Prolog
„Komm, komm! Los, beeil dich!“
Die junge Mutter zog ihr Kind zur Treppe, die zu ihrem Gleis führte.
„Ich will nicht weg! Ich will lieber wieder nach Hause“
Trotzig stemmte das Mädchen sich gegen seine Mutter. Diese seufzte und hielt schließlich an.
„Du musst mitkommen, wir verpassen sonst den Zug.“, erklärte sie und sah ihrer Tochter verzweifelt in die Augen.
„Ich will aber nicht in den Zug steigen. Ich will hier bleiben. Ich will Zuhause bleiben. Zuhause bei ihm!“
Hilfe suchend blickte die junge Frau sich um. Doch wer sollte ihr schon helfen?
Die Kleine sah sie stumm an, ihre Augen wurden immer größer und ihre Unterlippe begann verdächtig zu zittern.
„Wir dürfen den Zug nicht verpassen. In Berlin wirst du ein eigenes Zimmer haben, weißt du noch?“, zog sie ihre letzte Trumpfkarte.
Erleichtert atmete sie auf, als sie bemerkte, das ihre Tochter nachzugeben schien.
Jede Minute, die sie an diesem Ort verbrachten, war ein zu großes Risiko. Deshalb flüchteten sie in die Anonymität der Großstadt. Weg von dem Vater des Kindes.
Wenn die Kleine nur endlich mitkommen würde.
„Kriege ich ein Eis, wenn wir da sind?“
„Ja doch. Von mir aus auch zwei. Nur komm endlich mit.“
„Trag mich!“, forderte das Mädchen und ließ sich auf die Schultern ihrer Mutter heben. „Galopp!“, rief sie und zupfte an der Kapuze der Mutter.
Diese lachte leise und zurrte den Gurt des Reiserucksacks fest.
Dann strich sie ihrer Tochter noch einmal über den Kopf und atmete ein paar mal tief durch.Hastig spurtete sie die Treppe hinauf. Der ICE stand bereits fahrbereit auf dem Gleis, lange würde er nicht mehr warten.
Die junge Mutter beschleunigte noch einmal ihr Tempo und erreichte den Zug gerade noch so.
Den Zug in ihr neues Leben.
Mittwoch, 26. Mai
Institut für Parapsychologische Phänomene:
In dem Büro war es kalt. Bis auf den Lichtkegel der kleinen Stehlampe war es dunkel. Stille herrschte,abgesehen vom Rascheln des Papiers, wenn der dunkelhaarige Mann um die fünfzig eine Seite umblätterte.
Urplötzlich wurde die Ruhe durch ein drängendes Klopfen gestört.
Prof. Damian Franklin sah von der Akte auf, die er studiert hatte.
„Herein.“
Seine Kollegin Marissa Hages steckte zaghaft den Kopf zur Tür hinein.
„Verzeihen Sie die Störung, Sir.“
Er runzelte unwillig die Stirn.
„Gibt es Probleme?“
Sie nickte, offensichtlich nicht sehr erfreut, diejenige zu sein, die dem Leiter des Instituts die schlechten Nachrichten überbringen musste.
„Nun gut, kommen Sie herein.“, seufzte er.
Marissa setzte sich auf den freien Stuhl und reichte ihm einen Stapel Papiere.
„Ich fürchte, es lässt sich nicht verhindern. Es wird eintreten, was wir befürchteten.“
Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Unmöglich!“
„Doch.“, widersprach sie kleinlaut und reichte ihm eine weitere Akte.
Er nahm sie ihr unwirsch ab und blätterte sie eine Weile durch.
Sein Gesichtsausdruck wurde immer finsterer.
Sonntag, 11. Juli
Als ich nach hause kam war es 02:30.
Ich blickte auf den Kalender. Samstag.
„Kati?“
Niemand antwortete.
Wie ich es mir gedacht hatte, sie war nicht da.
Wann hatte ich meine Mutter eigentlich das letzte mal gesehen? Ich konnte es nicht genau sagen.
Kati war nicht die liebevollste Mutter gewesen, eigentlich hatte sie sich nie richtig für mich interessiert.
Aber das störte mich nicht weiter. Wir lebten eben nicht miteinander, sondern nebeneinander her.
Manch einer hätte mich vielleicht bemitleidet. Schließlich erinnerte ich mich kaum an meinen Vater, weshalb musste ich dann eine so kalte Mutter haben?
Aber ich kannte es nicht anders und störte mich nicht daran.
In der Küche wartete nur schmutziges Geschirr auf mich. Kein Zettel.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher noch, ein überquellender Aschenbecher stand, nebst einem Sandwich auf dem Beistelltisch.
Seufzend ließ ich mich aufs Sofa sinken und betrachtete das Brot. Sollte ich mir lieber was frisches machen, oder mich mit diesem Etwas zufrieden geben?
Schließlich ging ich in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Gähnende Leere.
Das hatte sich also erledigt.
Ich zog mir einen warmen Pulli an, schnappte mir das Sandwich und verließ die Wohnung wieder.
Was sollte ich auch dort? Es stank erbärmlich nach Zigaretten.
Ich bog um die Ecke des Hauseingangs und lief eine Weile die Straße hinunter.
Auch zu dieser Zeit war das Leben in den Straßen noch lange nicht verschwunden, es wimmelte nur so von Menschen. Ich drängte mich zwischen müden Stadtmenschen und solchen, für die die Nacht gerade erst begann, hindurch und fühlte mich einsam.
In Berlin war zwar immer jemand auf der Straße, doch genau aus diesem Grund fühlte man sich schnell identitätslos und verlassen. Vielleicht ging das auch nur mir so.
Ich lief endlos lange durch die Stadt. Dann erreichte ich den nahe liegenden Park.
Erst im hintersten Winkel ließ ich mich auf eine Bank fallen und sah auf die Uhr meines Handys. Es war bereits drei Uhr morgens. Und meine Mutter hatte sich immer noch nicht gemeldet, um zu fragen, wo ich steckte. Wahrscheinlich war sie selbst noch nicht zu Hause.
Ich lauschte auf die Töne der Nacht, auf die Geräusche ,die mich von der Partymeile erreichten, vermischt mit dem Rauschen der Bäume.
Hier draußen war es so genauso einsam, wie in meinem Inneren.
In meinem Herz pochte Sehnsucht, doch nach was konnte ich nicht sagen. Es war jedoch ein schöner Schmerz. Ein Schmerz, der zu Träumen und Hoffnungen werden könnte, wenn man ihn ergründete.
So als säße ich vor einem wunderschönen Puzzle, bei dem nur ein einziges Teil fehlte. Als könnte ich es kaum erwarten, das Motiv in seiner ganzen Schönheit zu sehen, konnte das fehlende Stück allerdings nicht finden. Ich konnte es genau spüren. Bald würde sich einiges ändern.
Ich lag auf dem Rücken und sah in die Sterne.
Das war das Schönste an Ferien, dass man die Nächte draußen verbringen konnte. Nachts lag in Berlin ein ganz besonderer Zauber in der Luft.
Meine Gedanken weilten dort oben, zwischen den Lichtpunkten. Ich träumte vor mich hin und spürte, wie sich langsam unbändige Freude in mir ausbreitete. Dann glitt ich in einen leichten Schlaf.
Als mich jemand an der Schulter rüttelte, wachte ich unsanft auf. Für einen Moment stockte mir der Atem.
Vorsichtig richtete ich mich auf, doch als ich mich umwandte, konnte ich niemanden entdecken.
Verwundert runzelte ich die Stirn und stand von der Bank auf. Die Berührung hatte ich mir nicht einbilden können, dazu war die Berührung zu real gewesen.
„Hallo?“, fragte ich vorsichtig.
Niemand antwortete.
Ich war schon kurz davor mich zurückzuziehen, als ich ihn sah.
Er lehnte an einem Baum und beobachtete mich scheinbar amüsiert.
Verwundert betrachtete ich ihn. Er kam mir so unglaublich vertraut vor! Ich war ganz sicher ihn zu kennen. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und versuchte einen Zusammenhang zwischen der schemenhaften Gestalt im Gebüsch und jemandem aus meiner Vergangenheit herzustellen.
Verwirrt und nervös trat ich ein paar Schritte zurück, was ihn zum Lachen brachte.
„Findest du es so lustig unschuldige Menschen zu erschrecken?!“, fuhr ich ihn an.
Der dramatische Effekt wurde etwas gemildert, da meine Stimme hörbar zitterte.
„Bist du denn unschuldig?“, fragte er grinsend und trat aus dem Gebüsch hervor.
Langsam kam er auf mich zu und ich wich instinktiv vor ihm zurück.
Er war wohl kaum älter als ich, zwei Jahre vielleicht, möglicherweise auch drei.
Obwohl er markante Züge hatte, wirkte er blass und verletzlich. Sein Haar fiel ihm verwegen in die Stirn. Es war tief schwarz, genau wie mein eigenes. Der Blick aus seinen grünen Augen war so intensiv, dass ich zusammenzuckte.
„Sieht man mir das denn nicht an?“
Hoffentlich verstand er das nicht als Aufforderung, es herauszufinden.
Mein Herz raste, als er näher kam. Unter seinem Shirt zeichneten sich ausgeprägte Muskeln ab, er würde mich mühelos packen und festhalten können.
Er bemerkte ohne Zweifel, wie groß meine Angst war, doch das schien ihn auch noch zu belustigen.
Mittlerweile machte er mir wirklich Angst. Egal ob ich ihn von früher kannte oder nicht, was ich ja nicht mit Sicherheit sagen konnte, das ging zu weit. Langsam hatte ich genug.
„Was willst du?!“, fauchte ich ihn an.
„Nichts bestimmtes...etwas Spaß vielleicht?“
Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was „Spaß“ hieß. Mir wurde übel vor Angst.
Der Fremde hörte plötzlich auf zu lachen und starrte mich finster an.
„Was machst du überhaupt noch draußen?! Solltest du nicht langsam in deinem Bettchen liegen?“
Krampfhaft versuchte ich das Gespräch am Laufen zu halten, ich musste Zeit schinden.
„Ich sollte ja auch eigentlich nicht mit Fremden sprechen.“
Er rückte ein wenig von mir ab und betrachtete mich verstohlen.
„Ja, da hast du vielleicht Recht.“
Er hatte einen leichten Plauderton angeschlagen, bei dem mir ein Angstschauer über den Rücken lief.
Mit schief gelegtem Kopf sah er mich an.
„Aber trotzdem redest du noch mit mir.“
„Ja. Aber habe ich denn eine andere Wahl?“, fragte ich so herausfordernd, wie ich konnte.
„Natürlich hast du die. Du könntest ja auch gehen.“
Er machte eine auffordernde Geste und sah dann gelangweilt an mir vorbei. Er schien das Interesse verloren zu haben.
Als ich sitzen blieb, schenkte er mir schließlich erneut seine Aufmerksamkeit.
„Ich finde wirklich, du solltest jetzt in dein Bett gehen.“
Ich starrte ihn fassungslos an. War das sein Ernst? War das alles, was er von mir wollte? Ein kurzes Gespräch?
„Du musst natürlich nicht, wenn du willst, kannst du auch hier auf der Bank schlafen...Ich wollte nur nett sein...“
Er zuckte mit den Schultern.
Vor sich hin murmelnd wandte er sich von mir ab und ging langsam den Weg entlang davon. Immer noch fassungslos starrte ich ihm hinterher. Nach einer Weile drehte er sich um.
„War schön mit dir zu reden.“
Ich nickte nur. Immer noch überlegte ich fieberhaft, weshalb er mir so bekannt vorkommen konnte, doch ich kam einfach zu keinem Ergebnis.
Montag, 12. Juli
Ich beschloss mir einen gemütlichen Abend zu machen. Meine Mutter war immer noch nicht aufgetaucht und so hatte ich die Wohnung für mich alleine.
Auch wenn mir der Junge aus dem Park nicht mehr aus dem Kopf ging, ich würde nicht noch mal zu dieser Bank gehen und wie eine Idiotin auf ihn warten. Also beschloss ich die Fotoalben nach einem Bild von ihm zu durchstöbern.Die ganz alten Bände mied ich, da ich keine Bilder meines Vaters sehen wollte und so schnappte ich mir das Album vom letzten Sommer und schmiss mich aufs Sofa.
Nichts. Ich hatte mindestens fünf Alben durchgeschaut und kein Bild des Fremden gefunden. Nicht nur das. Zu allem Unglück war ich auch noch auf ein vergessenes Foto gestoßen, das mich, Danny und Lissi Arm in Arm zeigte.
Wütend riss ich es in klitzekleine Einzelteile und warf sie aus dem Fenster. Lange beobachtete ich die Fetzen, wie sie fielen und fielen und schließlich in der Tiefe verschwanden.
Danny war mein Exfreund. Mit ihm hatte ich letzten Sommer die glücklichste Zeit meines Lebens verlebt. Es stimmte alles zwischen uns. Es war so leicht mit ihm zusammen zu sein. Das Einzige, was uns von einander unterschied, war, dass ich mein erstes Mal noch in weiter Ferne sah und er bereits in den Startlöchern stand.
Anfangs war ich mir sicher gewesen, er würde es verstehen, auch wenn sein Gesichtsausdruck bei meiner Ankündigung, ich wolle lieber noch warten, Bände sprach. Ich wurde eines Besseren belehrt, als ich ihn und meine beste Freundin Lissi miteinander im Bett erwischte.
Seitdem hatte ich den Kontakt zu meinen Freunden gemieden. Ich wollte keine Fragen beantworten und falsches Mitleid ernten. Eine ganze Weile hatten sie mich noch mit Anrufen gelöchert, doch in den letzten Tagen hatte sich niemand mehr gemeldet.
Seufzend schloss ich das Fenster.Im Fernsehen lief nichts, außer der üblichen Carsting- und Kochshows und so beschloss ich den Schlaf der letzten Nacht nachzuholen.
Ich kuschelte mich ins Bett und schloss die Augen.
Verwirrt betrachtete ich meine Umgebung. Hier glich nichts meinem Zuhause.
Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Was wollten all diese Menschen von mir? Und wie sollte ich ihnen klar machen, dass ich zu meiner Mama wollte, wenn ich doch nicht sprechen konnte?
Unruhig zappelte ich hin und her, bis ich ihn endlich entdeckte. Er saß mir gegenüber und lächelte beruhigend. Sofort ging es mir besser. Ich war nicht allein. Ich hatte einen Verbündeten.
Schwitzend wachte ich auf und stürzte ans Fenster.
Der Traum war so realistisch gewesen. Auch wenn ich seinen Sinn nicht verstand und weder wusste, wo ich mich befand, noch, was ich dort machte, die Gefühle waren real gewesen.
Aufgewühlt fuhr ich mir durch meine schwarzen Haare und beugte mich aus dem Fenster.
Erst als ich einige Minuten die Nachtluft geatmet hatte, beruhigte ich mich so weit, dass ich wieder schlafen konnte.
Sonntag, 18. Juli
Als ich erwachte war es bereits Nachmittag und so beschloss ich mich heute um die Wohnung zu kümmern.
Ich zog mir ein Sweatshirt über und steckte meine Haare locker hoch. Dann schnappte ich mir den Müll und ging nach unten.
Als ich ihn dort stehen sah, lässig an die Eingangstür unseres Hauses gelehnt, als würde er jeden Morgen dort auf mich warten, zuckte ich zusammen.
Woher wusste er, wo ich wohnte?
Wütend ging ich auf ihn zu, um ihm die Meinung zu sagen.
Mit geballten Fäusten baute ich mich vor ihm auf.
Ich starrte in seine durchdringenden, grünen Augen und öffnete den Mund.
Er erwiderte meinen Blick mit einem schiefen, leicht herablassenden Grinsen.
„Was machst du hier?“ fragte ich leise und fühlte mich auf einmal verlegen.
„Ich habe auf dich gewartete.“ antwortete er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
„Ach, wieso bin ich da nicht von selbst drauf gekommen?“
Er zuckte die Schultern und nahm missbilligend meine Ironie zur Kenntnis.
„Vielleicht bist du nicht in der Lage logische Schlüsse zu ziehen.“
Ich gab ihm keine Antwort und ließ mich auf die Treppenstufen fallen. Seufzend sah ich ihn an.
„Nein wirklich, was machst du hier?“
Er zuckte die Schultern und setzte sich neben mich.
„Ich war gerade in der Nähe.“
„Aber wie konntest du wissen, dass ich hier wohne?“
Der Fremde nahm mir den Müll ab und warf ihn in die Tonne, meine Frage beantwortete er nicht.
Resigniert gab ich es auf. Das würde zu nichts führen. Plötzlich stand er auf und wandte sich zum Gehen.
„Wo willst du hin?“ fragte ich überrascht.
Er schüttelte nur den Kopf und eilte davon.
Verwirrt blieb ich eine Weile sitzen und sah ihm nach.
Schließlich konnte ich mich doch dazu aufraffen nach oben zu gehen und meine Aufräumarbeiten wieder aufzunehmen.
Nachdem ich so weit alles geschafft hatte, holte ich mir ein sauberes Top und ging ins Bad.
Dort zog ich mich um.
Hastig trug ich etwas Wimperntusche auf, schnappte mir meine Tasche und ging nach unten, um mir erstmal etwas zu essen zu besorgen.
Ich betrat den Supermarkt und suchte die nötigsten Lebensmittel zusammen.
Als ich mir gerade einige Tiefkühlpizzen aus der Truhe holen wollte, tippte mir von hinten jemand auf die Schulter.
Einen Moment verharrte ich bewegungslos und betete, dass es nicht schon wieder der Fremde war.
Dann fuhr ich herum und starrte in das fröhliche Gesicht eines Mädchens.
Sie hatte eine Stupsnase und große rehbraune Augen. Ihre langen blonden Haare fielen ihr zwar jetzt nur noch bis auf die Schultern, doch ansonsten hatte sie sich kaum verändert.
„Andy?“, quietschte ich, „Was zum Teufel machst du in Berlin?“
Andy war vor drei Jahren mit ihrer Familie in die USA gezogen, weil ihre Mutter neu geheiratet hatte. Doch jetzt stand sie hier vor mir. In Lebensgröße.
„Du weißt doch, dass die Ehen meiner Mutter für gewöhnlich nicht so lange halten.“, grinste sie.
Begeistert fiel ich ihr um den Hals und ließ dabei beinahe meine Einkäufe fallen.
„Du bleibst also hier?“
Sie nickte glücklich.
„Ja endgültig, wie es aussieht. Ach, ich habe dir so viel zu erzählen!“
Gemeinsam gingen wir zur Kasse und stellten uns in die lange Schlange.
„Glaubst du, es macht deiner Mutter was aus, wenn ich den Rest der Ferien hauptsächlich bei dir verbringe? Mein Bruder ist zur Zeit wirklich kaum zu ertragen.“
„Nein, ich glaube nicht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wo Kati steckt.“
Andy wusste, dass mir die Abwesenheit meiner Mutter nichts ausmachte und reagierte ziemlich begeistert.
„Und du hast die ganze Wohnung für dich?“
„Ja.“
Ihre Augen begannen zu leuchten.
„Super!“
Wir waren an der Reihe und die Kassiererin scannte unsere Einkäufe ein.
„Du könntest eigentlich gleich mitkommen, wenn du willst?“, bot ich überschwänglich an, als wir den Supermarkt verließen.
Andy sagte zerknirscht ab. Sie musste die nächsten Tage noch zu Hause mit anpacken.
Wieder zu Hause angekommen, räumte ich meinen Einkauf ein und machte mir eine Pizza.
Schließlich schleppte ich meine Decke ins Wohnzimmer und machte es mir auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem.
Montag, 19. Juli
An diesem Morgen erhielt ich eine ziemlich kurze SMS von Kati.
Sie war zu einer kranken Freundin gefahren und wusste nicht genau, wann sie wieder kommen würde, erklärte mir aber, dass sie genügend Geld zurückgelassen hatte.
Andy hatte heute keine Zeit und so frühstückte ich, zog mich an und machte mich mit einem Buch und meinem I-Pod auf den Weg zum Kanal.
Auf meinem Weg traf ich auf verliebte Pärchen in allen Altersklassen, Jogger und Hundebesitzer.
Ich genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinem Rücken, schlenderte am Kanal entlang und hing einfach meinen Gedanken nach.
Die Ufer waren überfüllt mit Sonnenanbetern und es war eigentlich reiner Zufall, dass ich die Beiden zwischen den ganzen Menschen überhaupt entdeckte. Ich zuckte zusammen.
Danny und Lissi küssten sich so eng umschlungen, dass es eine echte Herausforderung war herauszufinden, wo er anfing und sie aufhörte.
Eine Weile starrte ich sie entgeistert an, dann spürte ich die Wut in mir hochkochen.
Während ich mich noch ermahnte ruhig zu bleiben, stürzte ich schon wutentbrannt auf die Brücke zu, um ihnen die Meinung zu sagen.
„Lissi?!“
Sie löste sich aus ihrer akrobatischen Verrenkung, was einige Zeit dauerte. Als sie sich endlich wieder eigenständig bewegen konnte, stand sie in aller Ruhe auf und klopfte sich den Staub von ihrem ultra-kurzen Mini-Rock. Wie hatte ich eigentlich so lange übersehen können, was für eine Schlampe sie war?! Bei dem Ausschnitt hätte sie das Top auch gleich weglassen können!
„Oh Hi. Wie geht’s so?“
Über so viel Dreistigkeit hätte ich beinahe schon wieder lachen können!
„Ach naja, so weit ganz gut. Also wenn man davon mal absieht, dass mein Freund es mit dem billigsten Mädchen der Schule treibt, nur weil er nicht warten will.“
Ich wandte mich an ihn.
„Weißt du Danny...“ Ich atmete tief durch. „Dass du keine Bessere als die da gefunden hast ist wirklich traurig.“
„Es tut mir Leid, okay?!“ Danny machte sich nicht mal die Mühe aufzustehen. „Aber was kann ich denn bitte dafür, dass du plötzlich auf Nonne machst?!“
Einen Moment war ich sprachlos. Das konnte doch nicht wirklich sein Ernst sein?!
„Naja, deine Nutte hast du ja gefunden! Und ich weiß wie pleite du immer bist, Lissi muss wirklich noch billiger sein, als ich dachte!“
Sie baute sich vor mir auf. „Merkst du nicht, wie peinlich du bist?! Deine Zeit ist ein für alle Mal vorbei!“, zischte sie.
Ich hatte einen Kloß im Hals. Ihre Worte hatten mich stärker getroffen als erwartet.
„Bitte?! Ich hoffe nur, dass dir klar ist, dass du ihm überhaupt nichts bedeutest!“
Wir alle wussten, dass ich Recht hatte. Nur gab es niemand zu.
Lissi starrte mich verletzt an und Danny murmelte irgendetwas zu seiner Verteidigung.
Sollten sie doch glücklich werden. Ich fuhr herum und hastete davon.
Als ich wutendbrand nach Hause rannte, wäre ich beinahe gegen den Fremden geprallt.
„Pass doch auf!“, fauchte ich ihn an.
„Hab ich ja. Nur du scheinst nicht ganz anwesend zu sein.“
Ich antwortete ihm nicht mehr. Jetzt wollte ich mit überhaupt niemandem reden, doch er lief beharrlich neben mir her.
„Was ist denn heute los mit dir?“
„Nichts!“, knurrte ich.
„Also guckst du immer so böse?“
Am liebsten hätte ich irgendwie diesen selbstsicheren Ausdruck von seinem Gesicht gewischt zusammen mit diesem geringschätzigen Blick und dem belustigten Grinsen.
„Nur wenn ich von Idioten zugelabert werde!“
Abwehrend hob er die Hände und sein Grinsen wurde noch etwas breiter.
„Dann hast du ja eigentlich keinen Anlass dazu!“
Allmählich verlor ich wirklich die Geduld und blieb urplötzlich stehen.
„Lass mich doch wenigstens einen Moment in Ruhe ja? Es ist wirklich anstrengend von dir verfolgt zu werden!“
„Was heißt hier verfolgt?“ fragte er perplex „Du bist doch grade in mich hinein gelaufen.“
Wieso stritt er es denn auch noch ab?
„Wie du meinst.“
Ich wandte mich von ihm ab und beeilte mich nach Hause zu kommen.
Er lief immer noch stur neben mir her.
„Du wirst mich nicht in Ruhe lassen oder?“
„Nein.“, grinste er.
„Und was hast du davon, mir den letzten Nerv zu rauben?“
„Nichts.“, erwiderte er schroff und schien auf einmal selber ins Grübeln zu kommen.
„Das ist wirklich ohne Sinn.“, stellte ich fest.
„Ist es wirklich...“, murmelte er, drehte sich um und hastete in die entgegengesetzte Richtung davon.
Als er verschwunden war, überlegte ich kurz ihm zu folgen.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. So ein Unsinn.
Ich wusste nicht einmal, wie er hieß, und dennoch konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass er wütend sein könnte.
Und genau deshalb reagierte ich so aggressiv auf ihn. Weil ich die Gefühle nicht verstand, die er in mir auslöste.
Es war etwas Tiefgehendes, Verwirrendes.
Auf unerklärliche Weise fühlte ich mich mit ihm verbunden.
Dienstag, 20. Juli
An diesem Tag saß ich bereits sehr früh auf dem Balkon und starrte in die Morgendämmerung. Während ich an einer Möhre knabberte, beobachtete ich die wenigen Menschen, die jetzt schon auf den Beinen waren.
Vor einigen Jahren hatte ich schon einmal hier gesessen und dabei für mich beschlossen, der frühe Morgen sei das schönste an Berlin. Mittlerweile war die Nacht auf den Ersten Platz gerutscht, doch ich liebte den Morgen noch immer. Morgens war es kühl und still. Dann konnte ich mir vorstellen wirklich alleine zu sein.
Manchmal fragte ich mich, ob es an meinem schlechten Verhältnis zu meiner Mutter lag, dass ich mich so einsam fühlte. Dieses Gefühl, zerrissen zu sein, war keine Laune von mir. So lange ich mich erinnern konnte, fühlte ich mich verloren.
Sogar in den glücklichen Zeiten mit Danny hatte mir irgendetwas gefehlt, nach dem ich mich vor Sehnsucht verzehrt hatte.
Seufzend lehnte ich mich in dem Liegestuhl zurück und schloss die Augen.
Ich saß solange bewegungslos da, bis mich die ersten Sonnenstrahlen kitzelten, dann stand ich auf, um Andy anzurufen.
An diesem Abend stand sie mit einem Schlafsack, Popcorn und DVDs beladen in der Tür.
„Ich hab das so vermisst!“, strahlte sie, „Einfach wir beide und ein paar Filme! Ich habe einige mitgebracht. Wird schon was dabei sein!“
Gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer und bauten die Filme zu einem Turm vor dem Fernseher auf. Dann verschwanden wir erstmal für eine Weile in der Küche.
Während wir darauf warteten, dass die Pizza im Ofen knusprig wurde, setzten wir uns an den Küchentisch und informierten die jeweils andere erst einmal über die Vorkommnisse der letzten Jahre. Natürlich hatten wir ständig telefoniert, aber erst jetzt, als ich ihr wieder gegenüber saß, kam mir alles real vor, was sie erzählte.
Als Andy von der Sache mit Danny hörte, regte sie sich fast noch mehr auf, als ich es getan hatte. Das war eines der Dinge, die ich so an ihr liebte. Sie lebte meine Probleme richtig gehend und fühlte meinen Schmerz mit. Vorgetäuschtes Interesse und Mitleid gab es in ihrem Wortschatz nicht.
„Ist schon okay. Erzähl mir lieber von deinem Amerikatrip.“
Andy zögerte kurz, konnte sich dann aber nicht beherrschen. Wenn sie eins noch leidenschaftlicher tat, als sich in meine Probleme hineinzusteigern, dann war es ganz sicher reden.
Lebhaft schilderte sie mir ihr Leben in Amerika und erzählte mir von Lügen, Intrigen, Partys und Jungs.
„Im Grunde genommen lief es da wie in den Highschoolfilmen, nur weniger klischeehaft und viel härter.“, schloss sie ihren Redefluss.
Nachdem sie mir noch einige Fragen beantwortet hatte, holten wir unsere etwas verkohlten Pizzen aus dem Ofen.
Vor lauter Reden hatten wir die Zeit völlig aus den Augen verloren.
„Dann sind wir jetzt ja besten über das Leben des anderen informiert.“, strahlte Andy und löste damit bei mir einen Sturm des schlechten Gewissens aus.
Ich hatte wirklich vorgehabt ihr von dem Fremden zu erzählen, der immer wieder in meinem Leben auftauchte, doch ich hatte mich nicht dazu durchringen können. Als zu seltsam empfand ich die ganze Sache.
Ich wollte Andy nicht von meinen widersprüchlichen und vollkommen absurden Gefühlen ihm gegenüber erzählen und so murmelte ich nur etwas Unverständliches und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Frage, welchen Film wir zu erst sehen sollten.
Mit Erfolg. Schon bald klebten ihre Augen am Bildschirm und ich konnte in Ruhe nachdenken.
Aber wollte ich das denn?
Mittwoch, 21. Juli
Als ich aufwachte, war Andy verschwunden, dafür hörte ich lautes Klappern von irgendwoher aus der Wohnung.
Verschlafen tapste ich in die Küche und erblickte Andy, die darum bemüht war ein Frühstück zu zaubern. Was ihr ziemlich gut gelungen war.
„Was machen wir heute?“, fragte sie enthusiastisch und butterte sich einen Toast.
Ich zuckte die Schultern und trank erst mal einen Schluck Kaffee, um wach zu werden.
„Vielleicht an den Kanal gehen?“
Andy nickte begeistert und so ließen wir nach dem Frühstück alles stehen und liegen, zogen uns nur schnell an und machten uns dann auf den Weg.
Draußen war traumhaftes Wetter. Als wir am Ufer in der Sonne saßen und die Füße im Wasser baumeln ließen, redete Andy schon wieder ununterbrochen.
„Aber jetzt noch mal zum Thema Danny. Wie hast du reagiert, als du es mitgekriegt hast?“
Ich wand mich. „Keine Ahnung...ich bin eben ausgerastet...“
„Ausgerastet?! Ich hätte die beiden umgebracht!“
„Ja, ich war auch kurz davor.“, gab ich zu.
Andy lachte.
„Sag mal, hast du mir vielleicht etwas verschwiegen?“
Ich schüttelte den Kopf, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen.
„Nein, natürlich nicht! Was denn auch?“
„Diesen Jungen da zum Beispiel?“
Ich folgte ihrem Blick, konnte aber niemanden entdecken. Dennoch ahnte ich, wen sie meinte.
Dann sah ich in die Richtung, in die sie deutete und schnappte hörbar nach Luft.
Auch wenn es keine große Überraschung war, ich erschrak trotzdem.
Er saß in einiger Entfernung am Ufer und starrte finster zu uns herüber.
Als er meinem Blick begegnete, lächelte er plötzlich.
„Was macht der denn schon wieder hier?“, murmelte ich und biss mir sofort auf die Lippe.
„Also kennst du ihn?“, hakte Andy nach.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte nicht abermals zu ihm hinüber zu sehen. Krampfhaft versuchte ich mein Zittern zu unterdrücken.
Sie sah mich irritiert an.
„Also nicht wirklich. Wir haben ein paar mal miteinander geredet, aber sonst...“
„Aber er sieht toll aus! Wieso lässt du dir den durch die Lappen gehen?“, fragte sie perplex.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Lass uns doch zu ihm rüber gehen! Selbst wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn dir dankend ab!“
„Nein!“, rief ich panischer als beabsichtigt.
Andy warf mir einen belustigten Blick zu. „Er ist dir wohl nicht so gleichgültig, hm? Naja, wie du willst.“
Ich konnte nicht anders, ich musste ihn noch einmal ansehen. Diese Augen... diese intensive grüne Farbe...
Er erwiderte meinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, dann sprang er plötzlich auf und verschwand.
Wir blieben solange am Kanal, bis es langsam dunkel wurde. Dann gingen wir zu Andy.
Obwohl sie lieber wieder bei mir schlafen würde, bestand ich darauf ihr neues Haus zu begutachten.
Sie war mit ihrer Familie in eins dieser klassischen Vorstadthäuschen gezogen.
Ihre Mutter begrüßte uns an der Tür. Auch sie hatte sich kein bisschen verändert. Sie war immer noch die leicht spießige und unterkühlte Frau, die mich immer etwas an Bree aus Desperate Housewives erinnert hatte.
Andys Zimmer spiegelte ziemlich genau ihren Charakter wider.
Ihre Einrichtung setzte sich aus bunt zusammengewürfelten Möbelstücken zusammen, von denen ich einige noch von früher kannte. Überall herrschte ihr allgegenwärtiges Chaos, als wir uns aufs Bett setzten, musste sie erstmal einen Haufen Zeug auf den Boden schmeißen.
Nur die Wände waren noch weiß und so fachsimpelten wir gerade, in welcher Farbe wir sie streichen würden, als es an die Tür klopfte.
„Sam.“ stöhnte Andy.
Die Tür öffnete sich und Andys älterer Bruder betrat das Zimmer.
Als wir kleiner waren, war ich mir immer sicher gewesen, dass sie eigentlich Zwillinge waren. Sam hatte die gleichen warmen Augen, das gleiche Lächeln und war auch genauso groß wie sie, nur seine Haare waren dunkelblond.
Ich war eigentlich immer gut mit ihm klar gekommen. Sehr gut sogar. Als ich ihn jetzt sah, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus.
„Na sie mal einer an, kaum sind wir wieder da, schon hockt sie in Andys Zimmer.“
„Ja, ich freue mich auch dich zu sehen.“, grinste ich und umarmte ihn unbeholfen.
„Na was hast du so getrieben?“
„Dies und das.“ antwortete ich unbestimmt, um nicht schon wieder mit der Geschichte über Danny anfangen zu müssen. „Und du?“
„So ziemlich das selbe...“
Eine Weile standen wir uns gegenüber und schwiegen verlegen. Wahrscheinlich hätten wir das noch Ewigkeiten getan, wäre nicht Andy dazwischen gegangen und hätte ihn nach draußen geschoben.
„Ihr könnt euch beim Abendessen weiter anschweigen.“ rief sie durch die Tür und drehte erbarmungslos den Schlüssel im Schloss herum.
Seufzend ließ sie sich wieder auf ihr Bett fallen.
„Toll, mein Bruder steht auf meine beste Freundin, was sie gar nicht mal zu stören scheint.“
„So ein Unsinn.“
„Wieso nur?“, rief sie verzweifelt und reckte theatralisch die Hände zum Himmel, doch dann wurde sie wieder ernst. „Aber mal im Ernst. Wieso solltest du meinen Bruder wollen, wenn du auch diesen Wahnsinnstyp vom Kanal haben kannst?“
„Wer sagt, das ich ihn haben kann?“, fragte ich verärgert.
Andy sah mich belustigt an.
„Jedenfalls stehe ich nicht auf Sam.“, fügte ich versöhnlicher hinzu.
„Wie du meinst...“
Sofort sah ich wieder den Fremden vor mir, wie er alleine am Kanal saß und mich anlächelte.
„Es gibt Essen.“, unterbrach Andy meine Gedanken.
Hastig sprang ich auf und folgte ihr in die Küche.
Zur selben Zeit
Institut für Parapsychologische Phänomene:
Prof. Franklin fuhr sich über die Augen und streckte sich. Müde räumte er die Akten zurück in den Schrank, über denen er die halbe Nacht gebrütet hatte. Die Aufgabe hatte ihm schon zu viele schlaflose Nächte beschert.
Während er die Lichter löschte und sein Büro absperrte, dachte er über die Angelegenheit nach.
Er hätte es damals nie so weit kommen lassen dürfen.
Im Konferenzraum brannte noch Licht. Kopfschüttelnd betrat er das Zimmer und wäre beinahe in Marissa hinein gerannt, die den Raum gerade schnellen Schritts verließ.. Lose Blätter fielen zu Boden.
„Mein Gott, Marissa! Haben Sie mich erschreckt!“
„Entschuldigen Sie bitte.“, murmelte sie und begann die Blätter aufzusammeln.
Dabei fiel ihr ständig ihr blondes Haar in die Augen, welches sie immer wieder unwillig nach hinten warf.
„Was machen Sie überhaupt noch hier?!“, fragte er schließlich, als sie den Konferenzraum verlassen hatten und gemeinsam dem Ausgang des Gebäudes zu strebten.
„Die Sache lässt mir einfach keine Ruhe.“, murmelte sie.
Er nickte grimmig. „Und ich dachte schon ich wäre der einzige, der deswegen Überstunden macht.“
„Nein. Ganz sicher nicht.“, antwortete sie leise.
„Soll ich Sie vielleicht ein Stück mit dem Auto mitnehmen?“, bot er an, bereute es allerdings im selben Moment.
Es war eine weite Fahrt und die Aussicht auf ernste Gespräche begeisterte ihn eher weniger.
„Gerne.“
Sie verließen das Gebäude und gingen zu dem einzigen Wagen, auf dem menschenleeren Parkplatz. Marissa fröstelte und zog sich die viel zu große Jacke enger um die schmalen Schultern.
Während der Fahrt schwiegen sie, beide mit ihren Gedanken weit in der Vergangenheit.
Donnerstag, 29. Juli
Ich schlug die Augen auf und drehte mich unwillig auf die andere Seite. Erst nach dem vierten Anlauf konnte ich mich mit dem Gedanken an einen schönen, starken Kaffee aus dem Bett quälen.
Als die Kaffeemaschine endlich ihre Arbeit getan hatte, schleppte ich mich gähnend auf den Balkon und ließ mich in meinen Liegestuhl fallen.
Langsam trank ich kleine Schlucke und atmete ein wenig frische Luft.
Währenddessen blickte ich verträumt in Richtung des Parks und stellte mir vor, der Fremde würde irgendwo auf einer Bank sitzen und auf mich warten.
Die letzten Tage mit Andy waren einfach toll gewesen. Mittlerweile konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich es ohne sie ausgehalten hatte. Mein Handy signalisierte piepend eine SMS. Verwundert erkannte ich Sams Nummer. Um noch einiges verwirrter las ich seine Guten-Morgen-SMS, dachte mir aber schließlich nichts weiter dabei.
Heute wollten wir wieder bei Andy Zuhause bleiben, aber vorher wollte ich noch irgendwo frühstücken und so sprang ich unter die Dusche, zog mich an und verließ die Wohnung.
Wie so oft lief es auf mein Lieblingscafé in der Oranienstraße hinaus.
Bei einem französischen Frühstück beobachtete ich die vielen Leute, die mit gehetztem Gesichtsausdruck vorbei hasteten, und bemitleidete sie. Das tat ich so lange, bis sich ein älterer Herr angestarrt fühlte und mich mit bösen Blicken strafte.
Also wandte ich mich wieder meinem Frühstück zu und schrie vor Überraschung laut auf.
Mein Herz raste und mein Atem ging schneller, als ich ihm in die Augen sah.
Er bot mir ein Stück von meinem eigenen Croissant an und lächelte schief.
Noch immer irritierte mich die Kombination seines schwarzen Haars mit diesen unglaublich grünen Augen, die ihm ein etwas raubtierhaftes Aussehen verliehen.
Ich musste den Impuls unterdrücken, diese widerspenstige Strähne aus seinem Gesicht zu streichen, die ihm wirr in die Stirn fiel.
Gleichzeitig hätte ich ihn am liebsten gepackt und geschüttelt. Was machte er hier?!
Ich verschränkte die Arme und taxierte ihn eine Weile.
„Da bist du ja wieder.“
Er nickte Schulter zuckend.
„Sieht ganz so aus.“
Eine Weile schwankte ich zwischen Freude und Wut, entschied mich dann aber für die neutrale Mitte.
„Vielleicht solltest du mir langsam deinen Namen verraten.“
Er fixierte mich lange und kam mir immer näher.
„Bela.“ flüsterte er.
„Lea.“, murmelte ich und versuchte mich nicht in diesen unglaublichen Augen zu verlieren. Es war, als würden sie mich fest an ihn fesseln.
Als ich die Spannung kaum mehr aushielt, lehnte er sich plötzlich zurück und holte einen I-Pod aus der Tasche.
Abwesend reichte er mir mein Croissant, drehte die Musik auf volle Lautstärke und stand auf, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Viel zu schnell war er zwischen den Menschen verschwunden.
Nur das Echo des Liedes, das er gehört hatte blieb zurück. Do you know the feeling. Mein Lieblingslied, so lange ich denken konnte.
Nach meiner Begegnung mit Bela war ich viel zu aufgewühlt, um direkt zu Andy und Sam zu gehen.
Also zog ich mich noch einmal in die Wohnung zurück, um abermals die Alben nach ihm durchzusehen.
Zur Not musste ich mich eben doch an die alten Bände heran wagen.
Erst vier Bände und einen beinahe Nervenzusammenbruch später, wurde mir klar, wie aussichtslos dieses Unterfangen war. Wenn ich ihm nächsten Buch nichts fand, würde ich aufgeben.
Mit brennenden Augen tastete ich blind im untersten Fach des Aktenschranks herum und zog schließlich ein dickes Buch hervor, was sich bei genauerem Hinsehen als Ordner herausstellte.
Im Gegensatz zu den anderen Bänden, hatte er noch keine Staubschicht angesetzt.
Ich wuchtete ihn auf den Tisch und schlug die erste Seite auf. In einer Klarsichtfolie steckten einige lose Blätter.
Ich nahm das erste heraus und erkannte einen Brief in einer mir völlig fremden Schrift. Das Briefgeheimnis achtend legte ich ihn beiseite und zog das nächste Blatt heraus.
Es war ein Ausdruck von einer Internetseite.
Als ich ihn überflog, stockte ich. Ich schnappte nach Luft und las ihn ein zweites Mal.
Ungarische Kurzform von Abel oder Adalbert. Bedeutung: adal=„vornehm“ und beraht=„glänzend“. Bela bedeutet im Bezug auf das ungarische Wort „bél“ „Seele“.
Mich beschlich das Gefühl, die Luft würde knapp werden. Ich konnte kaum atmen.
Weshalb hatte meine Mutter ein Blatt abgeheftet, auf dem in allen Details die Bedeutung von Belas Namen stand?
Mit zitternden Händen strich ich den Brief glatt und las ihn nun doch.
Mit jedem Satz wurde mein Mund trockener. Jedes Wort war wie ein Stich mitten ins Herz. Jeder Buchstabe vergiftete mich von innen heraus.
Die zittrigen Buchstaben, die so sehr an meine Handschrift erinnerten.
Der Brief stammte von meinem Vater.
Er erkundigte sich nach mir. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Brief geschrieben worden war, war ich gerade eingeschult worden. Er wollte wissen, wie es mir ging, wie mir die Schule gefiel und ob ich zu dem süßen kleinen Mädchen geworden war, von dem er immer geträumt hatte.
Tränen der Wut stiegen mir in die Augen, doch ich blätterte den Ordner weiter durch. Ich stieß auf Fotos. Auf Fotos von mir, wie ich mit einer riesigen Schultüte in die Kamera strahlte, wie ich mit sieben mein erstes Fahrrad geschenkt bekam. Drei Jahre alte Bilder von Andy, Sam und mir und Fotos von meinen anderen Freunden, die wohl vor kaum einem Jahr gemacht wurden.
Kati hatte an den Rand Kommentare geschrieben und er hatte ihr geantwortet.
Teilweise hatte auch er Fotos geschickt. Ein Gruppenfoto war dabei, wo er vor einem großen Forschungsgebäude stand und in die Kamera strahlte. Meine Mutter stand neben ihm. Jung und wunderschön.
Über all die Jahre, in denen ich meine Mutter gefragt hatte, wo mein Vater war, hatte sie immer geantwortet, sie wüsste es nicht. Dabei hatte sie all die Jahre Briefkontakt mit ihm gehabt.
Mein Vater, der sich nie bei mir gemeldet hatte, wusste trotz allem alles über mein Leben. Er wusste, wie meine Freunde aussahen, kannte jedes nur halbwegs wichtige Datum aus meinem Leben und hatte mir dennoch nie eine Karte geschickt.
Nicht zu Weihnachten, nicht zum Geburtstag...
Wütend schlug ich den Ordner zu und stellte ihn zurück, ganz weit hinten in den Schrank, wo ich ihn nicht sehen musste.
Ich fühlte mich verraten und verletzt.
Kraftlos sank ich aufs Sofa und starrte aus dem Fenster. Doch mein Blick wanderte immer wieder zu dem Schrank zurück.
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2010
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