Ich bin ein Sommerkind. Schon immer gewesen. In dieser Jahreszeit könnte ich auch komplett draußen wohnen. Das liegt höchstwahrscheinlich daran, dass ich Anfang Juli geboren wurde. Je heißer, desto besser. So lange kühles Wasser in der Nähe ist.
Aber ich liebe auch die Musik. Schon immer. Und so kam es für mich am 13. Juli 1985 zu einer Herausforderung der besonderen Art. Denn an diesem Tag wurde Live Aid live im Fernsehen übertragen. Gleichzeitig vor dem Fernseher sitzen, um nichts zu verpassen und bei über dreißig Grad in unserem damals noch existierenden Pool plantschen? Wie sollte ich das bloß hinbekommen? Es war schon schwierig genug gewesen, meine Eltern davon zu überzeugen, dass es für eine gerade Dreizehnjährige extrem wichtig ist, für ein solches Ereignis das Wohnzimmer samt Fernseher in Beschlag zu nehmen. Mein Glück war, dass die Live-Übertragung am Nachmittag aus dem Londoner Wembley-Stadion startete. Zu dieser Zeit schaute bei uns sowieso niemand fern, ich machte mir nur zum Abend hin Sorgen, denn mein Papa hatte natürlich das Sagen, was Samstagabend geschaut wurde. Und dazu zählte sicher nicht ein Rock-Pop-Festival, das bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags gehen sollte. Aber als Dreizehnjährige Mitte der Achtziger musste ich das nehmen, was ich kriegen konnte. Einen eigenen Fernseher hatte ich da noch nicht.
Bis es also losging, blieb ich draußen, so lange es ging. Mein kleiner Bruder Chrissie verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Er war sechs, und zu diesem Zeitpunkt bewunderte er noch, was seine große Schwester tat. Er kannte die Poster der Pop-Stars an den Wänden meines Zimmers mindestens genauso gut wie ich. Heutzutage geht unser Musik-Geschmack gründlich auseinander.
„Wann geht es denn los?“ Nach unserer Runde im Pool krabbelte Chrissie neben mich aufs Handtuch. Er war genauso nass aber mindestens drei Mal brauner als ich, und das hieß schon was.
Ich schaute auf die Uhr. Die Sonne brannte heiß auf meinem noch kühlfeuchten Rücken und leckte spürbar das Wasser auf.
„Eigentlich können wir schon hochgehen. Dann verpassen wir auch auf jeden Fall nichts.“
Wir trockneten uns so gut es ging ab, marschierten durch den großen Garten über die Wiese mit Achtung darauf, in keine der Bienen im Klee zu treten. Als wir die Wohnküche über die Terrasse passierten, hielt uns Mutti auf. „Wo wollt ihr hin?“
„Ins Wohnzimmer, Live Aid gucken“, sagte ich. Was war denn jetzt das Problem?
„Mit nassen Badesachen? So könnt ihr euch nicht auf die Sessel setzen. Zieht euch erst um.“
„Aber das lohnt sich nicht, ich gehe zwischendurch immer wieder schwimmen“, versuchte ich, den Vorgang zu beschleunigen.
„Na gut, dann legt euch wenigstens Handtücher auf die Sessel.“
Zu dritt stapften wir die Marmortreppe hoch. Chrissie schaltete schon mal den Fernseher an, ich ging mit Mutti ins Schlafzimmer und ließ mir von ihr zwei große Handtücher geben.
Als ich zurückkam, schaltete ich WDR ein, weil ich aus der BRAVO wusste, dass das Konzert auf allen dritten Programmen ausgestrahlt werden sollte. Zu meiner Erleichterung hatte es noch nicht angefangen. Ich breitete die Handtücher für Chrissie und mich auf den Sesseln aus. Ich nahm den von Papa, direkt am Fenster und machte es so weit auf, wie es ging. Ich lehnte meinen Oberkörper raus und atmete die warme Luft des Sommernachmittags ein. Es war ein perfekter Tag. Und dann ging es los. Aufgeregt hüpfte ich auf meinen Sessel und machte es mir bequem, als Prinz Charles und Lady Di als Ehrengäste gemeinsam mit Bob Geldof Platz nahmen. Extra für sie spielten die Coldstream Guards den Royal Salute. Meine Güte, war das spannend. Mein Herz klopfte, als endlich die erste Band auf der Bühne stand. Status Quo. Die zählten nicht wirklich zu meinen Lieblingsbands, aber ich wusste, dass die noch kommen würden. Zum Beispiel Nik Kershaw, von dem im Gegensatz zu mir Chrissie nicht so begeistert war. Er wartete auf Duran Duran, das wusste ich. Er verehrte Andy Taylor, der war Bassist, glaube ich. Doch auf die konnte er lange warten, die sollten nämlich erst ziemlich am Ende des Konzertes in London auftreten, bevor es im J F K Stadion in Philadelphia endete.
Amüsiert machte Chrissie sich über Nik lustig. „Was der für eine bescheuerte Frisur hat. Der sieht echt doof aus.“
„Gar nicht. Der sieht gut aus!“, verteidigte ich Nik.
„Haha!“, lachte Chris und schlug sich mit seinem Fäustchen auf den Oberschenkel. „Der singt auch noch doof!“
Immer wieder, wenn Bands oder Sänger kamen, die ich ausnahmsweise nicht kannte oder mochte, flitzte ich in den Garten, sprang in den Pool um mich abzukühlen, trocknete mich ab und rannte wie von der Tarantel gestochen zurück ins Haus.
Mein Papa erlaubte mir gerade mal bis 18.00 Uhr zu schauen, dann musste ich warten, bis er gegen 22 Uhr ins Bett ging. Als er mir dann wieder das Kommando übergab, saß ich ganz allein im Wohnzimmer. Den Ton durfte ich natürlich nicht so laut stellen wie am Nachmittag. Aber ich genoss es, bei immer noch offenem Fenster diese laue Sommernacht mit meinen geliebten Pop-Stars zu verbringen.
Irgendwann am frühen Sonntagmorgen, nachdem Duran Duran endlich aufgetreten waren, strich ich die Segel und ging erschöpft ins Bett.
Letztes Jahr feierte ich im gleichen Garten, meinen 40. Geburtstag mit einer 80er-Jahre Party. Der Pool ist mittlerweile ein Gartenteich. Eine schönere Geburtstagsparty hatte ich nie. Es war nicht nur Sommer, meine Gäste und ich genossen auch siebenundzwanzig Jahre nach Live Aid dessen knapp zehnstündige Zusammenfassung über einen Beamer. Stars wie Spandau Ballet, Sade, Sting, Phil Collins, Paul Young, U2, Beach Boys, Dire Straits, Queen, Simple Minds, David Bowie, Elton John, George Michael, Madonna, Black Sabbath, Mick Jagger und Tina Turner feierten meinen Geburtstag mit mir. Ich fühlte mich genauso gut wie damals mit dreizehn.
Texte: Andrea Kochniss
Bildmaterialien: Andrea Kochniss
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2015
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