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1. Endzeit

 

Mike hatte den Bauernhof seiner Großeltern schon immer geliebt. Und alles war besser, als in der Stadt zu bleiben, auf denen die Menschen sich um die letzten verbliebenen Lebensmittel stritten. Die Epidemie hatte die Welt ins Chaos gestürzt.

Anfangs hatten die Polizei und das Heer noch versucht, eine Panik zu verhindern, doch je mehr Menschen erkrankten und starben, desto schlimmer wurde es. Bevor die Fernseher schwarz wurden, waren ca. 75 % der Weltbevölkerung von der geheimnisvollen Krankheit infiziert, deren Ursprung niemand hatte finden können. Ob die Regierung irgendwelche Notfallpläne in petto hatte – niemand wusste es. Ihn hatten sie darin jedenfalls nicht bedacht. Von all seinen Verwandten war nur seine ältere Schwester Claire übrig geblieben.

Trotz allem hatte er den Vorteil, dass sie den Hof hatten. Natürlich hatten seine Großeltern schon lange vor ihrem Tod kein Vieh mehr gehabt, aber er lag abgelegen und die Plünderungen waren noch nicht bis aufs Land vorgedrungen. Die Lebensmittel würden eine Weile ausreichen und notfalls gab es Saatgut, um selbst etwas anzubauen.

Irgendwie würde Mike mit seiner Schwester Claire und seinen Freunden Dwayne und Gwen schon durchkommen, da war er sich sicher.

Es war Morgen und die Sonne schien durchs Fenster. Dwayne und Mike, die im selben Zimmer schliefen wurden unsanft geweckt: Unten im Hof knatterten rund 15 Motorräder. Die beiden schreckten hoch und weckten die Mädchen. Fieberhaft überlegten sie, ob es klug wäre, sich einfach irgendwo zu verbarrikadieren und abzuwarten, ob die Gang von selbst wieder abzog.

„Und was, wenn sie sich hier sesshaft machen wollen?“, wandte Claire ein.

„Dann müssen wir sie irgendwie vertreiben“, meinte Dwayne. Im Gegensatz zu Mike war er groß und muskulös. Wenn er wollte, konnte er mit seiner Statur schon jemanden einschüchtern.

„Unten sind die zwei Schrotgewehre von Großvater“, sagte Mike.

„Ihr Mädchen bleibt drinnen“, bestimmte Dwayne und sah besorgt zu Gwen, die vor Angst am ganzen Körper zitterte. „Mike und ich erledigen das.“

 

Entschlossen nahm Mike die eine Waffe aus dem Schrank und reichte die zweite Dwayne. Sie waren immer geladen – für den Notfall, von dem jeder hoffte, das er nie eintreten würde.

Die Gang hatte sich mittlerweile auf dem Hof breitgemacht und ihre Maschinen ausgestellt.

Mike fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken den Bikern gegenüberzutreten, aber er hatte keine Wahl. Wer wusste schon, was sie sonst mit ihnen machen würden. Es gab kein Recht mehr. Der Stärkere überlebte.

Breitbeinig baute Dwayne sich vor dem jungen Mann auf, der offensichtlich der Anführer war. Amüsierte Blicke trafen sie. Mikes Hände schlossen sich krampfhaft um die Waffe.

„Was wollt ihr hier?“, Dwayne gab sich wie der große Boss, Mike hatte keine Ahnung gehabt, dass er ein so guter Schauspieler war.

„Ach nichts, nur mal vorbeisehen.“ Der Anführer zog lässig an seiner Zigarette.

„Hier gibt es nichts für euch zu holen!“, erklärte Dwayne entschieden.

„Nachdem ihr beiden Jungs euer Revier so entschieden verteidigt vielleicht doch …“ Sein Blick wanderte an der Fassade des Wohngebäudes hoch und leckte sich über die Lippen. „Warum wollten die Ladys uns denn nicht begrüßen kommen?“

„Yeah Danny! Geile Idee!“, kam es von weiter hinten und Mike lief ein kalter Schauer den Rücken runter.

Mike schluckte. „Ihr lasst die Finger von ihnen!“, zischte er.

„Oha. Da bekomm ich natürlich echt Angst“, erwiderte der Biker spöttisch. Die anderen Mitglieder der Gang begannen zu lachen.

„Holt sie runter.“ Der Befehl an zwei seiner Männer war unmissverständlich. Das widerliche Grinsen in seinem Gesicht ebenfalls.

„Verschwinde, oder ich blase dir das Hirn weg!“, schrie Dwayne aufgebracht, als er ebenfalls erkannte, was die Gang vorhatte. Er richtete den Lauf des Gewehrs auf den Anführer der Gang.

Dieser winkte nur gelangweilt ab. „Das würde ich lassen, Jungs. Ihr tut euch sonst noch weh.“

Bevor Mike oder Dwayne etwas erwidern konnten, waren sie umzingelt und mindestens sechs Waffen auf sie gerichtet.

„Besser ihr legt die Gewehre schön langsam auf den Boden, dann wird auch niemand verletzt.“

Mike glaubte dem Typen zwar kein Wort, aber was hätte er tun sollen? Er tauschte einen Blick mit seinem besten Freund, dieser nickte nur kurz und sie legten die Waffen auf den Boden.

Ein paar Minuten später kamen die zwei Handlanger mit Claire und Gwen zurück.

„Na, wer hätte gedacht, dass sich auf dem Land solche Juwelen verstecken?“ Danny ging auf Claire zu und fuhr durch ihre langen blonden Haare. Sie zuckte leicht zusammen, würdigte ihn aber keines weiteren Blickes.

„Fass sie nicht an!“, rief er und wollte sich am liebsten auf Danny stürzen. Doch bevor er auch nur einen Schritt tun konnte, wurde er festgehalten. Vorsichtshalber hielten zwei weitere Männer auch Dwayne fest, der die Szene grimmig beobachtete.

Amüsiert grinste Danny, als er ihre kläglichen Versuche ihn aufzuhalten, bemerkte.

„Der blonde Engel gehört mir“, verkündete er und legte einen Arm um Claire. Sie regte sich nicht, war starr vor Schreck. „Die andere könnt ihr haben!“, meinte er gönnerhaft.

Gwen liefen Tränen übers Gesicht.

Erbittert versuchte Mike sich loszureißen. Er konnte doch nicht kampflos zusehen, wie seine Schwester und seine beste Freundin … er wollte den Gedanken nicht zu Ende bringen.

„Ich und der Engel ziehen sich jetzt zurück …“ Danny zwinkerte Mike zu. Ihm wurde schlecht.

Plötzlich unterbrach ein übler Hustenanfall die Szene.

Claire schüttelte sich, hielt die Hand vor den Mund. Danny nahm sofort den Arm von ihrer Schulter.

Alarmiert sahen die Mitglieder der Bande sich an.

Als es vorbei war, herrschte Totenstille.

Gwen blickte in die Hand und ließ sie mit geweiteten Augen sinken. Blut tropfte von ihren Fingern.

„Der Virus!“, rief Danny voller Panik. „Weg von hier!“

Innerhalb von ein paar Minuten war der Hof leer.

Zurück blieben Unsicherheit und Angst. Und das Blut, das noch immer von Claires Hand auf den Boden tropfte.

 

Claires Symptome waren offensichtlich: Sie hatte den Virus. Aber was sollten sie jetzt tun? Es gab keine Heilmittel gegen den heftigen Husten und das hohe Fieber. Keines der alten Hausmittel zeigte irgendeine Wirkung. Mike, Gwen und Dwayne hielten abwechselnd Wache an ihrem Bett.

„Ich werde gehen, Mike“, flüsterte sie schwach, als er an der Reihe war.

„Quatsch, du gehst nirgendwo hin. Schon gar nicht in dem Zustand“, widersprach er heftig.

„Jeden Tag, den ich länger hier bin, bringe ich euch in Gefahr. Vielleicht habe ich euch schon angesteckt.“

„Hey, ich bin sehr robust, Schwesterchen. Mich haut so schnell nichts um. Und dich auch nicht“; sagte Mike sanft. „Du schaffst das.“

„Ich bin hier um dich abzulösen, Mike.“ Gwen steckte den Kopf zur Tür herein.

Mike war ihr dankbar. Tränen bahnten sich unaufhaltsam den Weg und er wollte nicht, dass Claire sie sah. Er wollte sie nicht aufgeben, aber die Angst sie zu verlieren wurde mit jeder Stunde schlimmer. Er musste dringend raus und nachdenken.

Vom Hof aus war es nicht weit in den Wald. Tief atmete er den Duft von Tannennadeln und Harz ein. Vögel zwitscherten, als wäre nichts geschehen. Alle möglichen Insekten sirrten durch die Luft. Er ging weiter hinein, ließ sich auf einer Lichtung nieder, die von der Sonne beschienen war. Für einen winzigen Moment vergessen, dass alles, was er je gekannt hatte, so nicht mehr existierte. Sich für ein paar Augenblicke vorstellen, dass alles wieder gut würde. Einfach vergessen, nichts wollte er mehr.

Doch schon nach kurzer Zeit drängte sich die Wirklichkeit wieder in seine Gedanken.

„Los rück schon raus mit dem Essen!“ hörte er eine schrille Stimme schon von Weitem.

Mike war gleich in Alarmbereitschaft. Nur weg von der Lichtung ins Unterholz, damit ihn niemand sah.

„Ich hab nichts!“, antwortete eine etwas leisere.

Rückwärts stolperte ein junger Mann in die Lichtung, verfolgt von zwei anderen, die ihn um Einiges überragten.

„Das glaubst du doch selbst nicht!“, rief einer von ihnen jetzt sichtlich verärgert.

Die Situation spitzte sich zu, wenn er jetzt nichts tat, würden sie ihm etwas antun, mit solchen Typen war schließlich nicht zu spaßen! Natürlich hätte er sich umdrehen können und gehen. Das hätte wahrscheinlich jeder andere getan. Auch wenn der Virus jede Moral und Gerechtigkeit zunichtegemacht hatte, Mike konnte nicht aus seiner Haut.

„Hey, lasst ihn in Ruhe, wenn er sagt, er hat nichts, dann hat er auch nichts!“, rief Mike laut. Die Aufmerksamkeit der beiden Männer ruhte nun auf ihm.

„Sieh an, noch so ein Zwerg“, war das Letzte, an das er sich noch erinnerte, bevor der Schmerz ihn in die Ohnmacht trieb.

 

„Na, wieder wach?“ Der junge Mann von vorhin beugte sich über ihn.

Mike konnte ihn gar nicht richtig erkennen, aber er machte sich keine Sorgen. In seiner Stimme lag etwas Beruhigendes.

„Was ist passiert?“, stöhnte Mike. Sein Kopf brummte.

„Du hast dich mit ein paar Typen angelegt und mich gerettet. Danke.“

„Wie heißt du?“

„Ich bin Mike und du?“

„Elijah.“

Langsam schärfte sich sein Blick und Mike betrachtete den jungen Mann, der nun am Feuer werkelte und wieder zu ihm zurückkam.

Was an ihm besonders auffiel, waren seine ungewöhnlich blauen Augen, ganz im Gegensatz zu seinen dunkelbraunen Haaren. Er sah ziemlich blass aus, gleichzeitig machte ihn das irgendwie edel und geheimnisvoll. Ein schöner Mann.

Elijah hob ihm einen Becher mit Tee an die Lippen. Gehorsam schluckte Mike das Zeug herunter, obwohl es verdächtig nach Brennnesseln schmeckte.

Erst jetzt sah er sich weiter um. Er befand sich in einer alten Jagdhütte auf einem alten Klappbett. An der Wand hingen Geweihe, doch Elijah hatte sie schon teilweise abgehängt, man sah das, weil die Stellen, an denen sie früher gehangen hatten, heller waren, als der Rest der Wand.

Mike setzte sich auf. Für einen Moment drehte sich alles um ihn.

„Wie lange war ich bewusstlos?“, fragte er fieberhaft. Claire. Er durfte seine Schwester nicht alleine lassen.

„Du warst kurz wach, dann bist du aber wieder eingeschlafen. Vielleicht zwei Stunden.“

„Ich muss wieder zurück, meine Schwester, sie hat den Virus ...“

„Bist du sicher, dass du schon gehen kannst?“, fragte Elijah besorgt.

„Ich muss.“

Mike konnte nicht anders, als den ganzen Rückweg über den seltsamen Jungen nachzudenken. Er war wirklich anders als alle Leute, die er kannte. Und seine Augen waren wirklich phänomenal. Den anderen erzählte er nichts von dem Zwischenfall, denn er war nur ein paar Stunden weg gewesen. Bei der Arbeit im wiederbelebten Garten seiner Großeltern schweiften seine Gedanken immer wieder zu Elijah ...

 

2. Die Prophezeiung

 

Mike, Gwen und Dwayne waren bei Claire, als sie ihre Augen für immer schloss.

„Es tut mir so leid.“ Gwen weinte heftig.

Mike nahm sie unbeholfen in den Arm und tröstete sie, er selbst war nicht fähig dazu irgendein Gefühl zu zeigen.

Dwayne ging mit einem Blick auf Claires leblosen Körper aus dem Zimmer. Er nahm den Spaten und begann ein Grab auszuheben.

Wenig später machten sie sich auf, um Claire zu beerdigen. Sie hatten sie in ein schwarzes Tuch gehüllt, sodass man nur ihr Gesicht sehen konnte. Gwen opferte zwei der kostbaren Batterien, und während sie Claire begruben, spielten sie Claires Lieblingslied.

Dieses Lied brachte viele Erinnerungen und so standen sie erst eine Weile ohne einen Ton zu sagen nebeneinander. Mike liefen endlich Tränen herunter.

 

Plötzlich verdunkelte sich die Sonne und eine Dämmerung breitete sich im Wald aus. „Wusstet ihr, dass sie eine Sonnenfinsternis vorausgesagt haben?“, fragte Dwayne erstaunt.

„Nein, die Nächste wäre doch eigentlich erst in Jahren“, meinte Mike.

„Runter auf den Boden!“, rief eine Stimme. Ohne zu fragen, warum warfen sich die Drei auf den Boden. Sie hörten ein merkwürdiges Zischen, dann sahen sie nach oben: Im Baum steckte ein Pfeil!

Als sie ein Rascheln hörten, drehten sie sich blitzartig um.

„Elijah!“, rief Mike verwirrt. Was tat er denn auf einmal hier?

Er nickte den Freunden zu.

„Was zum Teufel sollte das, warum schießt du mit Pfeilen nach uns?“, zischte Mike aufgebracht.

Doch seine Frage blieb unbeantwortet.

„Still jetzt! Kommt mir nach.“ Flink wie ein Wiesel schlich Elijah ein Stück weiter nach vorn. Er erstarrte erst, dann winkte er sie her. Mit dem Finger deutete er auf etwas, erst sahen sie es nicht, doch dann stockte ihnen der Atem: Auf einem Hügel in der Nähe tauchte ein weißes Pferd auf. Der Reiter hatte langes Haar, das im Wind wehte und in der Hand hielt er einen riesigen Bogen. Er spannte die Sehne und schoss einen neuen Pfeil ab. „Runter!!“, rief Elijah und einige Sekunden später hörten sie den nächsten Pfeil über ihre Köpfe zischen.

„Haltet euch an den Händen, bis ich es euch sage!“, raunte er ihnen zu.

„Was soll das?“ Mike verstand nur Bahnhof und auch die anderen waren nicht zufrieden in ihrer Situation. „Tut einfach was ich euch sage und fragt nicht!“, fuhr Elijah die Drei an.

Also nahmen sie sich an den Händen und warteten ab. Nicht lange und ein zweiter Reiter gesellte sich zum Schützen auf den Hügel. Auch er hatte langes wehendes Haar, doch dieser saß auf einem feuerroten Pferd. Unwirklich war das. Nicht von dieser Welt.

Plötzlich stieg eine große Kälte in Mikes Herz. Und er spürte, wie sehr er auch dagegen ankämpfte, wie ihn der Hass übermannte. Er ließ Gwens Hand los und wollte sich auf Elijah stürzen, doch dieser nahm ihn grob an der Hand und drehte sie ihm auf den Rücken. Der Schmerz machte ihn wieder normal, dieses Gefühl war verschwunden.

In diesem Moment gesellten sich noch zwei weitere Reiter dazu. Einer mit einem schwarzen Pferd und einer mit einem grauen, fast durchscheinendem. Als Elijah das sah, wurde er panisch. Er ließ Mikes Hand los. „Folgt mir! Schnell!“, rief er schnell. Gwen, Dwayne und Mike folgten ihm, ohne zu wissen wohin. Als Mike über seine Schulter sah, bemerkte er, dass der graue Reiter sie verfolgte - und nicht gerade langsam ...

 

Endlich schien der Reiter die Verfolgung aufgegeben zu haben und Elijah blieb stehen und stumm. Da flippte Mike total aus: „Kannst du mir mal sagen, was das soll? Wir rennen hier wie die Blöden und du hältst es nicht für nötig alles zu erklären?“

„Mach mal halblang“, meinte Dwayne. „Würdest du uns vielleicht mal vorstellen?“ Tatsächlich hatte er vollkommen vergessen, dass die anderen Elijah nicht kannten.

„Das ist Elijah. Wir haben uns vor ein paar Tagen hier im Wald getroffen“, meinte Mike schon bedeutend ruhiger. „Elijah – meine besten Freunde Dwayne und Gwen.“

Er nickte ihnen zu, hielt sich aber nicht weiter mit Small Talk auf. Er sah sich um und ging dann zielstrebig auf die alte Jagdhütte zu, die man bei der Dunkelheit fast nicht sehen konnte. Mike sah beunruhigt in den Himmel. Der Mond verdeckte die Sonne nun vollständig, er war blutrot gefärbt ...

 

Mike, Gwen und Dwayne betraten nun ebenfalls die Hütte. Elijah schlug der Wind entgegen, der durch die Tür wehte. Er stand geschäftig vor einem Spiegel. Als er sich umdrehte, hatte er merkwürdige Zeichen auf der Stirn. Dann zog er sich einen dunkelblauen Umhang an. Die Drei sahen ihn verständnislos an, was Elijah aber nicht zu stören schien. Mike sah nach draußen: Es regnete in Strömen und Blitze durchzuckten die Nacht.

„Kommt mit!“ Elijahs Stimme ließ keine Widerrede zu. Er verließ die Hütte und die anderen mit ihm. Nach der unheimlichen Begegnung tat Mike gerne, was man ihm sagte. Auch wenn er all das nicht verstand.

Sie gingen kreuz und quer durch den Wald, auch Dwayne, der sonst ein fast fotografisches Gedächtnis hatte, konnte sich den Weg bei bestem Willen nicht merken. Nach einem schier endlosen Marsch erreichten sie einen großen viereckigen Steinblock. Elijah drehte sich zu ihnen um:

„Also ihr macht jetzt genau das, was ich tue, ok?“

„Sorry, aber was soll das? Wir kennen uns gerade mal ein paar Stunden …“ Dwayne war es offensichtlich nicht ganz wohl bei der Sache. Mike konnte ihn verstehen. Das Ganze war verdammt schräg. Aber das Gefühl von Hass, das vorher aus dem Nichts gekommen war, machte ihm Angst.

„Vertraut mir einfach“, sagte Elijah.

Vertrauen? In dieser Zeit konnte man doch niemandem vertrauen. Aber hatten sie eine Wahl? Mike konnte sich etwas Besseres vorstellen, als von diesem Schützen wie ein Stück Wild erlegt zu werden.

Langsam ging Elijah auf den Steinquader zu und stellte sich darauf, schloss die Augen und im nächsten Moment versank er in dem Stein!

„Ach du Scheiße!“, rief Dwayne ungläubig auf.

„Gwen, du gehst als Nächste!“, meinte Mike.

Alles ging scheinbar gut, auch bei Dwayne. Nun war er an der Reihe. Ein bisschen mulmig war es ihm schon. Noch nervöser war er, weil er das alles nicht wirklich komisch fand. Das war doch alles mystischer Schwachsinn, oder doch nicht? Am heutigen Tag schien jedoch nichts mehr unmöglich.

Als er dann oben stand durchfloss ihn eine angenehme Wärme, von Kopf bis Fuß, obwohl er klatschnass war, dann spürte er einen starken Sog nach unten.

 

„Da bist du ja endlich, warum trödelst du so, wir haben noch einen weiten Weg vor uns!“ Elijah schien verärgert. Elijah ging mit einem Tempo, das man ihm gar nicht zutraute. Jetzt ging das schon wieder los. Sie hetzten Elijah durch einen Wald hinterher und noch dazu regnete es auch hier in Strömen. Bald waren sie alle außer Atem, aber ihr Führer ließ nicht zu, dass sie sich ausruhten.

Nach ungefähr einer Stunde erreichten sie eine Burg. Vier große Türme erhoben sich in den Himmel, soweit sie das in der Dunkelheit erkennen konnten. Elijah, immer noch nicht müde, hastete über die Zugbrücke, die anderen mit etwas Abstand hinterher zu einer Tür neben dem großen Eingangstor.

Elijah klopfe hektisch an die Tür. „Macht auf! Beeilt euch!“ Kurz darauf wurde das Gitter hochgezogen und sie liefen über den verlassenen Burghof.

„Sir, ihr seid zurück!“ Ein waschechter Ritter in voller Rüstung, wenn auch fortgeschrittenen Alters, winkte ihnen zu.

„Keine Zeit für ein Schwätzchen, Sir Archibald, ich muss weiter“, meinte Elijah und schob den älteren Herrn aus dem Weg. Vor ihm öffneten sich die großen Flügel des Tores zum Wohntrakt, wie Mike vermutete. Drinnen war alles hell beleuchtet und ein paar Diener standen zur Begrüßung da. Elijah beachtete sie nicht wirklich, warf nur einem seinen völlig durchnässten Umhang über den Arm, um wie gehabt weiterzulaufen.

Mit einem Mal wurde Elijah langsamer. Sie betraten den Thronsaal. Links und rechts von der Tür standen vornehme Herren und Damen, die Dwayne, Mike und Gwen eigenartig ansahen, während Elijah sich vor dem König verbeugte. Er war ein relativ junger Mann und doch wirkte er weise und erfahren. „Mein König“, fing Elijah an. „Die Prophezeiung. Sie erfüllt sich in diesem Moment.“

 

„Ich muss mit dir reden, Elijah.“ Das Gesicht des Königs hatte ernste Züge angenommen.

„Ich bin gleich wieder zurück“, meinte der Angesprochene zu den drei Neuankömmlingen. Elijah folgte dem König, er hatte kein gutes Gefühl. Seit er diesen Auftrag angenommen hatte, genoss er manche Privilegien, doch diesmal war er einen Schritt zu weit gegangen.

„Du hättest sie nicht hierher bringen dürfen.“ In der Stimme seines Onkels schwang ein Vorwurf mit.

„Die Reiter waren hinter ihnen her ... ich ...“, Elijah zögerte „Hätte ich sie etwa sterben lassen sollen?“

„Es liegt nicht an dir, Schicksal zu spielen!“

„Aber ... ich kann nicht allein gegen die Reiter kämpfen, ihr kennt doch die Prophezeiung ebenso wie ich.“

König Balan seufzte. „Dann soll es so sein.“

Elijah wandte sich zum Gehen, als der König ihm seine Hand auf die Schulter legte.

„Elijah“, sagte er ruhig. „Du bist deinem Vater sehr ähnlich ... er wäre stolz auf dich.“

Mit einer eleganten Verbeugung verabschiedete sich Elijah von seinem König und verließ nachdenklich den Raum.

 

„Ich denke, du bist uns endlich eine Erklärung schuldig. Wo sind wir hier? Was sind das für Reiter?“, empfing Mike Elijah, als er zu ihnen stieß.

Sie waren vom Thronsaal in ein etwas kleineres beheiztes Zimmer gebracht worden und versuchten irgendwie mit dieser unwirklichen Situation klarzukommen.

Elijah seufzte. „Wir befinden uns auf der Stammburg von König Balan im Lande Garet.“

„Aha“, lautete seine geistreiche Antwort. Er kam sich vor wie im falschen Film. Und was hätte er auf eine solche Antwort auch sagen sollen?

„Und die Reiter?“, hakte Dwayne nach. Dieselbe Ungeduld sprach aus seinen Worten. Das gleiche Unverständnis.

Gwen sah nur in die Flammen des Feuers und sagte gar nicht.

„Habt ihr je von den apokalyptischen Reitern gehört?“, fragte Elijah. „Die Prophezeiung ist doch in eurer Welt bekannt: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen rufen: Komm! Da sah ich ein weißes Pferd; und der, der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben, und als Sieger zog er aus, um zu siegen. Als das Lamm das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite Lebewesen rufen: Komm! Da erschien ein anderes Pferd; das war feuerrot. Und der, der auf ihm saß, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben. Als das Lamm das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte Lebewesen rufen: Komm! Da sah ich ein schwarzes Pferd; und der, der auf ihm saß, hielt in der Hand eine Waage. [...] Als das Lamm das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten Lebewesens rufen: Komm! Da sah ich ein fahles Pferd und der, der auf ihm saß, heißt „der Tod“ und die Unterwelt zog hinter ihm her. Und ihnen wurde die Macht gegeben über ein Viertel der Erde, Macht zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde. (Offenbarung 6,1-7)

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?“, fragte Dwayne und lachte auf. „Das ist doch nur das Gefasel irgendeines uralten Typs – der Weltuntergang wurde unzählige Male vorausgesagt … das kannst du doch nicht wirklich glauben?“

„Dwayne, du hast doch diese Reiter ebenso gesehen, wie ich.“ Gwen schauderte allein bei dem Gedanken daran. „Irgendetwas geht auf jeden Fall vor.“

Mike sah finster in das lodernde Feuer. „Diese Krankheit, die so viele Menschen dahingerafft hat, war anscheinend erst der Anfang.“ Der Schmerz über Claires Verlust saß tief. Erst heute Morgen hatten sie sie begraben und doch schien es ihm eine Ewigkeit her zu sein. Jetzt waren sie in einem fremden Land in einer fremden Zeit.

„Du hast recht. Nicht mehr lange und auch Garet wird all das Leid durchleben müssen. Es sei denn …“ Elijah zögerte. „… wir bestehen die Prüfungen der Reiter.“

„Wir?“, fragte Mike leise. „Was können wir schon tun? Ich bin nicht gerade Superman.“

„Es gibt noch eine weitere Prophezeiung. Ein jeder der Reiter wird innehalten in seinem Auftrag, sollte ein Sterblicher seine Prüfung bestehen.

„Ich werde es versuchen. Tut es keiner, werden wir alle sterben.“

 

Wenig später gingen sie in den Pferdestall. „Ich denke, beritten sind wir besser dran, sucht euch eines aus.“ Während die anderen sich umsahen, ging Elijah zu seinem Pferd.

„Blizzard“, flüsterte er fast zärtlich und strich ihm sanft über die Nüstern. Blizzard war ein schwarzer Hengst mit einem weißen Mal auf der Stirn, das aussah wir ein Blitz. Es gehörte ihm schon lange Zeit und war sein treuester Begleiter. Elijah wandte sich wieder zu den anderen um: „Habt ihr eins gefunden?“

Die anderen nickten.

„Dann los. Wartet! Ich hab noch was für euch.“ Er ging schnell hinaus, und als er wieder hereinkam, hatte er für jeden ein Schwert dabei. Ihre Klingen blitzten geheimnisvoll im Licht der Fackeln, denn auch hier war es mittlerweile dunkel geworden und es sah nicht so aus, als würde sich daran schnell was ändern.

„Aber wir können mit sowas doch gar nicht umgehen!“, sagte Gwen entsetzt.

„Ich hoffe, ihr werdet sie nicht brauchen.“ Elijah schwang sich elegant auf sein Pferd, während Gwen, Dwayne und Mike mehr oder weniger gut versuchten sich im Sattel zu halten.

Der Regen klatschte ihnen ins Gesicht und der Wind blies ihnen um die Ohren, als sie losgaloppierten und schon bald darauf das Tor zu ihrer Welt erreichten.

Im Wald trennten sich ihre Wege. Sie hatten beschlossen, dass sie mehr Chancen hatten, wenn sie immer zu zweit versuchten, die Reiter ausfindig zu machen.

Mike sah Dwayne und Gwen nach, bis der dunkle Wald sie verschluckte. Würden sie sich wiedersehen?

 

3. Die ersten Prüfungen

 

Als Gwen und Dwayne nach einem Tagesritt in der nahe gelegenen Stadt ankamen, herrschte dort Chaos. Die Reiter hatten ihr Werk bereits begonnen. Auf den Straßen sahen sie mehrere Leichen, offenbar durch Pfeilschüsse getötet, wie die Tiere. Gwen musste unwillkürlich schlucken und konnte gerade noch verhindern, dass sie sich übergab. Auch Dwayne war es ganz und gar nicht wohl bei diesem Anblick. Schon bald kamen sie weiter ins Zentrum und auch hier war ein Schauspiel des Grauens. Egal ob Jungs oder Mädchen, Frauen oder Männer, es herrschte eine riesige Schlacht mitten auf den Straßen. Und dies war keine „normale“ Schlacht, hier ging es um Leben und Tod.

„Versprich mir, dass wir Freunde bleiben, wir lassen diesen Reiter einfach nicht an uns ran, er wird unseren Willen nicht brechen, wir bringen uns nicht gegenseitig um, verstanden?“, sagte Gwen leise.

Dwayne nahm ihre Hand und drückte sie: „Ich verspreche es.“

„Sieh mal! Da hinten!“ rief Gwen plötzlich. Dwayne ließ seinen Blick schweifen, dann blieb er an einem kleinen roten Fleck in der Landschaft hängen: Der rote Reiter.

 

Das feuerrote Pferd schnaubte und scharrte mit den Hufen am Boden. Der Reiter spürte, dass sie bald da sein würden, die beiden Menschen, die versuchen wollten, die Welt zu retten. Die beiden Menschen, die tatsächlich glaubten, dass sie ihn besiegen konnten. Ihn, der die Macht über Krieg und Frieden hatte. Der rote Reiter glaubte nicht daran, dass die Menschen es schaffen konnten. So viele hatten versagt auf der Welt. Sie hatte Atombomben geworfen, Unschuldige verfolgt und getötet, warum sollten diese hier besser sein als der Rest? Warum sollten gerade sie beweisen, dass sie menschlich sein konnten? Und die Tatsachen, dass sie noch halbe Kinder waren konnte auch nichts beweisen, denn wie oft hatte er gesehen, wie sie waren, diese „Kinder“. Oft grausamer als alle anderen. Aber eine Chance hatten auch die Menschen verdient und diese sollten sie auch bekommen.

 

In diesem Moment erreichten Dwayne und Gwen den Hügel, auf dem der rote Reiter stand. Ein geheimnisvoller Schein umgab ihn, so hell, dass er schon fast in den Augen brannte. Wortlos hob der Reiter sein Schwert. Von ihm ging eine große Macht aus. Gwen schloss die Augen, denn das Licht blendete auf einmal. In ihrem Kopf spielten sich Szenen ab, die von Krieg und Angst handelten und sie konnte verzweifelte Schreie hören, die auch nicht verklungen, als sie ihre Augen wieder öffnete.

Bist du wirklich besser, kleines Mädchen?, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.

Verzweifelt sah sie zu Dwayne hinüber. Voller Angst schaute sie ihm in die Augen. Sein Blick war hart und kalt. Langsam stieg er ab und zog sein Schwert ...

„Dwayne!“ Gwens Schrei durchbrach die Stille. Doch der Freund reagierte nicht. Er kam näher und mit einer schnellen Bewegung zog er Gwen vom Pferd. Mit einem hässlichen Knacks traf sie auf. Eine Welle von Schmerz durchfuhr Gwen, sie musste sich die Hand gebrochen haben. Unter Schmerzen drehte sie sich auf den Rücken. Hoch über ihr Dwayne mit hoch erhobenem Schwert.

„Nein!“, rief sie. „Du hast mir doch versprochen, dass wir Freunde bleiben!“ Ihr kamen die Tränen.

„Wir sind doch nicht wie die anderen, wir sind nicht wie die Erwachsenen …Wir haben so viel zusammen durchgemacht ...“ Gwens Stimme zitterte leicht, doch sie wollte nicht aufgeben. „Dwayne, das kannst du doch nicht alles vergessen haben!“

Dwayne kam näher. Gwen rutschte ein Stück weg, aber nicht schnell genug. Langsam holte er aus.

Das war es also, der Reiter hatte es doch gewusst. Wenn auch das Mädchen stark war, der Junge war es eben nicht. Langsam fing er an das Pferd zu wenden.

„Bitte nicht!!“, rief Gwen. Ein letztes Mal bäumte sie sich auf. Es war doch alles Vergebens. Sie schloss die Augen. Jetzt war es soweit. Klirrend fiel eine Klinge ins Gras.

„Gwen?“

„Dwayne!“ Als sie die Augen wieder öffnete, kniete Dwayne neben ihr. „Ich hab' s dir doch versprochen“, meinte er.

Wortlos und unter Tränen fiel sie ihm um den Hals. Gwen stöhnte auf. Die Hand! Die hatte sie vollkommen vergessen! Jetzt, als sie wieder daran dachte, spürte sie wieder den Schmerz. Dwayne nahm ein Tuch aus der Satteltasche seines Pferds und schiente ihr Handgelenk vorsichtig, so gut er es konnte.

Eure Freundschaft hat euch gerettet. Doch noch ist der Untergang nicht abgewendet …

Der Reiter sah sie durchdringend an. Er hob langsam die Hand zum Gruß, wendete und ritt fort. Und je weiter er fort ritt, desto mehr verblasste er, sodass er schon bald verschwunden war.

Plötzlich herrschte Stille. Das Geschrei aus der Stadt war verstummt.

Der erste Schritt war getan und Gwen schien es, als wäre der Himmel sogar ein klein wenig heller geworden.

 

*

 

Mike taten alle Knochen weh, er war noch nie zuvor so viel am Stück geritten. Früher war er manchmal auf der Farm seines Großeltern geritten, allerdings auf einem Pony und das war wirklich lange her. Elijah hingegen zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung, während Mike wie ein nasser Sack im Sattel hing und krampfhaft versuchte sich zu halten.

Auf einmal wurde Elijah langsamer und drehte sich zu ihm um: „Wir halten mal ein wenig an, die Pferde brauchen ne Pause.“

Die Pferde? Er hatte Mühe, nicht loszulachen. Mike war so müde, dass er sogar im Stehen schlafen könnte. Mühsam stieg er ab und lies sich ins Gras fallen.

„Das wird ein hartes Stück Arbeit, du solltest ein wenig schlafen, ich halte Wache.“ Elijah schien doch bemerkt zu haben, was dieser Ritt für eine Anstrengung bedeutete, besonders für jemanden, der es nicht gewohnt war weite Strecken zurückzulegen und Mike nickte ihm dankbar zu. Mike bewunderte den Jungen. Elijah war fast eineinhalb Köpfe kleiner als er und doch schien er wesentlich schneller und vor allem besser im Training zu sein wie er, auch wenn er nicht so aussah. Ein paar Momente, nachdem Mike die Augen geschlossen hatte, fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

„Mike! Steh auf, es wird Zeit!“ Mike schreckte auf, wie hatte er nur so seelenruhig schlafen können, bei dem, was hier gerade geschah?

„Tut mir leid, jetzt konntest du gar nicht schlafen.“

„Mach dir keine Sorgen, ich bin an so etwas gewöhnt. Kann es losgehen?“

Wenig später waren sie wieder auf dem Weg. Nicht, dass sie genau gewusst hätten, wo sie nach den Reitern suchen sollten. Doch die Pferde schienen den Weg zu kennen. Vielleicht folgten sie einem Ruf, den nur sie hörten.

Mike blickte um sich, sah die Massengräber, die eilig für die vielen Opfer geschaufelt worden waren, und schauderte. Es würde vielleicht niemand mehr übrig sein, der ihn begrub, wenn sie es nicht schafften, die Reiter aufzuhalten.

Sie ritten gerade einen Hügel nach oben, als mit einem Mal der schwarze Reiter erschien. Welche Prüfung würden sie bestehen müssen?

 

Da kamen sie die zwei Prüflinge, wie es ihm vorhergesagt wurde. Aber nur einer von beiden durfte es versuchen. Nachdenklich blickte der schwarze Reiter hinunter ins Tal, wo seine Brüder schon mit der Vernichtung begonnen hatten. Doch die Menschen hatten bereits eine Prüfung bestanden und nun waren sie noch zu dritt.

Seine Bestimmung war schwer zu erklären, denn er tötete die Menschen nicht, er ließ sie sich wieder an ihre Sünden erinnern, an alles Schlechte, das sie je getan hatten. Sie blieben in ihrer tiefen Verzweiflung gefangen und erwarteten in Dunkelheit gefangen das unausweichliche Ende.

Aber dieser eine würde eine andere Prüfung bestehen müssen, die nur sehr wenige andere geschafft hatten. Und doch war es eine der letzten Chancen dieser Welt …

 

Endlich erreichten sie den Hügel, auf dem der schwarze Reiter sie erwartete. Die Pferde waren unruhig, spürten ebenso wie sie, dass der Reiter nicht von dieser Welt war. Der größte Teil des Gesichts verschwand in einem Schatten, obwohl er keine Kapuze hatte und je genauer er hinschaute, desto verschwommener erschien es ihm.

Dann begann der Reiter zu sprechen: „Nur einer von euch kann sich meiner Prüfung stellen. Versagt er, sind sein Leben und alle Leben auf der Erde verwirkt.“ Er zeigte auf Mike. „Komm mit mir … ich sehe, deinem Freund ist eine andere Aufgabe zugedacht.“

Im nächsten Moment befand er sich mit dem Reiter in einer unterirdischen Höhle. Sie wurde durch Fackeln erhellt und im hinteren Teil schimmerte eine goldene Waage. Mike ging ein paar Schritte darauf zu. Elijah war nicht bei ihm.

„Sieh in den Spiegel!“

Mike wandte seinen Blick von der Waage. Vor ihm stand ein riesiger Spiegel. Er schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Mike sah hinein und alles war wie immer. Er blickte in sein eigenes müdes Gesicht. Was sollte das? Sein Gegenüber zog gleichzeitig Falten, da trat der Reiter neben ihn. Mike sah ihn nicht, er hatte kein Spiegelbild, doch er spürte diese Traurigkeit, die den schwarzen Reiter durch und durch zu beherrschen schien. Plötzlich war der Spiegel wieder verschwunden, jedoch nicht Mikes Spiegelbild, es stand nach wie vor still vor ihm und sah Mike an. „Dies ist deine dunkle Seite, die sonst niemand sieht. Dies ist ebenso ein Teil von dir, wie der „nette“ Junge, der hier vor mir steht. Viele Menschen habe ich gewogen, doch nur wenige haben bestanden. Willst du es trotz allem versuchen?“

Unsicher stellte sich Mike in die goldene Waagschale, während der andere Teil von sich auf der anderen Stellung nahm. Der schwarze Reiter ließ der Waage nun alle Freiheit, jetzt war der Augenblick der Wahrheit gekommen.

Mike erschrak, als die Schalen sich bewegten, tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Sie schwankte leicht und bekam leichtes Übergewicht zur falschen Seite. Das war der Moment, in dem Mike anfing an Gott zu glauben und zum ersten Mal in seinem Leben schickte er ein Stoßgebet nach oben.

Und als hätte Gott es gehört, bewegte sich die Waage noch einmal ... schwankte noch immer leicht ... und blieb schließlich in der Mitte stehen.

Sieh dich vor Mensch, lass niemals die andere Seite in dir gewinnen. Sonst stürzt du dich ins Unglück.“

Im nächsten Moment war Mike wieder mit Elijah zusammen auf dem Hügel. Der schwarze Reiter war verschwunden.

 

4. Der letzte Reiter

 

Eine neue Zuversicht hatte sich in Mike festgesetzt. Er war sicher nicht der geborene Held, und wenn er die Prüfung bestehen konnte, warum sollten die anderen es nicht ebenso schaffen?

Sie näherten sich wieder der Stadt, als Elijah plötzlich innehielt.

„Ab hier muss ich alleine weitergehen. Du suchst Dwayne und Gwen, vielleicht brauchen sie deine Hilfe.“

„Elijah, ich lasse dich sicher nicht hier allein.“ Er sah den jungen Mann aus der fremden Welt fest an. „Das kann ich nicht.“

„Ich muss mein Schicksal erfüllen, Mike.“ Elijah blickte zu Boden. „Es gibt einen Teil der Prophezeiung, den ich euch bisher verschwiegen habe. Seit ich mein Schicksal angenommen habe, habe ich Angst vor diesem Moment, aber mir bleibt keine Wahl.“

„Was besagt dieser Teil der Prophezeiung?“

Einer aus dem königlichen Geschlecht des Landes Garet muss aus freiem Willen sein Leben in die Hände des Todes begeben. Nur dann kann das Schicksal der Welten noch einmal abgewendet werden.

„Sein Leben?“, hauchte Mike. „Heißt das …“

Elijah nickte. „Ich werde mich opfern, um meine und deine Welt zu retten. Es ist meine Bestimmung.“

„Ich lasse dich nicht allein gehen“, sagte Mike bestimmt. „Auf keinen Fall.“

„Ich hab euch schon genug in Gefahr gebracht. Bitte, Mike. Geh.“

Mike sah in Elijahs Blick die Angst, von der er gesprochen hatte, aber auch eine Entschlossenheit den Auftrag zu erfüllen.

„Wenn Gwen und Dwayne es nicht schaffen, die Prüfungen der anderen Reiter zu bestehen, wird alles umsonst sein.“ Das Flehen in Elijahs Stimme tat Mike im Herzen weh. Und er hatte recht.

„Machs gut.“ Ein seltsamer Schmerz war das, der sich in ihm festgesetzt hatte. Er wollte Elijah nicht gehen lassen und doch wusste er, dass er wohl keine andere Wahl hatte.

Mike wendete sein Pferd und ritt in die entgegengesetzte Richtung, immer der Nase nach, um Gwen und Dwayne zu finden, während Elijah sich seinem Schicksal zuwandte.

 

*

 

Nachdem Gwen und Dwayne stundenlang geritten waren, ohne dass sich ein anderer der Reiter zeigte, beschlossen sie für eine Weile auszuruhen und erlaubten sich ein Nickerchen.

Gwen hielt als erste Wache. Dwayne schlief praktisch sofort ein.

Mit Grauen erinnerte sie sich an den Moment, in dem er sie fast getötet hatte. Dass ein solcher Hass in jedem Menschen steckte, konnte sie kaum fassen. Und die Bilder, die der Reiter ihr gezeigt hatte, würde sie niemals vergessen können. Welche grausamen Kräfte die anderen Reiter wohl besaßen?

Plötzlich raschelte es im Gras hinter ihr. Alarmiert sprang sie auf.

„Dwayne, wach auf! Da ist was!“

„Hmmm?“

„Du Schnarchnase!“

Gwen griff nach dem schweren Schwert, das sie von Elijah bekommen hatte.

„Keine Angst Gwen, ich bin es nur!“ Mikes roter Haarschopf leuchtete aus dem Gebüsch vor ihr heraus, das Pferd führte er hinter sich.

„Mike!“, rief sie erleichtert und ließ die Waffe sinken. Dann blickte sie ihn fragend an. „Wo ist Elijah? Habt ihr euch getrennt.“

Mike erklärte nur kurz, dass es noch etwas in der Prophezeiung gab, das Elijah ihnen nicht hatte sagen dürfen. Und dass sie den letzten Reiter besiegen mussten, sonst wäre alles zu spät. Er brachte es nicht über sich, die ganze Wahrheit zu sagen. Ihm selbst tat sie viel zu weh.

Dwayne wollte gerade ebenfalls etwas dazu sagen, als sie von Weitem den weißen Reiter erblickten.

Als ob er sie gesucht hätte, um die Sache zu Ende zu bringen.

Ein wenig erleichtert waren sie alle drei, als sie aufsaßen und ihm entgegenritten.

 

Der weiße Reiter erwartete sie.

„Zu dritt wollt ihr gegen mich antreten?“, rief er ihnen von Weitem zu. „Ich erlaube es euch, denn ihr scheint mir keine Kämpfer zu sein. Mich könnt ihr nur mit Kraft und Verstand besiegen. Kämpf gegen mich und erbeutet meinen Bogen, so lasse ich euch am Leben.“

Er gestand ihnen eine kurze Bedenkzeit zu, doch einen wirklichen Plan hatten sie nicht. Um einen Überraschungsangriff zu starten, war es zu spät. Was blieb ihnen viel anderes übrig, als es frontal zu versuchen.

Der Reiter machte sich fertig: „Seid ihr bereit?“

Mike nickte seinen Freunden zu und auf sein Zeichen zogen alle drei das Schwert und preschten in donnerndem Galopp von drei Seiten auf den Reiter zu. Dieser verharrte, wo er stand, und spannte gemächlich die Sehne des Bogens.

Dwayne duckte sich und hörte noch, wie der Pfeil über ihn hinwegzischte, ohne ihn zu treffen. Doch kein Weiterer folgte. Inzwischen war nur noch ein Meter zwischen dem Reiter und ihm. Beflügelt von dem geglückten Ausweichmanöver vorher hob Dwayne die Klinge seines Schwertes an die Kehle des Reiters.

„Gibst du auf?“, rief er siegessicher.

„Du dummer Mensch!“ höhnte der Reiter. „In dem Moment, in dem du mir in die Kehle stichst, wird auch deine kleine Freundin sterben! Ich brauche nur die Sehne loszulassen …“

Verzweifelt blickte er zwischen Gwen und dem Reiter hin und her.

„Tu es! Vielleicht muss es so sein.“ Gwens Blick war auf den Boden gerichtet.

„Ich kann das nicht!“

„Wenn du zögerst, wird das Opfer eures Freundes vollkommen umsonst sein“, sagte der weiße Reiter.

Dwayne sah ihn verständnislos an.

„Weißt du denn nicht, dass einer aus der königlichen Linie Garets sein Leben hingeben muss?“

„Elijah?“, fragte Dwayne leise und sah zu Mike hinüber. „Ist er schon ...?“

„Noch nicht.“

Der Weiße blickte belustigt zwischen ihnen her. Weidete sich an Dwaynes Zwiespalt.

„Nein Gwen.“ Dwayne warf sein Schwert zu Boden. „Egal was passiert, ich werde dich nicht töten. Niemals. Selbst dann nicht, wenn es das Ende der Welt bedeutet …“

Plötzlich tat sich der Himmel über ihnen auf, ein Lichtstrahl erhellte die Umgebung. Ganz geblendet von dem Licht, bemerkten sie erst spät, dass sich eine weiße Taube aus den Wolken löste und zu ihnen nach unten flatterte.

Niemand sagte etwas, selbst der Reiter blickte auf den Vogel, der sich nun auf seinen Bogen setzte und leise gurrte. Mit einem Mal ließ der weiße Reiter den Bogen sinken, als wäre er ihm zu schwer. Seine Hand öffnete sich und seine Waffe fiel ins Gras.

„So habt ihr mich doch noch besiegt. Nicht mit List, nicht mit Kraft, sondern mit Liebe.“ Da schien er mit dem Lichtstrahl eins zu werden und war Momente später verschwunden.

 

*

 

Zur gleichen Zeit war auch Elijah an dem Platz angekommen, an dem er den Tod erwartete: Ein Friedhof. Elijah stand auf einem Hügel, auf dem man über den ganzen Ort sehen konnte. Es war unheimlich, so ganz im Dämmerlicht, das herrschte, seit sie wieder in diese Welt zurückgekehrt waren. Er wünschte sich, nicht hier zu sein, sondern zu Hause und mit dem guten alten Sir Archibald über den neuesten Tratsch zu reden und dabei eine gute Tasse Tee zu schlürfen.

Er schloss die Augen, nur für einen Moment und hoffte, dass wenn er sie öffnete, alles nur ein besonders langer Albtraum war. Aber es war kein Traum.

Der Wind blies durch sein Haar und Elijah schauderte. Er zog seinen Umhang noch fester um sich und wartete. Wenn wenigstens Mike bei ihm gewesen wäre, um ihm beizustehen.

Auf der anderen Seite des Friedhofs tauchte der Reiter auf. Elijah fröstelte und zog den Umhang fester um sich. Sein Herz blieb für einen Augenblick stehen, als der Reiter näherkam. Sein Schicksal zu kennen, machte es ihm trotz allem nicht leichter.

Der Reiter kam näher. Nur ein kleines Stück, doch es wurde immer kälter. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen beobachtete Elijah, wie sich langsam eine Hand aus der noch feuchten Erde schob. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Auch in den anderen Gräbern regte es sich. Und der vierte Reiter ist der Tod selbst und mit ihm die ganze Schar der Toten......

Jetzt wusste er, was das bedeutete.

Je näher der Tod ihm kam, desto mehr Menschen um ihn herum stiegen aus der feuchten Erde. Er blickte in starre Augen, nichts regte sich in ihnen. Sie standen einfach still. Sagten nichts, stöhnten auch nicht wie Zombies. Vielleicht warteten sie auf Elijah, damit er zu ihnen stieß.

Dann stand er vor ihm. Der letzte Reiter. Durchscheinend wie ein Geist stand er vor ihm, mit seinem Pferd, das ebenso unwirklich schien wie er selbst.

„Dir steht schon die ganze Zeit eine Frage im Gesicht geschrieben, willst du sie nicht stellen?“, fragte der Tod mit sanfter Stimme.

„Muss ich jetzt sterben?“

„Die Prophezeiung sagt: Einer aus dem königlichen Geschlecht des Landes Garet muss aus freiem Willen sein Leben in die Hände des Todes begeben“, antwortete der Tod und stieg von seinem Pferd.

Also musste es so sein. Es gab keinen Ausweg.

Elijah kniete sich hin, senkte den Kopf.

„Bitte töte mich schnell.“

Er schloss die Augen.

„NEIN! Tu das nicht!“, hallte ein Schrei über den Friedhof.

Das war Mikes Stimme! Das durfte nicht sein!

Hinter dem letzten Reiter kam er mit Gwen und Dwayne immer näher.

„Geh, Mike! Es muss so sein. Ich muss die Prophezeiung erfüllen! Wenigstens ihr sollt leben können und alle anderen in Garet und hier.“

Elijah sah auf zum Tod. „Bring es zu Ende.“

„Du hast dein Leben in meine Hände gelegt aus freiem Willen. Was ich damit mache, das überlasse mir“, antwortete der Reiter. „Ich habe nicht nur die Macht, dein Leben zu nehmen, sondern auch die Freiheit, es dir zu lassen.“

Verwirrt blickte Elijah ihn an.

„Steh auf. Du wolltest mit ganzem Herzen diese und deine Welt beschützen, hättest dein Leben dafür gegeben. Aus freiem Willen. Und so hast du meine Prüfung bestanden. Die Zeit ist noch nicht gekommen.“

Plötzlich verschwand der letzte Reiter mitsamt seinem Pferd.

Elijah rannte auf den Hügel. Auf dem Friedhof war es wieder ruhig, die Gräber verschlossen. Er setzte sich erschöpft in das feuchte Gras.

Mike trat neben ihn und legte seine Hand auf Elijahs Schulter. Dann kamen auch Gwen und Dwayne dazu. Hand in Hand.

Gemeinsam sahen sie, wie der erste Sonnenstrahl am Horizont auftauchte und alles in sein goldenes warmes Licht tauchte.

 

Elijah musste nun, da das Ende abgewendet war wieder in seine Welt zurückkehren, so sehr es Mike und seine Freunde bedauerten.

Doch es blieb nicht ihr letzter Besuch in Garet.

 

Ende Teil 1

Impressum

Texte: Lumien / Eve Flavian
Bildmaterialien: Christof Zach / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

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