Alles fing an einem kalten Tag im Dezember an. Zu dieser Zeit waren wir beide 13 - ich und mein Zwilling Chris. Der kleine See in unserem Heimatdorf war endlich zugefroren und die ganze Jugend des Örtchens versammelte sich dort zum Eislaufen. Chris war schon längst auf dem Eis und zog die bewundernden Blicke der anderen auf sich. Er war schon immer kontaktfreudiger gewesen als ich. Wer ihn sah, wollte seine Freundschaft gewinnen. Obwohl ich ihm äußerlich bis aufs letzte Haar glich, so waren wir doch im Wesen von Grund auf verschieden. Aber für uns war das kein Hindernis, wir waren ein verschworenes Zwillingspaar, das in jedem Fall zusammenhielt. Doch seit ich denken konnte, hatte ich das Gefühl auf eigenartige Weise anders als andere zu sein. Mit niemandem konnte ich darüber reden, nicht einmal mit Chris.
Als ich ihn an diesem Tag beobachtete, fiel mir ein anderer Junge auf, der genauso wie ich, jede Bewegung Chris‘ mit Bewunderung verfolgte. Er hatte blondes Haar, das vom Wind in alle Richtungen geblasen wurde und blaue Augen. Ganz genau prägte ich mir die feinen Gesichtszüge in meine Erinnerung ein. Oft sah ich das lachende Gesicht des Jungen vor mir. Ich wünschte mir, dass ich seine Freundschaft gewann. Mit meiner fortschreitenden Entwicklung stellte ich mir andere Dinge vor, die wir miteinander taten. Eigenartige Gefühle waren das, ich spürte, was das bedeutete. Ich war nicht normal. Abartig. Niemals konnte ich das jemandem anvertrauen. Anstatt dessen vergrub ich mich zu Hause und stürzte mich in Arbeit für die Schule. Nicht lange dauerte es, bis ich meinen Zwillingsbruder in fast allen Fächern um Längen überholt hatte.
Chris zuckte nur mit den Schultern, ihm war das egal. Die Mädchen waren ihm viel wichtiger.
„Tina ist klasse, findest du nicht auch? Und Sabine erst.“
Es schien mir, als könne mein Bruder nur noch über Haarfarben, Beinlängen und Brüste reden. Dabei interessierte mich das alles nicht die Bohne. Ich fühlte mich allein gelassen mit meinen Gefühlen und begann sie regelrecht zu hassen. Ich hasste auch mich dafür.
Ich vermied es mit Chris über Mädchen zu reden, denn ich wollte nicht, dass er etwas ahnte. Seine Einstellung gegenüber Andersartigem war erschreckend. Ein Mann könne keinen Mann lieben. Es sei ekelerregend, geradezu pervers. Kam ihm auch nur einer seiner Klassenkameraden zu nahe, beschimpfte er ihn als „Schwuchtel“.
Ich machte mir große Vorwürfe, dass ich diese abnormalen Gefühle hatte, schämte mich für jeden unzüchtigen Gedanken, begann mich dafür zu bestrafen. Noch heute zeugen unzählbare dünne rote Linien davon, mit welcher Gewalt, mit welcher Vehemenz ich mich gegen die verbotenen Gefühle zu wehren versuchte.
Mit 15 hatte ich meine erste Freundin. Maja, eine Klassenkameradin. Ich mochte sie wirklich, doch ich wusste ebenso, dass ich sie niemals von Herzen lieben konnte. Und dafür hasste ich mich, verfluchte jede Berührung, jeden Kuss. Denn das alles tat ich gegen den Willen meiner Gefühle. Und eben diese bestrafte ich immer härter. Es musste doch möglich sein dieses Mädchen zu lieben! Ohne sich dabei Micha aus der Parallelklasse herbeizuwünschen.
Irgendwann kam, was kommen musste. Das berühmt-berüchtigte erste Mal. Wie ich es hasste. Voller Selbstverachtung suchte ich mir die schlimmste aller Bestrafungen aus. Denn die abnormalen Gefühle waren nur dann abzustellen, wenn ich meinem Leben ein Ende setzte. Ich schnitt mir die Pulsadern auf.
Doch der Versuch schlug fehl. Meine Familie war entsetzt, sie verstanden mich nicht und ich verlor kein Wort über die Sache, deshalb befand meine Mutter, dass es besser war, einen Psychologen aufzusuchen. Als dieser sich keinen Rat mehr wusste, überwies er mich in die Jugendpsychiatrie. Soweit war es also gekommen. Mit 15 Jahren hatte mich meine Abnormalität in die Klapse gebracht. Zunächst untersuchten die Ärzte, ob ich mir in der Zwischenzeit neue Wunden beigebracht hatte. Ich hatte. Sie versuchten herauszufinden, weshalb ich das tat. Erst in Gruppengesprächen, dann einzeln. Doch ich antwortete nicht auf ihre Fragen. Wollte nichts von mir preisgeben.
Ich war im selben Zimmer mit Fabian. Er litt an Magersucht und hatte wie ich einen Selbstmordversuch hinter sich. Er sei auf dem Weg der Besserung, erklärte er mir.
„Ich habe Schuldgefühle, sagen die Ärzte. Sie verstehen nichts“, erzählte er mir am ersten Tag. „Und weshalb bist du hier?“
Wortlos zeigte ich ihm meine geschundenen Unterarme und die noch immer verbundenen Handgelenke.
„Aha. Solche Fälle kenne ich“, meinte Fabian fachkundig.
„Ach wirklich? Tust du das?“ Ich sah meinen Zimmernachbarn herablassend an. Was verstand er schon meinen Gründen? Wieso ließen sie meine Bestrafung nicht einfach zu, damit ich so normal war wie jeder andere?
In den ersten Tagen sagte ich kaum ein Wort. Aß fast nichts.
Peter, einer der Pfleger nahm mich beiseite.
„Was ist los? Verstehst du dich nicht mit Fabian?“, fragte er.
„Nein, das ist es nicht. Wir verstehen uns gut.“
„Was denn dann? Mir kannst du es doch sagen ...“, versuchte er mein Vertrauen zu gewinnen.
Doch konnte ich ihm wirklich trauen? Wohl eher nicht. Er würde ohne Skrupel zu den Ärzten gehen und ihnen haarklein alles berichten. Ganz sicher. Ich würde es schon noch schaffen meine Gefühle ohne Hilfe unter Kontrolle zu halten.
Nach zwei Wochen gewöhnte ich mich daran, dass man mich wie einen Schwerkranken behandelte. Mit Fabian verstand ich mich immer besser, wir wurden langsam Freunde. Die Ärzte bestätigten ihm schon seit einiger Zeit, dass er auf dem besten Weg zu Heilung war. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis Fabian die Tür aufriss und über das ganze Gesicht strahlend erzählte, er werde in zwei Tagen entlassen.
Ich freute mich ehrlich für den 3 Jahre Älteren, doch andererseits wollte ich auch nicht meinen einzigen Freund hier verlieren.
Den ganzen darauf folgenden Tag konnte Fabian nicht still sitzen, fegte wie ein Wirbelwind durch die ganze Station und machte sich früher als sonst bettfertig, als würde Zeit so schneller vergehen, damit er endlich diesen Ort verlassen konnte. Der Gedanke an Abschied machte mich traurig, ich sah betrübt auf meine Bettdecke, blickte nicht auf, als mein Zimmergenosse den Raum betrat, mit nacktem Oberkörper, da er gerade vom Duschen kam. Fabian setzte sich neben mich auf das Bett.
„Was hast du denn?“, fragte er leise. Mit sanfter Gewalt drehte er meinen Kopf so, dass ich ihm in die rehbraunen Augen sehen musste.
„Bist du traurig, weil ich morgen gehe? Kein Problem, ich werd dich besuchen. Ok?“
Ich hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Kein Wort kam über meine Lippen, ich konnte nur nicken. Das Gefühl, das mich in diesem Moment ergriff, werde ich wohl nie vergessen. Es war der Moment, als sich unsere Lippen zum ersten Mal berührten. Ich war den Tränen nahe. Drückte Fabian von mir weg. Hatte ich nicht für immer den abnormalen Gedanken und Gefühlen abgeschworen? Wären die Fenster nicht vergittert gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich in die Tiefe gestürzt.
„Timo, es tut mir leid, wenn ich irgendetwas getan habe, dass du nicht wolltest.“ Fabian sah mich fast verzweifelt an.
Die Tränen liefen wie Sturzbäche über meine Wangen. Unter zahllosem Schluchzen erklärte ich ihm, ich wolle nicht pervers sein, ich wolle einfach nur normal sein.
Fabian hielt mich fest und flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr. Ich sei nicht merkwürdig, oder gar pervers, sondern einzigartig und wundervoll, dass es auch bei ihm gedauert hatte, bis er seine Neigungen akzeptieren konnte.
Erschöpft vom vielen Weinen schlief ich schließlich in den Armen meines Freundes ein.
Am nächsten Tag fühlte ich mich besser, viel besser. Zum ersten Mal erzählte ich in meiner Therapiestunde von meinem Zwillingsbruder, seiner Auffassung von Normalität, und dass ich nicht in sein Bild passte, dabei wollte ich doch ihm und meinen Eltern gefallen. Ich erzählte von meiner eigenen Art mir die ‘perversen und abnormalen’ Gedanken auszutreiben. Der Therapeut begann zu verstehen, was in mir vorging. Wollte immer mehr von meinem Leben und meinen Gefühlen wissen. Ohne zu zögern, gab ich Auskunft. Ich galt als Wunder. Fabian hatte mein Leben von Grund auf verändert in nur einem kleinen Moment.
Fabians letzter Abend in der Klinik gehörte ganz mir. Beim Abendessen hatte er sich flüchtig von den anderen verabschiedet.
Kaum waren wir in unserem Zimmer, begann er mich zu küssen. Ich hielt ihn nicht davon ab, ließ mich einfach treiben. Unvorstellbar waren die Gefühle, die mich in dieser Nacht überrollten. Überglücklich lag ich in seinem Arm. Flüsterte immer wieder leise „Ich liebe dich.“
Fabi antwortete, er liebe mich auch und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
„Ich besuche dich bald. Versprochen.“ Fabian drückte mich noch ein letztes Mal an sich und küsste mich, bevor er zur Tür ging.
„Ich liebe dich Fabi“, sagte ich leise.
„Ich dich auch, Timo.“ Er lächelte. „Und denk daran: Wenn du pervers bist, dann bin ich es ebenfalls“, fügte er schelmisch lächelnd hinzu.
Ich flehte die Ärzte förmlich an, meiner Familie nichts von meiner Homosexualität zu erzählen. Mittlerweile nannte ich die Sache beim Namen, umschrieb es nicht mehr mit „Abnormal sein“. Mir wurde versichert, dass alle Akten vertraulich behandelt wurden, weil selbst sie ohne meine ausdrückliche Erlaubnis meinerseits der Schweigepflicht unterlagen. Zwei Wochen später holte mich meine Familie ab. Ich schrieb an Fabian, damit er wusste, wo er mich suchen musste.
„Bist du jetzt wieder in Ordnung, Bruderherz?“, fragte Chris lächelnd.
„Mir ging es nie besser“, bestätigte ich.
Es stimmte, die 10 Wochen in der Klinik hatten mich verändert und sogar das Schuljahr konnte ich noch schaffen, wenn ich mich ein wenig anstrengte. Meine Familie war glücklicher denn je. Plötzlich blieb ich nicht mehr nur zu Hause, sondern ging aus und fing sogar an Karate zu trainieren. Während dieser Zeit schrieb Fabian mir nur ein einziges Mal. Er engagierte sich für ein Hilfsprojekt im Ausland und konnte mich vorerst nicht sehen. Ich war erst unglücklich, dann hatte ich nur noch Sehnsucht, die ich nicht in Worte fassen konnte.
Eines Tages stand er dann auf einmal vor der Tür. Er hatte sich kaum verändert, nur die Haare waren länger und er hatte noch an Gewicht zugenommen. Ich gab mir keine Mühe den Ärger zu verbergen, warum hatte er sich nicht öfter gemeldet? Fabi nahm mich in den Arm. „Sei nicht böse, ich liebe dich doch!“ Wie von allein verflog meine Wut. Ich war nur noch überglücklich.
„Ich habe eine große Überraschung für dich“, erklärte der Fabian. „Ich habe einen Job in der Nachbarstadt bekommen und wohne jetzt ganz in der Nähe.“
„Wirklich?“, wollte ich wissen. Meine Augen begannen zu glänzen. Stürmisch küsste ich meinen Fabian, wollte ihn nicht mehr loslassen. Ich verwickelte ihn in eine kleine Kissenschlacht, bis wir lachend auf meinem Bett liegen blieben. Ich streckte mich wohlig aus, als Fabian begann meinen Rücken zu massieren.
Plötzlich flog die Tür auf. Chris stand im Zimmer. Er war so weiß wie meine Zimmerwand. Dann stürmte er wieder hinaus, wir hörten nur noch das Knallen der Haustür.
Ich sah meinen Zwillingsbruder erst im Bad kurz vorm Schlafengehen wieder. Ich bemerkte ihn, als ich nur mit einem Handtuch bekleidet aus der Dusche stieg.
„Na hattest du einen schönen Tag mit deinem ‘Freund’?“, fragte Chris mit unverhohlenem Spott in der Stimme.
„Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst“, fing ich an, doch er ließ mich nicht weitersprechen.
„Ach wirklich, wie denn dann?“
„Bitte, lass uns nicht streiten, akzeptier mich einfach, wie ich bin“, bat ich ihn.
„Ich soll einen Perversen als Bruder akzeptieren?“, rief Chris aufgebracht. Er drängte mich an eine Wand.
Angst überfiel mich, was hatte er vor? Ich schloss die Augen und erwartete den ersten Schlag. Doch der kam nicht. Stattdessen ließ mein Bruder mich los und sank kraftlos auf den Boden.
„Was hast du?“, fragte ich sanft und kniete mich neben ihn.
Ich nahm meinen Bruder in den Arm.
„Ich bin doch genauso wie du!“, schluchzte Chris an meiner Brust. Fragend blickte ich in mein Spiegelbild. „Ich bin ... eine verdammte Schwuchtel!“, brach es aus ihm heraus.
Konnte das sein, war das möglich? Er hatte sich genauso gequält wie ich. Er hatte sich für abnormal gehalten. Er hatte seine Gefühle ebenfalls verdrängt und sich selbst verhöhnt mit seiner Homophobie.
„Hör auf zu weinen. Wir sind nicht abnormal, wir sind nur Menschen, merk dir das!“
Letztlich sind wir doch nicht so verschieden, wie ich immer dachte, hatte er doch dasselbe hinter sich wie ich.
Das alles ist jetzt zwei Jahre her. Fabian und ich leben zusammen in seiner Wohnung. Chris wohnt nicht weit von uns entfernt mit seinem italienischen Freund Gabriele zusammen. Ich werde jetzt erstmal mein Abitur machen, dann Psychologie studieren und möchte später in einer Beratungsstelle für jugendliche Homosexuelle arbeiten.
Immer wenn ich mich an die Zeit vor zwei Jahren zurückerinnere, werde ich traurig. Meine Jugend ist verschwendet und kommt nie zurück. Dann nimmt mich Fabi in die Arme und flüstert leise meinen Namen.
Texte: Eve Flavian / Lumien
Bildmaterialien: http://www.freedigitalphotos.net/images/Younger_Men_g118-Young_Man_p13082.html / Cover Design: Celine Blue
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Celine Blue, meine liebe Freundin, die mich in allen Lebenslagen unterstützt und mir immer wieder die Motivation zum Weitermachen gibt!