte und mein Bein umklammerte.

»Oh, meine wunderschöne Chrissie-Prinzessin!«, quiekte die Vierjährige und küsste inbrünstig mein Knie.

Oma legte den Schneebesen beiseite und kam auf mich zu, um mich zu drücken. »Schön, dass du da bist, Chrissie-Kind.« Sie schaute an mir herunter. »Weißt du, dass du das als Kind genauso gemacht hast?«, fragte sie.

Ich grinste. »Was? Die Handtaschen der Besucher abgeleckt?«

»Chrissie!«, ermahnte mich meine Mutter. »Sei nicht so frech zu deiner Oma!«

Oma Lene winkte ab. »Lass das Kind doch. Ich weiß ja, wie es gemeint ist.«

Meine Mutter verdrehte die Augen, während sie die Kartoffeln abgoss. »Das Kind! Lene, meine Tochter ist zweiunddreißig!«

»Na und? Erwachsen kann sie noch früh genug werden. Ein bisschen Humor hat noch keinem geschadet.«

Ich legte Hund, Handtasche und Kind ab. »Kann ich irgendwie helfen?«

 

Eine Stunde später, nachdem wir in Etappen gegessen hatten, saß die ganze Sippschaft im Garten. Obwohl die Wettervorhersage für den Ostersonntag eher mau gewesen war, steckte die Sonne nun doch das ein oder andere Mal bei knapp fünfzehn Grad die Nase durch die Wolken.

Jedes der Kinder hatte aus der riesigen Tiefkühltruhe im Keller ein Eis bekommen, und wir Erwachsenen ließen uns Oma Lenes selbstgemachten Eierlikör schmecken, den sie schon seit Jahrzehnten jedes Jahr zu Ostern in rauen Mengen produzierte.

»Wo hast du eigentlich deinen Tuppes gelassen?«, fragte Tanja, die zwar meine Tante war, die ich aber nicht so nannte. Sie war bloß vier Jahre älter als ich, genau wie ihr Zwillingsbruder Samuel. Wir waren quasi gemeinsam aufgewachsen, und so waren die beiden eher wie Geschwister für mich.

»Tuppes? Sagt man das heute noch so?«, fragte Oma Lene.

»Was ist ein Tuppes?«, fragte Lilly, die es sich bei ihrem Vater, meinem Onkel Cornelius, auf dem Schoß bequem gemacht hatte.

»Ein Tuppes ist ein Macker. Ihr Stecher, quasi«, klärte mein Cousin Finn die Kleine auf. Soweit ein Siebzehnjähriger dazu berechtigt war, einem Kindergartenkind so etwas zu erklären. Die Männer in der Runde lachten, und Tante Moni gab ihrem Sohn einen Klaps auf den Hinterkopf. »Finn! Bring Lilly nicht solche Ausdrücke bei. Sie wird sie mit in den Kindergarten nehmen. Was wirft das denn für ein Licht auf Cornelius?«

»Wahrscheinlich genau das, was man in einer größeren Kleinstadt wie Erpenich von einem alleinerziehenden Vater erwartet. Sollen sie denken, was sie wollen.« Onkel Cornelius öffnete für sich und Opa eine Flasche Bier und stieß mit ihm an. »Prost!«

»Haben wir das jetzt ausdiskutiert? Darf Chrissie mir endlich sagen, wo ihr Tuppes steckt? Oder wenn es euch lieber ist: Wo sich ihr herzallerliebster Lebensabschnittsgefährte befindet?«, fragte Tanja.

»Robert kommt nach. Er hat noch was im Büro zu erledigen«, antwortete ich.

»Am Ostersonntag? Welcher Mensch muss da arbeiten?«, fragte mein Cousin Pierre. Ich wunderte mich, dass er überhaupt etwas vom bisherigen Tag mitbekommen hatte, hing er doch ununterbrochen mit seiner Nase im Smartphone.

»Ärzte? Krankenschwestern? Pflegepersonal? Ich kann von Glück reden, dass ich heute nicht arbeiten muss. Sonst säße ich wohl kaum hier«, sagte Cousine Marie giftig. Ihr zickiges Verhalten war nichts neues, und so ignorierten wir es auch dieses Mal.

Außer Finn natürlich. »Hallo? Chrissie sagt, ihr Tuppes ist im Büro. Da wird er ja wohl kaum jemanden operieren oder pflegen.«

»Was macht dein Robert noch mal beruflich, Chrissie-Kind?«, fragte Oma Lene.

»Er ist Immobilienmakler.«

»Siehste, ein Bürofutzi!«, sagte Pierre und streckte Marie die Zunge raus.

»Dein Robert hätte mal besser einen anständigen handwerklichen Beruf erlernt, dann müsste er auch sonntags nicht arbeiten«, sagte Opa.

»Opa, er muss ja auch nicht, er wollte bloß noch eine Akte im Büro holen.«

»Und für diese blöde Akte fährt er extra nach Köln? Sein Büro ist doch in Köln, oder?«, fragte Oma Lene.

»Wenn du mich fragst, braucht der ganz schön lange. Bist du sicher, dass er nur eine Akte holt und keine Affäre hat?«, fragte Pierre.

Ich blickte meinen frechen Cousin mit einem gelassenen Lächeln an. Samuel lächelte ebenfalls in sich hinein und griff nach einer Flasche Bier aus dem Kasten, der unter dem Gartentisch stand. Samuel kannte Robert von allen hier am besten; wenn auch sehr verschieden, waren sie befreundet. Er äußerte sich in dieser Situation aber nicht dazu. Das übernahm Tanja für ihn. Wie immer funktionierten die Zwillinge perfekt. »Robert? Nie im Leben! Warum sollte ein Typ wie er was anderes am Laufen haben, wenn er mit Chrissie zusammen ist? Der braucht keine Affäre. Chrissie ist so eine scharfe Braut, sie ist seine Affäre.«

»Tanja hat recht. Robert wäre schön dumm, wenn er Chrissie laufen ließe«, sagte Oma Lene.

»Als wenn er irgendeine Chance hätte, das selbst zu entscheiden. Niemand hat bisher mit Chrissie Schluss gemacht. Sie selbst hat all ihre Beziehungen beendet. Und jeder dieser Kerle war danach bis ins Mark erschüttert. Einige sogar reif für die Klapsmühle«, berichtete Tanja weiter. Ich liebte meine jüngste, verrückte Tante. Als anderthalb Jahre zuvor meine beste Freundin Sunny nach Görnbeek gezogen war, wurde Tanja meine engste Vertraute. Der Irrsinn lag im Blut dieser Familie, und sie und ich hatten eine große Portion davon abbekommen. Vielleicht übertrieb sie gerade ein wenig. Aber wirklich nur ein wenig.

»Immerhin ist meine Tochter nun schon zwei Jahre mit Robert zusammen. Und endlich ist das mal ein anständiger Kerl mit einem anständigen Job«, schaltete sich jetzt auch mein Vater ein.

»Noch nicht ganz zwei Jahre, Papa. Erst im Juli«, verbesserte ich ihn.

»Die vier Monate. Sei nicht immer so ein Korinthenkacker!«, sagte Oma Lene. Wie gut, dass in dieser Familie jeder so reden durfte, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

»Was? So lange schon? Chrissie, das ist ja Rekord! Da wird es ja langsam Zeit für eine Hochzeit«, entschied Opa.

Ich griff nach der Flasche Eierlikör und goss mir noch ein Gläschen ein. Nachdem ich den Inhalt meine Kehle hinuntergestürzt hatte, sagte ich: »Nie im Leben, Opa! Mir legt keiner eine Fußfessel an. Auch kein Robert Dohm. Und das wisst ihr alle ganz genau!« Was für eine grauenhafte Vorstellung, mein ganzes restliches Leben an ein und dieselbe Person gebunden zu sein. Das ginge bei mir gar nicht, ohne gleichzeitig überstürzte Fluchtgedanken zu haben. Ich selbst hatte mein ganzes bisheriges Leben lang bestimmt, mit wem ich wie lang zusammen sein wollte. Und auch, wann diese Beziehungen ein Ende hatten. Ich konnte mir das leisten. Die Kerle lagen mir zu Füßen, um es mit Sunnys Worten auszudrücken. Und das ganz ohne Kunst. Es war einfach so.

»Wenn ich mich recht erinnere, gab es bisher nur ein männliches Wesen, zu dem Chrissie ja gesagt hätte«, verriet Oma Lene.

»Ach, wirklich?« Cousine Marie wurde hellhörig. Und auch ich äußerte: »Hä?« Wenig intelligent, dafür aber ziemlich verwirrt. Ich hatte keine Ahnung, von wem meine Oma da sprach.

»Stimmt, da gab es doch diesen Jungen, mit dem du damals zur Schule gegangen bist«, fiel es nun auch meiner Mutter ein. Und mir begann so langsam zu dämmern, von wem hier die Rede war. Bitte nicht!

»Wie hieß denn der noch, Himmelherrgott! Wieso bin ich nur so vergesslich? Man könnte meinen, ich wäre alt!«

Oma Lene war alt, genaugenommen fast fünfundsiebzig. In dem Moment war ich dankbar für ihre Alters-Vergesslichkeit. Ich hatte keine Lust, mit meiner Familie über mein pubertäres Verhalten in der Zeit um die Jahrhundertwende zu reden.

»Ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht«, sagte ich, so überzeugend wie möglich. Ich hoffte, mein schauspielerisches Talent reichte aus. Doch ich irrte mich. Was in der Öffentlichkeit galt, funktionierte nicht in meiner Familie. Niemals.

»Ach, Chrissie, Süße, natürlich weißt du das. Er war wirklich niedlich. Ich kann mich noch an dieses eine Schulfest erinnern, da hat er doch gesungen, oder?«, sagte Oma. Wo war bloß ihre Vergesslichkeit hin?

Papas Augen weiteten sich. Ganz klar, die Erinnerung hatte auch ihn eingeholt. »Sagt nicht, ihr sprecht von diesem Rotzbengel mit den zerrissenen Hosen! Den ich an seinen langen schmuddeligen Haaren aus Chrissies Zimmer gezogen habe!«

Nun kam Oma endlich die Erkenntnis, ich konnte seinen Namen schon in ihren Augen lesen, bevor sie ihn aussprach. »Joe! Er hieß Joe. Und er war wirklich ein verdammt hübscher Junge.« Omas Blick schweifte ab, man hätte meinen können, in ihren Augen blühten Herzchen.

Mittlerweile war ich auf meinem Stuhl zusammengesunken, die Flasche Eierlikör auf meinem Schoß umklammert und sämtliche Blicke der Familienmitglieder, die Joe nicht persönlich kennengelernt hatten, ruhten auf mir. Was erwarteten die jetzt von mir? Die ungebrochene Neugier in dieser Familie war einfach nur erschreckend.

»Was?«, fragte ich hilflos. Ich schraubte die Flasche auf und nahm einen Schluck. Es war sowieso nicht mehr viel drin, da konnte ich auch gleich aus der Flasche trinken.

Wie aus dem Nichts startete Rocco ein Mordsgebell und schoss unter dem Tisch hervor in Richtung Gartentor. Mit beiden Vorderpfoten stemmte er sich gegen die oberste Latte, um den Besucher, der auf der anderen Seite des Gatters stand, in Augenschein nehmen zu können. Als er Robert erkannte, wedelte Rocco und ging in freudiges Jaulen über. Ich dankte dem guten alten Mischlingshund für die abrupte Ablenkung. Alle Blicke gingen zum Tor, und Joe war vergessen.

»Robert! Junge! Komm doch rein!«, rief Oma Lene.

Ich wettete, dass Robert das gern getan hätte, aber Rocco ließ ihm keine Chance, das Tor zu öffnen.

Samuel sprang auf und kam meinem Freund zur Hilfe. Er schob Rocco beiseite und öffnete gleichzeitig das Tor.

Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag. Ein Bild für die Götter. Samuel, der typische Rocker in schwarzem T-Shirt mit Band-Aufdruck und tätowiert bis unter die Achseln und Robert, bis zum Hals eingeschnürt in feinem Anzug irgendeines Designers.

»Hey, Robert«, flirtete Tanja ihn ungeniert an.

»Tanja.« Er nickte ihr zu. Seine Unsicherheit inmitten meiner chaotischen, aber sehr liebenswerten Familie war ihm anzusehen. Die Hälfte dieser Menschen hatte er noch nie gesehen. Ich stand auf und merkte da zum ersten Mal, dass ich vielleicht ein wenig zu viel Eierlikör getrunken hatte.

Opa holte einen Stuhl aus dem Schuppen und stellte ihn ausgerechnet neben seinen. »Setz dich, Jung!«

Robert warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. Ich lächelte ihm ermunternd zu. Da musste er jetzt durch. Mit seiner Familie ging es mir nicht anders. Wenn auch auf völlig andere Art und Weise.

Vorsichtig ließ Robert sich auf den angerosteten Metallstuhl sinken. Kaum hatte sein Hosenboden die Sitzfläche berührt, schlug Opa ihm mit seiner von der jahrelangen Arbeit auf dem Straßenbau gekennzeichneten Pranke auf die Schulter. Ein verdächtiges Knirschen war zu hören. Ob das allerdings Roberts Schulter oder der angeschlagene Stuhl von sich gegeben hatte, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Fall bemerkte ich, dass Robert arge Mühe hatte, sich nicht vor Schmerz die Schulter zu reiben.

»Ich habe dich schon mal gesehen. Du bist der Tuppes von Chrissie«, sagte Lilly geradeheraus.
Robert zog die Augenbrauen in die Höhe. »Äh, ja«, brachte er nur hervor. Der arme Kerl. In dieser Runde waren ihm selbst die Kinder überlegen. Wenn auch nicht in der Intelligenz, so doch in allem anderen.

»Hier, Junge. Trink erst mal ein Bier.« Opa griff geschickt unter den Tisch in den Kasten und fischte eine Flasche heraus, die er Robert dann in die Hand drückte. Robert trank um diese Uhrzeit für gewöhnlich noch keinen Alkohol, aber hier blieb ihm nichts anderes übrig. Die Flasche in der Hand blickte er sich auf dem Gartentisch um. Die Suche nach einem Flaschenöffner war hier vergeblich, aber das wusste Robert nicht. Samuel nahm ihm die Flasche aus der Hand, griff nach einem der auf dem Tisch verteilten Feuerzeuge, und innerhalb von Sekunden war die Flasche offen.

Oma Lene, die zwischenzeitlich aufgestanden war, kam nun mit einem vollgepackten Teller zurück auf die Terrasse. »Du hast doch bestimmt Hunger, mein Junge.« Sie stellte den Teller vor Robert auf dem Tisch ab. Selbst, wenn er keinen Hunger gehabt hätte, hätte er keinerlei Chance gehabt, dies meiner Oma glaubhaft zu machen. Davon abgesehen ist Oma Lenes Essen immer eine Wucht. Und das wusste auch Robert.

»Vielen Dank, Frau Neuss.« Robert lächelte ihr zu, sie dagegen schaute ihn fast schon grimmig an. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich duzen sollst? Ich bin Oma Lene, und wenn dir das nicht passt, dann bin ich nur Lene für dich.«

Robert war sichtlich eingeschüchtert von der patenten kleinen Person, die da mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihm stand. Ich kicherte in mich hinein, und da war ich nicht die Einzige in der Runde. Zudem kam, was kommen musste: »In Ordnung, Frau Neuss.« Es war tatsächlich schon wieder passiert. »Ich meinte Oma! Lene! Oma Lene!«, schickte er rasch hinterher. Die Röte in seinem hübschen Gesicht war mittlerweile bis unter die Haarwurzeln gekrochen.

Oma Lene grinste. »Dann hätten wir das ja geklärt. Zum hundertsten Mal, glaube ich mittlerweile. Und jetzt iss, sonst wir der Braten kalt.«

 

»Geht es dir wirklich gut?« Robert sah mich besorgt an. Nachdem er die Beifahrertür geöffnet hatte, um mich aussteigen zu lassen, hielt er mir die Hand hin. Ich nahm sie nicht an und hievte mich selbst aus dem Sitz.

»Ja, alles gut. Ich hab nur zuviel Eierlikör intus. Ich will nur noch ins Bett.« Mein Auto hatte ich da stehen gelassen, wo ich es am Vormittag geparkt hatte. Selber fahren wäre nicht nur unverantwortlich gewesen, ich hätte es auch gar nicht mehr geschafft.

Nachdem Robert das Auto abgeschlossen hatte, führte er mich an der Hand Richtung Haustüre. »Es ging wohl recht feuchtfröhlich zu bei deinen Großeltern«, sagte er, während er in seiner Jackentasche nach seinem Schlüsselbund suchte. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Es wäre ein Leichtes gewesen, gleich an Ort und Stelle einzuschlafen.

»Das geht es bei meiner Familie doch immer. Du weißt, eigentlich bin ich auch trinkfester, aber Oma Lenes Eierlikör hat es wirklich in sich. Zum Glück ist nur einmal im Jahr Ostern.« Ich gähnte und tappte mehr schlecht als recht die Stufen zur Wohnung hinauf.

»Das stimmt zwar, aber die Sache ist die: Ostern findet an zwei Tagen statt. Du hast bisher nur den ersten Teil geschafft. Morgen fahren wir zu meinen Eltern zum Mittagessen, das hast du doch hoffentlich nicht vergessen?« Schwang da Panik in Roberts Stimme mit?

»Hab ich nicht, keine Sorge. Wie könnte ich auch? Meine Güte, war hier nicht mal ein Aufzug?«

Robert lachte. »Nein, Hexe. Da verwechselst du was. Der war im Haus deiner alten Wohnung.«

»Ach, stimmt ja. Wir wohnen ja jetzt zusammen.« So gut es ging, hob ich meinen Kopf an und lächelte den schönen Mann mit den veilchenblauen Augen schief an.

Er lächelte zurück. »Schön, dass du dich daran erinnerst. Sonst hätte ich mir arge Sorgen gemacht.«

Endlich hatten wir die dritte Etage erreicht und somit auch unsere Wohnung. Robert ließ mich zum Aufschließen der Türe kurz los. Nicht kurz genug. Ich lehnte mich gegen die Wand und rutschte an ihr herunter bis zum Boden. Auch hier war es gemütlich, entschied ich, und so sagte ich: »Gute Nacht, Schatz!«

»Nichts da!« Robert hievte mich mit einem Ruck in die aufrechte Position zurück. Beachtlich für so einen schlanken jungen Mann. Gut, er war trotzdem kräftig, aber ich war etwas, was man kurvig nannte. Ich hatte eine Rubensfigur, oder wie das hieß. Ich war nicht fett. Ich hatte bloß alles an den richtigen Stellen sitzen, und das, kombiniert mit meinen roten Locken, gab den Männern für gewöhnlich den Rest. Ich muss gar nichts dafür tun. Außer selbstbewusst sein. Und das war ich. Eindeutig.

Robert betrat die Wohnung, mich unter den Arm geklemmt. So gut es ging, schleifte er mich ins Schlafzimmer und legte mich dort aufs Bett.

»Oh, hier ist es aber auch schön«, gähnte ich. Ich bekam gerade noch so mit, wie Robert mich auszog und mich im Anschluss in die warme Decke einhüllte.

 

Keine Ahnung, was von beidem mich weckte: Der Kopfschmerz oder das Klingeln des Telefons. Irgendwie passierte beides zeitgleich. Wahrscheinlich schmerzte mein Kopf durch das Klingeln des Telefons. Umgekehrt wohl eher nicht. Wäre irgendwie beängstigend gewesen.

Ich schlug auf die Bettseite neben mich, in der Hoffnung, meinen wunderschönen Freund so zu wecken. Er sollte aufstehen. Sofort! Er sollte machen, dass das schrille Klingeln aufhörte. Sofort! Und das tat es. Deshalb, weil mein mich ständig treu umsorgender Lebensabschnittsgefährte schon längst aufgesprungen und ans Telefon gegangen war.

»Frau Neuss! Ähm, Oma Lene! Guten Morgen.« Beim letzten Wort war Robert am Fußende des Bettes angekommen. Er lächelte mich an und ich fuchtelte mit den Händen vor meinem Gesicht herum. Ich hoffte, er verstand, was ich ihm sagen wollte. Ich war einfach noch nicht dazu imstande, mit irgendwem zu telefonieren. Selbst mit Oma Lene nicht.

»Kein Problem, ich gebe sie dir.« Mit einem Grinsen hielt er mir den Telefonhörer entgegen. Und ich schoss Blitze aus meinen Augen in seine Richtung. Leider war ich in meinem desolaten Zustand keine gute Schützin. Ich griff nach dem Hörer und hielt ihn vorsichtig an mein Ohr. »Hallo Oma.« Meine eigene Stimme verursachte schlimmste Schmerzen in meinem Kopf.

»Chrissie, mein Kind. Gehts dir gut? Du klingst so komisch.«

»Das ist dein Teufelsgebräu schuld. Es fühlt sich an, als befände sich in meinem Schädel rohes Ei. Wo mein Hirn hin ist, keine Ahnung.«

»Ach, du Arme! Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du so viel getrunken hast. Ich dachte, Tanja wäre für die ganzen leeren Flaschen verantwortlich.«

»Na ja, sagen wir mal so. Wir waren beide keine Klosterschwestern.«

»Waren ist gut. Das seid ihr grundsätzlich nicht.«

Ich gähnte lang und ausgiebig. »Warum rufst du an, Oma?«

»Ach ja, richtig. Das hätte ich ja fast schon wieder vergessen. Du musst dein Auto wegfahren.«

»Mein Auto? Wieso mein Auto?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, fiel es mir auch schon wie Schuppen von den Augen.

»Frau Kessel stand gerade hier vor der Tür und hat sich beschwert, weil dein unansehnliches Schrott-Auto vor ihrem Fenster ihren wunderschönen Ausblick stört.«

»Unansehnliches Schrott-Auto?« Nun wurde ich aber wirklich böse. Ich mochte mein Autochen. Es war immer lieb zu mir.

»Das hat sie gesagt, nicht ich. Du weißt, dass ich dein Auto mag. Es war ja schließlich mal mein eigenes. Ich hätte es ja auch weggefahren, aber ich habe den Schlüssel nicht. Wärest du so lieb und kommst kurz vorbei? Sonst lässt diese Frau uns heute den ganzen Tag nicht mehr in Ruhe.«

»Natürlich wird sie das nicht tun. Wahrscheinlich ist ihr eigentliches Problem, dass mein Auto ihr die Sicht auf ganz Schleihenthal versperrt. Wenn sie nichts mehr zu lästern hat, kriegt die Alte doch Depressionen!«

»Chrissie! Sei nicht so frech!«

»Ist doch wahr! Erinnere dich nur mal dran, welchen Mist sie damals über Sunny erzählt hat. Das war doch echt mehr als absurd.«

»Du hast ja recht. Trotzdem musst du Nachsicht mit ihr haben. Sie ist halt eine alte Frau.«

So viel ich wusste, war Frau Kessel sogar noch ein paar Jährchen jünger als Oma. Aber das diskutierte ich jetzt sicher nicht mit ihr aus. Mit Oma Lene zu diskutieren, war generell gefährlich. Man war am Ende immer der Dumme. Egal, wer im Recht war.

Ich seufzte erst einmal, dann sagte ich: »Ich bin gleich da, Oma. Gib mir ein paar Minuten, um mich einigermaßen menschlich zu machen.«

»Gut, Kind. Bis gleich. Ach ja, komm doch danach bitte noch mal kurz rein, ich möchte dir gern was geben.«
»Mach ich, bis gleich.«

Ich drückte Robert, der sich zu mir auf die Bettkante gesetzt hatte, den Hörer in die Hand und ließ mich rücklings in die Kissen fallen.

»Guten Morgen, Hexe«, sagte Robert, nachdem er den Hörer auf mein Nachtschränkchen gelegt hatte.

»Gut? Was? Ich habe heute noch nichts gutes gesehen. Und jetzt muss ich auch noch nach Schleihenthal, weil die blöde Kessel wieder was zum Meckern gefunden hat.«

»Schaffst du das denn noch? Ich meine, in zwei Stunden müssen wir bei meinen Eltern sein, das hast du doch nicht etwa vergessen?« In Roberts veilchenblauen Augen stand die Sorge geschrieben.

»Wieso schon in zwei Stunden? Ich dachte, wir müssten erst um eins da sein?«

»Äh, ja. Müssen wir. Deswegen ja. Hast du schon mal auf die Uhr geschaut?«

Ich griff nach meinem auf stumm geschalteten Smartphone und gab mir größte Mühe geradeauszuschauen. »Zehn vor elf? Im Ernst? Wieso hast du mich nicht eher geweckt?«

»Du hast so süß ausgesehen, da wollte ich dich nicht stören. Außerdem wollte ich dir noch so viel Schlaf wie möglich gönnen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du noch nach Schleihenthal musst, bevor wir zu meinen Eltern fahren.«

»Fährst du mich denn schnell hin? Ich komm dann später zu deinen Eltern nach. Ich muss auch noch kurz zu Oma Lene rein. Dann ist wenigstens einer von uns beiden pünktlich bei deinen Eltern. Und ich habe hier Ruhe, um mich fertig zu machen. Und irgendwie wach zu werden.«

 

Robert hielt hinter meinem geparkten Auto in der Schlehenstraße an.

»Bis gleich, Schatz.« Ich küsste ihn auf den Mund und griff nach dem Türöffner.

»Bis gleich. Und bitte sei pünktlich!«, sagte Robert in versucht strengem Ton.

»Klar. Ich doch immer!« Ich grinste und stieg aus dem Auto. Hoppala, das war wohl zu schnell. Schwindel ergriff Besitz von meinen Kopf, und ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen.

Kaum, dass Robert mit seinem Sportwagen davongefahren war, stand Frau Kessel in der Einfahrt ihres Grundstückes. Keine Ahnung, wie sie das immer mit dem Erscheinen von einer auf die andere Sekunde schafft, aber Hexen haben da ja so ihre Tricks.

»Ach, et Christina Weinfeld! Im schicken Flitzer wird et vorjefahre. Evver dat eijene Auto lässt et bei unschuldije Bürger vor dem Huus stonn!« Die Arme vor der kümmerlichen Brust verschränkt blitzte sie mich aus kleinen Augen böse an. Da war sie bei mir aber schief gewickelt. Das konnte ich auch. In jeder Frau steckt doch eine kleine Hexe. Ich stellte mich ebenso hin wie sie, meinen üppigen Busen schön mit den Unterarmen nach oben geschnallt.

»Frau Kessel, es ist immer wieder schön, Sie zu sehen. Gab es schöne pralle, bunte Eier für Sie vom Osterhasen?«

»Nu werden Se ma nich frech! De Jugend hätt och keine Respekt mehr vor dem Alter.«

»Erstens bin ich nicht mehr jugendlich und zweitens habe ich Respekt vor dem Alter. Nur nicht vor alten Gewitterhexen.« Ich wandte mich von ihr ab und stellte mich vor die Fahrertür meines Autochens. Ich wühlte in meiner riesigen Handtasche, die eher eine Umhängetasche mit unendlichen inneren Tiefen war, nach meinem Autoschlüssel. Verflixt und zugenäht, warum verdarb mir diese unnötige Suche jetzt meinen perfekten Abgang?

Frau Kessel, von unbändiger Neugier getrieben, kam mir immer näher.

»Watt is da jetz? Wid et bal? Minge Sohn kütt glich, der bruch der Parkplatz!«

Parkplatz! Als wenn es hier überhaupt welche davon gäbe. Es existierten nicht mal Bürgersteige in dieser Straße. Und wenn ihr Mirko sich nicht zwischenzeitlich einen Lastwagen gekauft hatte, konnte er problemlos in der Einfahrt seiner Eltern parken.

»Wissen Sie was?« Ich drehte mich ruckartig um und fand mich nahezu Nase an Nase mit Frau Kessel wieder, sodass ich ein paar Schritte zurückweichen musste. »Ich lass mein Auto einfach noch ein bisschen hier stehen. Ich muss sowieso noch zu meiner Oma. Auf die paar Minuten kommt es nun auch nicht mehr an.« Lächeln war die charmanteste Art, seine Zähne zu zeigen, und das konnte ich besonders gut. Ich drehte mich herum und marschierte, soweit das mein Schwindel und die Kopfschmerzen zuließen, die Straße herunter.

Doch noch einen perfekten Abgang hingelegt!

 

»Hey Oma!« Ich drückte sie zur Begrüßung, gleich nachdem sie mir die Haustüre geöffnet hatte.

»Oha, Chrissie-Kind! Du siehst nicht gut aus! Ist das wirklich mein Eierlikör Schuld? Kann ich mir gar nicht vorstellen. Vielleicht bist du ja auch schwanger?«

»Oma, nein! Um Himmels willen! Ich habe einen Kater, sonst nichts!«

»Na ja, wenn du meinst! Komm doch erst mal rein.« Oma ließ mich in die Wohnküche eintreten, wo Rocco mir gleich freudig entgegensprang. Erst als er merkte, dass sich heute keine Schokolade an meiner Tasche befand, wurde ich uninteressant für ihn, und er zog sich in sein Körbchen zurück.

»Hast du das Auto schon weggefahren?« Oma schob mir einen Küchenstuhl zurück. »Möchtest du einen Kaffee?«

Ich ließ mich auf den Stuhl fallen. »Auto nein, Kaffee ja. Ich finde meinen Autoschlüssel nicht.«

»Hast du ihn gestern vielleicht hier liegen gelassen? Es war ja turbulent genug.« Oma begann bereits, sich umzuschauen, als ich einfach meine Tasche schnappte und sie auf dem Küchentisch auskippte.

»Meine Güte, Kind, was hast du denn da alles drin? Bist du auf der Flucht?«

Ich wühlte zwischen einem Berg von Taschentüchern, Bonbonpapieren, Kassenbons und auch durchaus wichtigen Utensilien herum, bis ich es irgendwo klimpern hörte. »Na, wer sagts denn? Da ist er ja.« Ich fischte den Schlüsselbund heraus.

Oma stellte mir meine Lieblingstasse hin, halb gefüllt mit Kaffee, dazu ein kleines Tetrapack Kondensmilch und die Zuckerdose aus Uromas beige-farbenen Porzellanservice. Der Goldrand war mittlerweile matt, teilweise auch abgeplatzt. Solange ich mich erinnern konnte, stand diese Dose auf Omas Tisch, wenn es Kaffee gab. Selbst, wenn niemand am Tisch saß, der Kaffee mit Zucker trank. Ich strich liebevoll über den Rand, in Erinnerung an all die schönen Zeiten, die ich hier als Kind - aber auch in der Zeit danach - erlebt hatte. Ich hoffte in diesem Moment, meine Großeltern wären noch lange so fit, wie sie es jetzt waren. Meine durchaus völlig verrückte Familie war mein ein und alles, und jemanden von ihnen zu verlieren wäre die Hölle für mich.

»Du trinkst aber erst deinen Kaffee aus, bevor du verschwindest!«, sagte Oma.

»Na klar.« Ich lächelte sie an, als sie sich mir gegenüber an den Tisch setzte. »Du hast was für mich, hast du am Telefon gesagt?«

»Ja, richtig!« Sie lief eilig in ihre Sofaecke und wühlte in einer Kiste, die unter dem kleinen Couchtisch stand. Rasch hatte sie gefunden, was sie suchte. Mit wissendem Lächeln kam sie zurück an den Küchentisch, setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und schob mir den Gegenstand, um den es ging, ehrfürchtig über die Tischplatte zu.

Es lagen nur wenige Bruchteile von Sekunden zwischen dem Zeitpunkt, zu dem ich mich fragte, um was es sich dabei handelte bis zu dem, in der mich die Erkenntnis überfiel.

Mein Tagebuch.

Chrissies Tagebuch

22. April 1999

 

Liebes Tagebuch!

 

Schreibt man das so? Keine Ahnung.
Ich hab vorher noch nie eins geführt. Eigentlich habe ich Dich auch schon eine ganze Weile, genaugenommen hat Oma Dich mir zum 15. Geburtstag geschenkt. Sie meinte, ein junges Mädchen in meinem Alter bräuchte eins.
Bis heute habe ich nicht gewusst, was ich mit dir anfangen soll.
Heute allerdings muss ich dringend was loswerden. Ich meine, ich könnte es auch Sunny erzählen, aber jetzt noch nicht. Erst mal muss das anders gehen, und ich glaube, es aufzuschreiben ist eine gute Idee. Papier ist geduldig, sagt Oma immer.
Jedenfalls ist heute mit Abstand der geilste Tag meines Lebens.
Als ich heute Morgen mein Rad so am Fahrradständer abstelle und abschließen will, parkt jemand genau neben mir. Es ist total eng, weil heute irgendwie fast jeder mit dem Rad zur Schule gekommen ist. Der Junge quetscht sich also an mir vorbei und stößt mich mit dem Ellbogen ins Kreuz, und so drehe ich mich um.
Wahnsinn! Unfassbar! Unglaublich schön, atemberaubend, einfach nur geil. Ich weiß nicht, wie ich diesen magischen Moment noch beschreiben soll.
Vor mir steht mein Traummann. Groß, dunkelhaarig - LANGHAARIG!!! Oh mein Gott, und diese Augen! Grün, also nicht einfach nur grün, moosgrün! Er trägt diese unglaublich coolen Klamotten. Verwaschene, zerrissene Jeans, ein Band-T-Shirt, genaugenommen von Pearl Jam, Lederjacke drüber... Ich hätte nicht gedacht, dass ich solch einem göttlichen männlichen Wesen jemals über den Weg laufen würde.
Und das Geilste: Er lächelt mich an. Er grinst breit und entblößt eine Reihe nicht unbedingt gerader, aber sehr weißer Zähne. »Sorry!«, sagt er. Das Grinsen hört nicht auf.
»Kein Problem!«, gebe ich so cool wie möglich zurück. Er muss ja nicht gleich merken, wie geil ich ihn finde.
Er nimmt seinen Rucksack vom Gepäckträger und marschiert mit großen, lässigen Schritten Richtung Schulgebäude. Automatisch bleibt mein Blick an seinem Hintern hängen. Denn er hat tatsächlich einen, der sich perfekt unter seiner dort eng sitzenden Jeans abzeichnet. Im Gegensatz zu allen anderen Jungs der Schule trägt er nicht diese riesengroßen Hosen, die als Müllsäcke oder Zelte durchgehen könnten und deren Bund zusätzlich noch in den Kniekehlen hängt.
Der Junge ist anders. Definitiv!
Er ist der tollste Mann der Welt!!!

Kapitel Zwei

»He! He, Frolleinchen!«

Ich schreckte auf, stieß mit dem Ellbogen gegen das Lenkrad. Der Schmerz und die Erkenntnis, wo ich mich befand, kamen gleichzeitig. Ich schaute durch das geschlossene Autofenster und blickte Frau Kessel in das verhärmte Gesicht.

»Jetz is et äver Zig! Seit üvver ener Stunde hocken Se schon in Ihrem Auto, ohne wegzufahre! Minge ärme Mirko mood at in der Infahrt parke.«

Seit über einer Stunde? Wie lange war ich denn bei Oma gewesen, bevor ich mich in mein Auto gesetzt hatte? Wie lange war es her, dass ich dem Drang nicht hatte widerstehen können, mein Tagebuch nur mal kurz aufzuschlagen? Nur mal eben den ersten Satz, die erste Seite, die erste Woche zu lesen und noch viel mehr?

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Du heilige Scheiße!«, entfuhr es mir. Ich feuerte das Buch auf den Beifahrersitz und fuhr beim Starten des Wagens fast Frau Kessel über den Haufen.

Ich käme nicht nur zu spät zu Roberts Eltern. Ich hätte schon längst dort sein müssen.

 

In Rekordzeit fuhr ich nach Hause, sprang unter die Dusche und danach in saubere Klamotten. Sie hätten für Roberts Eltern edler, schicker sein können, aber darauf konnte ich jetzt beim besten Willen keine Rücksicht nehmen. Ich war eh nicht ihre Wunsch-Schwiegertochter, da war es auch egal, wenn ich in Jeans und T-Shirt auftauchte.

Das Handy klingelte mehrere Male während meines unmöglichen Vorhabens, pünktlich fertig zu werden, zwei Mal auch das Festnetztelefon. Mir war schon klar, dass es Robert war, der mich da so dringend erreichen wollte, und deshalb ging ich auch nicht ran. Erstens hätte mich das Zeit gekostet und zweitens hätte ich überhaupt nicht gewusst, was ich Robert zu meiner Verteidigung hätte sagen sollen.

»Entschuldige bitte, ich bin leider zu spät, ich weiß. Aber es war einfach zu spannend, mein Tagebuch aus Teenager-Zeiten zu lesen, in dem es hauptsächlich um meine große Liebe Joe geht. Ich hoffe, du und deine Eltern haben Verständnis. Ich bin gleich da.«

Genau!

Ich musste mir dringend eine plausible Erklärung einfallen lassen.

 

Die Dohms wohnten in der sogenannten Nobel-Gegend von Erpenich. Wenn es so etwas in einer etwas größeren Kleinstadt in der Voreifel überhaupt gab.

Ich drücke es mal so aus: Das Haus von Roberts Eltern glich eher einer Villa als einem Haus. Der Vorgarten war extrem gepflegt, so sehr, dass man Sorge hatte, einen Grashalm umzuknicken, falls man aus Versehen auf den Rasen trat, wenn man über den mit strahlend weißen Steinplatten ausgelegten Gehweg Richtung Haustür ging.

Die Sorge hatte ich auch jetzt wieder, und zwar ziemlich stark, denn der Schwindel hatte immer noch nicht nachgelassen. Ich hatte fürchterlichen Brand, war heute aber außer dem Kaffee bei Oma Lene noch nicht dazu gekommen, irgendetwas zu trinken. Mit voller Konzentration wandelte ich Richtung Haustür, den Blick fest auf eben diese gerichtet. Ich schnaufte tief durch, als ich diese erste Aufgabe doch ganz gut gemeistert hatte und wappnete mich für die nächste. Ich klingelte. Aus dem Innern des Hauses war der Gongschlag des Big Ben zu hören. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, obwohl mir in dieser Situation nicht nach Lachen zumute hätte sein dürfen. Ich war zu spät. Zu spät bei Roberts Eltern. Ich hatte schon jetzt komplett verschissen. Wahrscheinlich hatte mich der Galgenhumor gepackt.

Die Türe öffnete sich, und wie erwartet stand niemand aus der Familie vor mir.

»Sie wünschen?«, fragte die Haushälterin der Dohms streng, aber mit einem ganz zart angedeuteten Lächeln auf den Lippen.

Ich musste mir schon wieder ein Grinsen verkneifen. Jedes Mal, wenn ich diese Frau sah, fiel mir ihre unglaubliche Ähnlichkeit mit einer französischen Bulldogge auf. Nicht nur im Gesicht, auch der Körperbau sah dem dieses eigentlich ganz süßen Hundes ähnlich. Zudem hätte sie langsam wissen müssen, wer ich war. Ich war zwar noch nicht allzu oft bei den Dohms zu Besuch gewesen, aber wie gesagt - ich war keine unauffällige Person. Eigentlich hätte sie mittlerweile wissen müssen, dass ich zum Sohn des Hauses gehörte.

»Guten Tag, ich bin Christina Weinfeld. Ich bin sicher, Herr und Frau Dohm erwarten mich schon.« Schon eigenartig, wie gewählt ich mich ausdrücken konnte, wenn es drauf ankam. Wohl fühlte ich mich in diesem Moment dabei aber nicht. Ich fand es furchtbar, mich verstellen zu müssen und so zu tun, als sei ich jemand, den ich selbst nicht leiden konnte.

Ohne weitere Worte trat die Haushälterin, von der ich nur wusste, dass sie Frau Großrat hieß, zur Seite und ließ mich eintreten.
Kaum stand ich im Flur, überkam mich das unweigerliche Gefühl, nicht hierher zu gehören. Alles in mir sträubte sich gegen diese sterile Umgebung, die Kälte, die dieses Haus ausströmte und der leichte Geruch nach Zahnarzt-Praxis. Übelkeit übermannte mich, und ich hatte Sorge, mich gleich jetzt und hier übergeben zu müssen.

»Wo warst du, um Himmels Willen?«, flüsterte Robert, als er die Steinstufen der Wendeltreppe hinunter hastete. Immer noch laut genug, dass ich mich gehörig erschreckte. Ich schluckte die Übelkeit herunter und drehte mich zu ihm herum.

»Ich habe tausendmal versucht dich anzurufen. Ich hatte schon Sorge, dir sei was passiert.«

»Es tut mir leid, mir ging es nicht so gut und ich bin zu Hause noch mal eingenickt. Als ich wach wurde, bin ich gleich losgedüst, ohne auch nur einen Blick auf mein Handy zu werfen«, log ich.

»Und das Festnetz-Telefon? Das hätte dich doch wecken müssen.«

»Hat es aber nicht!«, wehrte ich mich kratzbürstig.

»Christina«, hörte ich eine näselnde Stimme hinter mir. Ich atmete noch einmal tief durch und drehte mich herum.

»Frau Dohm. Guten Tag. Ich habe mich sehr über Ihre Einladung gefreut.« Ich reichte Roberts Mutter artig die Hand, ihre war wie immer akkurat manikürt und schwer beringt. Ihre Krystle-Carrington-Gedächtnisfrisur saß perfekt, kein einziges ihrer semmelblonden Haare stand ab. Ich fragte mich gerade, wie viele Liter Haarspray dafür draufgegangen waren, da fragte sie mich: »So? Und wie erklären Sie dann ihr unhöfliches Zuspätkommen?« Sie entzog ihre Hand meiner schneller als nötig.

Ich wurde rot. Nein, nicht vor Scham, vor Wut. Diese Frau hasste mich, da machte sie auch keinen Hehl draus. Jeder anderen Person hätte ich an Ort und Stelle eine passende Ansage gemacht. Aber hier ging das nicht. Sie war nun einmal Roberts Mutter. Und so schluckte ich die Wut herunter, genau wie ein paar Minuten vorher die Übelkeit. Keine gesunde Kombination, wenn beides im Magen landet. Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da sprang Robert für mich ein. »Chrissie geht es nicht so gut. Sie ist unpässlich, Mutter.«

Unpässlich? Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. Was auch immer das in Dohmisch bedeutete, Frau Dohm schien sich damit zufriedenzugeben. Zumindest drehte sie sich herum und wandelte in ihrem dunkelblauen Kostüm, welches aufgrund der gigantischen Schulterpolster sicher noch original aus den Achtzigerjahren stammte, in Richtung Esszimmer. »Nun, dann lasst uns jetzt keine Zeit verlieren. Alfons und Natascha warten schon.«

Robert und ich folgten ihr. Er schob mich vor sich her, und ich flüsterte über die Schulter: »Unpässlich? Was zum Teufel soll das heißen?«

»Das hat meine Mutter immer gesagt, wenn sie ihre Periode hatte«, flüsterte er zurück.

Wieder einmal erschien mir die Kluft zwischen unseren Familien enorm. Oma Lene nannte die weibliche Monatsblutung selbst in ihrem hohen Alter noch Kirmes. Unvorstellbar, diese beiden Frauen in einem Raum in einer Unterhaltung.

Als ich Herrn Dohm am Esstisch sitzen sah, in feinem Zwirn und die ergrauten Haare im ordentlichen Schnitt, stellte ich mir Opa vor, neben ihm, eine Flasche Pils in der Hand, das Gesicht braun von der Gartenarbeit.

Ganz in Gedanken verloren bemerkte ich an meinem Ellbogen Roberts Hand, die mich sanft drückte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Herr Dohm aufgestanden war.

»Christina, schön, dass Sie da sind.« Er lächelte, seine Hand in meiner. Sein typisches Zahnpasta-Lächeln, wie es sich für einen erfolgreichen Zahnarzt gehörte. Echt wirkte es allerdings nicht. Aber wenigstens gab er sich im Gegensatz zu seiner Frau Mühe, nett zu mir zu sein.

»Guten Tag, Herr Dohm. Ich freue mich sehr, hier sein zu dürfen.« Ich zog meine Rolle, die mir hier eh keiner abnahm, weiter durch. Was für eine Schmierenkomödie!

Robert rückte mir den den Stuhl an dem Platz, der mir zugedacht war, zurecht und setzte sich dann neben seine Schwester. Mein Freund war mindestens genauso nervös wie ich. Gut so! Ich hoffte, er wusste, dass ich das alles hier nur für ihn tat.

»Hallo Christina«, begrüßte mich Natascha. Roberts Schwester war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie sah aus wie ihre dreißig Jahre jüngere Zwillingsschwester mit moderneren Klamotten und weniger peinlicher Frisur. Ich saß ihr nun gegenüber und lächelte sie an. Natascha war mir auch nicht unbedingt wohlgesonnen, aber von den Dreien war sie die harmloseste.

»Du siehst schlecht aus. Geht es dir nicht gut?«, fragte Natascha. Wie nett!

»Ja, ähm ich ... bin unpässlich«, antwortete ich. Sollte doch hier ruhig jeder glauben, ich hätte meine Tage.

»Sicher? Vielleicht bist du ja auch schwanger«, fuhr Natascha fort, um danach gleich an ihrem Glas Weißwein zu nippen. Hatte ich sowas ähnliches heute Morgen nicht schon einmal gehört? Vielleicht waren unsere Familien doch nicht so verschieden.

Selbst, wenn ich vorgehabt hätte, mich zu dieser Frage zu äußern, kam ich gar nicht dazu. Frau Dohm schlug empört die rechte Hand auf ihre Brust und sagte: »Natascha! Robert und Christina sind nicht einmal verheiratet!« Stammte Frau Dohms Kleidungsstil noch aus den Achtzigern, kam ihre Einstellung zum Thema Sex vor der Ehe wohl noch aus dem Mittelalter. Ihr Sohn und ich waren seit zwei Jahren ein Paar, seit ein paar Wochen wohnten wir sogar zusammen. Was glaubte sie eigentlich?

Robert und ich wechselten einen flüchtigen Blick. Wir lächelten uns kaum merklich an und senkten dann die Köpfe. Wahrscheinlich dachten wir an das Gleiche.

»Natascha, wie geht es eigentlich Sybille?«

»Oh, sehr gut, Mutter. Seit ein paar Wochen wohnt sie wieder in Erpenich, sie hat die Leitung des Treutler-Gymnasiums übernommen.«

»Ach wirklich? Das freut mich sehr für sie. Sie war immer so ein strebsames Mädchen, das hat sie sich mehr als verdient. Nicht wahr, Robert?« Frau Dohm warf ihrem Sohn einen sonderbaren Blick zu. Robert lächelte angespannt, mehr nicht.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Andrea Kochniss
Bildmaterialien: Quelle Bildmaterial: Alice Bitencourt auf pixabay; Covergestaltung: Andrea Kochniss
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4679-1

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