Prolog
Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, das erste Kapitel dieses Buches ohne den Prolog lesen, werden Sie sicher noch viele unbeantwortete Fragen haben. Eine davon werde ich jetzt beantworten.
„Wie kam es nur dazu?“
Denn der genaue Anfang dieser Geschichte spielte sich bereits 23 Monate vorher ab. Das erste Kapitel fängt zwar mit: „Unsere Geschichte beginnt…“ an, aber es ist noch etwas anders. Wie, erzähle ich jetzt.
Es geschah an einem ganz gewöhnlichen Tag nach der Schule. Milli Rowley war zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt gewesen und besuchte derzeitig die 10. Klasse. Reichlich früh, aber nichts im Vergleich dazu, was Sie im Verlauf des Buches noch über dieses ungewöhnliche Mädchen erfahren werden.
Der Tag begann wie jeder andere auch. Milli ging, halb fröhlich halb traurig, von der Schule nach Hause. Auch heute war nichts besonderes geschehen. Ihre Klassenkameraden hatten sie wieder einmal gedisst, die Lehrer wollten wissen, was los war, aber Milli hatte kein Wort darüber gesagt. Nur nicht petzen, das machte es schließlich nur noch schlimmer.
Es war auch normal, dass Millis Mutter benachrichtigt
wurde, da es ihrer Tochter wohl nicht gut ginge. Und es war
ganz gewöhnlich, dass Millis Vater, ihrer Mutter den Hörer
aus der Hand gerissen, und gemeint hat, es ginge ihr doch bestens und sie solle bloß in der Schule bleiben.
Was wusste der schon?! Aber wie gesagt, es war total natürlich.
Nur eine Sache war anders. Selbstverständlich hatte Milli schon öfter Kopfschmerzen gehabt, das haben Genies öfter, doch heute waren sie ungewöhnlich stark und sie redeten. Im Ernst! Sie redeten auf das arme Mädchen ein, sodass sie beinahe eine Aufgabe der Arbeit vergessen hatte zu lösen. Was sie sagten, verstand sie jedoch nicht. Milli war sehr schlau und begriff, dass ihr Verstand ihr einen Streich spielte. Kopfschmerzen, die sprachen, also bitte!
Dennoch war ihr den ganzen Tag irgendwie unwohl bei dem Gedanken. Und das unheimliche Rascheln, das aus dem grünen Fliederbusch drang, an dem sie auf dem Nachhauseweg vorbei ging, und die Stimme, die dazu sprach, machten es auch nicht besser. „Milli…Milli…“
Natürlich war Milli auch schlau genug um zu begreifen, dass das eine Falle war. Denken Sie bloß nicht, sie sei zu dumm um das zu merken. Im Gegenteil. Sie wusste es ganz genau. Aber wie das immer so ist, war sie noch zu jung und neugierig, um es sein zu lassen. Das ist das Problem, welches Milli das ganze Buch lang plagen wird. Sie ist ein wahres Genie, aber immer noch tief im Inneren ein kleines
Mädchen.
Doch zurück zu dem beinahe ganz normalen Nachmittag. Milli stand vor dem Busch, bückte sich, um besser sehen zu können und erblickte die Augen.
Ich möchte nicht zu viel verraten…
Ich sage nur eins: Es ist ein Tag gewesen, den Milli verflucht hat und sie wünschte sich, nie auf das Geräusch geachtet zu haben.
Im Verlaufe dieser Geschichte, geschehen viele seltsame, magische, aber auch grausame Dinge, die für kleine Kinder vielleicht nicht besonders geeignet sind. Sollten sie also Kinder in ihrem Haushalt haben, rate ich ihnen dieses Buch irgendwo einzuschließen, und den Schlüssel wie ihren Augapfel zu hüten. Nur ein kleiner Tipp, zum Wohle ihres Geldbeutels, da Sie dann nicht für die Therapie zahlen müssen, welche ihr Kind anschließend höchst wahrscheinlich brauchen wird.
Viel Spaß beim Lesen!
Mit freundlichen Grüßen
Meine Wenigkeit
1 Kapitel
Unsere Geschichte beginnt an einem ruhigen und wunderschönen Nachmittag im Hause der Familie Rowley. Das heißt er war ruhig und wunderschön bis auf einmal das große Telefon in der ebenfalls großen Küche klingelte. Gedankenverloren ging ein junges Mädchen darauf zu. „Hallo?!“, fragte Milli leicht beängstigt in den grauen Hörer.
Keine Antwort. Nicht mal ein klitzekleiner Mucks war zu hören.
“Hallo?“, versuchte es das hilflose Mädchen wieder. Doch aus dem Telefonhörer kam nur ein gespenstisches Rauschen, dass es Milli eiskalt den Rücken hinunterlief. Dieses unangenehme Gefühl verstärkte sich nur, als draußen der Regen anfing laut an die gläsernen Fensterscheiben zu prasseln und der Donner in einer Angst einflößenden Lautstärke gefährlich grollte.
Sie sah den Hörer an. Ihre Gefühle waren eine seltsame Mischung aus Trauer, Angst, aber auch Wut konnte man in ihrem Minenspiel gut erkennen. Es kam einem so vor, als hätte sie nicht den Mut den roten Knopf zu drücken. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich das wortlose Gespräch unterbrach.
Inzwischen war das Unwetter in vollem Gang. Der Donner wurde immer lauter, dass er bald schon einem Erdbeben glich. Auch die Blitze begannen einzuschlagen. Sie waren so hell leuchtend, dass man fast daran erblindet wäre, wenn man direkt hinein geschaut hätte.
Milli hatte, während ich hier noch mit dir erzähle und mich total verplappere, die Küche bereits verlassen und auch in dem Flur mit dem hellen Teppichboden und dem großen, teuren Kronleuchter stand sie nicht mehr.
Aber nein.
Sie war bereits auf der dunkelbraunen Holztreppe am Ende des Eingangsbereiches. Um das zu tun was niemand hier jemals für möglich gehalten hätte.
Langsam schlich sie die geschwungenen Stufen hinauf, besser gesagt: sie schleppte sich rauf, denn man sah ich schon deutlich an, dass sie eigentlich nicht dort hoch wollte, aber irgendetwas trieb sie vorwärts. Irgendetwas zwang sie regelrecht dazu weiter zu gehen. Bei jedem Schritt und bei jeder Bewegung knarrten und quietschten die alten Stufen.
Oben angelangt trat sie vor eine kleine rosa Tür. An ihr hingen viele kleine Feen und Prinzessinnen aus Stoff und Ton, obwohl ich mir eigentlich nicht sicher bin ob es Feen oder Elfen waren, denn was genau sind die Unterschiede zwischen Feen und Elfen?
Dieser Größe und dem Aussehen nach zu urteilen war es wohl das Kinderzimmer eines kleinen etwa acht Jahre alten Mädchens. Aber Milli hatte keine Geschwister und sie selbst war eigentlich schon zu alt für solche Sachen. Aber wer wohnt denn dann dort? Was würde sie wohl dort er warten?
Kalter Angstschweiß glitzerte auf Milli´s Stirn. Ihre Kehle wurde trocken, selbst ihr Atem stand still. Jetzt räusperte sie sich noch einmal. Nun begann sie ihren weißen, knapp über das Knie gehenden, Rock und die farbig passende, kurzärmlige Bluse zu richten. Sie klopfte an. Ihr klopfen ähnelte dem Donner des Gewitters, das sich inzwischen immer noch nicht verzogen hatte.
„Herein“ rief eine leise aber keinesfalls junge Stimme.
Sie hatte einen herrscherischen Unterton und dieses unangenehme Röcheln. Schweißgebadet trat Milli ein.
Der Raum in den sie nun hineinging war ganz in schwarz gestrichen aber einige Stellen an der Wand waren auch kahlweiß. Das kam dadurch, dass das Zimmer wohl schon sehr alt war und der Putz langsam abbröckelte und von der Decke rieselte. Durch diese düstere Wandverzierung war Milli mit ihren hellen Sachen und ihren blonden Haaren nicht zu übersehen. Auch ihre Diamantohrringe glitzerten einsam in der Dunkelheit.
Sie wurde immer nervöser, aber auch große Furcht war tief
in ihr zu sehen oder war es doch etwa nur Ehrfurcht? Um sich einwenig zu beruhigen nahm eine Strähne ihrer wunderschönen Engelslocken und wickelte sie sich um den Zeigefinger.
Es war vollkommen dunkel. Man konnte seine eigene Hand kaum sehen. Auch Milli´s blaue Augen brauchten eine Weile bis sie sich an diese entsetzliche Finsternis gewöhnt hatten. Als es endlich so weit war tastete sie sich langsam vor, bis zu einer Kommode die fast gleich neben der Eingangstür stand. Aus einer ihrer Schubladen holte sie eine bereits benutzte, weiße Kerze. Und aus einer Tür des kleinen Schränkchens noch eine große Packung Streichhölzer. Langsam nahm sie eines heraus. Sie war so nervös, dass es ihr fast heruntergefallen wäre. Langsam ratschte sie es an der schon halb vermoderten Verpackung entlang. Das Hölzchen loderte kurz auf und erlosch wieder.
Oh nein!
Milli bekam es mit der Angst zu tun. Sie versuchte es mit einem der Anderen Stäbchen. Dieses Mal gelang es. Ein kleines Feuer entfachte. Als sie die Kerze damit angezündet hatte trat sofort Licht in den Raum ein. Überall standen Altmodischer hölzerne Möbel mit vergoldeten Knäufen, Klinken und Griffen. Sie waren wohl schon etwas älter, denn so etwas findet man heutzutage kaum noch.
In der Mitte des Zimmers stand ein großer Stuhl, der
überhaupt nicht zu der restlichen Einrichtung passte. Denn der schwarze Drehstuhl, wie man ihn in der Zeit aus der die Möbel kamen nicht kannte, war ganz in feinstes Leder von einer seltenen Schlange gehüllt. Jetzt war es ganz still. Nur der Donner, der Regen von draußen war zu hören. Wieder wurde Milli´s Hals trocken, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Und doch: langsam öffnete sie den Mund um etwas zu fragen:
“Ihr habt nach mir gerufen Meister?!“, fragt sie mit einer ganz heiseren Stimme.
Jetzt schien der Stuhl sich zu bewegen, drehte sich ganz langsam immer mehr und immer weiter. Schneller und schneller fing Milli´s Herz an zu schlagen, ihre Atmung begann hektisch zu werden, ihr Blutdruck stieg. Bald schon war der Sessel ganz zu ihr gerichtet. Und in ihm saß ein Junge in Millis Alter.
Er hatte schokoladenbraune Haare und auch sein T-Shirt war ganz in braun genäht worden. Doch ein paar Dinge an ihm waren sehr sonderbar. Wir zum Beispiel seine Hose. Die blaue Jeans war vollkommen kaputt.
Unten war sie zerrissen und zog Fäden, an den Knien war sie aufgescheuert. Auch das Oberteil sah nicht mehr so gut aus. Die Ärmel waren nur noch Stofffetzen, sodass man seine kräftigen Oberarme sehen konnte. Doch das merkwürdigste an ihm waren seine Augen. Diese blutroten unterlaufenden Augen. Sie sahen so gefährlich und tödlich aus, dass man hätte meinen
können man sterbe, wenn man auch nur hinein blickte. „Ja. Das habe ich.“, flüsterte der Teenager mit diesem gefährlichen Unterton, wie Milli ihn bereits vor der Tür gehört hatte.
„Wo bleibt mein Abendessen?“
Milli hasste das. Sie war doch kein Dienstmädchen! Aber sie durfte nicht widersprechen. Eine Bemerkung und es wäre vielleicht ihre letzte. „Ich wollte es gerade zubereiten.“, behauptete Milli. Jetzt wurde der Blick ihres Meisters schärfer. Wie ein Messer durchbohrte er ihre Lüge. Schnell wich sie seinem Blick aus.
„Du lügst“, rief der Junge.
„Nein, Meister!“, beteuerte Milli.
„Wag es nicht mich zum Narren zu halten!“, schrie er jetzt noch lauter.
„Bitte nicht so laut, Herr!“ Sie klang ziemlich verzweifelt. „Meine Eltern ihr wisst doch…“
„Ich weiß das du mich belogen hast.“, unterbrach er sie barsch.
„Ich bitte euch…“
Immer ängstlicher, trauriger und bemitleidender wurde
ihre Stimme. Das schien ihrem Meister zu gefallen. Ich
glaube er freute sich sogar darüber.
Wie gemein er doch war.
Aber, abgesehen von den Augen, sah er wirklich „süß“ aus, wie Millis Klassenkameradinnen es genannt hätten. Sein Gesichtsausdruck wurde wieder gleichgültig. Milli holte wieder Luft um etwas zu sagen.
„Ich werde euch nicht mehr anlügen aber…“, sie wurde nervös. Schluckte noch einmal, nahm all ihren Mut zusammen und sagte:
„dafür müsst ihr mir versprechen leiser zu sein.“ Der Junge begann zu lächeln. Aber es war ein böses, gemeines Lachen.
Das arme Mädchen erschrak beim Anblick dieses Gesichts, denn sie kannte diesen Ausdruck in seinen Augen. Sie stand den Tränen so nahe wie ihr Herr nun ihr. Milli schlug die Hände vor ihr Gesicht, sie kniete nieder und begann zu schluchzen. Sie dachte nur: Bitte tu mir nicht wieder weh!
„Was MUSS ich tun?“ Es war eine rhetorische Frage, aber Milli musste sie dennoch beantworten.
Sie wagte es jedoch nicht einmal von ihren Händen aufzuschauen. Jede Bewegung konnte falsch sein.
„Milli!“, meinte er nun mit frohlockender, flötender Stimme. Sie sah ihn an, sah direkt in seine Augen. Sie waren einfach unbeschreiblich, so eisig kalt und doch glühten sie, wahrscheinlich voll freudiger Erwartung. Aber worauf?
„Milli antworte mir!“
Seine Stimme wurde härter. Weiterhin sah das Mädchen zu ihm, bis er seinen Blick von ihr abwandte und sich um drehte. Langsam um bedächtig schritt er vorwärts.
„Ihr müsst leiser sein Meister.“, sagte sie so leise, dass man es kaum noch hörte. Ein Mäusepieps hätte nicht leiser sein können. Doch ihr Herr schien es vernommen zu haben. Er blieb stehen. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Er drehte sich zu ihr um und kam immer näher.
Wieder sah Milli zu Boden und dachte nicht im Traum daran hoch zuschauen, denn das wäre ein großer Fehler gewesen. „Milli, Milli, Milli, …“ Er sah sie an. „ICH MUSS gar nichts!“
Seine Stimmlage war rechthaberisch.
Nun sah sie auf.
Milli´s Augen waren ganz glasig, wie frisch geputzte Fensterscheiben glänzten sie im Kerzenschein.
„Ich muss gar nichts, denn du vergisst etwas. Du vergisst, dass ich die Macht habe alle die du liebst zu töten!“
Er irrte. Milli hatte und konnte es nicht vergessen. Wie denn auch? Immerhin hatte er sie Tag für Tag damit in der Hand. Plötzlich fiel ihm eine seiner braunen Haarsträhnen ins Gesicht. Er betrachtete sie und begann schließlich die rechte Hand zu heben. Ganz langsam wie in Zeitlupe bewegte er sie auf die Strähne zu. Immer näher kam seine rissige Hand dem Haar. Es schien vor Angst zu zittern. Doch kurz bevor er sie erreicht hatte sah Milli weg. Was war denn auf einmal mit ihr los? Hatte sie etwa Angst?
Inzwischen hatte er die Strähne erfasst. Und was geschah?! Sie begann sich aufzulösen. Unglaublich schnell zerfiel sie zu aschgrauem Staub.
„Weißt du wovon ich rede?“
Milli fühlte, wie eine dicke Träne ihr über die Wange kullerte. Sie musste dienen das wusste sie. Ihre Eltern mussten Leben.
Es war alles ganz still. Man hörte nur ihr armes, kleines Herz pochen und wie draußen der Donner und der Regen ihren Kampf ausfochten. Zu still!
„Milli!“, tönte es auf einmal von unten.
Es waren Milli´s Eltern, die gerade von der Arbeit heimgekehrt waren. PANIK! Dieses Wort stand ihr wie auf die Stirn geschrieben.
„Oh nein! Ich muss los!“, entfuhr es Milli.
„Du lässt mich zurück?!“
Zorn stand in den Augen ihres Meisters. Seine roten Augen sahen nun aus wie glühendes Höllenfeuer. „Ihr wisst doch, dass es sein muss!“ Mit diesen Worten stürmte Milli aus dem Zimmer, die Treppe hinab, in den Flur. Dort wurde sie auch schon abgefangen.
„Wo warst du denn?“, fragte sie eine vertraute Stimme vorwurfsvoll.
„Ich… ähh…“
„Wir haben doch gerufen!“ Milli konnte ihre Mutter einfach nicht anlügen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vater, der sie eigentlich nie verstand oder nur mal nett war.
Die Wahrheit verbarg Milli schon seit fast zwei Jahren vor den Erwachsenen, ohne viel zu lügen. Sie war einfach immer vorsichtig. Ist fast nie nach oben gegangen und hatte ihre Eltern mit gutem Verhalten in Sicherheit gewiegt. Doch nun, wie auch in manch anderen, seltenen Situationen, musste eine Erklärung her, und zwar schnell!
Sie überlegte und überlegte, eine Sekunde erschien ihr wie eine Ewigkeit.
„Ich war oben in meinem Zimmer und hatte laute Musik im Radio gehört!“ Milli fühlte wie sie rot wurde. Das war wohl schief gelaufen.
„Ach ja? Laute Musik im Radio??“
„Ja.“, bestätigte sie schnell bevor das schlechte Gewissen kam und sie überrumpelte, schließlich war das alles frei erfunden.
Ihr Zimmer bewohnte sie schon lange nicht mehr, sondern
schlief auf der Couch. Ihre Eltern hatten das nur erlaubt,
weil sie ihnen erzählt hatte, sie könne dort wegen ihrem Rücken besser schlafen. Und ihr Radio hatte ihr Herr einst vor Wut aus dem Fenster geschmissen. Und überhaupt wussten ihre Eltern nichts von dem kleinen Knaben mit den rot unterlaufenen Augen im 1. Stock.
Wenn sie es wüssten, müsste der Junge sie sofort umbringen, da niemand sein Geheimnis wissen durfte! Nur Milli ließ er am Leben. Sie hatte einen Pakt mit ihrem jetzigen Herrn geschlossen. Er verschonte sie und ihre Familie und dafür bekam er ein Bett, ein Dach über dem Kopf und zu Essen.
„Keine laute Musik, Frollein!“, meinte ihr Vater drohend.
Doch die Drohungen ihres Vaters machten Milli schon lange keine Angst mehr. „Musik macht dich wild und chaotisch!“
„Erst mal: hi, Mum, hi Dad!“, grüßte sie, wenn auch ein wenig spät.
„Hi, Mum, Dad,… das sind doch keine anständigen Wörter!“
„Verzeihung Sir.“, meinte Milli zerknirscht.
Die Erwachsenen zogen sich die Lederschuhe aus. Langsam betrachtet Milli sie. Ihre Eltern arbeiteten beide in der selben Firma. Ihr Vater war der Chef und Leiter und trug somit natürlich einen Anzug mit Krawatte. Ihre Mutter war die Sekretärin und trug ein sehr enges, graues Kostüm, welches ihr nicht einmal bis zu den Knien ging. Außerdem trugen beide Brillen, die einen Sprung hatten, was mit Sicherheit zu einem späteren Wutausbruch ihres Vaters führen würde.
Nachdem sich die Erwachsenen die Schuhe ausgezogen und ihre klitschnassen Mäntel an die Garderobe gehangen hatten war alles still. Milli schloss die Augen und holte tief Luft um die Röte aus ihrem Gesicht zu vertreiben, die sie dank des Lügens bekommen hatte. Die Luft war rau und dick. Schnell ging sie ins Wohnzimmer um wieder atmen zu können.
Still und schweigend, ohne ein Wort folgten ihre Eltern ihr. Im Wohnzimmer angelangt setzte sie sich vor den offenen, angeheizten Kamin um ihre Gänsehaut zu wärmen. Schweigend saß sie dort im Schneidersitz vor dem lodernden Feuer. Die Flammen warfen einen geheimnisvollen Lichtstrahl an die Wanddekoration. Die Schilder mit alten Schwertern und abgeschlagene Köpfe toter Tiere sahen so unheimlich und gespenstisch aus, dass selbst die Hitze Milli´s Gänsehaut nicht hemmen konnte. Langsam jedoch spürte Milli Wärme.
Aber nicht vom Feuer.
Nein. Diese Wärme drang vom Herzen ihrer Mutter in
deren Hände, die sie ihr sanft auf die Schulter legte und sich selber setzte. Das Licht der Flammen spiegelte sich auf den messerscharfen Klingen der Ritterwaffen wieder, sodass es das Mädchen blendete. Aus Reflex drehte sie ihren kleinen Kopf zur Seite, wobei dieser aus Versehen auf die angewärmte Schulter ihrer lieben Mutter landete.
Sie wollte ihn schnell zurückziehen doch eine zweite Hand drückte ihn sanft auf.
So saßen beide da. Stundenlang und ohne einen Ton zu sagen. Beide dachten nach. Die Familien Situation war „äußerst kritisch“, um es mal vorsichtig auszudrücken. Immerhin hatten Mutter und Tochter Angst vor dem Vater. So Etwas sollte nicht sein. So Etwas durfte nicht sein.
Der Vater, der es sich auf dem dunkeltürkisenen Sofa bequem gemacht hatte, sah missbilligend zu. Man sah es ihm an. Er war weder den Tränen nahe noch auch nur ein bisschen gerührt. Er gab sich Mühe seine Gefühle zu verstecken, denn ein echter Mann hatte keine Zeit für Gefühle. Und dennoch hatte er solche Angst, dass sein kleines Mädchen den falschen Weg einschlagen oder sich in Gefahr begeben könnte. Wenn der nur wüsste... Wenn er nur wüsste in welcher Gefahr sich seine Tochter und er erst befand. Behutsam stand er auf und schritt auf die beiden Frauen zu. Seine Gefühle hatten ihn überrumpelt. „Milli.“,
sagte er beinahe zärtlich.
„Ich möchte mit dir reden.“ Er setzte sich. „Du hast doch neulich wegen dieser Party bei deiner Freundin gefragt.“, begann er.
„Deine Mutter und ich haben uns darüber unterhalten.“ Milli´s Augen begannen zu leuchten.
„Und?“, fragte sie voller Erwartung. Dieses funkeln brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück.
Sofort wurde seine Miene wieder ernst.
„Wir haben uns entschieden, dass du nicht hindarfst!“ Milli hatte schon zu einem Freudenschrei angesetzt doch nun verschwand das Funkeln und Glitzern aus ihren Augen und Trauer brach über sie hinein.
Fast hätte sie geweint, doch sie erinnerte sich, was ihr Meister einmal zu ihr gesagt hatte.
„Weine nicht! Das zeigt deine Schwäche und deine Gegner werden sie immer wieder gegen dich verwenden!“ Natürlich war ihr klar, dass das hier keine Feinde sondern ihre Eltern waren. Und trotzdem riss sie sich zusammen. Nur die Wut konnte sie nicht mehr zügeln.
Wohin mit dieser Wut im Bauch?
„Wie könnt ihr mir das antun?“, schrie sie, ein wenig froh darüber, dass sie endlich mal schreien konnte. Sonst hieß es zu Hause immer: „Brave Mädchen soll man sehen aber nicht hören!“ Doch nun hatte sie endlich einmal den Mut, sich zu wehren. Ihre Eltern zuckten zusammen. So hatten sie, sie noch nie gesehen! Milli redete unbeirrt weiter. „Ihr wisst doch wie gern ich dahin möchte!“
Natürlich wussten sie es. Sie hatte sie bestimmt zwei Wochen lang immer wieder danach gefragt. Ihre Tochter hatte sich viele Hoffnungen gemacht und nun zerbrachen diese in viele kleine Splitter. Nicht einer von beiden wusste so recht wie er reagieren sollte. Ihr Vater versuchte es natürlich trotzdem.
„Nicht in diesem Ton, junge Dame!“
„Doch!“, brüllte sie. „Genau in diesem Ton!“
Nun waren alle sprachlos. Lange geschah nichts. Schließlich versuchte ihre Mutter einzugreifen. „Aber Schatz…“, begann sie ihren Satz und legte ihr den Arm über die Schulter. Ein fataler Fehler, wie sich bald zeigen sollte.
„Nein!“ Sie riss sich los. Dieser Ausbruch ließ auch ihren Vater aufwachen. Er griff sofort ein.
„Wie kannst du es wagen so mit uns zu reden? Sofort auf dein Zimmer!“ Doch von diesem Satz hatte Milli die Nase voll!
Nie durfte sie ihre Meinung sagen oder widersprechen. Es gab Regeln in diesem Haus.
Zum Beispiel: sie sollte normale Zensuren haben, später
einen reichen, wohlhabenden Mann heiraten und Hausfrau werden, wie ein braves Mädel. Doch Milli dachte nicht im Traum daran. Sie fand es total altmodisch. Sie waren im 21. Jahrhundert, zum Donnerwetter noch mal! Frauen waren unabhängig und gleichberechtigt. Aber sie wagte es nicht das laut zu sagen. Sie widersprach zwar nicht, aber ihre Taten sprachen für sich. Ein braves Mädchen war sie nicht. Ihre Eltern glaubten, dass sie 4 mal die Woche zum Ballett ging. Doch in Wirklichkeit ging sie zum Kampfsport. Die Trainerin war dieselbe und sie hatte Mitleid mit der süßen Milli gehabt. Also log sie für das Mädchen. Milli war die beste in der ganzen Gruppe. Seit 5 Jahren war sie jetzt dabei und hatte den schwarzen Gürtel in Judo, Karate und Taekwondo. Nächstes Beispiel:
Normale Zensuren, pah! Das hatte sie längst abgehakt.
Sie hatte nur Einsen und war mit ihrem zarten Alter von 13 Jahren bereits in der 12. Klasse. Mitten im Abitur! Eigentlich wäre sie schon seit 3 Jahren auf der Universität, wenn ihr Vater nicht dazwischen gefunkt hätte. Er hatte sich mega darüber aufgeregt, dass Milli statt Kunst etwas anderes, eher Mädchen untypisches studieren wollte.
Nämlich Physik und Naturwissenschaften. Doch sie war froh, dass ihr Vater sie wenigstens die paar Klassen hatte überspringen lassen. Sie war immer die jüngste in der
Klasse, doch das störte sie nicht.
Milli war frühreif und jeder wusste das. Und trotzdem gab es ein paar Leute, die dachten es wäre cool sie runter zumachen, bloß weil sie klein war.
Dieses „klein“ ist allerdings nicht als Form der Größe
gemeint sondern als Alter. Denn sie war groß, nahezu riesig. Mit nicht einmal 14 Jahren war sie mit einer Körpergröße von 1,78 m weit über dem Durchschnitt, noch ein gefundenes Fressen für die Disser.
Aus kluger Erfahrung her, hatte Milli nie von ihren Einsen erzählt. Beim letzten mal war ihr Vater in die Schule gekommen und hatte alles nur noch schlimmer gemacht indem er die Lehrerin, vor der ganzen Klasse, gefragt hatte, warum seine Tochter nicht eine Zwei haben konnte, oder sogar eine Drei, wie es sich für ein normales Mädchen gehörte.
Grausam! Eine Drei kam für Milli überhaupt nicht in Frage und Zweien genauso wenig. Und genau das machten die Disser zu einer schlechten Eigenschaft. Lieber beachtete Milli diese Leute gar nicht, anstatt Sauerstoff an ihnen zu vergeuden.
Doch halt, ich verplappere mich schon wieder. Zurück zur Gegenwart.
„Wir passen nur auf dich auf!“, versuchte ihre Mutter zu
vermitteln. Doch es war zu spät. Milli brach aus wie ein aktiver Vulkan.
„Ihr müsst nicht auf mich aufpassen! Ich bin doch fast 14!“
„FAST!“, riefen beide wie aus einem Munde.
„Fast.“
Sie hätte am liebsten laut gestöhnt, aber damit hätte sie sich nur noch mehr Ärger eingehandelt. Immer diese Erwachsenen mit dem „Fast“.
Milli wusste, dass die paar Wochen ihren Verstand auch nicht erwachsener machen würden. Dieser Prozess dauerte mehrere Monate, bei unterentwickelten sogar Jahre!
Doch, auch wenn sie es nie zugeben würde, ihre neusten Berechnungen hatten ergeben, dass dieser Prozess bei überentwickelten Kindern, wie ihr, auch nach nicht einmal 2 Wochen beendet sein konnte. Aber heute interessierten sie diese Fakten nicht. Nur diese Party. „Wir wollen dich doch nur beschützen!“, versuchte ihre Mutter es wieder. Noch ein fataler Fehler.
Milli dachte plötzlich nicht mehr nach, was wirklich selten passierte. Der Satz kam einfach aus ihrem Mund. Noch bevor sie irgendetwas dagegen tun konnte.
„Beschützen?“ Ihre Stimme war spitz und hochnäsig. „Ihr braucht meinen Schutz mehr, als ich eu…“ Blitzschnell hielt sie sich die Hand vor ihr Plappermaul. Aber sie hatte bereits zu viel gesagt. Oh nein! Ihr Meister würde sie umbringen!
Er war geistig gerade so dazu in der Lage sich einpaar Möglichkeiten aus zudenken und auch an den nötigen Gegenständen mangelte es ihm nicht. Einerseits war Milli sehr wichtig für ihn und sein Überleben, andererseits konnte er sich jeder Zeit jemand anderes suchen.
Innerlich fluchte Milli vor sich hin, etwas, das ich hier wiedergeben könnte, aber nicht tue, da es ohnehin zensiert werden müsste. Wie konnte das nur geschehen? Die Antwort kannte sie.
Sie war ein Genie, aber sie hatte sich selbst nicht im Griff. Wie der Prolog schon sagte, ihre „Kindheit“ macht ihr schwer zu schaffen.
Unwissenheit breitete sich auf den Gesichtern der Erwachsenen aus. Und Fragen wie „Was meinte sie?“ , und „Wovor beschützte sie uns?“, waren in ihnen besser zu erkennen, als die Falten in ihren grauen Anziehsachen.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Die Erwachsenen waren mit all diesen Fragen beschäftigt und Milli stellte sich der Frage „Was passiert jetzt mit mir?“
Doch das unangenehme Schweigen wurde ruckartig beendet. Durch das langsame klingeln des Telefons.
„Du hast mich Verraten!“
Milli konnte die Worte ihres Meisters schon hören. Wie ein Albtraum geisterten sie in ihrem Kopf umher. „Gaaanz ruhig.“ Sagte sie sich. Doch leider dachte sie es nicht nur, sondern sprach es auch laut aus.
„Was?“, fragte ihr Vater verdutzt. Nun hatte Milli endlich
begriffen, dass sie laut nachgedacht hatte. „Nichts.“, antwortete sie schnell. „Gar nichts!“ doch auch ihre Mutter war misstrauisch geworden.
„Warum ganz ruhig?“
Milli überlegte schnell. Ihr blieben nur noch Sekunden, wollte sie überzeugend klingen. Nach eineinhalb Sekunden entschied sie sich für einen erneuten Wutausbruch. Das war in diesem Moment ziemlich passend.
„Weil ihr mich auf die Palme bringt!“, brüllte sie und hoffte, dass die ganzen Jahre Theater nicht um sonst gewesen waren. Anscheinend nicht. Noch bevor ihre Eltern mehr tun konnten, als ängstlich, beziehungsweise ärgerlich, drein zu blicken rannte sie zum Telefon.
„Ja? Milli Rowley am Apparat.“ Alle lauschten gebannt. Milli und ihre Eltern, die sich nur eins fragten. Warum ist sie so seltsam ängstlich? Ist doch bloß ein Anrufer.
„Ist da wer?“ Ihre Eltern kamen näher. Sie hörten ein Rauschen aber sonst nichts. Doch da! Ein Klicken. Ganz leise und kaum hörbar. Für die Erwachsenen mag das nichts heißen, doch Milli bekam eine Gänsehaut. Ein
Klicken? Nein. Nicht schon wieder.
Auf das erste Klicken folgte ein Zweites, dann ein Drittes. Nach dem letzten Klicken geschah überhaupt nichts mehr. Oh mein Gott! Bitte klick noch einmal, dachte Milli. Bitte, bitte klick noch einmal! Doch es geschah nichts.
Nach zwei endloslangen Minuten legte sie schließlich auf. Benommen, ja fast wie in Trance bewegte sie sich auf das Fenster zu. Sie wusste, was sie erwarten würde, konnte es jedoch nicht glauben. Langsam zog sie die blütenweißen Gardinen zur Seite und erblickte den Nachthimmel. Die Sterne funkelten hell und klar, doch Milli bemerkte ihre Schönheit nicht. Sie sah nur eins.
Den Vollmond.
Vollmond! Wieder stieg Panik ihren Körper hinauf. Sie musste ihre Eltern von hier wegbringen.
Koste es was es wolle!
Doch wie? Es war schwer darüber nach zu denken. Sie konnte sich vor lauter Angst kaum noch konzentrieren. Schließlich kam ihr eine Idee. „Ihr müsst gehen! Ich will allein sein!“ Hilfe, dachte sie. Das war wohl etwas schwach. Noch mal.
„Ihr wollt mich schon nicht zur Party gehen lassen, dann will ich wenigstens hier meine Ruhe!“
Im Stillen gratulierte sie sich selbst. Das war gut. Zumindest besser, als der letzte Versuch. Doch bei ihrem Vater wusste man das nie so genau. Er war etwa so
berechenbar, wie das Wetter.
„Wie bitte?!“ Seine Stimme war scharf wie ein Messer. Und mit seiner Hand holte er bereits zum Schlag aus. Aus Angst kniff Milli die Augen zusammen. Gleich würde er sie wieder schlagen. So wie er es immer tat. Ihre Mutter ging im letzten Moment dazwischen.
„Nicht doch, Schatz.“, flehte sie ihren Vater an. „Lassen wir sie doch!“
„Du gehst, weil sie das sagt?!“ Er holte tief Luft, sein Ausbruch hatte ihn ganz atemlos gemacht.
„Nein, nein,…“
Milli spürte, wie die Stimme ihrer Mutter zitterte. Sie hatte Angst vor ihm. „Aber wir hatten doch schon lange keinen Abend mehr für uns.“
Damit hatte sie recht. Das musste auch ihr Vater zugeben.
„Nun gut.“, meinte er schließlich. „Wir gehen! Komm Alexandra.“
Benommen folgte Alexandra ihm. Ihr Vater telefonierte kurz um einen Tisch zu bestellen und ging zur großen Garderobe. Die Mäntel waren immer noch klatschnass.
Dennoch zog er ihn über, Millis Mutter tat es ihm gleich.
„Wir sind erst morgen nach der Arbeit wieder hier!“, hörte sie ihren Vater sagen.
„Du hast morgen ja Schulfrei, also benimm dich den Tag über!“
„Jawohl Sir.“
Milli verstand nicht, warum sie so förmlich sein musste.
Schließlich war es ihr Vater.
„Machs gut Schätzchen!“, rief ihre Mutter und winkte zum Abschied. Milli musste unwillkürlich schmunzeln. Was für eine liebe Mutter sie doch hatte.
„Keine Rührseligkeiten, Alexandra!“Und schon war die gute Stimmung wieder hinüber.
„Ja…“
„Nun komm endlich!“, fauchte er.
Alexandra war eine sehr liebe Frau und lächelte so oft es nur ging. Doch selbst bei ihr sah das Lächeln gezwungen aus. „Ich komme Hubert!“
Damit verschwanden sie beide. Setzten sich in den silbernen Mercedes und fuhren los.
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2011
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