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Raus müssen

Vor über drei Jahren bin ich raus. Raus aus dieser Sinfonie brüllender Motoren, kreischender Kinder, Stimmgewirr verschiedenster Sprachen, Straßenbahnen und was weiß ich noch allem. Raus aus der Stadt – meiner Stadt, raus aus Linden – Linden Nord natürlich. Klar. Raus aus dem großartigsten Stadtteil aller Zeiten und des ganzen Universums.
Familie und so. Man kennt das ja – Hauptsache raus erst mal. Natürlich waren wir nicht die Ersten, das haben vorher ja schon Einige gemacht, und – logisch – ich habe jeden Einzelnen für verrückt erklärt. Nur irgendwann lassen sich ein kleines Kind und Lindener Häuserschluchten einfach nicht mehr zusammendenken. Dieser Zeitpunkt ist ziemlich genau dann erreicht wenn es sich um das eigene kleine Kind handelt.
Ungefähr ein Jahr bevor wir in die nordhannoversche Peripherie ausgewandert sind, vermisste ich eben diesen meinen bisher alleinigen Erben. Panik ergriff mich. ‚Draußen ist feindlich’ Die Neubauten tobten durch meinen Kopf wie eine Horde durchgeknallter apokalyptischer Reiter. Er war weg. Gute zwei Jahre alt und aus unserer adretten Altbauwohnung schlicht und einfach verschwunden. ‚Ruf ich die Polizei? Wie sage ich’s meiner Frau? („Du, Schatz, äh hör mal.... ich glaub ich hab den Lütten verloren) oder was??? Kam nicht in Frage - ich hänge an meinem Leben. Ein heller Moment trieb mich zur Tür: Er kann ja noch nicht weit gekommen sein. Raus in den Hausflur, scheiß auf Schuhe oder Jacke, es war Februar, und mir ziemlich Latte. Erste Treppe runter gehechtet, die Wende im Sprung genommen eine Hand zur Kursregulierung am Geländer welches kläglich knackte aber durchhielt. Ich war im Begriff einen Rekord für die Ewigkeit aufzustellen, wenn da nicht mein Nachwuchs im Weg gestanden hätte mit weit aufgerissenen Augen und ziemlich verstört ob des ungewohnten Verhaltens seines noch viel verstörteren Vaters. Ich sprang! Bremsen ging nicht mehr, und ihn zwei Meter nach unten zu rammen empfand ich für nicht angemessen. Ein Fuß fand eine Stufe, der andere Fuß erreichte vier Stufen weiter festen Boden, doch Bremsen ging immer noch nicht. Das erledigte die auf die Treppe folgende Mauer. Es muss gewaltig gerummst haben. Egal – Hauptsache mit dem Kind alles klar. Der wiederum stand immer noch auf der Treppe und.... lachte. Offensichtlich wollte Papa mal wieder Blödsinn machen und war erfolgreicher denn je. Ich schluckte Schmerz und Zorn und Erleichterung und ein achtel Blut runter und fragte so ruhig wie möglich: „Gottverdammte Scheiße, was zur Hölle machst Du hier draußen??? „ Pause. Er: „ zum Kiosk gehen“ Ich (schnaufend) „und was willst Du alleine beim Kiosk?“ Und die nächste Antwort hat den Grundstein gelegt, für unser freiwilliges Exil in die Wedemark. Mir war eigentlich völlig klar was er wollte: was Süßes natürlich oder ne Fanta. Vielleicht auch diesen ungeheuer großen, ständig misstrauisch knurrenden Hund streicheln. Weit gefehlt: „ich wollte Papa Bier kaufen!“ Wow! Ich rang nach Luft, Worten, Fassung. Grandios! Da hatte ich ja doch wohl so einiges richtig gemacht in meiner immer noch recht frischen Rolle als Erziehungsberechtigter. Hand in Hand gingen wir über die Straße. „Ein Herri und ne Fanta“, und auf meinen Sohn zeigend, der stolz wie Bolle mit einer Münze winkte: „er zahlt“ (ich hatte ihm vorher zwei Euro geliehen).

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Tag der Veröffentlichung: 06.11.2011

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