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Der Anruf





Mit zitternder Hand griff sie nach ihrem Telefon. Ihre Nägel waren kurz und an manchen Stellen konnte man erkennen, dass sie darauf gekaut hatte. Vehement versuchte sie, dies zu verstecken; durch dunkelroten Nagellack und durch ihre Handschuhe, die sie ständig trug.
Kurz bevor ihre Fingerspitzen das Handy erreichten, zuckten sie zurück und schnellten an den Tischrand. Unterbewusst begann sie, leicht mit ihrer Handfläche auf das Holz zu klopfen. Das war eine typische Geste, die sie immer wieder vollzog, wenn sie versuchte, ihren gesamten Mut zusammenzukratzen. Sie war im Prinzip keine ängstliche Person, doch in letzter Zeit wurde zu oft zu viel Mut von ihr beansprucht.
Die Augen der jungen Frau drückten ihre Unsicherheit aus; sie starrten fest und kompromisslos auf das Telefon. Sie besaßen eine schöne Form, rund und gleichzeitig katzenähnlich; sie waren braun und gleichzeitig hatten sie ein Stich ins Grüne. In letzter Zeit bildeten sich aber anfänglich kleine, feine Fältchen um ihre Augen. Sie raubten ihr ein wenig das Intensive in ihrem Blick.
Plötzlich hörten ihre Finger auf zu klopfen. Ihre Augen durchbohrten das Telefon nun regelrecht und ihre Glieder spannten sich bis hin zur ihrem kleinen Zeh. Ihre Hand erhob sich abermals von der Tischkante. Aber anstatt dieses Mal zum Ziel zu greifen, stemmte sie ihren gesamten Körper in die Höhe, kräftig, schnell und plötzlich. Sie schrie laut und mit voller Kraft und endlich konnte sie sich von ihrem Anblick befreien und ließ ihre Augen mit Erleichterung sinken. Ihre erhobene Hand ließ sie auf die Tischplatte sausen, um ihrer Scham, den Kampf verloren zu haben, Ausdruck zu verleihen.
Schnell drehte sie sich weg von dem Tisch auf dem ihr Hassobjekt lag. Sie stürzte sich zur Küchentheke, um etwas zu finden mit dem sie sich ablenken konnte.
Ihr nervöser Blick wandte sich dem ungewaschenen Geschirr zu. Sie ging zur Spüle und begann, die dreckigen Sachen mit heißem Wasser zu schrubben. Es war wohltuend, die Hitze auf der Haut, die sie schrumpeln ließ, sodass sie nichts anderes mehr spürte. Keine Nervosität, keine Unsicherheit und – vor allem – keine Angst.

Sie nahm den Kaffeebecher in ihre Hände, der schon seit mehreren Tagen dort unberührt stand. Verkrustet war er von dem dunkelbraunen Gebräu, das sie jeden Morgen trank – schwarz, ohne Zucker. Dabei war ihr der Geschmack verhasst, es erinnerte sie lediglich an eine bessere, schönere Zeit. An die Zeit, als ihre Mutter morgens noch aufstand. An die Zeit, als sie in die Küche kam und es nach frischgekochtem Kaffee roch – für die junge Frau verkörperte er wortwörtlich das Getränk des Lebens und der Energie.
Erschrocken durch diese unerwartete Erinnerung ließ sie den Becher in die Spüle fallen und drehte sich weg von dem dampfende Wasser.
Und wieder fiel ihr flehender Blick zum Telefon auf dem Tisch.
Dieses Mal konnte sie ihren Mut zusammennehmen, ging schnurstracks zum Essplatz, nahm das Telefon in die Hand und wählte die Nummer, ohne ein weiteres Mal darüber nachzudenken. Die einzige Nummer, die sie in- und auswendig kannte.
Eine Frau meldete sich am anderen Ende der Leitung, die Anruferin freundlich begrüßend und ihr schöne Weihnachten wünschend. Schließlich fragte sie nach der Person, die sie sprechen wollte.
Die Lippe der jungen Frau begann zu beben, ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Plötzliche Tränen stiegen ihr in die Augen, die ihre Worte in der Kehle erstickten. Die freundliche Stimme an der Leitung fragte nach, ob jemand da sei.
Doch keine Antwort kam zurück, das Telefonat wurde beendet.

Enttäuscht von sich selbst, legte sie ihr Handy zur Seite. Dieses Mal blieb sie jedoch ganz ruhig; sie war niedergeschlagen.
Die Frau hatte einfach unglaubliche Angst davor, dass sich das Geschehnis, das mehrere Wochen zurücklag, wiederholen könnte. Ihre Scham stieg ins Unermessliche, wenn sie daran dachte, dass sie ihre Mutter schon drei Wochen nicht besucht hatte.
Nur mit zwei oder drei Freunden hatte sie über die Begebenheiten gesprochen, die geschehen waren. Sie hatten ihr Mut gemacht, ihr gesagt, dass es normal war, dass sie fürchterliche Angst und Trauer verspürte. Aber sie sagten auch, dass das – leider – der Weg war, den ihre Mutter nun eingeschlagen hatte und dass die junge Frau lernen musste, damit umzugehen. Egal wie grauenhaft es war und egal wie oft sich die Geschehnisse wiederholen sollten.
Sie setzte sich nun auf den Sessel mit dem weißen Polster, gedankenversunken. Ihre Zähne kauten auf ihrer Lippe, ihr Blick haftete starr nach vorne gerichtet ins Freie, aus dem Fenster. Eine Krähe saß auf dem Balkon, sie bediente sich an dem Futter des Vogelhäuschens.

Die ganze Situation wäre ihr um einiges leichter gefallen, wenn sie jemanden hätte, mit dem sie ihre Angst teilen könnte. Aber sie besaß keine Familie mehr außer ihrer Mutter; ihr Vater war gegangen, als sie ein Kind war und Geschwister hatte sie nie gehabt. Sie erinnerte sich entfernt an eine Cousine ihrer Mutter, die aber anscheinend keinen Kontakt mehr miteinander pflegten.
Sie war völlig allein.
Niemand konnte verstehen, durch welch Hölle sie schritt.
In diesem Moment schien die ganze Wohnung zu erbeben und gleichzeitig ihre Gedanken gerade zu rücken. Tatsächlich war es der Zug, der direkt vor dem Haus vorbeifuhr. Doch sie nahm es wahr als eine Wohltat, die sie durchrüttelte und wieder klar denken ließ. Denn in Wirklichkeit war nicht sie, sondern ihre Mutter die leidende. Und sie, als Tochter, musste die Pflicht erfüllen, die ihr aufgetragen wurde. Nämlich der Mutter – der einzigen Familie, die ihr blieb – durch diese Zeit zu helfen. Die Zeit, die zu bald enden würde, grauenhaft, qualvoll und tödlich.

Dieser Gedanke ließ die junge Frau schwungfall von ihrem weißgepolsterten Sessel aufstehen, der für sie nun einem todbringenden elektrischen Stuhl glich. Wenn sie noch länger hier sitzen würde, wäre sie verloren.
Als sie die Augen von der Krähe losgerissen hatte, griff sie beherzt zum Telefon, um die vertraute Nummer zu wählen. Dieses Mal fiel es ihr keineswegs schwer, die Empfangsdame zu bitten, sie zu ihrer Mutter durchzustellen.
Eine Krankenschwester hob ab und die Frau hatte die schrecklichsten Befürchtungen. Doch die Pflegerin meinte, sie würde das Telefon gleich ihrer Mutter weiterreichen.
„Das ist Ihre Tochter Anna, sie möchte mit Ihnen reden…“, hörte die Frau auf der anderen Seite der Leitung. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie erregtes Flüstern hörte, dass sie nicht verstand. Für eine Sekunde wägte sie die Möglichkeit ab, schnell wieder aufzulegen. Was wäre, wenn ihre Mutter wieder vergessen hatte, dass sie ihre Tochter war? Oder noch schlimmer, wenn sie keine Ahnung mehr hätte, dass sie überhaupt eine Tochter hatte?

Doch schließlich drang ihr die Stimme ihrer Mutter ans Ohr, obgleich etwas brüchiger und älter als sonst. Aber freundlich. Freundlich, höflich, vielleicht sogar etwas distanziert. Aber was sollte die Frau erwarten, immerhin hatte sie sich in letzter Zeit nicht besonders gut um sie gekümmert.
„Hallo, Mama…ich rufe dich an, um dir Frohe Weihnachten zu wünschen…nein nein, natürlich kein Geschenk…ich würde heute sehr gerne noch vorbeikommen. So in einer Stunde?...ja, Mama, heute ist immerhin Weihnachten…Nein, ich fahre bei diesem Schnee nicht, ich werde den Zug nehmen…Ich freue mich auch, bis später.“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen als sie das Telefonat beendete. Für eine Minute hatte sich ihre Mutter angehört wie früher.
Noch einen kurzen Blick richtete sie auf ihren kleinen Christbaum, der regelrecht erstrahlte an Schönheit. Die goldenen Kugeln glitzerten, die Lichterkette blinkte fröhlich, die selbstgemachten Engel lächelten selig. Dieser Anblick gab ihr Hoffnung. Noch vor einem Monat hatte die Frau darum gebangt, ihre Mutter zu Weihnachten mit nach Hause nehmen zu können. Deswegen hatte sie den Baum überhaupt erst gekauft.
Sie ging zum Weihnachtsschmuck, steckte die Lichterkette aus und stellte schließlich das noch immer laufende Wasser ab. Sie zog sich eine Jacke über und nahm ihre Handtasche und ihren Schlüssel aus dem kleinen, schönverzierten Schüsselchen.
Nachdem sie die Tür geöffnete und bereits einen Schritt aus der Wohnung gemacht hatte, blickte sie sich noch einmal um. Die Frau betrachtete den kleinen Weihnachtsbaum und hoffte, dass ihr Innerstes auch bald selbst wieder so erstrahlen würde – dass ihr Innerstes bald nicht mehr so verkrustet und schwarz war wie der seit Tagen nicht mehr abgewaschene Kaffeebecher.
Sie atmete tief aus und schloss die Tür.


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Tag der Veröffentlichung: 15.12.2012

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