Cover


„Anna! Kommst du? Wir müssen pünktlich sein! Deine Oma feiert nur einmal ihren 60 Geburtstag!“ Mühsam rappelte ich mich aus meinem Bett. Meine schwarze Lieblingsröhre und das weiße Top mit den Strasssteinen lagen schon auf dem Stuhl bereit. Ich wollte gerade in meine Jeans schlüpfen, als ich etwas furchtbares bemerkte, ich bekam die Hose nicht über meinem Po! Ich versuchte es noch mal, es ging nicht! Und eine Gürtelschlaufe knarrte verdächtig. Ich probierte es im liegen. Es funktionierte, wenn auch nur knapp. Und bei dem Knopf musste ich schon die Luft anhalten. Alles kniff und drückte und eine schwabbelige weiße Fettwulst hing über den Rand. Es war eklig. Ich wollte noch schnell mein Top anziehen, aber auch das fühlte sich zu eng an. 'Verdammt ! Was ist nur los? Letzten Monat hat doch alles noch gepasst!', dachte ich bei mir und ärgerte mich nicht auf meine Linien geachtet zu haben. Also das Strickkleid, das passte schon besser. Ich betrachtete mich im Spiegel, „Du hast zugenommen, liebe Anna!“, sagte ich zu mir selber und streckte dem Spiegelbild die Zunge raus. Dann lief ich zum Wagen. Aber mir war klar das ich abnehmen wollte! Aber erst mal zu Oma.
Das war das schrecklichste Wochenende der Welt. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen und weinte mir die Augen aus dem Kopf. Ich hämmerte mit den Fäusten in mein Kopfkissen. Und ich fragte mich, ob es sich für mich lohnt weiter zu leben. Denn gestern war meine Oma gestorben. Beim Kaffeetrinken vom Stuhl gekippt. Ich hatte neben ihr gesessen, als sie nach Luft schnappte und plötzlich umkippte. Sie war sofort tot. Ich wusste nicht mehr was ich getan hatte. Wahrscheinlich weggerannt und mich versteckt. Als meine Mutter ihren Arm um mich gelegt hatte, hatte ich sie angeschrien und sie gefragt warum sie denkt mich trösten zu müssen. Ersrocken war sie zurückgewichen und hatte mich mit offenem Mund angestarrt. In einem anderen Moment hätte es mir leidgetan aber damals verspürte ich nur Wut. Wut auf alles und jeden. Am liebsten hätte ich damals alles umgeschmissen und hätte gern um mich getreten aber ich hatte es nicht getan.
Ich sah aus dem Fenster, es wurde dunkel. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Mein Magen zog sich zusammen und grummelte. An einem anderen Tag wäre ich in die Küche gegangen und hätte mir was zu essen gemacht aber ich blieb sitzen und starrte weiter aus dem Fenster und wartete auf das ziehen im Magen. Denn es war ein schönes Gefühl. Es lenkte mich ab.

Dies war der erste Tag in der Magersucht. Ich würde sie in den folgenden Tagen und Monaten immer wieder als Fluchtweg nutzen. Ich werde denn Schmerz immer mehr mögen und alles andere verdrängen. Die magersucht wurde für mich wie ein Gefängniss, aber ich merkte es nicht, für mich wurde es ein Ort der Sicherheit.

Nach ein paar Tagen hatte ich den Tot meiner Großmutter verkraftet. Mehr oder weniger. Doch es folgte schon ein weiteres Unglück. Meine bestes Freundin Paula war umgezogen, nach Amerika. Das bedeutete, dass ich sie nur alle paar Jahre sehen konnte. Für mich brach wieder alles zusammen. Ich kannte Paula seit dem Kindergarten, später sind wir in die selben Klassen gegangen und verbrachten jeden Tag miteinander. Wir halfen uns, lachten und für mich war Paula einfach die beste freundin die man sich wünschen konnte. Wieder zog ich mich zurück und begann wieder zu hungern. Mit dem Kalorien zählen hatte ich jedoch seit dem letzten Vorfall nicht aufgehört. Ich stellte mich fast jede Stunde auf die Waage. Ich hatte sogar schon abgenommen aber das interessierte mich nicht. Das ich in meine Lieblingshose längst wieder reinpasste merkte ich nicht. Es ging mir nicht mehr darum, ich wollte nur aus meinem Leben flüchten und alles vergessen.
Ich nahm immer mehr ab. Vor allem nach der Trennung meiner Eltern. ‚Will Gott mich ärgern?’, diese frage hatte ich mir immer wieder gestellt. Ich hatte schon 10 Kilo abgenommen, als meine Mutter es merkte. Erst hatte sie mich gelobt, bald schlug es jedoch in Sorge um, da ich immer mehr abnahm. Sie hatte gemeint ich hungere mich noch tot! "Du bist krank!", sagten die Anderen aus meiner Klasse. Sogar die lehrer meinten, dass etwas nicht mit mir stimmte! "Ich bin doch nicht krank! Ja, Fettleibig, das bin ich!" Da habe ich angefangen zu weinen und habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen. Ich fühlte mich schlecht und erst als das ziehen in meinem Magen begann ging es mir besser. Ich konnte es mir nicht erklären. An manchen Tagen aß ich gar nichts. Auch meine Klassenkameraden bemerkten es nun. Sie sagten ich sei unnormal dünn, aber das wollte ich nicht hören. Sie sprachen es danach nicht noch mal an. Sie taten so als bemerkten sie nichts von alle dem. Die Lehrer taten es ihnen gleich. Aber ich spürte die Blicke im meinem Rücken und hörte das Getuschel auf den Gängen. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut und nahm in den nächsten Monaten weitere 10 Kilo ab. Ich dachte ich hätte keine Freunde, dass mich alle hassen weil ich so 'fett' bin. Meine Noten verschlechterten sich und ich trieb jeden Tag Sport, bis ich fast umkippte. Wenn ich heimlich in meinem Zimmer turnte weinte ich, die tränen liefen in Bächen über meine Wangen. Mir tat oft alles weh und dennoch machte ich weiter. Um so erschöpfter ich wahr desto mehr wollte ich mich foltern. Immer selterner bekam ich Hunger, und obwohl ich jeden Tag mich bis an den rand der Erschöpfung trieb hatte ich nie das Gefühl genug getan zu haben. "Du bist ein faules, dickes Stück Fleisch!", sagte ich mir. Da sah meine Mutter ein, dass sie mir nicht mehr helfen konnte. Sie wies mich in eine Klinik für Magersüchtige ein. Sie versuchte es dennoch nochmal. Sie brachte mir Essen auf das Zimmer und blieb, als sie vergammelte Reste im Müll fand, dann auch immer bei mir. Sie wollte sehen wie ich aß. Im nachhinein ein Fehler mich zum essen zu zwingen. Erst wollte ich danach erbrechen. Ich würgte schon heftig aber der Ekel davor ließ mich aufhören. Ich fühlte mich dadurch schwach und mein Selbstwertgefühl schwand dahin. "Warum Mama? Warum füllst du mich so ab?" "Weil ich nicht will dass du dich zu Grunde richtest!" "Ja klar! Das ich eine Tonne wiege und aussehe wie ein Nielpferd, das willst du! Du willst, dass ich so werde wie du! Aber ich will das nicht! Interressiert es dich gar nicht was ich will?" So ging es viele Male. Erst wehrte ich mich. „Ich will doch nur abnehmen und den ganzen Mist von meinem Leben vergessen!“, hatte ich geschrieen. Ich war weggelaufen und hungerte noch mehr. Ich dachte es sei eine Lösung. Doch auch der Arzt sagte, dass ich mit meinen 15 Jahren, 40 Kilo und der Größe von 1,70 im lebensbedrohlichen Bereich war. 'Ja! Lebensbedrohlich fett!' Ich wollte nicht einsehen, dass ich krank war! Dann kam ich ins Haus Regenbogen. Eine Klinik für Mädchen und Jungen wie mich. Dort lernte ich viele Leute kennen die mir halfen, die selber betroffen waren. Das war mein erster Schritt aus dem Teufelskreis. Es folgten noch viele, viele Kleine.

Heute danke ich meiner Mutter mir den „Fluchtweg“ Magersucht abgeschnitten zu haben.
Danke, Mama!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /