Das Aroma des Kaffees breitet sich, süßlich durch Zucker und Milch, in meinem Mund aus. Genüsslich schließe ich einen kurzen Moment die Augen. Das ist jetzt genau das Richtige für einen Morgenmuffel wie mich. Als ich meine Augen wieder öffne, fällt mein Blick auf die digitale Anzeige meiner Uhr. Ich verschlucke mich, huste und die Hälfte des Kaffees aus meinem Mund verteilt sich über den Tisch. „Verdammter Mist“, rufe ich aus. Bis jetzt habe ich es erfolgreich verdrängt. Bis zu diesem unglücklichen Moment, in dem mein Blick auf die Datumsanzeige der Uhr fiel: 31.12.2012. Scheiße! Heute ist der schlimmste Tag des Jahres.
„Schatz?“, erklingt es verschlafen hinter mir. „Ist alles in Ordnung?“ Langsam erhebe ich mich von meinem Hocker und drehe mich in Richtung der Stimme. Tom steht in Boxershorts, mit kleinen müden Augen und zu allen Seiten abstehenden Haaren in der Tür unseres Schlafzimmers. Sein Anblick hellt meine Stimmung gleich wieder auf. „Es ist nichts, nur.... heute ist Silvester“, grummele ich. Ein amüsiertes Grinsen zeigt sich auf dem Gesicht meines Freundes. „Ganz genau, Ellie.“ „Nenn mich nicht so“, gifte ich ihn an und wende mich zum Tisch. Genervt verdehe ich die Augen, weil auf diesem Kaffee herumschwimmt. Aus der Spüle fische ich den Lappen und fange an, den Tisch zu säubern, als starke Arme sich um mich schließen. „Ich habe eine Überraschung für dich, Elisa, weil ich ja weiß, wie sehr du Silvester hasst.“ Den Lappen liegen lassend, drehe ich mich um und schmiege mich an Toms warmen Körper. „Ach ja?“, flüstere ich, „Wie willst du mich denn vor diesem Unheil bewahren?“ Er macht einen kleinen Schritt zurück und sieht mir mit einem strahlenden Lächeln in die Augen. „Wir fahren weg“, sagt er, „feiern gemütlich in den Bergen. Nur wir zwei.“ Ungläubig schaue ich ihn an. „Wie jetzt?“ Verwirrung steht mir ins Gesicht geschrieben. „Na, ist doch ganz einfach: Wir machen uns fertig, packen unsere Sachen und fahren los. Ich habe eine kleine Hütte in den Bergen gebucht für heute Nacht, weit weg von den ganzen Silvesterkrachern“, klärt er mich immer noch lächelnd auf. Ich falle ihm um den Hals. „Das hast du für mich gemacht? Oh, Tom... Ich liebe dich.“ sage ich und küsse ihn leidenschaftlich.
Schnell sind die Sachen gepackt und wir abfahrbereit. Während Tom die Reisetasche im Kofferraum verstaut, packe ich unseren Reiseproviant zusammen und schlüpfe dann auf den Beifahrersitz. Kurz darauf folgt mein Freund mir auf der Fahrerseite. „Bereit?“, fragt er an mich gewandt. „Bereit!“ antworte ich ihm strahlend lächelnd.
Ein angenehmes Schweigen erfüllt das Auto, als ich meinen Gedanken nachhänge und er konzentriert fährt. Weg von dem ganzen Trubel und der Feierei, die ich nicht ausstehen kann. Ich meine, was ist denn so toll an lauten Knallern, bei denen einem die Ohren klingeln? Oder an den vielen betrunkenen Leuten, die sich in diesem Zustand Glück für das neue Jahr wünschen, dabei am besten noch wildfremden Menschen?! Ich kapier das nicht... Das ist doch alles nur dumme Heuchelei! Bitte was ändert sich denn im neuen Jahr bei den meisten? Nichts, rein gar nichts!
Nach zwei Stunden Fahrt sichte ich in nicht allzu großer Entfernung die ersten Berge. Aufgeregt wie ein Kind kreische ich: „Schau mal da, Tom! Wie schön...“
„Ja finde ich auch. Aber den beginnenden Schneefall finde ich jetzt gar nicht so toll“, erwidert er mit Blick in den Himmel. Und es stimmt. Tausende Flocken fallen sanft auf unsere Frontscheibe.
Leider hört dieses Schneegetümmel auch nach einer weiteren Stunde nicht auf, sondern wird immer schlimmer.
Tom muss die Fahrt verlangsamen. Gott sei Dank zeigt das Navi nur noch wenige Kilometer an. Wir sind jetzt nämlich schon ziemlich lange in den Bergen unterwegs.
Nach einer weiteren halben Stunde stehen wir vor einer kleinen, verlassenen Holzhütte am Waldrand. Die letzten Meter Fahrt waren sehr mühselig, da sich das Auto einen Hang hinaufkämpfen musste.
Ich steige aus und betrachte die Idylle. Schön ist es hier. Voller Vorfreude laufe ich auf das Haus zu. Kurz vor der Tür rutsche ich aus und lande promt auf meinem Hinterteil. Eine Eisdecke zog sich von der Einfahrt bis zur Haustür. Mist, ich hätte vorsichtiger laufen sollen. Mein Steißein schmerzt höllisch und ich kann kaum aufstehen. Hinter mir ertönt schallendes Gelächter. „Willkommen in unserer Hütte“, prustet Tom lauthals. „Na herzlichen Dank“, sagte ich sarkastisch und fragte ihn dann: „Würde der Herr mir bitte helfen? Das tut verdammt nochmal weh!“
Unter weiterem Gelächter nähert sich Tom mir und schiebt seine Arme unter meine Schultern, um mir aufzuhelfen. Ein kleiner Schmerzensschrei entfährt mir. Oh man, das tut vielleicht weh! Schnell wird die Tür aufgeschlossen und ich werfe ein Blick in die Hütte. Sieht sehr gemütlich aus, stelle ich zufrieden fest. Aus meiner Position sieht man einen großen Wohnraum, den man direkt vom Eingang betritt. Er besteht aus zwei Teilen. Im hinteren Teil ist eine gemütliche holzgearbeitete Küche, die mit einer langen Theke vom Wohnbereich abgetrennt ist. Der Wohnbereich besteht aus einer großen, mit einer Tagesdecke geschmückten Couch, vor der ein kleiner Tisch steht. Von dieser kann man direkt in das Feuer des alt aussehenden Kamins schauen. Außerdem befinden sich an der hinteren Wand noch zwei Türen. Eine davon ist leicht geöffnet und ich kann eine Dusche erkennen. Also vermutlich das Bad. Als ich eintreten will, brennt mein Hintern vor Schmerz und ich stöhne auf. „Na das fängt ja gut an“, ertönt Toms Stimme hinter mir und umfasst meine Hüften. Dann hebt er mich hoch und lässt mich vorsichtig auf die Couch sinken. Seine Hände umfassen zärtlich mein Gesicht und er lächelt mich an. „Ich hoffe, das vermiest uns nicht den Abend.“ Dann gibt er mir einen liebevollen Kuss. „Tja, muss ich mich wohl ein bisschen um dich kümmern“. „Wie schrecklich“, lasse ich verlauten und lümmele mich in die Couch.
Es dämmert bereits, als Tom fertig ist, unsere Sachen vom Auto in das Schlafzimmer zu bugsieren und eine Tüte voll mit Leckereien für den Abend, die ich noch gar nicht bemerkt habe, in den Kühlschrank einzuräumen.
„Was für ein Menü erwartet mich denn?“, frage ich ihn neckisch von meinem Platz auf dem Sofa. „Lass dich überraschen“, erwidert er gelassen und macht sich ans Werk. Ich fische mein Buch aus der Tasche und beginne, darin zu lesen. Im Hintergrund ertönen Geräusche, die sich nach Schnippeln und brutzelndem Fett anhören.
Es ist dunkel, als ich von meinem Buch aufsehe. „Kannst du bitte das Licht anmachen?“, frage ich nach hinten, weil ich immer noch nicht aufstehen kann. Höllischer Hintern, denke ich grimmig. Ein Klicken, dann ein Geräusch, als würde etwas reißen und.... nichts.
Stromausfall. „Na klasse“, sagt Tom entnervt und gesellt sich zu mir. „Den Hauptgang können wir dann wohl vergessen. Immerhin hab ich das Huhn für den Salat fertig gekriegt.“
„Tom, es ist dunkel“, erinnere ich ihn, „wir sehen nichts.“ Ihm entfährt ein Seufzer. „Auch das noch!“ Das bringt mich zum Lachen. „Wie gut, dass du das auch schon mitbekommen hast.“
Er steht auf und kramt in seiner Tasche nach etwas. „Aah, gefunden“, sagt er nach kurzer Zeit und bewegt sich in Richtung Kamin. Er öffnet die Tür und zündet ein Stück Papier an, das er dann hineinwirft. Endlich ist wieder etwas Licht im Raum. „Darf ich dann zu Tisch bitten?“ Mit dieser Frage dreht er sich zu mir. Mit einem Ächzen stelle ich fest, dass mein Hinterteil noch nicht zum Aufstehen bereit ist und sehe ihn entschuldigend an. Er lächelt und begibt sich in die Küchenecke. Mit zwei Tellern voll Salat kehrt er zurück. „Mmmmhhhh...“ entfährt es mir.
Gemütlich sitzen wir da und essen.
Kurze Zeit später räumt Tom den Tisch ab und verschwindet wieder in der Küche. „Da es keinen Hauptgang gibt, gehen wir gleich zum Dessert über. Ich höre ihn erneut werkeln, diesmal kommt er aber schneller wieder. In der einen Hand hält er eine Schale, unter die man ein Teelicht stellen kann. In der anderen eine Schale voll Obst. „Schokofondue“ rufe ich erfreut aus und meine Augen glänzen. Wir füttern uns gegenseitig und genießen unser Zusammensein.
Später liege ich in seinen Armen und wir schauen ins Feuer. Sein Mund nähert sich meinem Ohr und er flüstert: “Was hasst du eigentlich so an Silvester?“ Ich seufzte einmal tief uns sehe zu ihm auf.
„Du weißt, dass mein kleiner Bruder blind ist“, fange ich an. Sein Gesichtsausdruck wird ernst. „Es war eine Mutprobe. Seine Freunde stachelten ihn an und in seinem angetrunkenen Zustand willigte er ein. An Silvester vor drei Jahren zündete er einen Knaller und warf ihn einfach nicht ab. Erst im letzten Moment wollte er ihn loslassen. Dann warf er ihn hoch und es explodierte direkt vor seinen Augen. Sein Gesicht konnten sie gerade so retten. Die Verbrennungen heilten. Das Augenlicht wurde ihm jedoch auf alle Ewigkeit genommen.“ Eine stumme Träne rollt über mein Gesicht. Tom beugt sich näher zu mir heran. „Dann feiern wir heute unsere Zweisamkeit und nichts anderes“, sagt er leise und ich muss ein wenig lächeln. „Danke“, murmele ich und schmiege mich enger an ihn. Bald gleite ich in einen traumlosen Schlaf und spüre nichts als seine Wärme neben mir. An Silvester verschwende ich keinen Gedanken mehr. Das erste Mal seit Jahren beginne ich glücklich das neue Jahr.
Texte: Laura Marquardt
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013
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