Cover

Anmerkung

Die Orte Schleihenthal , Erpenich und Görnbeek und deren Bewohner sowie der Freizeitpark Feerluwaland und das dazugehörige Personal sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Die mangelnde Beherrschung der deutschen Rechtschreibung einiger Fans innerhalb des Feerluwaland Fan Chat sind von der Autorin voll beabsichtigt und dienen der Charakterisierung der einzelnen Personen.

Für alle anderen Fehler, die trotz Lektorats und ständigem Korrigieren überlebt haben, entschuldigt sich die Autorin aus vollem Herzen.

 

Kapitel Eins

 

Ich warf den gebrauchten Teelöffel auf den Tisch. Schon seit fast einer Stunde saß ich gemeinsam mit meiner Freundin Chrissie im einzigen Café in Schleihenthal.

„Du bist nicht erledigt.“ Sie nahm sich den von mir benutzten Löffel und rührte ihren Kaffee damit um. Ihren eigenen ließ sie unbenutzt neben ihrer Tasse liegen. „Du bist nur arbeitslos. Also, noch nicht. Aber bald.“

„Ach, und wo liegt da der Unterschied? Sagen muss ich es den Mädchen so oder so. Egal ob heute oder erst dann, wenn der Kindergarten seine Pforten letztendlich schließt.“

„Helen und Anna sind keine Babys mehr. Sie sind Teenies.“

„Danke, das soll mich jetzt erleichtern? Muss ich dich an uns beide in dem Alter erinnern?“

„Sunny, es sind Ferien! Ab morgen. Sie werden dir heute ihre Giftblätter bringen und brauchen deine Gnade.“

„Chrissie, wir sprechen hier von Helen und Anna. Ich kann von Glück sagen, dass die beiden so gut in der Schule sind, nach allem, was sie durchgemacht haben.“

„Vergiss nicht, dass auch du viel durchgemacht hast. Es waren eure Eltern, die ihr damals verloren habt. Und du hast mit deinen gerade mal einundzwanzig Jahren sämtliche Verantwortung auf deinen Schultern tragen müssen. Dass deine Schwestern so sind, wie sie sind, haben sie letztendlich dir zu verdanken.“

Ich seufzte und trank einen Schluck Tee. Er war viel zu heiß, so dass ich mir die Lippen verbrannte. Ich hätte heulen können vor Verzweiflung. Elf Jahre hatte ich einen sicheren Arbeitsplatz gehabt und dann sowas.

„Du kannst nichts dafür, dass deine Mitbürger zu wenige Kinder produzieren und dem Kindergarten deswegen das Arbeitsmaterial ausgeht. Du wirst schon einen anderen Job finden.“

„Das sagst du so einfach!“

Chrissie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und nahm mehrere kleine Schlucke von ihrem Kaffee. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen. „Darf ich als deine beste Freundin ehrlich zu dir sein?“

Ich sah sie erwartungsvoll an. „Du musst sogar. Es ist quasi deine Pflicht.“

„Du siehst Scheiße aus!“

„Na, danke!“

„Sei mir nicht böse, aber ich habe das Gefühl, dass du dich viel zu wenig um dich selbst kümmerst. Es geht immer nur um deine Schwestern. Oder um die Kinder fremder Leute. Aber niemals um dich.“

Ich sagte dazu nichts und pustete meinen viel zu heißen Tee kalt.

„Mal ehrlich: Wann hattest du das letzte Mal einen Kerl im Bett?“

„Chrissie!“, schnaubte ich empört.

„Na gut! Dann eben nur ein Date? Ein einfaches Date ohne nachfolgenden Sex?“

„Vor…“ Ich überlegte. „Ich weiß es nicht mehr.“ Das wusste ich wirklich nicht. Ich wusste nur noch, dass er Georg hieß, ich ihn übers Internet kennen gelernt und er sich bei unserem ersten und einzigen Date als beängstigender Perversling mit Haar-Fetisch entpuppt hatte. Er war total auf mein Haar fixiert und hatte mit seinem überdimensionalen Zinken an meinem geflochtenen Zopf herumgeschnüffelt. Ich konnte von Glück sagen, dass er keinen Schnupfen hatte. Bei der Erinnerung an Georg verzog ich angewidert mein Gesicht und stellte die Tasse ab.

„Oh nein, sag nicht, dass dieser haarige Affe aus dem Netz dein letztes Date war! Das war doch vor anderthalb Jahren!“, rief Chrissie so laut aus, dass sich sämtliche Passanten neugierig nach uns umblickten. Und das waren nicht gerade wenige, an einem Vormittag Mitte Juli, der, wie es schien, gerade den Sommer geboren hatte. Die letzten drei Wochen hatte es bis auf ein paar klägliche Sonnenstrahlen zwischendurch fast nur geregnet. Verständlich, dass es bei nahezu perfekten sechsundzwanzig Grad mit leichtem Wind die Leute aus ihren Behausungen trieb. Gedankenverloren starrte ich die Menschen an, größtenteils Pärchen jeder Altersklasse.

Chrissie beobachtete mich eine Weile, bis sie sagte: „Ein Tapetenwechsel würde dir sicher gut tun.“

„Was? Ach, Chrissie, ich habe kein Geld für eine Renovierung.“

Chrissie verdrehte die Augen. „Süße, manchmal bist du wirklich schwer von Begriff. Die Ferien stehen vor der Tür, da machen normale Leute für gewöhnlich Urlaub.“

„Urlaub? Und wer passt dann auf Helen und Anna auf?“

„Die nimmst du natürlich mit. Den beiden kann es auch nicht schaden, mal etwas anderes zu sehen.“

Chrissie hatte nicht ganz Unrecht. Seit dem Tod unserer Eltern hatte es nie mehr einen gemeinsamen Urlaub gegeben. Die Mädchen waren zwischenzeitlich auf einigen wenigen Klassenfahrten gewesen. Ich selbst war, seit ich die Erziehung von Helen und Anna übernommen hatte, gar nicht mehr von Zuhause weggekommen. Ich hatte über Nacht die Rolle einer jungen berufstätigen, alleinerziehenden Mutter übernommen. Mit gerade Anfang zwanzig.

Das Wort Urlaub klang wie Musik in meinen Ohren, allerdings wie Musik auf einem Konzert, für dessen Eintrittskarte ich nicht genügend Geld hatte. Und für drei Karten schon gar nicht.

„Ich könnte einen Urlaub gar nicht bezahlen. Erst recht nicht, wenn für die Zukunft sparen angesagt ist.“

„Davon abgesehen, dass ich es dir leihen würde-“

„Chrissie!“

„Lass mich ausreden!“, giftete sie mich an. Ich schwieg. Nachdem Chrissie sich vergewissert hatte, dass ich wirklich den Mund hielt, holte sie Luft und sprach weiter: „-und ich genau weiß, dass du eh kein Geld von mir annehmen würdest, habe ich eine andere Idee.“ Chrissie machte es spannend. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und sagte dann nach einem gefühlten Trommelwirbel: „Josie!“

 

Ich stand am Küchenfenster, das Essen brutzelte im Ofen. Bunter Nudel-Hackfleisch-Auflauf, das Lieblingsgericht meiner Schwestern.

Ich blickte hinaus in den kleinen Garten. Hier waren wir drei groß geworden. Auf der Schaukel mit dem grünen Eisengestell hatte ich nicht nur von Fred Blum meinen ersten Kuss bekommen, mit dessen Feuchtigkeitsgehalt ich das nebenstehende Planschbecken hätte auffüllen können, sondern war auf ihr auch häufig so hoch geschaukelt, dass meine Fußspitzen die Blätter des Ahornbaumes berühren konnten. Nun baumelte die Schaukel nur noch an einem morschen Strick befestigt sanft im Wind. Es hatte sie ewig niemand mehr benutzt. Helen und Anna waren schon lange nicht mehr klein. Trotzdem waren sie noch immer in einem Alter, in dem man noch nicht erwachsen ist.

War ich eigentlich schon erwachsen? In dem Moment war ich mir dessen nicht wirklich sicher.

Die Türe wurde aufgeschlossen.

„Hey Sunny!“, riefen die Schwestern schon vom Flur her im Chor und rissen mich auf diese Weise unsanft aus meinen Gedanken.

„Hey Mädels!“, begrüßte ich sie und drehte mich zu ihnen herum. So ähnlich sich die beiden in vielen Verhaltensweisen auch waren, das glichen sie durch ihr Äußeres wieder aus:

Helen, die ältere, war groß, schlank und blond. Sie kam exakt auf unsere Mutter. Anna, die jüngere, klein, dunkelhaarig, stämmig, schlug nach unserem Vater. Ihre größte Gemeinsamkeit bestand wohl in dem Hang zur Unordentlichkeit.

Wie immer, wenn sie von der Schule nach Hause kamen, ließen sie ihre Taschen auf den Küchenboden fallen. Anna wedelte schon mit ihrem Zeugnis vor meiner Nase herum, während Helen sich über den flachen Bauch strich. „Ist das Essen schon fertig, Sunny? Ich hab Kohldampf, mir ist schon richtig schlecht!“

Ich nahm Annas Zeugnis in die Hand und antwortete: „Dauert noch ein bisschen. Ich habe Nudelauflauf gemacht und das Hackfleisch zu spät aufgetaut. Ich war noch mit Chrissie im Burgcafé. Wo ist denn dein Zeugnis, Helen?“

„Guckst du jetzt bitte erst mal meins?“, drängelte Anna und führte mich an der Schulter zum nächsten Stuhl. Mein erster Blick verriet mir, dass zumindest keine Fünf dabei war und das erleichterte mich schon mal. Bis auf eine Vier in Biologie sah das Zeugnis ganz gut aus.

„Ist doch super! Ich wünschte, ich hätte mal so eins gehabt.“

„Ja, und guck mal, was die zum Sozialverhalten geschrieben haben!“ Anna platzte fast vor Stolz und so las ich laut vor: „Anna verhält sich ihren Mitschülern gegenüber vorbildlich. Sie ist eine gute Teamarbeiterin und kann Konflikte in der Klasse diplomatisch schlichten.“

„Streberin!“, schmatzte Helen, die sich aus dem Kühlschrank eine Scheibe Fleischwurst genommen und ganz in den Mund gestopft hatte.

„Was hat denn das mit Streberin zu tun? Die bist ja wohl eher du mit deinem Schleimerzeugnis!“, rief Anna.

Oh-oh, Zickenterror! Den konnte ich am allerwenigsten gebrauchen. Es fehlte nur noch, dass die Laune schon am Boden war, bevor ich meine Neuigkeiten verkünden konnte.

„Schluss jetzt! Es wird nicht rumgezickt! Wo ist dein Zeugnis, Helen?“

Ohne sich die Finger zu säubern, fischte Helen ihr Zeugnis aus der Tasche, hinterließ fettige Wurstspuren auf dem Papier und knallte es lieblos auf den Tisch. „Hier!“ So bekam Annas Bezeichnung Schleimerzeugnis gleich eine ganz neue Bedeutung.

„Helen, du bist ein Ferkel! Sieh dir das mal an!“, schimpfte ich und strich das Papier glatt, das zu allem Überfluss auch schon die ersten Eselsohren hatte.

„Egal! Ist doch bloß mein Zeugnis. Gibt schlimmeres.“

Da hatte sie leider Recht. Sie wusste es nur noch nicht. Ich seufzte beim Gedanken an meine Hiobsbotschaft.

„Und? Zufrieden?“

„Perfekt. Wie immer.“

Es gab tatsächlich nichts zu bemängeln. Wie hätte ich damit nicht zufrieden sein können? Bis auf eine Zwei in Englisch bestand dieses ganze Blatt lediglich aus Einsern. Und Fettflecken.

„Frau Butt hat mich gefragt, ob ich nicht doch Abi machen will.“

„Und was denkst du darüber? Möchtest du?“

„Ich weiß nicht. Brauche ich das wirklich? Eigentlich wollte ich so schnell wie möglich mein eigenes Geld verdienen.“

„Du hast auf jeden Fall mehr Möglichkeiten damit, du könntest studieren.“

„Hast du eigentlich studiert?“

„Nein. Ich habe bloß die mittlere Reife gemacht, danach ein Jahr Hauswirtschaftsschule und dann die Erzieherausbildung. Damals ging das noch ohne Abi.“

„Damals! Wie sich das anhört! Als kämst du aus dem Mittelalter“, kicherte Anna.

„Vergiss nicht, unsere große Schwester ist vor zwei Monaten immerhin schon dreißig geworden“, sagte Helen. Neugierig starrte sie in den Ofen.

„Ja, ja, macht euch nur lustig über mich, ihr Gören!“

Ich streckte beiden die Zunge heraus, worauf Helen mich mit dem Backofen-Handschuh bewarf. Ich hob ihn auf und wendete mich dann wieder an Helen. „Jetzt mal im Ernst – was willst du denn später mal machen? Du kommst jetzt immerhin in die zehnte Klasse.“

„Ich will Fotografin werden. Fotos machen ist toll.“

Ich stand auf und schob Helen aus dem Weg, um in den Backofen sehen zu können. Der Auflauf brutzelte vor sich hin. Der Käse warf Blasen, war aber noch nicht goldbraun.

„Ich weiß gar nicht, ob du dafür Abitur brauchst. Aber schaden wird es sicher nicht.“

„Ist halt nur so, dass ich dir dann drei Jahre länger als nötig auf der Tasche liege. Mir wäre es lieber, ich könnte so schnell wie möglich arbeiten, damit das nicht mehr so ist.“

Ich überhörte das absichtlich.

„Die Frage ist nur, auf welches Gymnasium ich dann gehe. Das Treutler oder das Birkhof? Näher wäre ja das Birkhof.“

„Was? Nur, weil es näher ist, willst du da hin? Auf dem Treutler sind doch die viel besseren Lehrer“, schaltete Anna sich wieder ins Gespräch.

„Woher willst du denn das wissen?“, fragte Helen.

„Von Eric.“

„Ach ja, Eric… Sunny, Anna hat einen Freund, wusstest du das?“

„Und wenn schon. Ich habe wenigstens einen und du nicht!“

„Sunny, hast du das gehört? Sie hat es zugegeben. Sie ist gerade mal vierzehn und sie hat einen Freund! Findest du das richtig?“

„Schluss jetzt!“, ging ich dazwischen. „Ich muss mit euch sprechen. Es ist wichtig.“

Helen und Anna warfen sich einen verwirrten Blick zu und setzten sich zu mir an den Tisch.

„Was ist denn los?“, fragte Helen.

Ich holte tief Luft. „Es ist so… Also, es sieht so aus, als würde Ende des Jahres der Kindergarten geschlossen.“

Das wollte ich sagen. Ich versuchte es, wirklich. Aber weil ich die besorgten Gesichter der beiden sah, sagte ich lieber: „Ich habe eine Überraschung für euch.“

Die zwei Augenpaare mir gegenüber wurden größer. Helen und Anna waren wirklich noch Kinder, das machten sie mir in Momenten wie diesen immer wieder deutlich.

„Was für eine Überraschung?“, fragte Anna.

„Na ja, eine schöne. Aber ihr müsstet schon spontan sein“, sagte ich.

„Spontan?“, fragte Helen skeptisch.

„Sehr spontan. Ich hoffe, ihr habt keine großen Pläne geschmiedet für die nächsten zwei Wochen.“

In beiden Köpfen ratterte es, ich konnte es fast hören.

„Kommt drauf an, was du mit uns vorhast“, sagte Anna.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und fragte: „Was haltet ihr von Urlaub an der Ostsee?“

Helen und Anna sahen mich an, als hätte ich ihnen einen schlechten Witz erzählt.

„Ist das ein Scherz?“, fragte Anna.

Ich schüttelte den Kopf.

„Zwei Wochen Ostsee? Wir drei?“

Ich nickte.

Ein Lächeln umspielte Annas Mund, aber Helen bohrte weiter. „Das muss verdammt teuer sein. So viel Geld haben wir nicht.“

„Nein, nein!“, wehrte ich ab. „Für die Unterkunft ist gesorgt. Wir brauchen nur die Bahnfahrt und die Verpflegung vor Ort zu bezahlen. Wir wohnen bei einer Freundin von mir. Ich habe heute Nachmittag mit ihr telefoniert. Sie hat uns eingeladen.“

„Oh, cool! Ich freu mich so!“ Anna sprang so ruckartig auf, dass ihr Stuhl verdächtig zu schwanken begann. Sie flog mir um den Hals. „Das ist so eine tolle Überraschung! Wir drei waren noch nie zusammen im Urlaub.“

„Doch, waren wir“, sagte Helen.

„Ja, als Mama und Papa noch lebten. Aber Anna war damals noch zu klein, um sich daran erinnern zu können.“ Ich drückte Anna einmal fest. Dann setzte sie sich auf meinen Schoß, dabei war sie fast schon so schwer und so groß wie ich. Das Kuscheln mit mir ließ sie sich jedoch nicht nehmen.

Helen sah mich noch immer eindringlich an. In ihrem Kopf arbeitete es. Irgendetwas schien ihr noch nicht zu gefallen.

„Was ist? Freust du dich nicht?“, fragte ich.

„Doch, schon. Das kommt nur alles so plötzlich, und irgendwie… Du hast nie erzählt, dass du eine Freundin hast, die an der Ostsee wohnt. Eigentlich kennen wir überhaupt keine Freundin von dir, abgesehen von Chrissie.“

„Da hast du Recht. Außer Chrissie gibt es auch seit vielen Jahren keine andere Freundin. Josie kenne ich noch aus der Zeit, als ihr noch nicht geboren wart. Ich war etwa in eurem Alter, als sie wegzog. Wir verloren den Kontakt, wie das manchmal so ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Vor zwei Jahren habe ich mal eine Postkarte mit ihrem neuen Wohnort bekommen. Seither haben wir zwei, drei Mal telefoniert.“

„Ihr habt seit zwei Jahren wieder Kontakt? Du hast uns nie davon erzählt“, sagte Helen.

„Ich habe es nicht für wichtig empfunden. Schließlich kenne ich ja auch nicht all eure Freunde, oder?“

Helen zuckte mit der Schulter. Sie gab sich geschlagen.

An Anna gewandt sprach ich weiter: „Wie zum Beispiel einen gewissen Eric!“

Anna wurde rot und grinste. Sie sprang von meinem Schoß und sah in den Ofen. „Ich glaub, der Auflauf ist fertig.“

„Na, na, nicht ablenken jetzt! Wie lange kennt ihr euch schon? Und woher?“ Ich stand auf, schob Anna zur Seite und warf einen Blick in den Backofen. Der Käse hatte die ideale Bräune erreicht.

„Ich kenne ihn aus der Schule. Er soll die achte Klasse wiederholen und ist deshalb schon vor zwei Monaten zu uns in die siebte gekommen.“

Ich holte den dampfenden Auflauf aus dem Ofen und stellte ihn auf den Tisch. „Wie sieht er aus?“, fragte ich.

Anna holte drei Teller aus dem Schrank und begann den Tisch zu decken. „Süß!“, sagte sie bloß.

„Wie, süß?“

„Na, süß halt!“

Helen stöhnte. „Süß! Wenn ich das schon höre! Er ist der typische Hip-Hopper. Er trägt eine blondgefärbte Frettchen-Frisur und damit man die nicht sehen muss, trägt er auf der selbigen ein Baseball-Cap Marke Vogelkäfig. Also so eingestellt, dass sie nur leicht auf der Schädeldecke aufliegt. Schief, natürlich!“, sagte Helen. Sie goss sich ein Glas von der Milch ein, die Anna eben auf den Tisch gestellt hatte. Sie leerte es in einem Zug, um im Anschluss laut zu rülpsen.

„Helen!“, schimpfte ich. Immer wieder machte sie das. Sie ließ es sich einfach nicht abgewöhnen.

Anna knallte das Besteck auf den Tisch. „Siehst du, Sunny? Genau das ist der Grund, warum sie keinen Freund hat. Welcher Junge will schon einen röhrenden Hirsch zur Freundin?“

„Ach, du tust ja gerade so, als würde ich das überall tun. Ich mach das doch nur Zuhause.“

„Trotzdem ist es ekelhaft. Was, wenn dir das doch mal woanders rausrutscht?“, fragte ich.

Helen zuckte mit den Schultern. „Na und? Dann ist es halt so. Es gibt schlimmeres.“

Ich seufzte.

„Ist irgendwas?“, fragte Anna.

„Nein, schon gut. Ich hatte die letzten Tage nur ein bisschen Stress.“

Wir setzten uns auf unsere gewohnten Plätze. Helen schaufelte als erste ihren Teller voll, dann nahm sich Anna eine Kleinigkeit und zum Schluss tat ich mir auch etwas auf den Teller. Ich hatte zwar nicht den geringsten Hunger, aber ich konnte es mir nicht leisten schon wieder abzunehmen. Ich war froh, dass ich endlich fünfzig Kilo erreicht hatte und nicht mehr als untergewichtig galt. Außerdem wollte ich den Mädchen keinen Grund zur Sorge geben, weil ich nichts aß. Widerwillig schob ich mir ein Hackfleischbällchen in den Mund.

„Das mit dem Stress hat sich ja für die nächsten drei Wochen erst mal erledigt.“ Helen versuchte gerade, fünfundzwanzig Nudeln gleichzeitig aufzuspießen und sah dabei so aus, als würde sie darüber selbst in Stress geraten.

Anna stützte ihren Kopf auf der linken Handfläche ab und seufzte. „Schön, Urlaub. Nur wir drei. Das erste Mal ohne Mama und Papa.“

Nach ihrer Aussage verfielen wir drei in gemeinschaftliches Schweigen.

Freitag, 19.02 Uhr

 

chatraum: stuntwoman, stylaprinzess, cjsgirl

stylaprinzess: das glaubst du!

cjsgirl: das glaub ich nich nur, das weiß ich sogar!

gordon4eva betritt den Raum

gordon4eva: Moin, mädels!

stuntwoman: Na, Heulsuse? Leidest du immer noch?

stylaprinzess: Christa, du bist unfair! sie ist traurig, lass sie doch! und Eva, hallo erst mal. wie geht es dir denn?

gordon4eva: Furchtbar! Ich habe es heute noch mal gewagt, mir die show anzusehen. Sie ist einfach nicht mehr dieselbe ohne Gordon

stuntwoman: Heulsuse!

cjsgirl: also, ich hab ja nix gegen deinen Gordon, aber C-J spielt die rolle einfach nur geil!

stuntwoman: Was gibt es denn da geil zu spielen? Tür auf, Tür zu, blöd grinsen, mit Gewehr prollen, einen Purzelbaum auf der Matte schlagen. Toll!

cjsgirl: mach‘s doch besser, christa!

stuntwoman: Wenn die mich lassen würden, würde ich es tun.

cjsgirl: weiß jemand, ob C-J ne freundin hat?

stylaprinzess: frag ihn doch!

cjsgirl: nie im leben! ich würde nich ein Wort rauskriegen

stuntwoman: Könnte auch schwer werden ohne Gehirn.

cjsgirl: BITCH!

cjsgirl verlässt den Raum

stylaprinzess: musst du immer so gemein sein, Christa?

stuntwoman: Ich bin nicht gemein, ich äußere lediglich Tatsachen!

gordon4eva: Ich hau wieder ab. Bin eh schon depri genug, da muss ich mir nicht auch noch eure gemeinheiten antun

stylaprinzess: cu, Eva

gordon4eva: Bye, janine

gordon4eva verlässt den Raum

Kapitel Zwei

 

Als es damals passierte, stürzte der Himmel nicht ein. Die Erde tat sich auch nicht auf. Genauso wenig fegte ein Sturm über mich hinweg. Es geschah einfach. Die Sonne schien unbeeindruckt weiter. Die Kinder buddelten im Sandkasten, fuhren Dreirad oder juchzten im Planschbecken.

Heute denke ich, ich hätte doch irgendetwas merken, irgendeinen Hinweis in meinem Inneren spüren müssen. Aber nichts. Ich ahnte nicht mal was, als Frau Brehm mit der Polizeibeamtin auf mich zukam.

„Das ist Frau Susanne Dahlke“, sagte Frau Brehm und deutete auf mich. Sie sah mich dabei seltsam an. Da ich gerade im Sandkasten saß und die Hände voll Matschepampe hatte, stand ich auf und putzte sie erst mal notdürftig am Stamm des Kirschbaums ab. Die Frau in Uniform stand nur vor mir und sah mich an, als wäre ich eine Aussätzige. Dass das nicht an meinen mit Dreck beschmierten Händen lag, konnte ich zu dem Zeitpunkt schließlich auch nicht ahnen.

„Tut mir leid“, sagte ich, „die Kids haben gerade eine Suppe für mich gekocht, die ich essen musste.“

Sie sah mich immer noch so komisch an, fast bedauernd. Vielleicht hielt sie mich für verrückt. Aber sie hätte sich eigentlich denken können, dass ich diese aus Sand, Wasser, Stöckchen und Klee gekochte Suppe nicht wirklich gegessen hatte. Oder nicht?

„Frau Dahlke, mein Name ist Suhrer, ich müsste Sie dringend sprechen.“

„Natürlich, worum geht es denn?“ Ich glaube, das war der Moment, in dem sich das erste Mal ein seltsames Gefühl in meiner Magengrube meldete.

„Ich würde das gerne an einem Ort besprechen, an dem wir ungestört sind.“

Frau Brehm stellte uns ihr Büro zur Verfügung, wo ich Frau Suhrer bat, schon einmal Platz zu nehmen. Nebenan im Bad versuchte ich noch schnell meine Hände zu säubern und sah währenddessen mein Spiegelbild an, das zu sagen schien: Du musst mit dieser Frau nicht sprechen, wenn du nicht willst. Bleib einfach hier stehen und wasch dir weiterhin gemütlich die Hände. Irgendwann wird sie verschwunden sein.

Natürlich würde sie das nicht und so ließ ich den Spiegel ohne mein Bild zurück und verließ das Bad.

Frau Brehm hatte Frau Suhrer mittlerweile eine Tasse Kaffee gebracht. Die Polizistin saß auf der alten abgewetzten Couch und pustete gedankenverloren über ihre Tasse. Als sie mich das Zimmer betreten sah, stellte sie die Tasse ab und räusperte sich. Ich setzte mich ihr gegenüber auf den Drehstuhl, den ich mir vorher vom Schreibtisch geholt hatte.

„Frau Dahlke, es tut mir wirklich sehr leid, aber ich bin hier, weil ich Ihnen eine traurige Nachricht überbringen muss. Es geht um Ihre Eltern. Helga und Richard Dahlke.“

Ich wusste, wie meine Eltern hießen. Das musste sie mir nicht sagen. Meine Hände schwitzten und ich wischte sie unterm Tisch an meinen Jeans ab.

„Sie sind heute Morgen bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Das sagte sie einfach so. Genauso gut hätte sie sagen können, dass eine Fliege auf meiner Nase sitzt. Völlig teilnahmslos. Sie sagte, es täte ihr leid. Aber das nahm ich ihr nicht ab. Es interessierte sie nicht mal wirklich. Ich kannte die Menschen. Besonders merkte ich, wenn sie schauspielerten. Ich starrte durch sie hindurch und versuchte, meine Übelkeit zu unterdrücken. Ich hasste Kaffee, noch schlimmer als der Geschmack war sein Geruch. Frau Suhrer nahm einen Schluck und schien erleichtert, diese unangenehme Aufgabe hinter sich gebracht zu haben.

Ich sagte nichts. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nicht zu übergeben.

Meine Eltern waren tot.

Die beiden waren übers Wochenende bei Freunden in Berlin gewesen und wollten diesen Vormittag wieder zurück fahren. Aber sie kamen nicht zurück. Nie wieder.

Die Sonne schien weiter. Der Himmel stürzte nicht über mir ein.

Wortlos stand ich auf, ging zurück ins Bad, um mir weiter die Hände zu waschen. Ich heulte mit meinem Spiegelbild um die Wette.

Von diesem Tag an war ich allein für Helen und Anna verantwortlich. Damals sieben und fünf Jahre alt. Ich, die große Schwester, wurde von einem Moment auf den anderen zusätzlich noch zu Mutter und Vater. Als gerade ausgelernte Erzieherin hatten wir das Glück, dass meine beiden kleinen jüngeren Schwestern bei mir bleiben durften. Außerdem gab es weit und breit keine anderen näheren Verwandten, die sie hätten aufnehmen können. Da ich sowieso noch zu Hause wohnte, hielt das Jugendamt es für das Beste, dass alles so blieb, wie die Kinder es gewohnt waren. Abgesehen von der Tatsache, dass ihre Eltern nun tot waren. Was für mich schon kaum zu akzeptieren war, war für die Kinder unerträglich. Ich wäre überhaupt nicht dazu imstande gewesen, diesen kindlichen Seelenschmerz allein aufzufangen und mit ihnen zu verarbeiten. Und so bekamen wir zusätzlich zur Betreuung vom Jugendamt auch psychologische Unterstützung.

Papa hatte zwar keine Lebensversicherung abgeschlossen, aber eine ganze Menge Erspartes, wovon wir einige Jahre durchschnittlich leben konnten. Davon, dem Kindergeld, der Waisenrente und von meinem Gehalt, das ich im Kindergarten verdiente. Noch bis zu den nächsten Weihnachtsferien. Ab dann würde es schlecht aussehen.

Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Und auch nicht, wie ich den Mädchen beibringen sollte, dass wir vielleicht das Haus verkaufen mussten, wenn ich nicht schnellstens einen neuen Job fand.

*** 

Chrissie erklärte sich bereit, uns zum Bahnhof zu fahren. Seit einer Dreiviertelstunde saß sie jetzt schon auf einem Stuhl in der Küche und schaute uns belustigt zu. Alle paar Sekunden kam entweder Anna, Helen oder ich aus einem der Zimmer geflitzt, stellte einen Koffer oder eine Tasche auf den Tisch oder holte wieder etwas weg. Dabei rannten wir uns mehr als einmal über den Haufen.

„Hat jemand mein Handy gesehen?“, fragte Anna. Sie wühlte in ihrer pinken Handtasche herum und wurde langsam panisch.

„Du hast es in deinen Kulturbeutel getan“, sagte Chrissie.

Anna sah sie an, als hätte sie nicht richtig verstanden.

„In den Kulturbeutel? Wieso sollte ich so was tun?“

„Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht möchtest du auch unter der Dusche erreichbar sein?“ Chrissie grinste und Anna streckte ihr die Zunge raus. Tatsächlich aber fand sie ihr Handy im Kulturbeutel.

„Wann fährt noch mal der Zug?“ Ich versuchte gerade, die gefühlt fünfundneunzigste Tasche auf dem Tisch ans Halten zu bekommen.

„Um 08.59 Uhr. Soll ich schon mal was zum Auto bringen?“, fragte Chrissie.

„Ich helfe dir!“, rief Helen. Die beiden behängten sich mit allerlei Taschen und sahen dabei aus wie neumodische Christbäume.

Wir stopften den Kofferraum bis unters Dach voll. Mit Mühe und Not schafften wir es sogar, die Klappe zu schließen.

„Gut, das hätten wir geschafft! Können wir dann los?“ Chrissie öffnete die Türe auf der Fahrerseite. Ich war froh, dass sie uns zum Bahnhof fuhr. Wenigstens dieses kurze Stück bis dahin hatte ich jemanden, der im Chaos den Überblick behielt.

Helen, die die längsten Beine von uns hatte, stieg vorne ein. Anna und ich setzten uns auf die Rückbank. Als Chrissie den Wagen startete, durchfuhr mich ein Schreck. „Halt! Stopp! Noch nicht fahren!“ Hektisch schnallte ich mich wieder ab und sprang aus dem Wagen.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“ Helen stöhnte.

Wortlos rannte ich zurück ins Haus. Erklärungen hätten zu viel Zeit gekostet.

In meinem Zimmer wühlte ich in der obersten Schreibtischschublade. „Wo bist du denn, du blödes Ding? Ich weiß doch genau, dass du schon Jahre hier drin liegst!“ Ich schob uralte Liebesbriefe auf Seite, vergilbte Fotos, diverse andere Erinnerungsstücke, bis mir die Postkarte mit der Möwe in die Hände fiel. Ich drehte sie herum, um mich zu vergewissern, dass immer noch das darauf stand, was Josie zwei Jahre zuvor geschrieben und an mich abgeschickt hatte:

Meine Kleine,

wenn du mal meine Hilfe brauchst, ich bin immer für dich da. Hier meine neue Adresse…

Gut. Ich steckte die Karte in meine Hosentasche und verließ das Haus aufs Neue. Als ich wieder ins Auto stieg, schimpften gleich drei weibliche Personen auf mich ein.

„Wo warst du?“ – „Wir verpassen noch den Zug!“ –„Du hast aber auch die Ruhe weg!“

Chrissie startete den Wagen erneut. Ich schaffte es gerade noch, mich anzuschnallen, bevor ich bei ihrem rasanten Fahrstil aus der Kurve fliegen konnte.

„Ich glaube, mir wird schlecht“, sagte Anna.

„Na toll! Kotz bloß nicht ins Auto!“ Helen schaute böse in den Rückspiegel.

„Aber ich bin so aufgeregt. Das wird so eine lange Zugfahrt. Vielleicht werde ich ja reisekrank.“

„Mach dir keine Sorgen, Anna. Ich habe Tabletten dabei. Davon bekommst du gleich eine im Zug und dann wirst du es schon überleben“, beruhigte ich sie.

Dabei war ich selbst furchtbar aufgeregt. Ich lockte die Mädchen aus ihrer gewohnten Umgebung fort, um ihnen am Urlaubsort mitzuteilen, dass sich vielleicht unser aller Leben von Grund auf änderte. Ich fühlte mich mies. Mit schlechtem Gewissen starrte ich aus dem Fenster und stellte fest, dass wir schon am Bahnhof angekommen waren. Chrissie schnappte gerade einem Mann den von ihm angepeilten Parkplatz vor der Nase weg, indem sie mit einem Satz ruckartig nach vorne fuhr. Der Mann musste scharf abbremsen, um nicht in unser Auto zu krachen. Er schüttelte seinen zornesroten Kopf und gestikulierte wild herum.

Chrissie warf ihm einen Luftkuss zu und lächelte ihr bezauberndstes Lächeln, das sie auf Lager hatte. Der Mann starrte sie mit offenem Mund an.

„Chrissie, du bist die Dreistigkeit in Person!“ Ich schüttelte den Kopf und schämte mich angemessen für sie.

„Ich find‘s cool“, sagte Helen und schnallte sich ab.

„Mir ist schlecht!“, jammerte Anna.

Chrissie ließ sich von alldem nicht beeindrucken. „Auf welches Gleis müsst ihr?“, fragte sie und schaltete den Motor ab.

„Gleis zwei. Richtung Köln.“

Selbst, als wir ausstiegen und das Gepäck aus dem Kofferraum hievten, saß der um seinen Parkplatz betrogene Mann immer noch hinter dem Steuer seines Autos und starrte Chrissie an.

„Chrissie, ich glaube, der steht auf dich“, sagte Helen.

Chrissie stellte den Koffer, den sie gerade in der Hand hielt, ab und sagte: „Ach, wirklich?“ Sie drehte sich herum und ging auf das fremde Auto zu.

„Das glaube ich jetzt nicht!“ Ich drehte mich weg und wünschte mich an einen fernen Ort. So sehr ich Chrissie auch liebte, manchmal war sie einfach unmöglich.

Chrissie klopfte an die Scheibe der Fahrerseite und der Mann kurbelte das Fenster herunter, ohne Chrissie aus den Augen zu lassen.

„Hallo!“, sagte sie und beugte sich lasziv zu ihm herunter.

„Hallo“, krächzte der arme Kerl.

„Vielen Dank, dass Sie mir den Parkplatz überlassen haben.“

Er fummelte hektisch an seinem Kragen herum. „War doch selbstverständlich.“

„Oh, so selbstverständlich ist das nicht. Ich dachte, wenn Sie so ein Kavalier sind, würden Sie uns doch sicher helfen, unser Gepäck zu Gleis zwei zu tragen?“

„Sicher, sicher, ich… Moment, ich muss erst mal… Warten Sie kurz!“ Er überschlug sich fast, wusste nicht, ob er zuerst aussteigen, sich abschnallen oder parken sollte. Irgendwie schaffte er es dann doch, alles in die richtige Reihenfolge zu sortieren, ohne sich dabei selbst zu erhängen. Selbstbewusster scheinen wollend, als er eigentlich war, kam er auf uns zu.

„So ein Zufall, ich fahre auch mit dem Zug nach Köln“, strahlte er und strich sich eine Strähne seines schöngeföhnten blonden Haares aus der Stirn. Ein typischer Schlipsträger, der genau in Chrissies Beuteschema passte.

„Ja, das ist tatsächlich ein Zufall. Sogar ein Glücksfall, würde ich behaupten.“ Chrissie klimperte noch einmal mit ihren Wimpern und drückte ihm gleich den schwersten Koffer in die Hand. Ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er erfuhr, dass Chrissie selbst gar nicht mitfuhr.

Zu fünft schleppten wir das Gepäck durch die Unterführung die Stufen hinunter und an der anderen Seite wieder hoch. Von Gleis eins überbrückten dann wieder zwei Treppen den Weg und so kamen wir nach knapp drei Minuten nassgeschwitzt auf Gleis zwei an. Es war schon jetzt furchtbar heiß. Ich hoffte, dass die Klimaanlagen in den diversen Zügen, die wir noch nehmen müssten, nicht schlapp machten.

„Da kommt der Zug schon!“, rief Anna. Wir alle strengten unsere Augen an und erkannten einen winzigen Punkt in weiter Ferne, der sich aufs Gleis zubewegte.

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte der Schlipsträger.

„In den Urlaub. In einen kleinen Ort in Schleswig-Holstein“, antwortete ich.

„Oh, ans Meer!“ Er blickte sehnsüchtig auf Chrissie. Wahrscheinlich ging ihm gerade die Kombination Chrissie-Meer-Sommer-Bikini durch den Kopf.

„Und Sie?“, fragte ich aus Höflichkeit.

„Ich? Nein, leider nicht ans Meer. Ich muss nur nach Köln. Ich arbeite dort. Ich bin Makler von Beruf.“

Wie langweilig, sagte ich beinahe, behielt es aber für mich.

„Wie interessant!“, sagte stattdessen Chrissie. Das Schlimme war, dass sie das wahrscheinlich auch noch ernst meinte.

Der Zug kam mit laut quietschenden Bremsen neben uns zum Stehen. Ein furchtbarer Lärm. Dieses Geräusch konnte ich noch nie ertragen. Reflexartig hielt ich mir die Ohren zu. Helen und Anna störte das überhaupt nicht. Sie warteten startbereit darauf, dass sich die Türen öffneten.

Wir sicherten uns zwei gegenüberliegende Bankreihen und stopften unsere Koffer und Taschen über uns in die Gepäckablage. Was nicht passte, stapelten wir auf den freien Platz neben mich.

Der Schlipsträger belegte die Bank neben meiner, mit einem Grinsen im Gesicht, das eins zu deutlich machte: Er glaubte, er hätte den Jackpot gewonnen und Chrissie würde den freien Platz neben ihm besetzen. Irgendwie tat er mir leid.

Chrissie drückte Anna und Helen. „Seid schön artig, ihr beiden.“

Helen verdrehte die Augen und Anna sagte: „Ich bin immer lieb.“

Zum Schluss nahm Chrissie mich in den Arm. „Und von dir erwarte ich genau das Gegenteil. Lass mal die Sau raus. Das hast du verdammt nötig.“

Das Ganze hätte nicht peinlicher sein können, wenn sie ein Megaphon benutzt hätte. Nicht nur der Schlipsträger saß mit offenem Mund da. Zwei pubertierende Nachwuchs-Gangster drei Reihen weiter grinsten schon und machten anzügliche Gesten in meine Richtung.

„Spackos!“, sagte Anna.

Helen stellte mit Killerblick pantomimisch dar, was sie liebend gern unangenehmes mit den halbreifen Geschlechtsteilen der Jungs anrichten wollte. Schlagartig waren sie ruhig und wurden puterrot.

„Danke fürs Herfahren, Chrissie. Und nur zu deiner Information: Ich werde genauso brav sein wie meine kleinen Schwestern.“

Helen und Anna sahen sich an und brachen fast gleichzeitig in prustendes Gelächter aus.

„Was ist daran so lustig?“, fragte ich und stemmte die Hände in die Hüften.

„Nichts!“, beteuerten beide wie aus einem Mund.

„Ich glaube, die beiden wollten dir damit auf versteckte Art und Weise mitteilen, dass sie nicht daran denken, brav zu sein. Und von dir wissen sie genau, dass du dich eh nichts trauen wirst. So, nun muss ich aber gehen. Schönen Urlaub, ihr Lieben!“ Chrissie schaffte es gerade noch, den Zug zu verlassen, bevor er anfuhr.

Wir winkten ihr rasch aus dem Fenster und dann machte sich der Zug auch schon auf in Richtung Köln. Der Schlipsträger saß immer noch unbewegt auf seinem Platz. Verstört sah er mich an. „Äh“, machte er, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. Zumindest Bruchteile davon. „Fährt sie nicht mit?“

Anna tat so, als hätte sie nichts gehört. Helen hatte schon längst ihre Kopfhörer in die Ohren gestöpselt und lauschte nervtötender Radau-Musik. Die Antwort blieb also an mir hängen. „Sie meinen Chrissie?“

„Ich glaube, so heißt ihre Freundin, ja.“ Er starrte aus dem Fenster, als hoffte er, sie würde vielleicht nebenherlaufen.

„Nein, sie fährt nicht mit. Sie hat uns nur zur Bahn gebracht.“

„Oh!“ Er sackte in seinem Sitz zusammen wie ein misslungenes Soufflé. Immer wieder hatte Chrissie diese Wirkung auf Männer. Ich fragte mich zum wiederholten Male, wie sie das schaffte. Und auch, wie sie ohne Skrupel ein Männerherz nach dem anderen brechen konnte. Nun saß ich hier mit dem armen Kerl und hatte das Gefühl, irgendetwas wieder gut machen zu müssen. „Übrigens vielen Dank, dass Sie uns bei den Koffern geholfen haben. Das war sehr nett.“

Er zuckte mit den Schultern. „Nicht der Rede wert.“

„Wie heißen Sie?“, fragte ich.

„Robert. Robert Dohm.“ Er streckte mir seine Hand entgegen.

„Freut mich. Ich bin Susanne Dahlke. Hören Sie, es tut mir leid, dass meine Freundin-“

„Sunny, mir ist so schlecht. Ich glaub, ich muss kotzen!“, jammerte Anna.

„Nein, musst du nicht, Schatz. Warte, ich gebe dir eine von den Tabletten, dann geht’s besser. Das ist nur die Aufregung.“ Ich nahm meine Handtasche vom Gepäckstapel neben mir und fand das Medikament auch sofort. Ich war gut vorbereitet. Das Letzte, was ich in meinem Reisefieber noch gebrauchen konnte, war ein kotzender Teenager. Ich drückte eine Tablette aus dem Blister und reichte sie Anna gemeinsam mit einer Flasche Wasser. Meine kleine Schwester, die mittlerweile schon von bleich auf grün gewechselt hatte, nahm beides dankbar an.

„Robert“, begann ich aufs Neue, „Chrissie ist leider manchmal etwas gedankenlos. Sie hat Sie sicher nicht mit Absicht vor den Kopf gestoßen.“

Er nickte und sah auf den Boden. Ich hatte das Gefühl, dass ihm so etwas ständig passierte.

„Warten Sie einen Moment.“ Ich wühlte wieder in meiner Handtasche, kramte mein Handy hervor und öffnete das Adressbuch.

„Haben Sie vielleicht etwas zu schreiben für mich?“, fragte ich Robert.

„Ja, äh, Moment.“ Er öffnete seinen Aktenkoffer, holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus und reichte ihn mir. Er lächelte, als würde er ahnen, was ich vorhatte.

Nachdem ich die auf dem Display stehende Nummer aufgeschrieben hatte, gab ich Robert Kugelschreiber und Block zurück. „Hier, bitte. Das ist Chrissies Handynummer. Sie hat sicher nichts dagegen, wenn Sie sich bei ihr melden.“ Zufrieden lehnte ich mich im Sitz zurück. Das war ich ihm schuldig.

 

Gegen 15.00 Uhr saßen wir im letzten Zug. Wir waren in Köln, in Hamburg und in Lübeck umgestiegen und hatten nur noch fünfundzwanzig Minuten Fahrt vor uns. Die Klimaanlage im ICE war nicht ausgefallen und Anna hatte sich auch nicht übergeben. Vielmehr hatte sie von Köln bis Hamburg tief und fest geschlafen und danach waren Aufregung und Übelkeit verschwunden. Sie las sogar ein Buch.

Der Zug kam ins Rollen und ich öffnete das Fenster. Ich hielt meine Nase in den Fahrtwind und schloss die Augen. „Ich kann das Meer schon riechen“, sagte ich.

„Wirklich?“ Helen sprang auf und gesellte sich zu mir. „Stimmt“, sagte sie nach einer Weile. „Hier ist tatsächlich eine ganz andere Luft als in Schleihenthal.“ Sie atmete noch einmal tief durch. Anna stellte sich zwischen uns und so hingen wir wie die Äffchen am halb herunter geschobenen Fenster und hielten unsere Gesichter in die köstliche Luft.

Nach einer Weile schweigenden Genusses krochen wir wieder zurück auf unsere Plätze, ließen das Fenster aber offen.

„Schön, dann sind wir ja gleich schon da“, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr.

„Kommt diese Josie uns eigentlich abholen?“, fragte Helen.

„Nein, wir müssen uns ein Taxi nehmen. Sie hat kein Auto. Genaugenommen hat sie nicht mal einen Führerschein.“

Anna sah von ihrem Buch auf. „Genau wie du, Sunny“, bemerkte sie.

„Ja, stimmt.“

„Was macht sie eigentlich beruflich? Ich meine, welchen Job hat sie, wenn sie kein Auto fahren kann?“, fragte Helen.

„Ihr gehört eine Kneipe im Ort. Damit verdient sie ihren Lebensunterhalt.“

Das glaubte ich zumindest. Ich hatte schon so lange nichts mehr von ihr gehört. Bis auf das Telefonat vom Vortag natürlich. Nachdem Chrissie mir geraten hatte, mich bei Josie zu melden, hatte ich das mit einem schlechten Gewissen getan. Das letzte Mal hatte ich sie an der Beerdigung meiner Eltern gesehen. Als Josie damals auf dem Friedhof erschienen war, hatte ich anfangs nicht mal geahnt, wer sie war. Sie hatte den Kontakt zu Papa und Mama abgebrochen, als Helen geboren wurde. Wie hätte ich da, sieben Jahre später noch wissen sollen, wer die Frau mit den kurzgeschorenen Haaren und dem bunten Kleid sein sollte?

Sie stand am Grab, lächelte liebevoll in das tiefe Loch und wünschte meinen Eltern eine letzte gute Reise. Dann entdeckte sie mich. Ich stand allein da, ohne meine Schwestern. Die waren im Kindergarten bei Frau Brehm geblieben. Beide noch viel zu klein, um ihnen eine Beerdigung zuzumuten. Die Beerdigung ihrer eigenen Eltern.

Josie trat auf mich zu. Sie lächelte und tätschelte meine Wange. „Sunny, Schatz. Alles wird gut.“

Ich erkannte ihre Stimme und weinte.

„Wird es das?“, presste ich hervor. Der Kloß in meinem Hals war kein gewöhnlicher Frosch. Es war ein Ochsenfrosch. Ein ausgewachsener, der höchstwahrscheinlich auch noch schwanger war. Josie nickte und auch sie hatte feuchte Augen.

„Du warst immer ein tapferes Mädchen. Du schaffst das schon.“ Josie nahm mich in den Arm und hielt mich eine Weile fest. Dann löste sie sich von mir, legte die Hände auf meine Schultern und sah mich eindringlich an. „Ruf mich an, wenn du meine Hilfe brauchst. Ich bin immer für dich da.“

„Ich weiß“, schniefte ich. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

Josie lächelte noch einmal ihr bezauberndes Lächeln und verschwand aus meinem Leben zurück in ihr sechshundert Kilometer weit entferntes eigenes.

In den letzten zwei Jahren hatten wir immer nur an Weihnachten telefoniert. Sonst nie. Ich hatte ja auch ihre Hilfe nicht gebraucht. Alles war mehr oder weniger gut gelaufen.

Mein Herz klopfte, als ich Josies Nummer wählte und danach darauf wartete, dass jemand abhob. Vielleicht war sie ja mittlerweile verheiratet? Was wusste ich überhaupt von ihr? Vielleicht war dieser Anruf ja doch keine so gute Idee. Ich wollte schon wieder auflegen, da meldete sich eine weibliche Stimme.

„Herrlich?“ Sie sprach ihren Namen so voller Enthusiasmus aus, dass ich kurz aus dem Konzept kam und vergaß, was ich sagen wollte.

„Hallo?“, fragte sie nach einem kurzen Schweigen.

„Hallo?“, gab ich intelligenter Weise zurück.

„Sunny, Schatz! Bist du das?“, fragte sie.

„Wie kommst du drauf, dass ich es bin?“

„Na, du bist es doch, oder? Ich habe dich an deiner Stimme erkannt. Außerdem gibt es mittlerweile Rufnummer-Erkennung.“

Ich zog meine Nase kraus und schlug mir lautlos vor die Stirn.

„Bist du noch dran?“, fragte sie.

„Ähm, ja!“ Ich wusste gar nicht, warum ich so unsicher war. Ich kannte Josie, seit ich ein Baby war.

„Wie geht es dir, mein Schatz?“

„Gut“, log ich. „Nein, eigentlich gar nicht.“

„Das dachte ich mir schon.“

„Ach ja?“

„Ja. Du hast mich noch nie im Sommer angerufen. Und wenn du es jetzt nach so vielen Jahren tust, wird das seinen Grund haben.“ Sie klang nicht mal überrascht, dass ich anrief. Sie klang viel mehr, als hätte sie es erwartet. Diese Frau war unheimlich.

„Ja, es gibt einen Grund. Meine Schwestern und ich brauchen Urlaub. Wir müssen mal raus hier. Ich wollte dich fragen, ob du nicht jemanden in deinem Ort kennst, der eine Ferienwohnung vermietet. Du wohnst doch am Meer, richtig?“

„Ja, das stimmt. Und ich kenne auch Leute mit Ferienwohnungen.“

„Im Ernst?“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. „Glaubst du, eine der Wohnungen wäre vielleicht irgendwann innerhalb der nächsten paar Wochen für ein paar Tage frei? Ich weiß, es sind gerade Ferien und bestimmt ist alles seit Monaten ausgebucht…“

„Nein, nein! Es ist ganz kurzfristig jemand abgesprungen und die kleine Wohnung wäre ab morgen frei für euch.“

„Was, morgen schon? Das wäre fantastisch! Warum bist du so gut informiert?“

„Weil es meine Wohnung ist.“

Samstag, 15.14 Uhr

 

Chatraum: briansfairy

briansfairy verlässt den Raum

showglamour betritt den Raum

showglamour: keina hia?

showglamour: haaaaalllllloooooo! ia süßen, ich hab news!

showglamour: ach mist, wo seid ia denn alle?

showglamour: wahrscheinlich falsche uazeit, seid wohl alle im park

showglamour verlässt den Raum

 

Kapitel Drei

 

Am Bahnhof angekommen brauchten wir nicht lange nach einem Taxi zu suchen. Direkt vor dem Eingang der Bahnhofshalle parkte eines einsam am Taxistand. Fast so als wäre es extra für uns dort hinbestellt worden. Wir brauchten auch keine Sorgen haben, dass es uns jemand vor der Nase wegschnappte. Wir waren die einzigen, die in Görnbeek anreisten.

Der Taxifahrer hatte uns wohl schon vollbeladen auf ihn zusteuern sehen, denn er stieg gemütlich aus und öffnete den Kofferraum.

„Moin!“, sagte er, als wir schließlich keuchend bei ihm ankamen.

„Moin?“ Anna runzelte die Stirn. „Es ist nachmittags!“

Der ältere dickliche Mann grinste. „Ach, ihr kommt nicht aus dem Norden.“ Er lud geschickt nach und nach das gesammte Gepäck in den Kofferraum.

„Hallo“, begrüßte ich ihn. „Nein, wir sind nicht von hier. Wir kommen aus der Eifel.“

„Ouh, da habt ihr aber einen ganz schönen Weg hinter euch. Seid ihr zum Urlaub machen hier?“ Er schlug den Kofferraumdeckel mit einem Rumms zu und öffnete dann sämtliche Türen des Taxis für uns.

„Ja. Wir würden gerne in die-“ Ich kramte die Postkarte aus meiner Hosentasche. Durch das lange Sitzen der letzten Stunden war sie ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden. „-in den Meisenweg 23.“

„Ouh, dann verbringt ihr eure Ferien bei Josie, in der Strandrose. Das ist ja schön!“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er schien einen Moment nicht anwesend. Den nutzten wir Mädels, um uns anzusehen, verstehend zu grinsen und ins Auto zu steigen. Als wir uns schließlich auch angeschnallt hatten, erwachte der Taxifahrer aus seinem Tagtraum und setzte sich hinters Steuer. „So, denn mal los!“ Er startete den Wagen und wir zuckelten gemütlich los. Ich begrüßte seinen Fahrstil, der zum Glück ein ganz anderer war als der von Chrissie.

Eine Weile fuhren wir schweigend. Die Zugfahrt hatte uns müde gemacht und außerdem herrschte eine Außentemperatur von neunundzwanzig Grad. Alle Fenster waren geöffnet, und als wir am Hafen vorbeifuhren, stieg mir der Geruch von Salzwasser, Fisch und Imbissbuden in die Nase. Eine angenehme Kombination, die Appetit machte.

Der Taxifahrer warf ab und an einen verstohlenen Blick auf mich, was mir mit der Zeit ein wenig unangenehm wurde.

„Sind Sie mit der Josie verwandt?“, fragte er dann völlig überraschend.

„Nein, sie ist lediglich eine Freundin von mir. Warum fragen Sie?“

„Och, reine Neugier. Ich kenne Josie schon länger. Sie ist meine Nachbarin. Aber sie hatte noch nie Verwandte zu Besuch. Wäre schön gewesen, wenn Sie und Ihre Töchter zu Josies Familie gehört hätten.“

„Wir sind ihre Schwestern, nicht ihre Töchter“, meldete sich Helen hinter mir. Es regte sie immer mehr auf als mich, dass die meisten Leute mich für ihre Mutter hielten.

„Ouh, Entschuldigung, ich dachte nur…“ Er wurde ganz rot.

„Ist nicht schlimm“, sagte ich mit einem Lächeln.

Nach weiteren drei Minuten Fahrt kamen wir vor einem schnuckeligen blau-weiß gestrichenen Häuschen zu stehen. Der kleine Vorgarten war mit einem weißen Lattenzaun eingefasst, der von Rosenbüschen bewachsen war. Im Garten selbst standen Bistrotische und Stühle. Einer der Tische war mit drei Personen besetzt. Ein Mann und zwei Frauen; eine davon sprang auf, als sie unser Taxi erblickte. Sie hatte lange kastanienbraune Locken, durchsetzt mit einigen silbergrauen Strähnen. Wieder einmal hatte Josie ihr Äußeres völlig verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Das Blau ihrer Augen strahlte uns entgegen, genau wie ihr Lächeln. Und daran erkannte ich sie auch.

„Kinder, da seid ihr ja endlich!“ Sie breitete die Arme aus, der weite Rock ihres bodenlangen türkisfarbenen Seidenkleides flatterte im Wind und legte ihre nackten Füße frei. Helen und Anna wussten nicht, wo sie nach dem Aussteigen zuerst hinsehen sollten. Auf das hübsche Häuschen, den unglaublich blauen Himmel oder die schöne Hippiefrau Ende Vierzig, die mich gerade liebevoll in die Arme schloss. Ich genoss ihre Umarmung eine Weile, dann löste ich mich von ihr.

„Schön, dass du da bist“, sagte sie und küsste mich auf die Stirn. Für einen Moment fühlte ich mich wieder wie ein Kind.

„So, und ihr seid Helen und Anna, richtig?“, wendete sie sich an die Mädchen. Beide nickten und Anna sagte frei heraus: „Sie sind sehr hübsch!“ Ihr bewundernder Blick bestätigte, dass sie es auch so meinte.

„Danke, Anna. Du aber auch. Du siehst deinem Vater sehr ähnlich. Und sag doch bitte du und Josie zu mir. Das tun hier alle. Und schließlich gehöre ich ja fast-“

Ich schluckte noch einmal schnell, bevor ich dazwischenfuhr: „Schließlich bist du ja eine sehr gute Freundin von mir, nicht wahr?“ Ich sah sie eindringlich an, und sie hob fragend die Augenbrauen. Ich hoffte, meine telepathischen Wellen funktionierten gut genug. Mir war klar, dass diese seltsame Situation ein Gespräch unter vier Augen nach sich ziehen würde, doch da musste ich durch.

„Sie… äh, ich meine, du kanntest unseren Vater?“, fragte Helen.

„Ja. Und eure Mutter auch. Du bist Helga übrigens wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Helen lächelte. „Danke. Das fasse ich als Kompliment auf. Meine Mutter war sehr schön.“

„Ja, das war sie. Ein Engel.“

Plötzlich wurde es seltsam still, bis uns ein männliches Räuspern wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. „Josie, ich störe ja nur ungern, aber wo sollen denn die Koffer von den jungen Damen hin?“ Der Taxifahrer lehnte am Auto, da bemerkte Josie ihn erst.

„Jan! Es tut mir wirklich leid, dass wir dich einfach so haben stehen lassen. Die Mädchen bekommen die Dachwohnung.“

Zu fünft machten wir uns am Kofferraum zu schaffen und schleppten dann sämtliches Gepäck an dem älteren Ehepaar vorbei, das noch an dem Bistrotisch saß, ins Haus. Wir mussten eine ziemlich steile Holztreppe hinauf, um in unsere kleine Wohnung zu kommen, doch ihr Anblick war die Mühe wert. Wir landeten sofort im ersten kleinen Zimmer, das fast völlig von einem großen Himmelbett aus Holz eingenommen wurde. Zusätzlich passten bloß noch eine kleine Kommode, zwei Nachtschränkchen und eine Stehlampe hinein. Alles war in verschiedenen Blautönen gehalten, bis auf die Wände. Die waren ganz schlicht weiß.

„Oh mein Gott!“, entfuhr es Helen. Sie hatte es genau getroffen. Es war himmlisch. Genau wie der Rest. Die Wand zum nächsten Zimmer war entfernt worden, und die Decke wurde an zwei Stellen von zwei schwarz gestrichenen Holzbalken gestützt. Dieses zweite Zimmer enthielt eine Kochnische mit zwei Platten, ein Spülbecken und einen kleinen Kühlschrank. Auf der gegenüberliegenden Seite dieser Wand stand ein großer blauer Kleiderschrank aus Holz, mit hübschen Verzierungen. Er passte genau zu der Einrichtung aus dem Schlafzimmer. Zusätzlich gab es noch eine kleine Essecke und ein schmales Regal, das fast bis zum Zerbersten mit Büchern gefüllt war.

„Es ist wunderschön hier!“ Anna ließ ihr Gepäck fallen, wo sie gerade stand und lief zum Fenster. „Man kann von hier aus das Meer sehen! Und den Hafen!“

„Von dem Fenster hier auch“, sagte Helen. Sie stand an der Spüle und schaute nach draußen.

Jan kam als letzter ins Zimmer und stellte die Koffer zu den anderen. Erschöpft wischte er sich die Stirn mit einem Stofftaschentuch ab. „So, denn will ich mal losfahren“, schnaufte er. „Einen wunderschönen Urlaub wünsche ich den Damen.“ Er wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, da hielt Josie ihn am Unterarm zurück. Jan wurde rot und musste sein Taschentuch ein weiteres Mal hervorholen. Anna kicherte hinter vorgehaltener Hand. Auch ich musste ein bisschen grinsen. Davon ließen sich die beiden allerdings kaum beeindrucken.

„Was müssen wir denn für die Fahrt bezahlen, Jan?“, fragte Josie.

Jan winkte ab. „Ach, lass mal, Josie. Gib mir einfach das nächste Mal ein Bier aus, dann sind wir quitt. Hab ich ja gern gemacht.“ Dann verschwand Josies Verehrer letztlich doch noch.

Josie drehte sich mit einem Ruck zu uns herum. „So, meine Hübschen. Das ist euer Reich. Ich hoffe, es gefällt euch.“

„Es ist wunderschön, wirklich!“, sagte ich.

„Ein bisschen klein für drei, aber sonst ist es toll“, ergänzte Helen. Ich strafte sie mit einem tadelnden Blick, da sagte Josie: „Ach entschuldigt! Ihr habt das dritte Zimmer ja noch gar nicht gesehen!“ Sie ging zielstrebig zu einer Holztür, zu der drei schmale Stufen hinaufführten. „Das ist die Dachkammer, sie gehört noch zu dieser Wohnung. Der Boden ist etwas höher gelegen als der der anderen beiden Zimmer. Stoßt euch bitte nicht den Kopf, die Decke ist daher ziemlich niedrig.“ Josie ging uns voran und führte uns in den länglichen schmalen Raum, in dem sich noch eine Klappcouch, ein Fernseher und ein uralter Holzofen mit Kamin befanden. Dieser Raum war dunkler als die anderen beiden, das machte ihn aber nicht weniger gemütlich.

„Also, das einzige, was in der Dachwohnung fehlt, ist das Bad. Für die Toilette und zum Duschen müsstet ihr dann schon in meine Wohnung kommen, wenn es euch nichts ausmacht.“

Wir drei waren sprachlos. Wir konnten unser Glück immer noch nicht fassen und sahen uns weiterhin erstaunt im Zimmer um.

„Gut, ich lasse euch dann erst mal alleine, damit ihr euch häuslich einrichten könnt. Ich kümmere mich so lange ums Abendessen. Kommt einfach runter, wenn ihr Hunger habt.“ Josie kehrte sich schon zum Gehen um, da flog Anna ihr überraschend um den Hals.

„Danke!“, sagte sie mit geschlossenen Augen. Sie sprach damit genau das aus, was wir alle fühlten.

„Gern geschehen“, sagte Josie. Verschwörerisch blinzelte sie mir zu.

 

Die Bettenverteilung war schnell geklärt. Anna und ich entschieden uns für das Himmelbett, weil niemand von uns beiden mit Helen in einem Bett schlafen wollte. Sie hatte nämlich so ziemlich alle unangenehmen Angewohnheiten, die man als Schlafender haben kann. Sie knirschte mit den Zähnen, wälzte sich herum, machte sich breit, trat und schlug um sich, sie redete im Schlaf und manchmal sang sie sogar. Und das klang schon furchtbar, wenn sie wach war. Wenn sie schlief, hatte es etwas Unheimliches. Weder Anna noch ich hatten besondere Lust, während unseres Urlaubes einen Exorzisten bestellen zu müssen.

Helen war glücklich mit unserer Entscheidung, da sie ein Bett, in diesem Falle die Klappcouch, für sich allein hatte. So brauchte sie sich keine Gedanken machen, dass sie eine ihrer Schwestern im Schlaf aus dem Bett kickte.

Mit viel Diplomatie und meinem Organisationstalent schafften wir es tatsächlich, all unsere Klamotten in den Kleiderschrank zu verfrachten. Bis auf unsere Handtücher und Kulturbeutel. Die legten wir oben auf dem Schrank ab.

Nach dieser Einrichtungsaktion meldete sich hauptsächlich bei Helen und mir die Müdigkeit. Wir öffneten alle drei Fenster weit und legten uns in unsere Betten. Anna nahm sich eines der Bücher aus dem Regal und machte es sich ebenfalls auf ihrer Seite des Bettes bequem. Ich war wirklich total erschöpft. Das letzte, was ich hörte, war das Kreischen einer Möwe, ganz nah an einem der Fenster, dann glitt ich in einen kurzen aber tiefen Schlaf.

Im Traum befand ich mich wieder im Zug, Helen und Anna waren auch dabei. Aber nicht nur die beiden, zusätzlich war der Zug noch überfüllt mit Kindern, sie saßen nicht nur auf Plätzen und standen im Gang, sie drängelten sich auch auf der Gepäckablage unter der Waggondecke. Die Kinder waren ungewöhnlich still, sie sagten nichts, sondern starrten mich einfach nur an. Der Zug rauschte unbeirrt weiter.

„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Helen. Sie blickte aus dem Fenster, aber da war nichts zu sehen. Gar nichts. Keine Landschaft, keine Häuser, keine Bäume – nichts. Nur grau.

„Einfach geradeaus“, gab ich zur Antwort.

Der Schaffner drängelte sich durch die Unmengen von Kindern hindurch in unsere Richtung.

„Ihren Arbeitsvertrag, bitte!“, sagte er unfreundlich, als er genau vor mir stand. Aufgeregt wühlte ich in sämtlichen Taschen, irgendwo musste dieser blöde Vertrag doch sein.

„Ohne gültigen Arbeitsvertrag dürfen Sie nicht weiterfahren. Ich muss Sie bitten, auszusteigen.“ Er drängelte die Mädchen und mich zur Tür. Wir wehrten uns mit Händen und Füßen, doch nichts half.

„Du hast uns belogen!“, schrie Anna. „Du hast deinen Job verloren und nun keinen gültigen Arbeitsvertrag mehr! Er wird uns bei voller Fahrt aus dem Zug werfen!“

Der Schaffner hatte die Türe schon geöffnet. Der Zug ratterte auf den Schienen und das graue Nichts lag genau vor uns. Das Rattern vermischte sich mit einem seltsamen Brummen, das aus dem Waggon kam, in dem wir gesessen hatten. Es kam von den vielen Kindern, sie brummten, knurrten, was auch immer. Einhellig. Immer näher kamen sie, der Platz wurde geringer. Wir drohten aus dem Zug zu fallen. Ich schlug die Augen auf.

Vor mir auf dem Kopfkissen lag ein felliges buntes Wesen und berührte mit seiner Nase fast die meine. Das Wesen war eine ziemlich dicke Katze und schnurrte so laut, dass das Kopfkissen leicht vibrierte. Ich richtete mich auf und rieb meine Augen. Annas Bettseite war leer, lediglich ein pinkfarbenes aufgeschlagenes Buch lag auf der Bettdecke. Bis auf das Schnurren der dicken Katze war innerhalb des Zimmers nichts zu hören.

Nachdem ich mich ausgiebig gestreckt hatte, stand ich auf und sah in der Dachkammer nach. Helens Bett war ebenfalls leer. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es fast halb sechs war. Ich öffnete die angelehnte Türe zum Treppenhaus. Von unten herauf hörte ich Stimmen, dazwischen fröhliches Lachen. Und Musik. Ich drehte mich zu der Katze herum und fragte: „Wer bist du eigentlich?“

Sie gab mir keine Antwort. Stattdessen gähnte sie einmal herzhaft und drehte sich auf den Rücken. Ihr Blick galt immer noch mir und sagte so viel aus wie: Ich bin süß. Du musst mich streicheln.

Ich grinste und setzte mich neben sie. Sie hielt mir ihren dicken Wanst entgegen und ließ ihn sich kraulen. Wenn das überhaupt noch möglich war, schnurrte sie noch lauter als vorher. Ich musste fast lachen. „Komm, gehen wir zwei mal nachsehen, was da unten los ist.“ Ich nahm die kleine Dickmadame auf den Arm, wo sie sich sofort gemütlich über meine Schulter legte und unbeirrt weiter schnurrte.

„Na, du bist ja wirklich die Gemütlichkeit in Person! Ein bisschen von deiner Gelassenheit würde mir wirklich guttun.“

Die Wohnungstüre stand einen Spalt offen, jetzt wusste ich auch, wie die Mieze bis auf mein Kopfkissen gelangt war. Nachdem ich es die steile Treppe mit den zusätzlichen geschätzten acht Kilogramm Lebendgewicht heruntergeschafft hatte, ohne uns beide ernsthaft zu verletzen, hatte ich die Auswahl zwischen drei Türen. Die direkt vor mir war die Haustüre, nach links führte eine, auf der ein goldenes Metallschild mit der Aufschrift Privat prangte. Die dritte Tür lag rechts von mir. Sie war angelehnt und aus dem Raum, in den sie führte, drangen die Geräusche, die ich schon oben gehört hatte. Aus der Stereoanlage sang eine Band von kalifornischen Träumen, als ich die Türe aufdrückte.

Ich stand in einer Flower-Power-Kneipe. Eine dunkle Spelunke, aufgepeppt mit Vorhängen, Tüchern, Lavalampen, Fadenvorhängen und unechten Sonnenblumen. In der Ecke an der Terrassentür saßen Josie, Helen und Anna auf einer pinken Samtcouch und tranken Tee. Tee? Den tranken die Mädchen sonst nur, wenn sie krank waren. Hatte ich was verpasst?

Die drei hatten mich noch nicht bemerkt und lachten unbeirrt weiter.

„Der steht auf dich, Josie. Das sieht doch ein Blinder!“, sagte Helen gerade. Vergnügt wischte sie sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

„Ach, sicher nicht. Ihr irrt euch. Jan ist ein netter Kerl. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. Der Mann ist verheiratet und hat erwachsene Kinder. Außerdem ist er gar nicht mein Typ.“

Die überraschende Vertrautheit der drei versetzte mir einen kleinen Stich. Sie saßen da, als würden sie sich schon ewig kennen. Ich fragte mich, was Josie Helen und Anna alles schon erzählt hatte.

„Wie sieht denn dein Typ aus?“, fragte Helen.

„Jedenfalls nicht gewöhnlich. Er sollte schon etwas besonderes sein.“

Ich räusperte mich und kam auf den Tisch zu. Josie war die erste, die mich bemerkte. „Sunny, Schatz! Hast du gut geschlafen?“

„Ja, danke.“ Ich setzte mich auf den roten Samtsessel gegenüber der Couch. Die Katze setzte ich auf meinen Schoß, wo sie unbeirrt weiterschlief.

„Wie ich sehe, hast du Gaya schon kennengelernt.“

„Die ist aber süß!“ Anna streichelte sie gleich. Helen schaute sie nur skeptisch an.

„Sie hat es sich auf meinem Kopfkissen bequem gemacht, während ich schlief.“

„Ich hoffe, sie hat dich nicht gestört. Wenn sie euch nervt, solltet ihr in Zukunft die Wohnungstüre oben gut verschlossen halten. Sonst habt ihr sie ständig im Bett.“

„Ist das deine Katze?“, fragte Anna.

„Ich denke nicht, dass man ein Lebewesen sein Eigen nennen kann. Ich bezeichne sie eher als meine Mitbewohnerin. Sie stand vor ein paar Jahren vor meiner Tür und wollte rein. Es scheint ihr bei mir zu gefallen, weil sie nie wieder gegangen ist.“

„Kann ich auch einen Tee bekommen?“, fragte ich.

„Natürlich! Entschuldige bitte.“ Josie sprang auf und ging hinter die Theke. Helen beugte sich zu mir herüber. „Sie hat geflochtene Zöpfchen in den Haaren! Mit Glöckchen!“, flüsterte sie mit einem Grinsen.

Josie kam zurück, mit einer weiteren Tasse in der Hand. Sie reichte sie mir. Ich griff nach der Teekanne, die auf einem Stövchen stand und goss mir etwas ein.

„Hmm, der riecht gut. Was ist das für einer?“

„Mate-Tee. Vor vielen Jahren habe ich mich für einige Zeit in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aufgehalten. Dort habe ich den Tee kennen- und lieben gelernt, seitdem trinke ich jeden Tag eine Kanne davon.“

„Du warst in Lateinamerika? Wo da?“ Helens Augen leuchteten. Ich wusste gar nicht, dass sie sich für andere Länder interessierte.

„Oh, mal hier und mal da. Mexiko hauptsächlich.“ Josie trank an ihrem Tee, um meinem Blick auszuweichen. Es schien, als wüsste sie nicht, was sie erzählen durfte und was nicht.

„Hast du Fotos von damals?“, fragte Helen.

„Ja, sicher. Aber die müsste ich erst suchen. Ein andermal zeige ich sie dir gerne. Wollt ihr nicht erst mal was essen, bevor ich in einer halben Stunde die Kneipe wieder öffne?“

Ich sah mich noch einmal im Raum um, und Anna sagte: „Hunger hätte ich schon. Was gibt es denn?“

„Spaghetti mit kalter Tomatensoße. Sunny, wärst du bitte so lieb, mir eben kurz in der Küche zu helfen?“, fragte Josie.

„Oh, ja sicher.“ Ich hob Gaya vorsichtig von meinem Schoß und gab sie Anna, die die Streicheleinheiten gleich nahtlos weiterführte. Josie stand von ihrem Platz auf und ich folgte ihr in die Küche, die sich hinter der mit Privat ausgeschilderten Tür befand.

„Was soll ich tun? Irgendwas schneiden? Wasser aufsetzen?“, fragte ich, als Josie sich am Schrank zu schaffen machte und einen großen Topf hervorholte.

„Nein, es fehlen nur noch die Nudeln, die Soße ist schon fertig und steht im Kühlschrank.“

„Okay. Wie kann ich dir sonst helfen?“

Josie drehte sich zu mir herum.

„Setz dich bitte“, sagte sie und deutete auf einen der Küchenstühle. Ich tat es und ahnte schon, was kommen würde.

Josie seufzte, bevor sie sprach. „Du hast Helen und Anna nicht alles über mich erzählt, oder?“

„Nein. Sie wissen nicht mal, dass Görnbeek mein Geburtsort ist.“ Ich senkte den Kopf.

„Na, fantastisch! Meinst du nicht, du hättest mich vorwarnen können? Obwohl ich es ja schon unsinnig genug finde, dass du ihnen nichts erzählt hast. Aber warum? Was ist so schlimm daran?“ Sie drehte sich wieder um, um Wasser in den Topf laufen zu lassen.

„Es tut mir leid.“

Josie sagte nichts weiter. Sie stellte den mit Wasser gefüllten Topf auf den Herd, streute Salz hinein und rührte gedankenverloren darin herum. „Du hast am Telefon gesagt, es gäbe Probleme zu Hause. Welche genau sind das denn?“ Sie legte noch den Deckel auf den Topf und drehte sich wieder zu mir herum. Der Traum von vorhin holte mich ein und ich bekam eine Gänsehaut.

„Ab Ende des Jahres werde ich arbeitslos sein. Und ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.“ Mir kamen zum ersten Mal, seit mir diese Tatsache bewusst war, die Tränen. Wahrscheinlich bewirkte das Josies Anwesenheit. Sie hatte etwas an sich, das mich nicht zwang, die Beherrschung behalten zu müssen oder das Gefühl zu haben, immer stark sein zu müssen für die Mädchen.

„Ach Sunny, mein Engel!“ Sie kam auf mich zu und drückte mich. In diesem Moment vermisste ich meine Mama so sehr. Es war alles so schwer. Ich schluchzte Rotz und Wasser und ließ mich von Josie trösten.

„Es geht immer irgendwie weiter, glaub mir. Manche Dinge, mögen sie noch so schlimm erscheinen, müssen manchmal geschehen, damit man einen neuen, besseren Weg einschlagen kann. Nichts geschieht ohne Grund.“ Sie löste sich von mir um mir ein Taschentuch zu reichen. Ich schnäuzte mir die Nase und wischte die Tränen von Augen und Wangen. Ihren esoterischen Vortrag, den sie mir eben gehalten hatte, nahm ich nicht ernst, aber es half trotzdem ein bisschen.

„Du erholst dich hier erst mal ein paar Wochen. Die Mädchen auch. Ich gehe davon aus, dass sie von deinem Job-Problem auch nichts wissen?“

Ich nickte.

Josie küsste mich mit einem Lächeln auf die Stirn. „Der richtige Zeitpunkt wird sich ergeben. Sie werden es verstehen.“

Das Wasser im Topf begann zu kochen und Josie wendete sich wieder dem Herd zu. „Eins muss ich jetzt aber noch wissen: wenn wir jetzt wieder rübergehen, spiele ich da weiterhin lediglich eine gute Freundin von dir oder darf ich doch wieder die beste Freundin deiner Eltern sein, die über Jahre mit in eurem Haushalt gewohnt hat?“

Samstag, 18.59 Uhr

 

Chatraum: cjsgirl, stylaprinzess

showglamour betritt den Raum

showglamour: hallo, ia süßen!

cjsgirl: hey, kevin

stylaprinzess: hi Kevin

showglamour: endlich ist mal jemand hia! ich muss doch wissen, ob ia schon die news gehört habt

cjsgirl: kommt drauf an, was du meinst

showglamour: wieso, was weißt DU denn, hase?

stylaprinzess: Johnny verlässt die eislauf-crew!!!

cjsgirl: ach menno, das wollt ich doch sagen! *schmoll*

briansfairy betritt den Raum

showglamour: ist nicht wa! wieso? weshalb? warum?

briansfairy: Wer nicht fragt, bleibt dumm! *lol*

cjsgirl: wegen seiner freundin. die is schwanger. er geht zurück nach frankreich, um in ihrer nähe zu sein

briansfairy: Ach, ihr redet über Johnny? Bei dem war ich bis eben noch. Ich hab die Info also aus erster Hand von ihm.

stylaprinzess: was sind denn deine news, Kevin?

showglamour: dea chefkoch vom Hot and Spicy heiratet nächste woche!

briansfairy: Wayne interessiert‘s?

briansfairy verlässt den Raum

Kapitel Vier

 

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das erste Mal war, an dem Josie und ich uns begegnet sind. Aber sicherlich war das kurz nach meiner Geburt.

Laut Erzählungen meiner Eltern haben sie hier im Mai 1984 ihren Urlaub verbracht, die Strandrose wurde damals noch von Josies Eltern geführt. Josie war die Brieffreundin meiner Mutter, schon seit der Grundschulzeit. Meine Mutter war zum Zeitpunkt des Besuches hochschwanger, und so kam es, dass ich ein klein wenig zu früh in Görnbeek geboren wurde. Den Ort hatte ich seither nie wieder gesehen.

Josie jedoch wurde ab meiner Geburt ein Teil meines Lebens. Sie war wohl nie gut mit ihren Eltern ausgekommen und fuhr nach einem furchtbaren Streit mit ihnen einfach mit meinen Eltern nach deren Urlaub zurück in die Eifel, um fortan bei ihnen zu wohnen. Eine junge, quirlige Frau, noch halb ein Kind. Sie hat in dem Zimmer gelebt, das später meines wurde. Warum Josie bei uns wohnte, wusste ich nicht. Aber es interessierte mich auch nicht. Es hat auch keinen Grund für mich als Kind gegeben, danach zu fragen. Die drei Erwachsenen verstanden sich gut, es gab keinerlei Streitereien. Zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Josie war lange Zeit so etwas wie meine ältere Schwester gewesen. Sie war es, die zum Babysitting blieb, wenn meine Eltern ausgingen. Sie war es auch, die mit Chrissie und mir unser erstes Konzert besuchte. Zu einer Boygroup, die meine beste Freundin und ich so toll fanden. Wir waren erst elf Jahre alt, wir hätten niemals allein gehen dürfen. Josie hatte sich bereit erklärt, uns zu begleiten, obwohl sie die Jungs furchtbar oberflächlich fand. Ich liebte sie dafür, dass sie dieses große Opfer für uns brachte.

Zwei Jahre danach ging es noch gut, bis sich zwei Ereignisse kreuzten. Josie verliebte sich Hals über Kopf in einen Straßenmusiker, und meine Mutter wurde schwanger mit Helen. Josie verließ mit dem jungen Mann unser Haus und mein Leben.

Ich vermisste sie furchtbar. Ab und an kam ein Anruf oder eine Postkarte von ihr, aber das wurde immer weniger.

Je näher Helens Geburt rückte, desto mehr freute ich mich auf meine kleine Schwester. Meine Gedanken an Josie rückten in den Hintergrund. Als Helen dann endlich da war, waren meine Eltern und ich die glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt. Wir schenkten der kleinen Maus alle Liebe und ich konnte all die große-Schwester-Erfahrungen mit Josie an Helen weitergeben.

Weitere drei Jahre später wurde Anna geboren. Von Josie hatten wir schon lange nichts mehr gehört. Sie wurde auch in unserer Familie nicht mehr erwähnt, was sicherlich keine Absicht war. Ich dachte noch hin und wieder an sie, sah aber keinen Grund darin, meinen kleinen Schwestern von ihr zu erzählen. Und so war es bis zu unserem Urlaub geblieben.

„Findest du es denn wichtig, dass sie es wissen?“, fragte ich.

Josie drückte mir die große Schüssel mit der kalten Tomatensoße in die Hand. Sie selbst nahm den Topf mit Spaghetti. „Ist es dir denn wichtig, dass sie es nicht wissen?“

„Nein, das nicht. Aber sie fragen mich sicher, warum ich ihnen nie etwas davon erzählt habe.“

Josie sah mich mit großen Augen an. „Weißt du, das frage ich mich auch. Spätestens, als du die Idee mit dem Urlaub hattest, hättest du sie aufklären müssen, wer die Person ist, zu der sie fahren. Und auch, dass du hier geboren bist.“ Josie stieß die Küchentüre, ihre Wohnungstüre und zum Schluss die Türe zur Kneipe auf. Ich folgte ihr. Unser Problem blieb ungeklärt.

In der Kneipe stand Anna auf der Couch und tanzte mit Gaya auf dem Arm. Zum Glück gehörte diese Katze Josie und war somit verrückte Weiber gewohnt.

Helen stand hinter der Theke und studierte ein Plattencover. Ja, tatsächlich. Ein Plattencover. Die Musik, ein Song über ein Gebet um ein besonderes Auto, kam wahrhaftig von einer Schallplatte, nicht von einer CD.

„Die Musik ist cool!“, rief Anna in die Lautstärke. „Ich habe noch nie eine so krasse Frauenstimme gehört.“

Josie stellte den Topf auf dem Tisch ab. „Das ist meine Lieblingssängerin. Und diese Stimme hat sie sich durch hartnäckigen Alkohol- und Zigarettenkonsum erarbeitet.“

„Ich hoffe, das nehmt ihr Mädels euch nicht zum Vorbild, auf diese Weise hat sie es nämlich auch geschafft, mit Ende zwanzig zu sterben.“ Ich tat es Josie mit meiner Schüssel Tomatensoße gleich.

„Upps!“, sagte Anna und hüpfte von der Couch. „Hmm, das duftet aber gut!“ Anna hing ihre Nase über die Schüssel und ließ fast die Katze hineinfallen. Die schien jetzt doch langsam die Nase voll zu haben und sprang von Annas Arm auf die Couch.

„Anna, bist du so lieb und holst noch Teller und Besteck aus der Küche?“ Josie stellte die Teekanne und die Tassen auf die Theke.

„Kann ich Getränke einschütten?“, fragte Helen.

„Ja, sicher. Sunny, möchtest du auch einen Wein zum Essen?“

„Nein danke, ich trinke keinen Alkohol.“

Josie staunte nicht schlecht. „Gar nicht? Nicht mal ein Glas Sekt?“

Ich schüttelte den Kopf.

Helen grinste. „Sunny trinkt echt nie. Sie hat bestimmt Angst, so zu enden wie deine Lieblingssängerin. Oder noch schlimmer: Sie könnte sich amüsieren!“

„Ich kann mich sehr wohl amüsieren! Und zwar ohne Alkohol.“

„Ach ja? Wann? Wenn du vor dem Fernseher sitzt? Oder einkaufen gehst?“

„Helen, jetzt wirst du unfair, und das weißt du!“ Ich nahm die drei Gläser Cola vom Tresen und stellte sie auf den Tisch.

„Josie, welchen Wein möchtest du?“, fragte Helen.

„Im Kühlschrank steht noch eine offene Flasche. Die kannst du mir geben.“

Anna kam jetzt auch mit den Tellern und dem Besteck zurück. Als wir alle um den Tisch herum saßen, sagte ich kein Wort. Helens Worte hatten mich verletzt. Die letzten neun Jahre war ich damit beschäftigt gewesen, für meine kleinen Schwestern mehr Mutter als Schwester zu sein. Dazu noch alleinerziehend. Es gab niemanden, dem ich die Kinder hätte anvertrauen können, um auszugehen. Gut, es gab noch Chrissie. Aber sie war die Person, mit der ich ausgegangen wäre.

Wie aufs Stichwort klingelte mein Handy.

„Susanne Dahlke, hast du sie eigentlich noch alle?“, begrüßte sie mich freundlich.

„Hallo Chrissie, ich hab dich auch lieb!“, erwiderte ich bloß und ließ mir von Josie Nudeln auf den Teller häufen.

„Du hast diesem Schnösel meine Nummer gegeben!“

„Dieser Schnösel war sehr nett. Er hatte eine Belohnung verdient.“

„Belohnung? Bin ich jetzt ein Bonus oder was?“

„Hör mal, Süße, der arme Kerl betet dich an und du lässt ihn so einfach abblitzen. Das hat er nicht verdient.“

„Aber ich habe ihn schon verdient oder was?“

„Chrissie, tu doch nicht so, als würde er dir nicht auch gefallen. Dich regt doch nur auf, dass ich das getan habe, ohne dich zu fragen.“

Ich hörte nur noch einen Seufzer am anderen Ende.

„Habe ich Recht?“

„Du bist doof!“

„Vielen Dank.“ Ich hielt Josie den Teller hin und ließ mir auch Soße über die Nudeln geben. „Und warum rufst du jetzt eigentlich an?“, fragte ich weiter.

„Ich gehe heute Abend mit ihm essen. Er hat mich eingeladen.“

Na bitte, das klang doch schon viel besser. „Sei lieb zu ihm, Chrissie. Nicht alle Männer sind böse.“

„Du musst es ja wissen.“

Darauf antwortete ich nichts.

„Tut mir leid, war nicht so gemeint.“

„Schon gut. Ich muss jetzt auch Schluss machen, wir sind gerade beim Essen.“

„Schön. Grüß die Chaos-Schwestern von mir. Und Josie auch.“

„Mach ich. Ich wünsche dir einen schönen Abend mit Robert. Tschöö!“

Ich steckte mein Handy wieder in die Hosentasche und machte mich über meinen Teller her. Ich hatte wirklich Kohldampf. Die Seeluft zeigte schon ihre Wirkung. Die Mädchen waren ziemlich still, was nur heißen konnte, dass es ihnen ebenfalls schmeckte.

„Chrissie?“, fragte Josie.

Ich nickte. „Ich soll euch alle grüßen.“

„Hat der Schmalzlockenadler sie schon angerufen?“, fragte Helen.

„Ja, sie gehen heute Abend essen.“

„Gibt es einen neuen Mann in Chrissie Leben?“, fragte Josie.

„Ja, so zirka den tausendsten.“ Anna verdrehte die Augen.

„Gleichzeitig, wohlgemerkt“, fügte Helen hinzu.

Josie lächelte. „Gibt es denn auch Männer im Leben der Dahlke-Schwestern?“

„Nur Anna hat einen Freund“, antwortete ich. Dann sah ich Helen an, die sich die zweite Portion auf den Teller lud. „Stimmt doch, oder?“

„Ja, die Diskussion hatten wir doch gestern erst.“ Sie sah mich ganz seltsam an.

„Ist ja gut. Hätte ja sein können.“

„Und in deinem Leben gibt es niemanden?“ Josie sah mich an. Sie war fertig mit Essen, lehnte sich auf der Couch zurück und trank an ihrem Wein. Ich schüttelte den Kopf und aß weiter.

„Keinen einzigen Kerl?“

„Nein.“

„Auch keine Frau?“

„Josie!“ Ich ließ die Gabel sinken und sah sie an. Sie zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Wäre doch möglich.“

Anna kicherte.

„Ich habe keine Zeit für einen Freund“, sagte ich.

„Du lügst!“, sagte Helen.

„Ach, findest du? Ich habe einen Haushalt, einen Job und zwei Kinder zu versorgen.“

Nun war es Anna, die mich böse ansah. „Also, so klein sind wir auch nicht mehr, dass du uns nicht mal ein paar Stunden allein lassen könntest.“

„Oder eine Nacht“, sagte Helen.

Ich schüttelte den Kopf. Da war ich ganz anderer Meinung.

„Sie haben Recht“, sagte Josie. Ihr Glas war leer, sie füllte es sich wieder bis oben hin voll.

„Nein, nein, nein. Du hast ja keine Ahnung! Vorletzten Winter hätten sie mir fast das Haus abgefackelt. Und da bin ich nur eine Stunde weggewesen, um… um Weihnachtseinkäufe zu erledigen.“ Den wahren Grund für meine Abwesenheit - das dubiose Date mit dem haarigen Georg - kannten die Mädchen bis heute nicht.

Helen sank kleinlaut auf ihrem Platz zusammen. Sie wusste genau, worauf ich hinauswollte.

„Sie hat in dem Versuch, ein Paar Taschenwärmer in ihren Urzustand zurückzukochen sie stattdessen in einen Haufen verkohlte, giftige Masse verwandelt. Zum Glück kam ich nach Hause, bevor Schlimmeres passieren konnte.“

„Zum Glück ist ja nichts passiert.“ Josie stand auf und stapelte die schmutzigen Teller übereinander.

Ich sah sie mit großen Augen an. „Ja, aber es hätte etwas passieren können.“

„Hätte. Ist aber nicht.“ Josie klang gelassen. „Du warst ja früh genug da und hast es gemerkt.“

„Josie, das war Zufall!“

„Nein, das war kein Zufall. Dein Bauchgefühl hat gesagt, dass es Zeit wird, nach Hause zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen.“

„Eigentlich war es weniger mein Bauchgefühl, das mich nach Hause schickte.“

„Was auch immer dich veranlasst hat, nach Hause zu gehen, das Universum war dafür verantwortlich.“

Darauf wusste ich nichts mehr zu sagen. Die innere esoterische Josie hatte sich gerade der äußeren esoterischen Josie angepasst.

Anna blickte zwischen Josie und mir hin und her, schien die Situation zu begreifen und nahm Josie die Teller aus der Hand. „Ich mach das schon“, murmelte sie.

„Josie, ich bin nach Hause gegangen, weil man diese Mädchen nun mal nicht für lange allein lassen kann, ohne dass eine Katastrophe passiert. Und da kann auch dein Universum nichts dran ändern.“

Helen schien diese Diskussion genau wie Anna unangenehm zu werden. Sie räumte die Gläser weg und trug danach Topf und Schüssel in die Küche.

„Es wird wirklich Zeit, dass du etwas gelassener wirst. Helen und Anna leben noch. Es ist nichts passiert.“

„Ja, weil ich immer für sie da war und aufgepasst habe.“

Josie öffnete die Terrassentür und trat in den Vorgarten.

„Und dich selbst hast du dabei völlig vernachlässigt.“

Ich seufzte. Konnte oder wollte sie nicht verstehen?

Ein schrilles Scheppern drang aus der Küche zu uns herüber.

„Was war das?“ Josie ließ alles stehen und liegen, um dem Krach nachzulaufen. Ich stöhnte und schlug mir die Hand vor die Stirn. Ich konnte das Chaos schon vor meinem inneren Auge sehen und folgte Josie.

Anna saß auf dem Hintern auf dem Küchenboden, zwischen ihren angewinkelten Beinen ein Haufen schmutziger Porzellan-Scherben, die ein paar Sekunden zuvor noch Teller gewesen waren. Annas Blick war unbezahlbar. Eine Mischung aus völliger Verwirrung, schlechtem Gewissen und Schmerz. Eine Spaghetti lag wie eine neumodische Kette auf ihrem Dekolleté drapiert.

„Schatz, ist dir was passiert?“ Josie hockte sich zu ihr auf den Boden. Anna schüttelte den Kopf. Helen stand genauso verwirrt vor ihr in der Tür, Topf und Schüssel immer noch vor der Brust balancierend. So in etwa hatte ich mir das Ausmaß der Katastrophe vorgestellt. Nur, dass in meiner Version Topf und Schüssel ebenfalls zerstört am Boden gelegen haben.

Helen fand ihre Stimme als Erste wieder. „Warum bist du denn noch mal zurückgekommen, du hohle Nuss?“

„Ich wollte Josie doch nur fragen, ob ich die Teller in die Spülmaschine tun soll.“ Anna pflückte die Nudel von ihrer Brust und legte sie vorsichtig auf den Scherbenhaufen.

„Und dafür musst du die Teller noch mal mitnehmen oder was?“

„Was genau ist denn überhaupt passiert?“, mischte ich mich in das Gespräch ein.

„Sie hat mich umgerannt!“ Anna rappelte sich auf, um die Scherben aufzusammeln.

„Das habe ich nicht! Sie hat nicht aufgepasst und ist in mich hineingelaufen.“

Ich schüttelte den Kopf und setzte mich zu Josie und Anna, um ihnen beim Scherbenaufsammeln zu helfen.

Nachdem wir gemeinsam das Chaos beseitigt hatten, sagte Anna: „Es tut mir leid.“

„Mir auch“, kam es von Helen.

„Ist ja nichts passiert. Sind doch nur Teller.“ Josie schien wirklich nicht böse zu sein. Ich beneidete sie um ihre Ruhe, fragte mich aber, ob sie die auch noch bewahren würde, wenn ihr Haus dank der Chaos-Schwestern in Schutt und Asche zerfiel.

 

Um kurz vor sechs trudelten die ersten Gäste in der Kneipe ein. Auf meine Frage hin, ob sie Hilfe brauchte, verneinte Josie das und schickte uns stattdessen zum Strand, was die Mädchen sehr erfreute. Sie packten Bikinis in ihre Handtaschen und so machten wir uns auf den Weg.

Laut Josies Erklärungen mussten wir erst ein Stückchen den Hafen entlanglaufen und etwa einen Kilometer durch einen kleinen Park, um zum Strand zu gelangen. Allein der Spaziergang dorthin war eine Wohltat.

Im Hafen kamen wir an einem Mini-Restaurant vorbei, das sich Fischerklause nannte. So wie es aussah stand es schon mehrere Jahrzehnte dort, direkt über dem Wasser auf Pfählen gebaut. Ringsum war eine Außenterrasse angebracht, eine Art Balkon über dem Wasser. Aus dem Innern des Restaurants roch es nach Backfisch, und ich war kurz davor, mir einen zu kaufen, bis mir einfiel, dass mein Magen bis zum Platzen mit Spaghetti gefüllt war. Ich beschloss, mir auf dem Rückweg ein Backfischbrötchen zu holen. Helen jedoch ließ sich nicht davon abhalten, am zum Restaurant zugehörigen Außenverkauf ein Eis zu kaufen.

Je weiter wir aus der Stadt Richtung Strand gingen, umso ruhiger wurde es. Nach und nach wurden es weniger Boote, die im Wasser am Steg lagen. Kurz bevor wir in den Park kamen, hörte es ganz auf. Im Park selbst kamen wir an einem Tenniscenter und einem Spielplatz vorbei. Die Mischung aus Meer- und Waldgeruch war einmalig und Balsam für meine Lungen. Die Mädchen liefen ein Stück vor mir, führten eine Unterhaltung über was auch immer. Ich schlenderte gemütlich in einem kleinen Abstand hinter ihnen her und ließ

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Andrea Kochniss
Bildmaterialien: Quelle Bildmaterial: Stefan Schweihofer auf pixabay ; Covergestaltung: Andrea Kochniss
Lektorat: Stefanie Vogel
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2014
ISBN: 978-3-7368-2160-6

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