Die Chat-Nachrichten in der folgenden Kurzgeschichte Nicht mein Tag enthalten teilweise eine Menge Rechtschreibfehler, die mit Absicht und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte entstanden und nicht auf eine mangelnde Fähigkeit zur deutschen Rechtschreibung meinserseits zurückzuführen sind.
Ich starrte auf den Bildschirm.
10 neue Nachrichten.
16 neue Rosen.
21 Freundschaftsanfragen.
76 Mitglieder haben dein Profil besucht.
Kaum, dass mein online-Button grün blinkte, tauchten in der Mitte des Bildschirms immer wieder neue Benachrichtigungen auf.
loooongjohn schickt dir eine Freundschaftsanfrage
dominant69 schickt dir eine Rose
Du hast eine neue Nachricht von seargentcommander
Diese ganze Internet-Sache überforderte mich völlig. Ich war gerade mal vierundzwanzig Stunden in diesem kostenlosen Flirtportal angemeldet und schon wurde ich bombardiert mit Benachrichtigungen, von deren Bedeutung ich nicht die geringste Ahnung hatte.
„Sunny!“, kreischte Chrissie in mein linkes Ohr. Chrissie war meine beste Freundin und die Person, die mich zu diesem Unsinn überredet hat. Ich selbst wäre nie und nimmer auf so eine abwegige Idee gekommen.
„Chrissie! Bis vor zwei Sekunden war ich noch nicht taub. Es gibt also keinen Grund, so zu schreien!“ Schmerzerfüllt rieb ich das geschädigte Ohr.
„Sunny!“, schrie Chrissie einfach ein weiteres Mal. „Die Kerle stehen auf dich, ich wusste es! Guck dir die ganzen Nachrichten an!“
„Was wollen die denn von mir? Die kennen mich doch gar nicht. Wieso schicken die mir Rosen? Oder Freundschaftsanfragen?“, fragte ich.
Chrissie seufzte, als hätte sie es mit einem minderbemittelten Wesen zu tun. „Irgendwie müssen sie ja mit dir in Kontakt treten, wenn sie dich kennenlernen wollen. So macht man das eben im Internet.“
„Wie gut, dass du auf diesem Gebiet so viel Ahnung hast“, sagte ich und schaute sie von der Seite an. Ich hoffte, sie hatte die Ironie in meiner Äußerung bemerkt. Chrissie hatte so etwas wie Internet-Bekanntschaften nämlich überhaupt nicht nötig. Egal wo sie mit ihrem feuerroten Lockenbusch auf dem Kopf auftauchte, waren sämtliche Blicke im Raum sofort auf sie gerichtet. Die männlichen aus Gier und die weiblichen aus Neid oder Empörung über ihr nicht so unhäufig ordinäres Verhalten. Jetzt fragen Sie sich sicher, wo dann mein Problem lag, Männer kennenzulernen mit solch einer – um es diplomatisch auszudrücken – sozial kontaktfreudigen besten Freundin wie Chrissie es war. Man sollte doch meinen, sie hätte da den einen oder anderen Mann für mich übrig gehabt. Hässlich war ich im Übrigen auch nicht.
Nein, ich hatte andere Probleme. Zwei halbwüchsige Teenager, die sich meine Schwestern schimpften und für die ich nach dem Unfalltod meiner Eltern vor neun Jahren ganz allein verantwortlich war. Ganz abgesehen von der Zeit, die ich nicht übrig hatte um mich auf Partys oder Dates rumzutreiben, waren die wenigsten Männer davon begeistert, eine fast Dreißigjährige mit halbwüchsigem Anhang zu treffen. Hinzu kam noch, dass meine Schwestern Helen und Anna von Chrissie den Spitznamen Chaos-Schwestern bekommen hatten, und das kam nun mal nicht von Ungefähr. Ich war hauptsächlich damit beschäftigt, darauf zu achten, sie vor sich selbst und ihrer Tollpatschigkeit zu schützen. Aber ich schweife ab.
„Mach mal die erste Nachricht auf“, kreischte Chrissie weiter. Entweder hatte sie endlich ein paar Dezibel runtergeschraubt oder ich war schon leicht ertaubt.
Ich seufzte, tat Chrissie aber den Gefallen und öffnete die erste Nachricht.
Hi BIn der Samy sorry wenn ich zu offen frage aber bin Solo und frage auch offen was ich suche hättest Du Lust jetzt oder heute zu mir kommen mit mir was trinken kennenlernen und wenn die chemie stimmt suche ich eine Affaire ohne Bindung kann Dich mit viel öl Massieren.
Ich denke das nichts dabei ist solange man solo ist heißt es ja auch nicht dass man auf alles verzichten muss. Ich Denke besser offen fragen als Hinterum.
Bin 27 Jahre, 184 groß, braune Haare, grüne Augen, gut ausshend sportl.statur 24 cm Ras. für alles offen melde Dich
Stille. Ich fragte mich, ob Chrissie genau wie ich noch rätselte, ob dieser Samy für diese Nachricht einen Entschlüsselungscode mitgesendet hatte. Oder ob sie schockiert war, weil er das, was er da geschrieben hatte, tatsächlich ernst meinte und glaubte, auf diese Art eine Frau kennen zu lernen.
„Was spricht gegen Punkt und Komma? Überhaupt gegen Rechtschreibung“, warf ich in den Raum. „Und was bedeutet 24 cm Ras.?“
„Hm, entweder bedeutet das, er einen rasenden, 24 cm langen Schwanz hat, oder dass er da rasiert ist“, hatte Chrissie die Lösung.
„Chrissie!“, schimpfte ich. Helen und Anna konnten jederzeit nach Hause kommen. Ich wollte nicht, dass die beiden mit solchen Begriffen konfrontiert wurden. Was ein auswegloses Unterfangen war, wenn man Chrissie zu seiner besten Freundin zählte. Und sie zudem noch die einzige Freundin war, die ich hatte.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Es gab keine bessere Freundin als Chrissie. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten und waren seither unzertrennlich. Was ich an Selbstbewusstsein zu wenig hatte, hatte sie für mich noch mit dazu.
„Willst du dich mit ihm treffen?“, fragte sie.
„Diese Frage kannst du nicht ernst meinen!“ Ich unterstrich meine Äußerung noch mit einem energischen Klick auf den Nachricht löschen-Button.
„Ich meine ja nur. Das mit dem Öl und dem Massieren hat sich doch gar nicht so schlecht angehört.“
Dazu sagte ich gar nichts mehr und öffnete die nächste Nachricht.
hallo sexy frau haste lust auf etwas sexy cam aber nur wenn du auch ne cam hast,siehst echt hammer sexy aus wow ich hoffe ich bin dir nicht zu offen wenn ja sorry noch mal
„Gibt es im Netz eigentlich nur Perverse und Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind? Kein Wunder, dass die im wahren Leben niemanden kennen lernen, wenn die so unterwegs sind“, sagte ich schockiert.
Chrissie hingegen schien amüsiert, denn sie kicherte in sich hinein. „So langsam wird es echt lustig. Lass noch mehr Nachrichten lesen, bitte!“
Ich seufzte, tat ihr aber den Gefallen.
Hallo junge Frau,
habe Dein Profil gesehen und würde Dich gerne persönlich kennenlernen. Mein Name ist Peter, bin 40 Jahre alt, 186cm groß und schlank. Habe einen Sohn mit 5 Jahren und lebe gerade im Trennungsjahr. Bin diese Woche Di. bis Do. geschäftlich in Münstereifel. Habe keine Lust die Abende wieder alleine im Hotel zu verbringen. Deshalb suche eine sympathische Sie, die Lust hat sich mit mir abends zum Essen zu verabreden.
Wenn wir uns beide sympathisch sind hätte ich auch nichts dagegen den Abend weiter gemeinsam zu verbringen. Na war ich jetzt zu ehrlich? Wenn Du gerne ein Foto sehen möchtest, schick mir einfach eine E-Mailadresse und ich sende Dir gerne eins zu. (Falls es in dem Wellnesshotel einen Internetzugang gibt :-) )
LG Peter
Würde mich über Antwort sehr freuen.
„Ein Fortschritt, der kann wenigstens schreiben“, räumte Chrissie ein.
„Das ist richtig, aber der kann auch ganz toll seine Frau betrügen. Der ist doch nie und nimmer getrennt! Hätte er es sonst nötig, während Geschäftsreisen irgendwelche Frauen in irgendwelche Hotels einzuladen? Das kann der doch auch tun, wenn er zu Hause ist.“
„Okay, ich hab schon verstanden. Mach noch eine auf.“
Ich löschte auch die letzte Nachricht und mache die nächste auf, von einem gewissen BurningHard.
ich würde dich mal ganz gerne vögeln, grins
„Also, jetzt reicht es wirklich!“ Ich schloss die Seite und fuhr den Computer runter.
Als hätte ich es geahnt, wurde im selben Moment die Haustüre aufgeschlossen. Chrissie und ich saßen zwar im ehemaligen Büro meines Vaters, aber dieses Geräusch hörte man aus unerfindlichen Gründen in jedem Winkel dieses kleinen Häuschens.
„Sunny!“ Der Brüll tönte durch Wände, Mark und Bein. „Wo bist du?“ Das klang eindeutig nach Anna. Da ich nicht ihre Art der Kommunikation übernehmen wollte, ging ich bis ans Treppengeländer und schaute auf ihren schwarzen Pagenkopf herunter.
„Gibt es irgendeinen Grund, durch das ganze Haus zu brüllen? Einfach mal in jedem Zimmer nachschauen würde deine Stimme immens schonen. Und mein Gehör im Übrigen auch“, hielt ich meinen erzieherischen Vortrag.
Anna drehte ihren Kopf nach oben. „Ach, da bist du! Ich wollte nur fragen, ob Lara zum Essen bleiben darf. Bei ihr Zuhause gibt es Königsberger Klopse, und ihre Mutter hat immer noch nicht geschnallt, dass sie davon kotzen muss.“
„Natürlich kann sie bleiben. Chrissie ist übrigens auch hier und isst mit.“
„Cool! Lara und ich gehen dann so lange in mein Zimmer. Sagt uns Bescheid, wenn ihr Hilfe beim Kochen braucht.“
Anna schleifte ihre beste Freundin hinter sich her in ihr Zimmer. Die beiden waren mindestens so gut befreundet wie Chrissie und ich.
Während ich noch so darüber nachdachte, stand Chrissie mit einem Mal neben mir.
„Was ist denn jetzt mit den ganzen Kerlen im Netz?“, fragte sie.
„Gar nichts! Das sind doch alles Psychopathen. Das Thema ist erledigt. Kein Wort zu meinen Schwestern!“, sagte ich noch und ging dann die Treppe herunter. Ich hatte ein paar Mäuler zu stopfen.
Fünf weibliche Personen am Esstisch – wer das schon mal erlebt hat, weiß sicher, dass sich das nicht viel anders anhört als eine Stall voller Hühner, versammelt um den Futtertrog. Helen war die ruhigste, was aber nicht etwa an fehlendem Selbstbewusstsein lag. Vielmehr war ihr Mund ständig bis zum Rand gefüllt, dass ihr Sprechen gar nicht möglich war. Bei ihr wurde ich so manches Mal dazu verleitet, statt an einen Hühnerstall an einen Schweinestall zu denken.
„Was habt ihr eigentlich eben in Papas Büro gemacht?“, fragte Anna zwischen zwei Bissen Putenschnitzel.
Chrissie machte den Mund auf, doch ich war schneller, bevor sie etwas Falsches sagen konnte. „Wir haben im Internet nach Weihnachtsgeschenken geschaut.“
Chrissie verdrehte die Augen und konzentrierte sich auf die Erbsen und Möhren.
Anna war empört. „Was? Aber wieso? Wir haben doch ausgemacht, dass wir uns dieses Jahr nichts schenken!“, protestierte sie.
Mist, das hatte ich bei meiner Suche nach einer Ausrede nicht bedacht.
„Aber das wird ein ganz besonderes Geschenk.“ Chrissie nickte eifrig. Es gab Momente, da fiel mir die Vorstellung sie zu würgen nicht ganz so schwer.
„Echt? Was denn?“ Helen hielt tatsächlich im Essen inne.
Wie sollte ich jetzt da wieder raus kommen? Ich wand mich sichtlich. Lügen war noch nie meine Stärke. Schon gar nicht, was meine Schwestern betraf.
„Es ist etwas Lebendiges“, tratschte Chrissie wieder dazwischen.
„Jetzt reicht es aber!“, sagte ich etwas lauter als beabsichtigt.
„Kriegen wir einen Hund? Oder eine Katze?“ Anna stand fast auf ihrem Stuhl. Lara schaute genauso gespannt wie sie. Ich musste versuchen zu retten, was zu retten war.
„Chrissie macht einen Witz. Natürlich bekommt ihr kein Tier. Das haben wir doch wirklich schon hunderte Male diskutiert.“
Anna sackte in sich zusammen. Sie tat mir so leid. Schon seit Jahren wünschte sie sich einen tierischen Mitbewohner, doch wir hatten weder die Zeit noch das Geld, um ein Tier vernünftig zu versorgen. Beide Mädchen besuchten die Schule und ich arbeitete Vollzeit im Kindergarten des kleinen Eifeldorfes Schleienthal, in dem wir seit unserer Kindheit wohnten.
„Is mir egal, ob du uns was schenkst oder nicht. Ich muss das nur wissen, damit ich dir dann auch was besorgen kann“, sagte Helen.
Na toll, ich verstrickte mich nur immer mehr in das Chaos. „Es ist nichts Besonderes, wirklich nur eine Kleinigkeit. Und ihr braucht mir nichts zu schenken.“
Anna sprang erst auf und dann auf meinen Schoß, um mich fast zu Tode zu knuddeln. „Aber Sunny, wir haben dich doch sooooo lieb. Natürlich bekommst du dann auch was von uns.“
Jetzt durfte ich mich also doch noch nach Weihnachtsgeschenken umsehen.
„Warum sagst du Helen und Anna nicht die Wahrheit?“, fragte Chrissie, als ich sie nach dem Essen zur Tür brachte.
Energisch schüttelte ich den Kopf. „Ich will nicht, dass sie wissen, dass ich einen Mann kennen lernen möchte. Ich möchte, dass sie sich sicher sein können, dass sie das Wichtigste in meinem Leben sind.“
„Aber das sind sie doch auch. Ich weiß gar nicht, was ein Mann in deinem Leben daran ändern würde. Du musst auch mal an dich selbst denken. Ich bin sicher, sie würden sich freuen, wenn du dich verlieben würdest.“
Dazu sagte ich gar nichts mehr. Ich drückte Chrissie lediglich ein letztes Mal, ehe sie das Haus verließ.
Chrissies Worte verfolgten mich den Rest des Abends. Ich wusste ja, dass sie Recht hatte. Aber ich hatte ständig das Gefühl, die beiden Mädchen beschützen zu müssen vor noch mehr Unglück in ihrem jungen Leben. Es reichte, dass sie ihre – unsere – Eltern im Kindergartenalter verlieren mussten. Sie sollten nicht auch noch mitbekommen, dass ihre Schwester nach einem Mann suchte.
Trotzdem war dieser Gedanke so verlockend. Einen Mann zu daten. Mit ihm ausgehen, kennenlernen. Den ersten gemeinsamen Kuss zu erleben. An alles Weitere konnte ich gar nicht denken, ohne dass ich Herzklopfen oder Kribbeln an vernachlässigten Körperstellen bekam.
Als ich mir sicher war, dass die Chaos-Schwestern im Bett lagen und da auch so schnell nicht wieder raus kamen, schlich ich mich in Papas Büro.
Der PC brauchte auf Grund seines Alters ewig, bis er hochfuhr. Bisher konnten wir es uns einfach nicht leisten, einen neuen zu kaufen. Wir konnten froh sein, überhaupt einen zu besitzen.
Ich loggte mich mit meinem – zugegeben – simplen Passwort ins Flirtportal ein. Es waren wieder weitere Nachrichten hinzugekommen, und so öffnete ich gleich die nächste, in der Hoffnung, dass sie nicht den vorangegangenen von heute Nachmittag ähnelte.
hi wir geh es ihenenn denn lust zui chaten und kennen lernen
Weisser Vogel!
Du bist wie ein Weisser Vogel, legst sanft deine Flügel um
mich.
Gibst mir das Gefühl von geborgenheit und fliegst davon,weil
du Angst hast in
deiner Freiheit bedrängt zu werden.Und die Tränen die du
zurück lässt siehst du nicht
Du weißt es noch nicht,aber
Ich scrollte die Nachricht weiter runter. Das heißt, ich versuchte es nur, denn es funktionierte nicht. Die Nachricht endete tatsächlich genau so. Entweder waren diesem weißen Vogel die Worte entflogen, oder er wollte mich neugierig machen. Wenn er letzteres bezweckte, hatte er damit keinen Erfolg. Ich löschte die Nachricht umgehend.
Ich seufzte. Es konnte doch nicht sein, dass im Internet nur gestörte Frösche unterwegs waren, da musste doch wenigstens einer dabei sein, der annähernd ein Prinz war.
Ich ging nun mit einem Plan vor. Alle Nachrichten, deren Absender einen Nickname mit fragwürdiger Aussage hatten, übersprang ich einfach. Gar nicht so einfach, aber ich hatte tatsächlich Erfolg. Mir fiel die Nachricht eines groeg ins Auge. Der klang nach nichts Anrüchigem. Und wenn doch, wusste ich es einfach nur nicht.
Als erstes schaute ich mir sein Profil an. Das erste Profil, auf dem keine nackten Waschbrettbäuche oder schnellen Autos präsentiert wurden. Groeg sah auch normal aus. Er hatte schulterlange, aschblonde Haare und trug eine Brille mit rundem Gestell auf seiner übermäßig großen Nase. Gut, hübsch war anders. Aber man kann ja nicht alles haben. Er lächelte auch ganz nett. Das war hauptsächlich das Ausschlaggebende, was mich dazu brachte, seine Nachricht zu lesen.
Hallo sunflower1984,
Was Du in deinem Profil schreibst, gefällt mir. Und was ich auf deinen Fotos sehe ebenso, muss ich gestehen. Du hast wunderschöne Haare. Einfach toll!
Übrigens, ich komme aus Köln, das ist ja gar nicht so weit entfernt von Dir, grins.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Du dich mal bei mir meldest. Wenn Du kein Interesse an einem Kennenlernen hast, ist das auch okay und ignoriere meine Nachricht einfach.
Liebe Grüße,
Georg
Ich war fast überrascht angesichts der Tatsache, dass dieser Georg nicht nur die deutsche Rechtschreibung beherrschte, sondern auch noch Dinge schrieb, die einer normalen Unterhaltung glichen. Ich brauchte keine zehn Sekunden, in denen ich mich entschloss, ihm eine Antwort zu schreiben.
Lieber Georg,
erst einmal möchte ich mich für deine nette Nachricht und das ebenso nette Kompliment bedanken. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Wir können gern in Kontakt bleiben und mehr voneinander erfahren.
Nun ist es aber schon spät und ich muss ins Bett.
Ich wünsche Dir eine angenehme Nacht.
Liebe Grüße,
Sunny
Ich schickte die Nachricht sofort ab, aus Angst, ich könnte es mir vielleicht doch noch mal anders überlegen. Mit beschleunigtem Puls und einem leichten Grinsen auf dem Gesicht verließ ich Papas Büro.
***
In den nächsten vier Tagen schrieben Georg und ich uns täglich Nachrichten. Er machte auch in diesen noch einen relativ normalen Eindruck, und so traute ich mich auch, ihm meine Handynummer zu geben. Die Festnetznummer war tabu. Nicht auszudenken, wenn die Mädchen ans Telefon gingen und eine männliche Stimme am Telefon war, die mich sprechen wollte.
Ausgerechnet während des Mittagessens im Kindergarten, in dem ich arbeitete, klingelte mein Handy. Da ich davon ausgehen musste, dass es sich hierbei um einen Anruf von Helen oder Anna handelte, musste ich rangehen.
Frau Brehm, meine Chefin, die sowohl mich als auch meine Schwestern von Kindesbeinen an kannte, nickte mir zu und so konnte ich kurz aus dem Gruppenraum huschen.
Auf dem Flur stellte ich fest, dass es sich bei dem Anrufer um eine unbekannte Nummer handelte. Erst war ich etwas irritiert, hoffte, dass es niemand war, der eine meiner Schwestern schwerverletzt auf der Straße aufgefunden hatte. Doch dann kam mir die Idee, dass es ja auch Georg sein konnte. Es kitzelte angenehm in der Magengegend, und so nahm ich ab.
„Hallo?“, sagte ich zaghaft.
„Sunny, bist du das?“, fragte eine Stimme. Schon männlich, aber ein wenig dünn. Das musste aber nichts heißen, vielleicht war er genauso aufgeregt wie ich. „Hier ist Georg.“
„Hallo Georg“, sagte ich schon etwas gefestigter. „Schön, dass du anrufst.“
„Hm, ja, ich habe gerade Mittagspause und dachte, ich melde mich mal bei dir. Was machst du so?“
„Ich arbeite.“ Mehr fiel mir nicht ein.
„Ja, klar. Natürlich. Sorry für die blöde Frage. Ich, ähm, ich dachte, ich frage dich mal, ob du Lust hättest, dich morgen Nachmittag auf einen Kaffee mit mir zu treffen. Ich bin da zufällig in Schleihenthal.“
„Ich mag keinen Kaffee“, war das erste, was mir einfiel. Das war nicht mal gelogen, aber eine ziemlich blöde Antwort.
„Oh, okay.“ Georg hörte sich nun komplett verunsichert an.
Ich fühlte mich dazu verpflichtet, ihm aus der Patsche zu helfen. „Ein Tee wäre auch okay“, sagte ich.
„Tee? Ja klar. Natürlich. Kennst du ein gutes Café in Schleihenthal?“
Der Ort Schleihenthal war so klein, dass wir nur ein Café hatten. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass wir überhaupt eins hatten.
„Direkt an der Burg Schleihenthal ist eins. Weißt du, wo das ist?“
„Ich werde es sicher finden. Hab ja ein Navi. Wann wollen wir uns treffen?“
„Ist halb Fünf okay?“
„So spät?“ Georg klang fast entrüstet, aber vielleicht täuschte ich mich da auch.
„Bis Sechzehn Uhr muss ich arbeiten. Ich kann nicht früher“, entschuldigte ich mich automatisch.
„Ach ja, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Okay. Treffen wir uns um halb Fünf. Bis dann.“ Ohne eine Verabschiedung meinerseits abzuwarten legte er einfach auf.
***
Georg war schon ein wenig seltsam, trotzdem wollte ich zu dem Treffen gehen und ihn persönlich kennen lernen. Es ist immer etwas anderes, wenn man jemandem direkt gegenübersteht oder nur miteinander telefoniert.
Keine Sorge, ich war nicht leichtsinnig. Natürlich bat ich Chrissie, mitzugehen. Heimlich. Sie sollte einfach auf Abstand im Auge behalten, was passierte.
Bevor ich das Haus verließ musste ich sichergehen, dass die Mädchen keinen Mist anstellten. Ich weiß, sie waren Teenies, zwölf und vierzehn Jahre alt, aber ich kannte meine Schwestern.
Die beiden saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schauten sich eine fragwürdige gestellte Familien-Doku an.
„Ich fahre noch mal in die Stadt, wegen der Weihnachtseinkäufe. Kann ich mich drauf verlassen, dass das Haus noch steht, wenn ich zurückkomme?“, fragte ich.
„Na klar. Wir gucken Fernsehen, was soll da schon passieren?“, fragte Helen zurück, die Hand in der Chipstüte und den Blick auf den Fernseher gerichtet.
„Bei euch ist alles möglich“, sagte ich, verließ dann aber mit schlechtem Gefühl das Haus.
Chrissie wartete vor der Tür im Auto auf mich. Sie hatte eins, ich nicht. Ich hatte nicht mal einen Führerschein, aber auch keinerlei Interesse daran. Mein Fahrrad reichte mir voll und ganz.
„Und? Schon nervös?“, fragte sie, als ich einstieg.
„Doppelt. Aus Angst, dass den Mädchen in der Zwischenzeit etwas passiert und davor, dass Georg ein Flopp sein könnte.“
„Süße, du solltest wirklich langsam lernen, etwas entspannter zu werden. Du hast es fast acht Jahre lang geschafft, die Mädchen am Leben zu erhalten, dann werden sie auch mal ein Stündchen ohne deine ständige Fürsorge auskommen. Und was diesen Georg angeht: Sollte mir irgendetwas merkwürdig erscheinen oder ich sehen, dass du dich unwohl fühlst, bin ich da.“
Bevor Chrissie einen Parkplatz suchte, ließ sie mich genau vor dem Eingang des Burgcafés raus.
Ich hatte zittrige Knie. Aber nicht vor Verliebtheit, eher vor Aufregung. Trotzdem schaffte ich es, das Café zu betreten.
Wider Erwarten entdeckte ich Georg sofort. Er war nämlich der einzige Gast. Was für Schleihenthal nicht ungewöhnlich war an einem Mittwochnachmittag im Dezember. Der Ort lebte von Touristen in den Ferienzeiten.
Georg saß an dem Tisch am Fenster, schaute konzentriert in die Speisekarte. Seine Nase berührte sie fast. Klar, sie war lang, aber das war nicht der einzige Grund. Er hielt die Karte so nah vors Gesicht, dass man meinen konnte, er wäre blind wie ein Maulwurf. Ich stand schon an seinem Tisch, doch bemerkt hatte er mich noch nicht.
„Georg?“
„Hm?“ Sein Gesicht tauchte aus der Karte auf. Es sah ein bisschen so aus, als müsste er überlegen, wer ich war, doch dann hellte sich sein Gesicht auf.„Sunny!“ Er stand sogar auf, kam mir aber gleich so nahe, dass ich befürchtete, er wolle mich küssen. Automatisch wich ich zurück, da merkte ich, dass er das gar nicht wollte. Er atmete mit geschlossenen Augen ein und sagte: „Dein Haar duftet wundervoll!“
Er wollte den Duft meiner Haare riechen! In dem Moment, in dem mir das bewusst wurde, entdeckte ich Chrissie. Sie setzte sich zwei Tische weiter auf einen der Stühle. Sie fing meinen Blick auf und ich merkte, wie sie meine Gedanken las. In der Art, wie über viele Jahre befreundete Frauen kommunizieren können.
Ich hatte in meiner Jugend viele Jungs
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Andrea Kochniss
Bildmaterialien: Bildquelle: pixabay.com
Cover: Andrea Kochniss
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2016
ISBN: 978-3-7554-1223-6
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