Die Lichter gingen aus, nur vom Hof schien es noch schwach durch die großen Glasfenster der Bibliothek. Die einzige Lichtquelle im Inneren war die beleuchtete Vitrine im Eingangsbereich, wo die wertvollsten und ältesten Bücher ausgestellt wurden. Eben hatte der letzte Mitarbeiter das Gebäude verlassen und für ein paar Momente herrschte Totenstille. Es war so leise, wie sonst nie, man konnte sogar eine fallende Stecknadel ohne Schwierigkeiten hören.
Doch die Ruhe war trügerisch, denn nach den paar Momenten hielt es ein druckfrisches Kinderbuch im Vorbestellregal nicht mehr aus. Raschelnd rückte es etwas aus dem engen Regal und schaffte sich ein wenig Platz. Auch die anderen Bücher, die dort dicht gedrängt standen, begannen sich ein wenig zu regen.
„Ach!“, seufzte das Kinderbuch leise. „Jetzt stehe ich hier schon 10 Tage und ich wurde noch immer nicht abgeholt! Morgen früh werde ich aussortiert und ins Regal gestellt...und wer weiß, wie lange ich dann dort bleiben muss...vielleicht werde ich auch nie ausgeliehen...meine Seiten werden langsam gelb und brüchig...und dann werde ich ausgesondert, ohne dass ich auch nur einem einzigen Kind vorgelesen wurde.“ klagte es weiter.
„Nun mal ganz ruhig, Kleines. Keiner außer dem Präsenzbestand steht nur im Regal, du musst nur etwas Geduld haben.“ meinte der schon etwas ältere Liebesroman zwei Plätze weiter. „Sogar ich werde noch ausgeliehen und jetzt auch noch vorbestellt, obwohl ich schon recht alt bin. Ich wurde nämlich erst vor kurzem verfilmt...“ Stolz raschelte sie mit ihren Seiten.
„Ach ihr...was macht ihr euch denn so wichtig? Was wisst ihr schon? Ihr seid doch nichts anderes als Trvialliteratur!“ meldete sich nun ein betagtes Lexikon aus dem untersten Regalbrett, das so groß und dick war, dass es sich nicht einmal aufrecht hinstellen ließ. „Auf meinen Seiten stehen wirklich wichtige Dinge, die die Welt bewegen. Ich bin nicht einmal in dieser Bibliothek zu Hause.“ Es deutete auf seine Signatur. „Ich bin so schrecklich wichtig, dass man mich mehrmals im Jahr durch ganz Deutschland schickt und so wertvoll, dass man mich nur im Lesesaal ansehen darf.“ Es ließ sich vorsichtig vom Regal auf den Boden gleiten. „Ich muss schon sagen, ihr habt es ganz schön eng hier. Ich wurde auch schon deutlich besser behandelt.“
„Jo Alter! Ich bin auch 'n cool krasses Lexikon, also spiel dich nicht auf, als wärst du etwas Besseres als wir!“ rief das Hip-Hop-Lexikon von ganz oben herunter.
Auch von den anderen kam zustimmendes Murmeln.
„Was bildet sich dieser blasierte Besserwisser eigentlich ein...“
„Wir sind mindestens genauso wichtig, wie er...“
Der neue Roman, der die Diskussion bisher ruhig mitverfolgt hat und auch sonst nicht so viel sagte, meint nur: „Was hilft es euch, wenn ihr wichtig seid und doch niemals gelesen werdet, meistens steht ihr doch nur im Regal.“
„Genau!“ ereiferte sich der junge Krimi vom zweiten Regalbrett. „Ich bin ein Bestseller und die Leute warten sehr sehnsüchtig auf mich. Jetzt warten schon 7 Leute darauf mich ausleihen zu dürfen, denn ich bin spannend bis zur letzten Seite! Könnt ihr das auch von euch behaupten?“
Mittlerweile raschelte es nicht nur am Vorbestellregal und am Eingangsbereich, sondern an jeder Stelle der Bücherei. Die hitzige Diskussion hatte sich rasend schnell in alle 2 Stockwerke ausgebreitet. Überall wurde nun darüber gestritten, welche Büchergruppe denn nun die Wichtigste war.
Die Sachbücher meinten, natürlich seien sie am Wichtigsten, denn in ihnen stünden Tatsachen oder auch Lösungen für alle möglichen Probleme der Menschen. Ohne sie könne es keine Wissenschaft geben, keine Geschichtsforschung, ohne die Sachbücher ginge ihrer Meinung nach nichts.
Die Romane waren der Meinung, dass die menschliche Natur ohne die gefühlvolle Literatur gar nicht lebensfähig sei. Die Tatsache, dass sie Menschen dazu bringen könnten zu weinen, zu lachen oder sich zu gruseln, spräche doch eigentlich schon dafür, dass sie die Wichtigsten seien.
Die Kinderbücher waren sich darüber einig, dass die Menschen ohne sie vielleicht überhaupt nicht lesen könnten und nur deshalb, weil sie existierten, auch die anderen Bücher ihren Platz auf der Welt hätten.
Wer in dieser Nacht an der Bibliothek vorbeischlenderte und den Hof überquerte, um in eine nicht weit entfernte Pizzeria zu gehen oder vielleicht auch nur den ruhigen Abend genießen wollte, klappte schon unwillkürlich den Kragen seines Mantels nach oben und schauderte in Erwartung einer eisigen Brise, die sich schließlich schon mit einem unüberhörbarem Brausen ankündigte. Doch der Spaziergänger musste wohl unwillkürlich den Kopf verständnislos schütteln, als nichts geschah.
Irgendwann konnten sich die Bücher vor lauter aufgeregtem Geraschel schon selbst nicht mehr verstehen. Es reichte einfach.
„RUHE!“ brüllte dann plötzlich der in Leder gebundene Goethe-Gedichtband aus seiner beleuchteten Vitrine. Sein Schrei kam so unvermittelt, dass jeder Laut auf einen Schlag verstummte. „Seid ihr denn alle verrückt geworden?“ polterte das älteste Buch der Bibliothek.
Verschämt blickten sich die Streithähne an und erklärten ihm schließlich, was diesen ganzen Aufruhr ausgelöst hatte.
Der Goethe-Band überlegte kurz, während die Bücher um ihn herum es erwartungsvoll anblickten.
„Als Erstes sollten wir uns alle hier unten versammeln.“ meinte er ruhig.
Nach der kurzen Totenstille erhob sich nun wieder ein Brausen, von Tausenden und abertausenden von Büchern, die bis vom zweiten Stockwerk herunterflatterten, um sich um die gläserne Vitrine zu versammeln. Der Goethe-Band wartete so lange, bis auch das letzte Taschenbuch und das dickste Lexikon sich eingefunden hatten.
Ehrfurchtsvoll blickten sie auf das älteste Buch, das so beleuchtet wie es war, auch ein wenig zum Fürchten aussah. Nicht für einen Menschen, aber für ein druckfrisches Buch, das noch niemals ein älteres Buch gesehen hat, ist es wohl ein sehr beängstigender Anblick.
Jedenfalls genoss Goethe diesen Augenblick der Bewunderung, plusterte sich noch ein wenig mehr auf und rückte sich günstig ins Licht, so dass der eingefettete Ledereinband schön glänzte. Er räusperte sich noch einmal, bevor er den anderen seinen Plan unterbreitete: „Ich schlage euch Folgendes vor: Von jeder Gruppe wird ein Vertreter ausgelost. Nachdem alle drei ausgeliehen worden sind, wird sich schon zeigen, wer den größten Einfluss auf das Leben der Menschen hat.“
Nach dieser nächtlichen Versammlung verging einige Zeit, schließlich mussten die drei auserwählten Bücher erst einmal ausgeliehen werden.
Ein wissenschaftliches Lexikon, auf das das Los gefallen war, hatte es da besonders schwer, denn es klebte ein großes Schild auf ihm, auf dem „NICHT ENTLEIHBAR“ stand. Nach längerem Überlegen machte sich dann schließlich eines der Computerbücher daran, den Status des Lexikons in der Datenbank zu verändern. Dies führte bei der morgendlichen Dienstbesprechung zu Verwirrung, denn keiner der Mitarbeiter – und da waren sie sich sicher – hatte nachts um 22.30 am PC gearbeitet, aber genau das sagten die Protokolle in der EDV-Abteilung. Nachdem diese Hürde genommen war, arbeiteten die anderen Sachbücher daran, das Schild irgendwie zu entfernen und das dauerte auch wieder ein paar Tage, denn wenn man keine Hände hat, ist es wirklich schwer, etwas abzukratzen.
„Schiebung!“ protestierte der eingebildete Bestseller, als er davon erfuhr. „Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen!“
Doch der alte Goethe-Band entschied, dass zum Zwecke der Gleichberechtigung auch dieses Mittel nur recht und billig war. Jeder der Auserwählten sollte schließlich dieselbe Chance von vier Wochen haben. Da war Widerstand zwecklos.
Es war das Kinderbuch, das als Erstes über die Theke, in die Arme eines kleinen fröhlichen Mädchens wanderte. Überglücklich raschelte es den anderen zu, während die Mutter des kleinen Mädchens es in die Stofftragetasche, zum frisch gekauften Gemüse und Obst vom Markt, verstaute.
Noch am gleichen Tag verließ auch der Bestseller die Bibliothek und blickte triumphierend auf die anderen Bücher, als er von einem jungen ernsten Mann im Anzug an die frische Luft getragen wurde.
Die Bibliothekarin wunderte sich als sie den Strichcode des Lexikons einlas. „Komisch,“ dachte sie. „Ich könnte schwören, dass ich selbst vor kurzem den Aufkleber „Nicht entleihbar“ auf diesem Buch erneuert habe.“ Doch schließlich schüttelte sie den Kopf und schob dem grauhaarigen Mann das ausgesuchte Buch hin. Wenn man in diesem Moment genau hinhörte, konnte man ganz oben unter dem Dach bei den Sachbüchern ein erleichtertes Rascheln hören und auch leises Gekicher über die gelungene Täuschung.
„Fünfmal hat mich das kleine Mädchen gelesen! Fünfmal! Stellt euch das einmal vor!“ rief das Kinderbuch ganz begeistert, als es von seinem Ausflug nach draußen erzählte. „Und jedes Mal haben ihre Augen ganz wunderschön geglänzt. Selbst, wenn ich jetzt nicht mehr ausgeliehen werde, allein für diese leuchtenden Augen hat es sich gelohnt!“
Amüsiertes Geraschel erhob sich in der Versammlung und leises Flüstern.
„Törichtes Ding!“
„Was nützen den Menschen glänzende Augen?“
„Ich wette, das Mädchen weiß jetzt schon nicht mehr, wie das Buch hieß und worum es ging.“
Das Kinderbuch erschrak. „Aber ich handle doch von Freundschaft, das ist doch etwas Wichtiges! Das muss doch jeder wissen.“
„Armes Ding, du musst noch viel lernen!“ sagte ein betagtes Bilderbuch. „Freundschaft zählt bei den Menschen nichts. Nur Macht und Ruhm und Geld.“
Traurig verließ das kleine Buch die Versammlung und stellte sich ruhig an seinen Platz. Es hatte versagt, das wusste es und egal wie oft es nun noch ausgeliehen wurde, niemals könnte es diese Schande vergessen, denn es war unwichtig und bedeutete den Menschen nichts.
„Der Opa war gar kein Opa!“ eröffnete das Lexikon seine Erzählung. „Er war Wissenschaftler! Mit meiner bescheidenen Hilfe – Ich bin ja nun doch auch schon etwas älter – hat er erstaunliche Erkenntnisse bestätigen können.“ Ein anerkennendes Rauen ging durch die Halle.
„Mit dieser Erfindung könnte sich die Welt verändern. Vielleicht kann bald die ganze Erde mit seiner Erfindung Energie gewinnen!“ schwärmte das Buch. „Sicher kann er damit einige Preise gewinnen und damit noch weiter arbeiten.“
„Wahrscheinlich wird es noch eine Weile dauern, bis die Entdeckungen deines Menschen bekannt werden und bestimmt wird es auch dann wieder Bücher und Abhandlungen darüber geben. Es bleibt also noch abzuwarten, was geschehen wird.“ meinte der Goethe-Band. „Bis dahin heißt es Geduld bewahren und außerdem müssen wir noch erfahren, was der Dritte im Bunde zu sagen hat.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Bestseller wieder an der Versammlung teilnehmen konnte und er wieder nach Hause zurückkehrte. Sein kurzzeitiger Besitzer hatte sich wirklich viel Zeit gelassen und wurde deshalb auch gut zur Kasse gebeten.
Das alles berichtete er auch stolz, als ihn alle bei der abendlichen Zusammenkunft erwartungsvoll absahen.
„Durch mich ist der junge Mann auf eine wahrhaft große politische Theorie gestoßen. Oder vielmehr so: Er arbeitete schon eine ganze Weile daran, aber er kam irgendwie nicht weiter, also suchte er Zerstreuung bei meiner Lektüre. Und plötzlich, mittendrin legte er mich weg und zog seine Aufzeichnungen hervor. Er begann mit neuem Mut und schaffte es endlich seine Theorie fertig zu stellen!“ berichtete der Bestseller aufgeregt. „Vielleicht werden sich in ein paar Jahren ganze Staaten nach seiner Theorie richten!“
Nachdem nun alle drei Bücher von ihren Erlebnissen berichtet hatten, warteten alle auf die Entscheidung des Wettstreits. Der Goethe überlegte lange und gründlich und dachte zeitweise sogar darüber nach, die Zeit entscheiden zu lassen, aber er wusste schon, dass die anderen Bücher mit dieser Entscheidung nicht zufrieden sein würden. Schließlich fällte er eine für ihn zufrieden stellende Entscheidung.
„Meine Lieben, dieses Urteil ist mir nicht leicht gefallen, aber ich hoffe ihr seid damit einverstanden. Hiermit erkläre ich das Lexikon und den Roman zu den beiden Siegern. Ihr beide habt das Leben der Menschen, bei denen ihr wart, entscheidend verändert.“
Sachbücher und Romane jubelten, während das kleine Kinderbuch sich traurig weit hinten im Regal versteckte und sich noch einmal der vollen Schande bewusst wurde, die es den anderen Kinderbüchern angetan hatte.
Jahre um Jahre vergingen. Der Wettstreit war längst vergessen.
Die bahnbrechende Erfindung des älteren Herren gewann die höchsten Preise und Auszeichnungen. Der alte Mann starb nach Jahren weiterer Forschung und kurz nach seinem Tod wurde dann aus heiterem Himmel herausgefunden, dass sich die Erfindung auch wunderbar im Krieg verwenden ließ.
Der junge Mann mit der neuartigen politischen Theorie wurde ein alter Mann, der Massen an Menschen fand, die ihm zustimmten, die ihn verehrten und als politisches Oberhaupt sehen wollten. Also gründete er eine Partei, mit der er noch mehr Menschen überzeugte. Schließlich versuchten diese Menschen die Regierung zu stürzen und stürzten das Land stattdessen in einen grauenhaften Bürgerkrieg. Natürlich wurde auch die gut gemeinte Erfindung, die doch eigentlich dem Volk helfen sollte, gegen die Revolutionsbewegung eingesetzt.
Tausende Bücher wurden unter Schutt begraben, oder wurden verbrannt in einer kalten Winternacht. Die Bücher, die sich noch an den Wettstreit erinnern konnten, die den beiden Siegern zugejubelt hatten, schämten sich nun für ihren Hochmut, das Leben der Menschen verändern zu wollen. Denn ihre Macht war gefährlicher als sie gedacht hatten.
Der Krieg war vorbei, die Menschen, die noch übrig waren, suchten unter den Trümmern nach etwas Brauchbarem.
Ein kleines Mädchen zog ein verdrecktes staubiges altes Kinderbuch hervor. „Freunde“ stand darauf.
„Mama, liest du mir vor?“ Und da war es wieder, dieses Glänzen in den Augen! In diesem Moment war dem Kinderbuch klar, dass es der eigentliche Sieger dieses Wettstreits war. Aber eigentlich kümmerte es das kein bisschen, solange der Glanz in diesen Kinderaugen niemals erlosch.
Texte: Lumien
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Lektorat: Lumien
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2013
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