Verzweifelt klingle ich an der Tür. Es ist mitten in der Nacht, aber das ist mir egal. Ein junger Mann öffnet mir die Tür, seine braunen Haare sind noch ganz verwuschelt, ich habe ihn wohl aus dem Bett geholt. Fragend blickt er mich an.
„Ich…ich brauche Hilfe…“ gestehe ich ein und er lächelt leicht.
„Na dann komm mal rein.“ antwortet mir der Mann mit ruhiger Stimme.
Verunsichert folge ich ihm.
Er drückt mir ein Bündel in die Hand. „Am besten gehst du als zuerst unter die Dusche, dann können wir reden.“
Ich nicke langsam, blicke verlegen auf meine dreckigen Schuhe und gehe dann auf das Badezimmer zu. Er schließt die Tür hinter mir.
Zum ersten Mal seit Wochen sehe ich mir selbst wieder ins Gesicht und erkenne mich kaum wieder. Verwirrt, fettig und verfilzt hängen mir die Haare ins Gesicht, auf die ich schon als Kind so stolz war. Die Farbe meiner Klamotten kann man kaum noch erraten, sie sind fast starr vor Dreck, als ich mich langsam aus ihnen heraus schäle.
Ich stelle mich unter die Dusche und genieße das warme Wasser auf meiner Haut. Langsam schäume ich meinen ganzen Körper ein und wasche mir die Haare so lange, bis nur noch klares Wasser aus ihnen heraustropft.
„Du hast so schöne Haare, Kleines…“
Ricky hat immer so gerne sein Gesicht in den langen Flechten vergraben und ihren Duft eingeatmet. „Deinen Duft und eine Reise ins Paradies, mehr brauche ich nicht zum Leben.“
hat er immer gesagt. Diese „Reisen“ waren alles, wofür wir lebten. Eine Woche ohne war kaum zu überstehen. Für ein wenig von dem „Zaubermittel“ taten wir fast alles. Aber aufgepasst haben wir immer. Nie eine Spritze zweimal benutzt, wegen Aids.
Doch gestern, gestern war alles anders. Mitten auf seiner „Reise“ begann Ricky zu unkontrolliert zu zittern und dann war es plötzlich still…
„Ricky! Wach auf!“ verzweifelt rüttelte ich an ihm. Er bewegte sich nicht. „Du Arsch! Lass mich jetzt nicht alleine! Ich brauch dich doch!“ Ich sank zu Boden. „…und das Kleine braucht dich doch auch…“
Ich bin nicht mehr stark, jetzt kann ich es nicht mehr sein. Die Erinnerung überfällt mich zu stark, ich kann mein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Ich lehne mich an die geflieste Wand und lasse die Tränen einfach laufen. Die Welt um mich herum wird schwarz. Irgendwann wird das Wasser kalt und der junge Mann holt mich aus der Dusche. Es ist mir egal, dass ich nackt bin und ihm auch. Er nimmt mich in die Arme und ich halte mich an ihm fest, als würde mein Leben davon abhängen. Ich weine so lange, bis keine Tränen mehr kommen und langsam versuche ich wieder an Haltung zu gewinnen. Der Braunhaarige wickelt mich in ein Handtuch und in einen Bademantel und trägt mich fast bis in die kleine Teeküche, wo er mich auf einem Stuhl absetzt.
Ich will etwas sagen, will mich entschuldigen und gleichzeitig bedanken, doch er hält mich mit einer Handbewegung zurück.
„Nicht sprechen. Erstmal etwas essen.“ Er stellt mir eine Tasse dampfenden Tee und ein Sandwich hin.
Bei diesem Anblick läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich beginne gierig zu essen. Er beobachtet mich die ganze Zeit mit einem nachdenklichen Gesicht.
Wahrscheinlich fragt er sich, wie es so weit gekommen ist mit mir, wo ich doch noch so jung bin. Gerade mal 18. Vielleicht kann er es aber auch ahnen, dass ich vor 3 Jahren von zu Hause ausgerissen bin und seitdem auf der Straße gelebt habe. Vielleicht kann er sich denken, was ich getan habe, um mein Leben zu finanzieren. Schließlich hat er jeden Tag mit Junkies wie mir zu tun.
„Möchtest du noch etwas?“ fragt er mich mit sanfter Stimme.
Ich schüttle den Kopf. „Danke.“
Für ein paar Minuten ist es still im Raum.
„Ricky ist tot.“ meine Stimme stockt etwas, als ich die unumgängliche Wahrheit ausspreche. „Er ist jetzt da, wo er immer nur als Besucher war…im Paradies.“
Der Braunhaarige blickt mich aufmerksam an.
„Ich konnte ihm nicht einmal sagen, dass er Vater wird. Vor ein paar Tagen hab ich den Test gemacht und er war positiv.“ Wieder schweige ich, erinnere mich zurück an den Schreck, den mir das Ergebnis gemacht hatte. Irgendwie hatte ich gedacht, dass das Ausbleiben meiner Regel mit unseren „Reisen“ zu tun hatte, also war der Schock noch schlimmer.
„Als ich ihn da so liegen sah…“ beginne ich wieder. „…da wusste ich, dass ich das nicht will. Ich will mein Kind aufwachsen sehen…“
„Es war gut, dass du hergekommen bist.“ Er lächelt wieder.
Die ersten Tage sind schlimm. Wobei das Wort „schlimm“ nicht einmal annähernd das beschreibt, in welchem Aufruhr sich mein Körper befindet. Doch ich denke immer an das Kind, das in mir wächst. Das gibt mir Kraft.
Und Jan, das ist der braunhaarige Mann, hilft mir natürlich auch sehr. Immer, wenn ich einmal nicht vom Schüttelfrost in Schach gehalten wäre, reden wir.
„Erzähl’ mir vom Paradies...“ sagt er einmal.
Ich muss ein wenig überlegen, bevor ich antworte: „Da sind Farben, unzählige Farben…manchmal ist alles rot und gelb, fast golden, mal ist der Rausch ganz wild und manchmal sanft. Das Paradies ist nie gleich, aber immer wenn man aufwacht und wieder hier ist, dann sehnt man sich zurück…“
Nachdem das Schlimmste überstanden ist, besorgt mir Jan Leinwand und Farbe. Ich beginne gleich mit dem ersten Bild.
An Ricky denke ich nur noch selten. Er gehört zu einem Abschnitt meines Lebens, mit dem ich abgeschlossen habe. Ich lebe jetzt nur noch für mein Kind. Mittlerweile zeichnet sich der Bauch auch immer mehr ab, doch das hindert mich nicht daran, in unserer WG mit anzupacken. Viele bleiben nicht länger als ein paar Tage, dann verschwinden sie plötzlich. Ein paar wechseln dann auch in andere Einrichtungen, weil wir hier gar nicht weiterhelfen können.
In allen Räumen hängen meine Bilder. Längst male ich mehr als nur das wilde Farbenmeer, das für mich einmal das Paradies war. Jan hat vorgeschlagen, ob ich nicht einmal eine Ausstellung in der Drogenberatungsstelle machen will und ich finde die Idee nicht schlecht.
Aber das muss warten, bis ich meinen Sohn zur Welt gebracht habe.
Ich weiß noch nicht genau, wie es weitergeht, aber sicher ist, es wird weitergehen.
Texte: Lumien
Bildmaterialien: cohdra / http://www.morguefile.com/creative/cohdra
Lektorat: Lumien
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2013
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