Manfred Lukaschewski
VERLORENE IDEALE
ROBERT UND FRANZ
Manfred Lukaschewski
Erstes Kapitel
Das Ende einer Freundschaft
„Er kommt!“, rief Robert Buhl in den Klassenraum der Oberprima des `Horst Wessel Gymnasiums`, das sich im alten Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg befand. Jetzt musste alles ganz schnell gehen, denn mit Studienrat Scharfschwerdt war nicht zu spaßen. Scharfschwerdt war ein alter Reichswehroffizier und seit kurzem in der SS ein hohes Tier. Immer preußisch exakt und schneidig bis in die Haarspitzen. Schon von weitem waren seine mit Nägeln beschlagenen Stiefel auf dem Gang dieser ehrwürdigen Schule, die einmal den Namen des größten deutschen Dichters trug, zu hören. Die Geschichten der Heldentaten des Studienrates im großen Krieg, wie er den Ersten Weltkrieg nannte, könnten ganze Bände füllen und waren in der gesamten Schule nur zu bekannt. Er haderte mit dem Ausgang und noch mehr mit dem Ergebnis, dem Versailler Vertrag. Die Franzosen, diese Teufel in Menschengestalt, haben den Deutschen diesen Vertrag oktruiert und dabei gemeinsame Sache mit den Juden und Sozis gemacht. Eigentlich war er Mathematiklehrer, fand aber immer wieder eine Gelegenheit, die Schmach von Versailles in den Unterricht einfließen zu lassen, sei es auch nur, um ausrechnen zu lassen, wieviel Prozent der gefallenen Soldaten vor Verdun der deutschen Gesamtbevölkerung entsprachen und das mit der Gesamttodeszahl des Dreißigjährigen Krieges zu vergleichen.
Schnell waren alle Sachen in den Fächern unter den Pulten verstaut, und die gesamte Oberprima stand mit den Händen an der Hosennaht in Erwartung vom Studienrat Scharfschwerdt stramm. Die Tür flog auf, und der füllige Körper, eingehüllt in eine SS-Uniform, erschien.
„Heil Hitler!“, gröhlte er und dabei schnellte sein rechter Arm in die Höhe.
„Heil Hitler!“, gröhlte die Klasse gleichermaßen zurück. Nicht bei allen waren die Arme so schnell nach oben gerissen worden, wie bei Robert Buhl.
Robert Buhl war ein begeisterungsfähiger Träumer, der sich schon jetzt ausmalte, einmal eine so schöne Uniform tragen zu dürfen wie der Herr Studienrat. Uniform, dass bedeutet Ansehen, bedeutet Macht und Zusammengehörigkeit und stellt den Träger um mindestens eine Stufe über den Rest der Bevölkerung. Wenn er das Abitur in der Tasche hatte, ging es zur Wehrmacht, um dort Offizier zu werden, das stand für ihn fest, wie das -Amen- in der Kirche.
Nur, da war noch sein Vater, der mit den Plänen seines Filiusses überhaupt nicht einverstanden war.
Buhl sen. hatte den Ersten Weltkrieg auch erlebt, er hatte ihn überlebt um genauer zu sein, und nannte diese vier Jahre nur Scheiß-Krieg. Nichts von Größe und Heldentum hatten seine Erzählungen, wenn er überhaupt darüber sprach. Er erzählte von krepierten Kameraden, von Hunger und Kälte. Wenn die Cholera gewütet hatte oder die Ruhr und der ganze Graben nach Latrine und Eiter roch, gab es kein Plätzchen mehr, wo man sich verstecken konnte. Die Kameraden lagen manchmal mit aufgeschlitzten Bäuchen in den Pfützen, die der Regen der vergangenen Nacht hinterlassen hatte und versuchten vergeblich, ihre Gedärme wieder in die Bauchhöhle zu stopfen. Einige schrien nach ihrer Mutter, auf Hilfe hoffend, andere gaben sich vor seinen Augen den Gnadenschuss.
Wie oft hatte der Vater zu Hause förmlich getobt, wenn Robert seine Pläne offenbarte und Mutter stand traurig und hilflos dabei. Glaube mir, hatte Vater immer wieder gesagt, wenn der Hitler so weiter macht, kommt der nächste Krieg, und es wird schlimmer als das jüngste Gericht.
Roberts Vater war ein eher unpolitischer Zeitgenosse, eigentlich wollte er nur in Ruhe seine Arbeit bei der BVB als U-Bahnfahrer in Frieden machen können, aber Hitler und seine Konsorten, wie er sie nannte, konnte er nicht ausstehen. Dass Robert in die Hitlerjugend ging, dort es sogar bis zum Fähnleinführer gebracht hatte, nahm er noch hin. Schließlich mussten da ja alle hin, und der Junge lungerte nicht in der Schönhauser Allee herum.
„Hinsetzen!“. Die donnernde Stimme des Studienrates riss Robert aus seinen Gedanken.
„Meine Herren! Aus gegebenen Anlass werden wir heute etwas vom geplanten Stoff abweichen. Unser geliebter Führer, Adolf Hitler, hat gestern eine imponierende Rede gehalten, auf die wir unbedingt eingehen sollten.
Nach dem Münchener Abkommen, wo, wie Sie ja wissen, die Franzmänner und die Engländer dem konsequenten Auftreten unseres Führers Folge leisten mussten, erläuterte der Führer seine Friedensliebe zum wiederholten Male. Gleichzeitig warnte er auch unsere Feinde, indem er sagte, dass bei einem Herbeiführen eines Krieges durch das internationale Judentum nicht Deutschland vernichtet würde, sondern die gesamte jüdische Rasse.“
Robert Buhl sprang auf und brüllte:
„Unserem geliebten Führer, Adolf Hitler, ein dreifaches -Sieg heil, Sieg heil, Sieg heil!-“
Die gesamte Klasse stand augenblicklich stramm und stimmte in den Siegesruf ein, sehr zum Wohlwollen des Studienrates.
„Musst Du immer gleich so übertreiben?“, fragte ihn sein Banknachbar, nachdem wieder Ruhe eingezogen war.
Franz Baumgart, ein kräftiger Bursche und nur wenig kleiner als Robert, stand diesem Gehabe mit äußerster Skepsis gegenüber. Sein Elternhaus war sozialdemokratisch geprägt und sein Vater hatte an der Novemberrevolution als Soldatenrat teilgenommen. Franz war ebenfalls in der HJ, sogar im gleichen Fähnlein, fand aber oftmals eine Ausrede, nicht an den gemeinsamen Unternehmungen teilzunehmen.
„Baumgart, was gibt es da zu tuscheln? Haben Sie etwa eine andere Meinung als unser Führer?“
Betretendes Schweigen herrschte in der Klasse, wussten doch alle, dass Franz Baumgart dem Studienrat ein Dorn im Auge war und der nur darauf wartete, einen Anlass zu haben, um ihn zu maßregeln. Franz war allerdings klug genug, auf solche Provokationen zu reagieren.
„Natürlich nicht, Herr Studienrat, der Führer hat wie immer Recht. Nur weiß er vielleicht nicht alles, was auch nicht verwundert, wenn man bedenkt, um was sich der Führer alles kümmern muss, nicht wahr?“
Man sah dem Studienrat seine aufkommende Wut förmlich an.
„Baumgart, reißen Sie sich zusammen. Natürlich weiß der Führer nicht alles, aber er hat die besten Mitstreiter, die es in der arischen Rasse gibt und zusammen werden sie es richten, darauf können Sie einen lassen. Mit solchen, wie Ihnen werden die alle Mal fertig.“
Eine unverholene Drohung und nicht die Erste.
„Buhl, wie denken Sie über diese Rede?“, wollte Scharfschwerdt von Robert wissen.
Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns sagte der Angesprochene:
„Herr Studienrat, ich denke, dass es an der Zeit ist, Europa klar zu machen, dass man mit Deutschland nicht mehr machen kann, was man will. Sollten die Franzosen, die Juden oder die Bolschewiken das nicht begreifen, sollten wir ihnen zeigen, wer der Herr in Europa ist! Sie haben es einmal geschafft, Deutschland zu beschämen, ein zweites Mal wird es nicht geben und die deutsche Rache wird gewaltig sein!“
Gestochen scharf kamen diese Sätze und Robert fühlte sich in seinem Element, wollte gerade fortfahren, wurde aber von Scharfschwerdt unterbrochen.
„Ausgezeichnet Buhl. Nehmen Sie sich ein Beispiel, Baumgart. Wenn alle Deutschen so dächten, wie Ihr junger Freund, dann wären wir das Pack bald los.“
Franz Baumgart zog wie immer in solchen Situationen seinen Kopf ein. Eine einstudierte Geste, die Reue dokumentieren sollte und seine Wirkung in den meisten Fällen nicht verfehlte. Allerdings würde er noch einmal mit seinem Freund in Ruhe reden müssen, was der für einen Mist erzählt, das darf nicht unwidersprochen bleiben.
Der Tag, es war der 9.11.1938, plätscherte dahin, und als die Schulglocke den Schulschluss ankündigte, war die „Geschichts“stunde nahezu vergessen. Nur Franz Baumgart wartete auf Robert vor der großen Holztür, über der in großen Lettern geschrieben stand:
Wissen ist Macht
„Was erzählst Du da für einen Scheiß, von wegen Rache und Judentum, Bolschwiken und solch einen Dünnschiss?“, überfiel Franz seinen Banknachbarn. Die beiden kannten sich bereits seit den ersten Tagen an der Penne und wurden dicke Freunde. Der eine, in der Stargarder Straße zu Hause, der andere eine Ecke weiter in der Lychener, zogen so manchen Tag um die Häuser, nicht immer zum Wohlwollen der Anwohner. Es war eine alte Arbeitergegend und wer hier rauskam, hatte es geschafft. Die Mietskasernen mit ihren Hinterhöfen, wo es fast immer nach Kohl oder angebrannten Katoffeln roch, waren wahrlich keine feine Adresse. Hier achtete noch jeder auf Nachbars Kinder, und es war verdammt schwer, einen Streich zu spielen, ohne bemerkt zu werden. Manchmal gelang es allerdings doch.
Als die beiden die halbvolle Aschetonne vier Etagen nach oben gewuchtet hatten, einen Sylvesterböller zündeten und das ganze Treppenhaus im Aschenebel verschwand, konnten sie unerkannt entkommen. So etwas schweißt zusammen.
„Was heißt hier Dünnschiss. Hätten die Juden und die Sozis im Reichstag nicht gegen die Kriegskredite gestimmt und hätten sie nicht das deutsche Volk verhetzt, hätten wir den Krieg gewonnen und würden heute nicht unter den Juden leiden.“
Franz Baumgart war ein ruhiger junger Mann, der sehr lange brauchte, um richtig wütend zu werden, jetzt war er auf dem besten Wege dahin.
„Denkst Du tatsächlich, dass man mit ein paar Millionen mehr so einfach einen Krieg gegen die halbe Welt gewinnen kann. Nein, mein Lieber, der olle Kaiser mit seinen Generälen hat sich einfach übernommen, wollte der größte Kaiser unter der Sonne sein. Nur gab es da noch andere, die wollten den Platz an der Sonne nicht so mir nichts dir nichts räumen und letztendlich hat der kleine Mann den Kopf dafür hingehalten und Du willst, dass ich wieder meinen Kopf hinhalten soll. Nee, mein Lieber, ohne mich!“
„Mensch, Franz“, erwiderte Robert und wollte freundlich sein, „überleg doch mal. Der Führer will doch gar keinen Krieg, aber wenn die Juden und das ganze andere Kruppzeug einen Krieg vom Zaun brechen, werden sie in der ganzen Welt froh sein, dass sich Deutschland das nicht gefallen läßt. Der Führer weiß, was er sagt. Er war doch auch in dem Krieg, den wir durch Verrat verloren haben, war verwundet und ist als Held zurück gekommen.“
Franz Baumgart war nicht davon überzeugt.
„Als Held, als Held. Gefreiter war er und Melder, so großartig viele Möglichkeiten hatte der gar nicht, um sich als Held zu beweisen, und nicht alle, die verwundet worden sind, sind automatisch gleich Helden. Arme Schweine waren es, verdammt arme Schweine!“
Auch Robert traten in diesem Moment die Zornesfalten auf die Stirn.
„Du beleidigst den Führer! Wer hat denn im November 18 die Roten in die Schranken gewiesen und ein Sowjetreich verhindert. Der Führer stand in der ersten Reihe, um diese Horden zu stoppen. Ohne den Führer könnten wir heute nicht friedlich unser Abitur machen, geschweige denn, etwas Vernünftiges studieren. Wir säßen vielleicht in Sibirien und würden Bäume fällen. So sieht es aus.“
Sie waren in der Stargarder Straße angekommen. Eine typische Gegend im Prenzlauer Berg, dem Arbeiterviertel der Stadt. Sie verband die Prenzlauer Allee mit der Schönhauser Allee und hatte deshalb schon etwas Besonderes. Hier gab es mehr Verkehr als in den kleinen Nebengassen und hier stand die größte Kirche weit und breit – die Gethsemanekirche -. Ihre Hinterhöfe waren grau und verwinkelt, stanken nach Abfall, und wenn der Leierkastenmann kam, sah man die vielen Ratten reißaus nehmen. Sie flitzten dann kreuz und quer über die engen Höfe und suchten Schutz in den vielen düsteren Kellern, die oft nicht höher als einen Meter waren.
„Oh, mein Gott, was bist Du doch für ein Idiot. Dein Führer war 1918 gar nicht so glorreich gegen die Roten, er war nämlich selbst einer von denen. Er war im Arbeiter- und Soldatenrat, was sagst du nun?“
Verdattert sah ihn Robert an, fasste sich aber gleich wieder.
„Lüge, alles rote Propaganda. Wenn ich Dir einen Rat geben darf, pass auf, mit wem Du so redest.“
Vor der Nummer -62- trennten sich ihre Wege, wegen der Uneinsichtigkeit des jeweils anderen nicht gerade zufrieden.
Einige Stunden später, am Abend dieses 9.11.38 stand Robert mit pochendem Herzen vor der Wohnungstür in der Lychener Straße und pochte aufgeregt dagegen. Vater Baumgart öffnete die Tür und begrüßte Robert freundlich.
„Ist Franz zu Hause, kann ich ihn mal sprechen?“
„Komm schon rein, er ist im Wohnzimmer. Du weißt ja, wo das ist.“
Robert ging den kurzen Flur entlang und hörte schon dort das Radio. Es liefen die Meldungen aus ganz Deutschland über die Rache des deutschen Volkes an dem Verbrechen an Ernst Eduard vom Rath.
Rath war an der Pariser Botschaft Legationssekretär und wurde vor zwei Tagen von einem Juden namens Herschel Grynszpan niedergeschossen und war heute seinen heimtückisch beigebrachten Verletzungen erlegen.. Nun stand das deutsche Volk auf und wollte den verhassten Juden zeigen, wer Herr im Hause Deutschland sei. Robert Buhl war fest von der Richtigkeit dieser Maßnahmen überzeugt.
Mit ziemlicher Wucht betrat Robert das Wohnzimmer, so dass Franz und seine Mutter recht erschrocken zur Tür sahen. Ohne Gruß begann Robert euphorisch drauf los zu reden.
„Kommst Du mit nach Pankow in die Schönholzer Straße? Da wird dem Juden der Garaus gemacht. Die Synagoge soll schon brennen und die Geschäfte werden auch dran glauben müssen.“
In diesem Moment betrat Vater Baumgart das Zimmer, mit finsterer Miene und meinte zu seinem Sohn:
„Ich denke, Du hast Besseres zu tun, als da mit zu machen.“
„Aber Vater, Du hast bestimmt Recht. Aber die Anderen aus meiner Klasse werden bestimmt hingehen, wenn nicht nach Pankow, so vielleicht in die Große Hamburger Straße oder nach Weißensee, die Juden gibt es doch überall.“
Anscheinend hatten die Worte von Franz den Vater nicht überzeugt.
„Ich werde es Dir nicht verbieten, aber bedenke. Jetzt brennen erst die Häuser der Juden, später...“
Er brach den Satz ab und überließ es Franz, ihn zu vervollständigen.
Einen kurzen Augenblick überlegte Franz noch, zog sich dann aber schnell seine Jacke über, und die Jungs waren im Dunkel der Nacht verschwunden. Kopfschüttelnd stand der Vater im Wohnzimmer und murmelte vor sich hin:
„Wo soll das noch enden?“
Franz und Robert liefen so schnell sie konnten in Richtung Schönhauser Allee, überquerten die Pappelallee, stürmten an der Gethsemanekirche vorbei, die offensichtlich immer noch gut besucht war; es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr, und erreichten den voll gestopften S-Bahnhof. Es hatte den Anschein, als wollten alle hier Stehenden an diesem historischen Ereignis teilhaben. Sie sahen in aufgeregte, aber frohe Gesichter. Oben auf der Schönhauser hörte man die Stiefel der SA-Einheiten und, wenn man genau hinhörte, das Splittern von Glasscheiben.
„Das wird bestimmt am Kaufhaus -Wertheim- sein, auch so ein verdammter Jude!“, schrie Robert, um das Gejohle der Menge zu übertönen.
Die S-Bahn fuhr ein und die beiden hatten Mühe, noch hinein zu kommen. Mit zusammengepferchten Passagieren ratterte die Bahn los und fuhr am Bahnhof -Bornholmer Straße- durch, wahrscheinlich, um ein noch größeres Gedränge zu vermeiden.
Die Pankower Berliner Straße war voller Menschenmassen und selbst die SA hatte Mühe sich ihren Weg zu bahnen. Der kleine Kiosk unter der Brücke stand in Flammen und ein alter Mann stand davor und wiegte seinen Kopf tonlos hin und her. Er hatte seinen schwarzen Hut in der Hand und Tränen liefen ihm über das gegerbte Gesicht.
Betreten stand Franz vor dem in sich zusammen gefallenen Kiosk.
„Warum? Der steht schon so lange ich denken kann hier unter der Brücke und verkauft seine Bockwurst. Was hat der mit dem Rath zu tun?“, wollte er von Robert wissen.
„Ganz einfach. Er nimmt deutsches Geld und unterstützt damit das internationale Judentum, damit sie solche tapferen Deutschen umbringen, wie den Rath.“
„Das glaubst Du doch selbst nicht. Der weiß doch noch nicht einmal, wo Paris liegt.“
„Es ist aber so. Erst, wenn wir sie alle in die Schranken gewiesen haben, können wir vor denen sicher sein.“
Bis zur Schönholzer Straße war es nicht weit und schon von Weitem konnten sie den roten Nachthimmel sehen. Dort brannte das Gotteshaus der Juden und je näher sie kamen, desto größer und lauter wurde das Gejohle der Massen.
„Siehst Du, es ist wie eine Befreiung. Die Menschen sind froh, dass endlich etwas gemacht wird. Wirst sehen, in ein paar Monaten sind wir die alle los. Sollen sie doch nach Palästina ziehen und in der Wüste verhungern, auch gut, je schneller desto besser!“
Scheiben gingen zu Bruch und vereinzelt flogen Möbel, sogar Betten aus den Fenstern. Weinende Kinder klammerten sich an die Beine der betroffenen Erwachsenen und Einzelne versuchten, ihr Hab und Gut wieder in Sicherheit zu bringen. Die SA-Trupps schlugen mit Eisenstangen auf sie ein. Viele bluteten und ergaben sich dem Mop. Plötzlich bog ein Lastkraftwagen um die Ecke, stoppte, die Klappe wurde geöffnet und die SA begann, die Blutenden und Schreienden vor sich her zu treiben und auf den LKW zu verfrachten. Immer mehr wurden zusammengetrieben und der Wagen platzte bald aus allen Nähten. Alle mussten sie auf diesen Wagen, lagen schon übereinander, kleine Kinder schrien nach ihren Eltern. Die Klappe wurde mit Gewalt geschlossen und der nächste LKW bog um die Ecke. Einige versteckten sich in den dunklen Hauseingängen und waren bemüht, die Kinder zu sich zu nehmen und sie zu beruhigen. Es waren die Frauen, die den Mut hatten, sich um die gequälten Kinder zu kümmern; Männer wurden gnadenlos verfolgt.
Sie erreichten den Platz vor der Synagoge, deren Kuppel gerade in einem mächtigen Funkensturm in sich zusammen brach. Die Menge brach in Beifall aus und vereinzelt waren solche Rufe, wie -Gießt noch Benzin nach- oder -den Pfaffen gleich mit hinein- zu hören.
Wie dumm diese Menschen doch sind, dachte Franz bei sich. Pfaffen haben bei den Juden wahrlich nichts zu suchen und er dachte an seinen Vater. Möglicherweise hatte er doch Recht, wenn er vor den Nazis warnte. Schrien sie hier nicht schon nach dem Scheiterhaufen für die Juden? Robert stand mit begeistertem Gesicht neben ihm und konnte sich offensichtlich dem Taumel nicht entziehen.
„Mensch, Robert, es sind Menschen, die haben doch auch ein Recht.“
„Haben sie, aber was Recht ist und was nicht, bestimmen ab sofort wir Deutschen und das ist auch höchste Zeit!“
Irgend jemand weiter hinten stimmte das Deutschlandlied an.
„Deutschland, Deutschland, über Alles
Über Alles in der Welt!“
Der gesamte Platz stimmte in den Gesang ein, nur Franz hing, von Robert unbemerkt, seinen Gedanken nach. Er konnte es sich nicht erklären, warum die Juden der Sündenbock der gesamten Welt sein sollten? Es gab doch herausragende Persönlichkeiten, die Juden waren oder sind, und er dachte dabei an Heine oder Einstein.
Der eine euphorisch, der andere niedergeschlagen und voller Zweifel machten sie sich zu Fuß auf den langen Heimweg. Die letzte S-Bahn fuhr schon vor Stunden. Das Schweigen der Beiden war mehr, als alle Worte sagen können.
Als am folgenden Tag der Unterricht begann, blieben drei Plätze in der Klasse leer.
„Na endlich haben die Juden begriffen, dass sie an einer deutschen Schule nichts verloren haben!“, tönte Walter Hinz in den Raum und fand allgemeinen Beifall.
„Wo warst du denn gestern Abend?“, wollte Buhl wissen.
„Ich war in der Möllendorfstaße und wir wollten den Friedhof dieser Brut ´in Ordnung´ bringen, aber leider war die Polizei dagegen. Hatten wohl Order von oben, und von unserer Partei war niemand vor Ort. Ja, wäre die SA dabei gewesen, würde es diesen Schandfleck mitten in Berlin heute nicht mehr geben, darauf kannst du wetten.“
„Weiß jemand, wo die drei abgeblieben sind?“, wollte Franz wissen.
Die drei, das waren Roman Rosenthal, Frieder Herrmann und Simon Trefflich, alles Kinder jüdischer Eltern. Sie hatten nicht den besonders engen Kontakt zueinander, achteten sich aber, auch auf Grund der schulischen Leistungen der drei. Sie gehörten zu den Klassenbesten.
„Pa- läs- ti- na, Pa- läs- ti- na“, hörte man Hinz rufen, das Wort -Palästina- betont gedehnt, damit seine Schadenfreude besonders deutlich wurde.
„Bist du sicher. Wie soll das so schnell gehen?“
„Sicher bin ich nicht, aber ich weiß von meinem Vater, dass es bald ein Gesetz geben wird, nach dem alle Juden ihr Vermögen offenlegen müssen und alles, was über 5000 Mark da ist, bekommt das deutsche Volk. Also“, Hinz machte eine Kunstpause, um seinen Worten Gewicht zu geben, „also werden sie alles vorher verscherbeln und ab durch die Mitte. Die werden den Braten riechen, jede Wette.“
„Aber so kurz vor dem Abitur!“, Franz Baumgart konnte das nicht begreifen.
„Wozu brauchen die ein Abitur? Um noch bessere Methoden auszutüfteln, unser Geld zu stehlen und uns zum Narren zu halten? Dieses Kruppzeug soll in der Wüste Sandkörner zählen, dazu braucht man kein Abitur.“
Erschrocken fuhr Franz herum. Es war Robert, der das sagte und er sah ihm an, dass er es ernst meinte.
„Aber...“ Weiter kam Franz in diesem Augenblick nicht. Der Kurze, so wurde Professor Rebling genannt, betrat die Klasse.
Rebling war Religionslehrer und gleichzeitig stellvertretender Direktor des Gymnasiums. An sich war der Professor eine Krämerseele, dabei nach außen völlig unpolitisch und nur seinem Fach verschrieben. Allerdings konnte man mit ihm über alles diskutieren, ohne Gefahr zu laufen, dass er das gegen seine Schüler nutzte. Er hatte wohl in seinem Leben schon zu viele Turbulenzen erlebt, als das er sich schnell ereiferte und er es offensichtlich entspannter fand, sich aus allem heraus zu halten.
„Grüß Gott, meine Herren“, begrüßte er die Klasse, ohne den deutschen Gruß zu wählen. Ob er das aus Widerwillen machte oder ob es seinem Fach geschuldet war, blieb sein Geheimnis.
„Wie beurteilen Sie, die Sie ja dabei waren, so nehme ich an, den gestrigen Abend?“
Diese direkte Frage hatte niemand vom Kurzen erwartet, es herrschte nachdenkliches Schweigen.
Franz meldete sich als Erster.
„Nun, Baumgart?“
„Professor, ich denke, dass man die Aktion hätte ankündigen können. Vielleicht wären ja viele freiwillig vorher gegangen, ich meine nach Palästina.“
Einige fingen an zu lachen, vor allem Hinz schwang sich zum Befürworter der Aktion mehr und mehr auf.
„Das wäre ja wohl die Höhe. Vorher warnen! Damit sie alles beiseite schaffen, was uns zusteht, nee, die müssen zahlen, auf Heller und Pfennig“, warf schon sichtlich erregt Hinz in die gerade erst begonnende Debatte.
Ruhig fragte Rebling in das Auditorium:
„Wofür bezahlen, Hinz?“
Hinz fühlte sich in die Enge getrieben, seine Erregung stieg und er war kaum mehr fähig, in zusammen hängenden Sätzen zu antworten.
„Professor, im Krieg haben sie uns verraten, haben gegen die Kredite gestimmt. Hier haben sie unsere Soldaten schlecht gemacht, haben die Heimatfront zermürbt mit ihrem ewigen Geschwafel von Frieden und solch Kokolorus.
Jetzt fangen sie auch noch an, unsere besten Leute zu morden. Irgendwann muss doch damit mal Schluss sein. Und überhaupt, wenn die alle weg sind, ist für uns mehr Platz zum Leben.“
Franz rutschte immer unruhiger auf seinem Stuhl hin und her. Rebling hatte es wohl bemerkt und forderte Franz auf, doch allen zu erklären, warum er so unruhig hin und her zappelte.
Franz druckste herum, sollte er seine Meinung offen sagen, so kurz vor den Abiturprüfungen?
„Wissen Sie, Herr Professor, ich würde sagen...“
Rebling unterbrach ihn recht schroff.
„Würden Sie sagen, oder sagen Sie es. Für eines müssen Sie sich schon entscheiden, damit Klarheit herrscht.“
„Also, ich bin der Meinung“, stotterte Franz, „dass man zu weit gegangen ist. Letztendlich haben sie uns doch nichts getan. Sie gehen doch auch nur ihrer Arbeit nach...“
Weiter kam er nicht. Hinz brüllte dazwischen, dass diese Juden den Ariern die gute Arbeit wegnehmen und für die Arier nur die Drecksarbeit bliebe.
„Das ist doch aber Unsinn“, versuchte sich Franz zu verteidigen, „ist dir eigentlich bekannt, dass es zwar ein arisches Volk gibt, das aber ist weit weg von Europa zu Hause und hat mit uns überhaupt nichts zu tun. Wenn es sie überhaupt noch gibt, tummeln die sich in Nordindien, du Arsch mit Ohren!“
„Meine Herren, wenn ich bitten darf, mehr Sachlichkeit bitte“, versuchte Rebling die aufgebrachte Situation zu beschwichtigen.
„Ist doch wahr, so einen Schwachsinn, was der von sich gibt. Keine Ahnung, aber große Töne spucken.“
„Möglicherweise“, versuchte Rebling noch einmal, Ruhe in die erhitzte Diskussion zu bringen, „war dem Führer der aufgestaute Zorn der Bevölkerung nicht ganz gegenwärtig und er hat die Eskalation unterschätzt. Schließlich wurden ja auch Einrichtungen dieser Bevölkerungsgruppe geschützt. Ich denke, man sollte das nicht über bewerten.“
Der redet genau so einen Blödsinn, dachte Franz. Bevölkerungsgruppe, wie sich das anhörte. Sie sind zwar noch gegenwärtig, aber wenn wir sie vertreiben, ist es auch kein Beinbruch.
Robert hingegen tendierte in seiner Meinung mehr zu der von Hinz. Sollten die Juden doch zusehen, wie sie mit dem Arsch an die Wand kommen. Immer weg damit und der Frieden ist wieder ein Stück sicherer. Er konnte seien langjährigen Freund nicht verstehen; sah er denn nicht, dass es seit der Machtergreifung durch Adolf Hitler mit dem deutschen Volk nur aufwärts ging? Kaum noch Arbeitslose, die Geschäfte voll und der Rest der Welt brachte Deutschland, seinem Deutschland, wieder die nötige Achtung entgegen. Es war doch nicht zu leugnen, dass die Machenschaften des internationalen Judentums immer wieder zu Kriegen geführt hatten. Wenn die alle weit weg in Palästina wären, bräuchte die Welt vor einem Krieg keine Angst mehr zu haben.
Rebling bemühte sich redlich, eine sachliche Diskussion aufkommen zu lassen.
„Das Christentum hat bekanntlich seine Wurzeln in der jüdischen Religion. Das dürfte Ihnen hinlänglich bekannt sein. Wäre es deshalb nicht durchaus denkbar, dass man sich vernünftig einigt und die Juden davon überzeugt, dass es für beide Seiten besser wäre, den Christen das Abendland zu überlassen und sie selbst im Orient ihr Heil suchen? Da kommen sie doch schließlich auch her.“
Franz war geneigt, sich noch einmal zu Wort zu melden, ließ es aber in Anbetracht der Kräfteverteilung in der Klasse. Einigung und Überzeugung, wie geht das mit dem Geschehenen zusammen. Hier geht es doch um Vertreibung und von Überzeugung kann doch überhaupt keine Rede sein.
„Wie wollen Sie die überzeugen, wenn nicht mit ein wenig Gewalt. Die sind doch uneinsichtig bis unter die Haarspitzen. Da muss man schon mal den Hut lüften und immer drauf auf die Haarspitzen.“
Wieder war es Hinz, der die Klasse zum erheiternden Grölen animierte.
Hoffentlich ist das Abitur bald vorüber, dachte sich Franz, und ich kann meine eigenen Wege gehen. Irgendwo weit weg von Berlin, vielleicht in Freiburg Medizin studieren oder gar ins Ausland, bloß weg von diesem blöden Gequatsche.
Wieder draußen auf der Straße, nach dem Unterricht, schlenderten Robert und Franz wieder einträchtig neben einander die Dunckerstraße hinunter in Richtung zum Weißensee.
Sie sahen beide keinen Anlass, die Diskussion weiter zu führen, kannte doch jeder die Meinung des anderen, wenn er sie auch nicht gut hieß.
Die Zeit bis zum Abitur verlief in verträglicher Athmosphäre. Im Gymnasium beschränkte man sich auf die notwendigsten Konsultationen, ansonsten war Müßiggang angesagt. Viele Tage verbrachten die Freunde am Wannsee oder fuhren hinaus in die Müggelberge, ein reizendes Erholungsgebiet vor den Toren dieser quirligen Stadt.
Eines Abends, die Dämmerung hatte schon eingesetzt, kam Franz, begleitet von Robert, nach Hause und traf seine Mutter tränenüberströmt schon im Treppenhaus.
„Mutter, was um alles in der Welt ist denn Schlimmes passiert?“, rief Franz schon von Weitem.
„Sie haben Vater geholt.“, kam die schluchzende Antwort.
„Wer die und warum geholt?“
„Die Gestapo war hier, und sie haben Vater mitgenommen. Ohne ein Wort warum und wohin, was soll nur werden?“
Franz war wie vor den Kopf gestoßen.
„Beruhige Dich erst einmal, so schlimm wird es bestimmt nicht sein, ein Missverständnis, mehr kann es doch gar nicht sein. Ich gehe morgen früh gleich los und versuche heraus zu bekommen, was los ist. Wirst sehen, es wird sich alles aufklären.“
„Frau Baumgart“, mischte sich Robert in das Gespräch ein, „ich gehe mit, und Sie werden sehen, morgen ist Ihr Mann wieder zu Hause.“
Die Aufmunterung durch die Kinder tat ihr gut, nur so richtig glauben konnte sie ihnen nicht. Hatte sie doch schon von anderen gehört, dass die so abgeholten selten schnell wieder nach Hause kamen.
Am nächsten Morgen trafen sich Franz und Robert am U-Bahnhof Schönhauser Allee, gingen zu Konnopke und aßen zunächst die berühmte Currywurst dieses Standes.
Was wohl der Vater im Augenblick machte, dachte Franz und überlegte, warum die Gestapo gerade auf ihn gestoßen sei. Vater war politisch nicht aktiv, gut, er hatte während der Novembertage 1918 im Soldatenrat mitgearbeitet, aber das hatten andere auch, auch Herr Hitler, und die waren noch zu Hause. Er fand keine Erklärung.
Das Gebäude in der Prinz-Albrecht-Straße war ein grauer Klotz, der schon von außen keinen sonderlich beruhigenden Eindruck machte. Hier befand sich das Reichssicherheitshauptamt. Die schwere Tür öffnete sich völlig geräuschlos und die beiden jungen Männer standen recht hilflos in der riesigen Eingangshalle.
Sie schauten sich suchend nach einem Pförtner oder ähnlichem um, ohne jemanden zu finden. Unschlüssig wandten sie sich der Freitreppe zu, um in der nächsten Etage nach dem Verbleib des Vaters zu fragen.
Auf halben Weg kam ihnen ein mittelgroßer Mann entgegen, Akten unter dem rechten Arm, der sie sofort fragte, was sie denn hier zu suchen hätten. Der Ton war nicht sonderlich freundlich und Franz wusste im ersten Moment nicht, wie er vernünftig antworten sollte.
„Entschuldigen Sie, wir suchen eine Auskunftsstelle, wo ich erfahren kann, warum man meinen Vater gestern Abend abgeholt hat und wo er sich jetzt befindet.“
„Was denken Sie, wo Sie hier sind, in einem Auskunftsbüro oder so etwas? Gehen Sie bis in den zweiten Stock, da finden Sie den diensthabenden Offizier. Vielleicht kann der Ihnen weiter helfen.“
Wenigstens was, dachte Franz, der Diensthabende wird ja wohl wissen, an wen man sich in solchen Fällen zu wenden hat.
Oben angekommen fanden Sie auch gleich das Büro und klopften schüchtern an.
„Herein!“, donnerte es von innen.
Wenig zuversichtlich betraten Franz und Robert das Dienstzimmer. Hinter einem klobigen Schreibtisch saß ein noch klobriger Mann mit Nickelbrille und Zigarre im Mund.
„Entschuldigen Sie die Störung“, begann Franz zaghaft, „gestern Abend wurde mein Vater von der Gestapo mitgenommen und ich möchte lediglich wissen, warum und wo mein Vater jetzt ist. Es ist doch nichts Schlimmes, oder?“
„Wie heißt denn der Ganove, oder denkst Du etwa, dass die Geheime Staatspolizei unbescholtene Bürger mitnimmt?“
„Franz Baumgart, geboren am 15. Oktober 1896 in Berlin, wohnhaft in der Lychener Straße Nummer 32.“
Wie auswendig gelernt ratterte Franz diese Daten seines Vaters runter. Der fettleibige Beamte erhob sich unter lautem Schnaufen und ging zu einem Karteischrank, blätterte in irgendwelchen Unterlagen und hielt dann einen Bogen Papier in der Hand.
Nach einer Weile schaute er Franz ins Gesicht und brüllte ihn an:
„Du Früchtchen, du wagst es nach so einem Kerl zu fragen. Vorbereitung zum subversiven Handeln steht hier und du fragst, ob es schlimm ist? Mach, dass du Land gewinnst, sonst landest du genau dort, wo dein Alter schon ist. Schutzhaft, mein Freund, Schutzhaft nennt man das. Wir schützen das deutsche Volk vor diesen Elementen und du bist die Brut von diesem Pack.“
Franz und Robert fuhren bei diesem Anfall einen Schritt zurück, blieben aber mitten im Zimmer stehen.
„Raus!“, brüllte der Dicke.
„Können Sie nicht sagen, wo er in Schutzhaft ist?“
Schnaufend kam der Offizier auf die Beiden zu und kam bedrohlich nah.
„Sachsenhausen, wo denn sonst, da kommen sie alle hin, ins Konzentrationslager. Gut bewacht und keine Gefahr mehr für Deutschland. Raus!“
Mit betretenden Gesichtern standen Franz und Robert auf dem Flur. Vorbereitung zum subversiven Handeln, murmelte Franz und schüttelte den Kopf.
„Glaubst du, was der da eben erzählt hat, subversives Handeln und Gefahr für Deutschland?“, wollte Franz von Robert wissen.
Robert zögerte mit der Antwort.
„Weißt du, Franz, die Gestapo hat über viele Sachen Kenntnis, wovon wir nichts ahnen...“
„Willst du damit sagen, dass mein Vater...niemals. Und du willst mein Freund sein.“ Franz war empört und hätte Robert am liebsten stehen gelassen.
„So habe ich es doch nicht gemeint, sicher ist dein Vater unschuldig. Es wird sich bestimmt als Irrtum aufklären. Wirst sehen, in ein paar Tagen ist er wieder bei deiner Mutter. Was hälst du davon, wenn wir beide in den nächsten Tagen nach Sachsenhausen fahren und vor Ort versuchen, Näheres zu erfahren?“
Die Laune von Franz schien sich nach diesem Vorschlag zu bessern.
„Gute Idee, aber nicht in ein paar Tagen, sondern gleich morgen.“
Ihnen war es wieder gelungen, ihre Freundschaft fürs Erste zu bewahren, aber beide spürten, dass es immer schwieriger wurde, jede Klippe zu umschiffen. Zu weit waren ihre Vorstellungen voneinander entfernt, als dass sie sich ständig einigen könnten.
Frohgelaunt und voller Optimismus trafen sie sich am folgenden Morgen am S-Bahnhof Schönhauser Allee und warteten auf den Zug in Richtung Oranienburg. Von dort war es mit dem Bus nur noch ein Katzensprung bis nach Sachsenhausen. Die Fahrt versprach Kurzweil, Mutter Buhl hatte für ausreichend Proviant gesorgt, und jeder hatte sich zwei Flaschen Bier am Bahnhofskiosk gekauft. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle und war gefüllt mit belanglosem Gequatsche. Jeder war bestrebt, das Thema Schutzhaft oder Konzentrationslager zu meiden.
In Sachsenhausen angekommen, fragten sie nach dem Weg ins Lager und ernteten schiefe Blicke. Warum schauen die alle so erstaunt, wenn man nach dem Weg fragt, dachte sich Robert. Gut, Schutzhaft ist sicher eine unangenehme Sache, aber so schlimm kann das Lagerleben nun auch wieder nicht sein.
Endlich kannten sie den Weg und gingen durch einen lichten Wald zu einer Anhöhe, von wo sie angeblich das Lager schon sehen konnten. Oben angekommen bot sich ein wenig ermutigendes Bild. Das Lager lag unmittelbar vor ihnen. Graue, windschiefe Baracken mit löchrigen Dächern und unzählige Gestalten in gestreifter, dünner Kleidung. Um das Lager waren drei Reihen Stacheldrahtzaun gezogen und in regelmäßigen Abständen war ein Wachturm errichtet, auf dem zwei Leute mit einem Maschinengewehr bewaffnet Wache hielten.
Franz konnte unter den vielen gleich aussehenden Gestalten seinen Vater nicht entdecken. Ob er ihn wohl mal ruft, schoss es ihm durch den Kopf und verwarf diesen Gedanken gleich wieder.
Vater würde sich nur Sorgen machen, und womöglich konnten sie hier nichts erreichen. Erst mussten sie mit dem Direktor des Gefängnisses reden. Sie versuchten von oben den Eingang zu finden, entdeckten ihn am genau gegenüber liegenden Teil des Lagers.
Am Tor angekommen fragte Franz nach dem Gefängnisdirektor und erntete zunächst schallendes Gelächter. Die Männer in ihren schwarzen Uniformen bogen sich vor Lachen und wurden schlagartig ernst.
„Wen willst Du sprechen, den Gefängnisdirektor? Hier gibt es keinen Direktor. Wir haben hier einen Lagerkommandanten, ich glaube aber nicht, dass er für euch Nichtsnutze Zeit hat. Vielleicht können wir ja schon helfen!“
„Vielleicht“, antwortete Franz ein wenig übermütig, „Mein Vater soll hier sein und ich würde ihn gern sprechen, um zu erfahren, warum er hier sein muss!“
Wieder brach die schwarze Meute in Gelächter aus.
„Seinen Vater will er sprechen, seinen Vater...Du Hurensohn“, schrie einer von denen, „hier gibt es keine Väter mehr, hier sind alles Verbrecher und bestenfalls eine Nummer. Weißt Du die Nummer dieses Halunken?“
Franz und auch Robert waren wegen der Grobheit des SS-Mannes regelrecht perplex, zunächst überhaupt nicht in der Lage, eine vernünftige Antwort geben zu können.
„Herr Oberscharführer“, als Uniformnarr kannte sich Robert mit Dienstgraden aus und fand offenbar auch deswegen zuerst seine Sprache wieder, „ich glaube nicht, dass Herr Baumgart ein Verbrecher ist. Es handelt sich bestimmt um einen Irrtum oder um eine Verwechslung. Die Nummer wissen wir auch nicht, woher auch. In der Prinz-Albrecht-Straße hat man uns diesbezüglich nicht informiert.“
Die korrekte Anrede schien den Angesprochenen etwas milder zu stimmen. Nach kurzem Überlegen sagte er in einem immer noch nicht sehr freundlichen Ton:
„Wartet hier!“, ging in die hinterste Ecke und Robert konnte sehen, wie er zum Feldtelefon griff.
Mehr nicht, dachte Franz.
Nach einer Weile kam der Oberscharrführer zurück; was er am Telefon erzählt hatte, konnte keiner der Jungs verstehen, und sagte im schroffen Ton:
„Baumgart ist hier und schwerer Verbrechen angeklagt, Besuch fällt ganz aus.“
„Ist das alles?“, platzte es aus Franz heraus und ehe er sich ducken konnte, schlug ihm der Wachmann mit der flachen Hand ins Gesicht, so stark, dass die Nase anfing zu bluten.
„Noch ein dummes Wort und du kannst diesem Pack Gesellschaft leisten. Melde dich in vier bis sechs Wochen nochmal in der Zentrale, du weißt ja, wo sie ist und nun macht, dass ihr hier verschwindet, sonst überlege ich es mir nochmal anders. Weg mit euch!“
Mit gesenktem Kopf verließen Franz und Robert Sachsenhausen und fuhren zurück nach Berlin. Wie soll ich es bloß Mutter schonend beibringen, dachte fortwährend Franz, wohingegen Robert an der Aufrichtigkeit des Vaters von Franz zu zweifeln begann. Möglicherweise war er doch in Machenschaften verstrickt, von denen Franz keine Ahnung hatte. Darüber eine Andeutung zu machen, hielt er für verfrüht. Er brauchte noch andere Anhaltspunkte.
„Sag mal Franz, ist von den Bekannten deines Vaters noch wer anders in Schutzhaft genommen worden? Hat deine Mutter etwas in der Richtung angedeutet?“
Franz schien einen Augenblick zu überlegen.
„Was soll deine dämliche Frage. Du scheinst auch eine Verschwörung zu wittern, sonst würdest du solch einen Mist nicht von dir geben. Außerdem weiß ich von keinem und Mutter sicher auch nicht, hätte sie mir bestimmt erzählt.“
„Na, dann ist doch alles Bestens, eine Verwechslung, wirst schon sehen!“
Franz zweifelte an den Worten seines Freundes. Die Nazionalsozialisten waren in letzter Zeit immer unberechenbarer geworden, und wer weiß schon, was sie mit seinem Vater vorhatten. Er konnte nur hoffen, seine Mutter zu beruhigen und vielleicht auch zu beschützen, denn Mutter neigte bisweilen zu unüberlegten Handlungen. Sie würde es fertig bekommen, direkt beim Reichsführer SS nachzufragen, und ob das der richtige Ansprechpartner ist, wagte Franz zu bezweifeln. Diese verdammten Nazis, dachte er verzweifelt, und seine Verzweiflung wuchs bei dem Gedanken, dass er gegen diese skrupellosen Herren völlig hilflos erschien. Und Robert?
Robert war auf dem besten Weg, das alles gut zu heißen, ohne auch nur einen Funken an Verstand aufzuwenden, um zu erkennen, welches Spiel hier gespielt wurde. Oder warum machte er immer diese vagen Andeutungen von eventueller Verschwörung oder die Gestapo holt niemanden einfach so von der Straße weg?
Die S-Bahn rumpelte in den Schönhauser Bahnhof, beide stiegen schweigend und nieder- geschlagen aus.
„Soll ich mit zu dir nach Hause kommen?“, fragte Robert mit Mitgefühl in der Stimme.
„Nein, lass man, da muss ich alleine durch. Mach´s gut, Mutter wird schon warten!“
Zu Hause angekommen, berichtete Robert seinen Eltern von der Enttäuschung, die sie in Sachsenhausen erlebt hatten.
Vater Buhl zog seine Augenbrauen hoch, schaute seinem Sohn in die Augen und meinte nur kurz:
„Das ist erst der Anfang!“
Robert kannte seinen Vater. Wenn er zu solchen Andeutungen neigt, dann kommt selten noch eine nähere Erklärung, trotzdem versuchte es Robert.
„Was meinst du damit?“
„Hitler und seine Konsorten werden uns alle früher oder später ins Unglück stürzen. Der kleine Mann ist denen doch keinen Pfifferling wert.“
Dass sein Vater die NSDAP und ihre Anhängsel nicht sonderlich mochte, wusste Robert; dieses Mal erschien die Einlassung seines Vaters ernster gemeint zu sein als so manche Floskel, die er von sich gab.
„Aber so ganz ohne Grund können sie doch die Leute nicht von der Straße wegholen“, versuchte es Robert noch einmal.
„Robert, so ganz ohne Grund holen sie auch keinen von der Straße. Sie holen nur die, die erkannt haben, dass sie sie ohne Grund wegholen. Hast du das verstanden? Wenn keiner mehr da ist, dem das auffällt, können sie in Ruhe auch die holen, deren Häuser jetzt brennen.“
„Niemals“, erboste sich Robert, „sie zwingen sie möglicherweise, in ihr scheiß gelobtes Land auszuwandern, aber wegholen...? Für alle wäre doch gar nicht genügend Platz vorhanden.“
„Junge, wach auf, auch dafür werden sie über kurz oder lang eine Lösung finden, Du wirst noch an meine Worte denken.“
„Nein, Vater, das glaube ich nicht, du malst den Teufel an die Wand.“
Der Vater schaute seinem Sohn lange in die Augen.
„Ja, Robert, und es ist ein düsteres Bild!“
Die schriftlichen Abiturprüfungen lagen hinter ihnen und bis zu den mündlichen war nicht mehr viel Zeit. Sie fuhren zwar weiterhin noch gern in das schöne Umland von Berlin, hatten aber immer
weniger Zeit zu Müßiggang. Franz Baumgart war inzwischen mehrmals in der Prinz-Albrecht-Straße und wurde jedesmal abgeschmettert. Mal fand sich niemand, der kompetent Auskunft geben konnte, mal wurde er schroff auf die kommende Woche vertröstet, mal gar nicht angehört. Er konnte nichts mehr über seinen Vater erfahren. Seine Traurigkeit schlug sich auch in seinem Elan nieder, den Lernstoff zu pauken oder mit Robert auch mal etwas anderes zu unternehmen.
„Franz, morgen haben wir Geschichtsprüfung. Was meinst du kommt ran? Ich würde fast annehmen, dass Scharfschwerdt den Krieg 1870/71 nimmt. Wir haben dem Franzmann den Hosenboden versohlt und das ist ja sein Lieblingsthema. Habe ich Recht oder ja?“
Franz war in Gedanken und in Sorge versunken und Robert musste ihn anstupsen.
„Hast du was gesagt?“, fragte Franz überrascht.
„Ja, du Träumer. Ich hab dich gefragt, was du annimmst, was morgen in der Prüfung fällig ist. Du scheinst mit den Gedanken woanders zu sein.“
„Ja, zum Teufel nochmal. Ich zermartere mir das Gehirn, wie ich meinem Vater helfen kann oder erst mal herausbekomme, was überhaupt gegen ihn vorliegt, und du nervst mit der dussligen Prüfung. Soll er doch fragen, was er will. Solange du deine Parolen hinschmetterst, wird er zufrieden sein. Ich werde nicht in das gleiche Horn stoßen; immer schön an den Fakten bleiben wird meine Devise sein, immer schön an den Fakten.“
„Franz, tue mir einen Gefallen, verrenne dich nicht in dein Unheil. Zu viel hängt davon ab. Du kannst doch mal für die paar Minuten dein Gewissen hinten anstellen und wenigstens so tun, als würdest du an die Sache glauben.“
Franz sprang auf.
„An welche Sache denn, du Blödmann. An die Sache der Ungerechtigkeit, an die Sache der Heuchelei, an die Sache der Verbote und Repressalien. Es dauert doch nicht mehr lange und deine Sache macht, was sie will, kapierst du das denn nicht.“
Robert ließ sich durch diesen Wutausbruch nicht verwirren. Mit Franz konnte er darüber noch kontrovers diskutieren, mit seinem Vater wohl nicht mehr. Der hatte eine einbetonierte Meinung und die bröckelte nicht mehr.
„Franz, sag, was du willst. Es mag sein, dass im Falle deines Vaters ein Irrtum oder eine Verwechslung vorliegt, aber bei den Anderen in Sachsenhausen kann ich es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Irgend etwas liegt bestimmt gegen sie vor und es ist doch in jedem vernünftigen Staat Usus, dass gegen Leute, die dem Staat schaden, vorgegangen wird, oder?“
„In jedem vernünftigen Staat schon...!“, war die diabolische Antwort, die der nachdenkliche Franz gab.
„Du willst damit nicht sagen, dass Deutschland ein unvernünftiger Staat ist?“, fragte Robert mit einem zweifelnden Unterton.
„Ich habe da so meine Bedenken!“, war die knappe Antwort.
Irgendwie hatten beide das Gefühl, dass es keinen Sinn machte, dieses Thema weiter zu diskutieren; sie verfielen in Schweigen und vertieften sich wortlos in ihre Bücher.
Robert stand aufgeregt auf dem Flur des Gymnasiums und starrte auf die Tür, die zum Prüfungsraum führte. Gleich wird sie sich öffnen, dachte er gespannt, und dann beginnt die Geschichtsprüfung. Eigentlich hatte er sich hier mit Franz verabredet, der unmittelbar nach ihm in die Prüfung musste, aber der hatte sich offensichtlich verspätet. Robert hatte sich die Uniform der Hitlerjugend angezogen und die Rangabzeichen eines Fähnleinführers besonders intensiv geputzt. Vielleicht macht es ja bei Scharfschwerdt Eindruck, hoffte er im Stillen.
Die Tür ging auf und Robert hatte das Gefühl, als würde sein Herz stehen bleiben. Er betrat unsicher den Prüfungsraum, bemerkte aber sofort, dass ein anerkennendes Lächeln über das Gesicht von Scharfschwerdt huschte. Seine Uniform zeigte offenbar die erhoffte Wirkung. Um dies noch zu steigern, knallte Robert die Hacken zusammen und grüßte laut und vernehmlich:
„Heil Hitler!“
„Nehmen Sie bitte Platz, Herr Fähnleinführer.“
Robert war erleichtert und wusste, dass das Eis gebrochen war. Er fühlte sich unter Gleichgesinnten und war sich der Unterstützung durch den SS-Mann sicher.
„Fühlen Sie sich in der Lage, eine Prüfung zum Abitur zu absolvieren?“, stellte Scharfschwerdt die wohl obligatorische Frage, um gleich fortzufahren, „wobei ich denke, dass diese Frage überflüssig ist. Allein schon Ihr Aussehen macht mehr als deutlich, dass sie jeder Herausforderung gewachsen sind.“
„Ja, natürlich, Herr Obersturmführer!“
„Nun, denn, beantworten Sie bitte folgende Frage. Sind Sie in der Lage an Hand der Geschichte Europas die Überlegenheit der nordischen Rasse zu belegen?“
Robert musste einen Augenblick überlegen, vor allen Dingen wusste er nicht , womit er beginnen sollte. Sollte er bei den Wikingern oder gar noch früher ansetzen, um seine Thesen dar zu legen, oder reichte es, die jüngste Geschichte zu bemühen. Er entschloss sich für das erstere.
„Nun, betrachtet man die Geschichte in ihrer Gesamtheit, wird schon in der späten Antike deutlich, dass der Untergang derselben maßgeblich durch die Goten eingeleitet wurde. Zum Beispiel versuchte das antike Rom zwar durch eine Aufspaltung in das west- und das oströmische Reich die Goten zu beeindrucken, allerdings vergeblich. Beide Reiche wurden letztendlich durch die Germanen besiegt. Eigentlich war das nur der logische Endpunkt. Die germanische Überlegenheit hatte ja bereits im Jahre 9 nach Christus Herrmann der Etrusker als Beweis geliefert, als er die Römer in der berühmten Varusschlacht besiegte.
Später waren es die Nordmänner oder Wikinger, die ganz Nordeuropa beherrschten und auf Grund ihres stolzen Tatendrangs Amerika entdeckten. Ohne sie würden die Roten heute noch in Büffelzelten hausen und ihre Frauen verkaufen.
In der jüngeren Geschichte zeigte der deutsche Mann, wie man einen heimtückischen Überfall der Franzmänner beantwortet, nämlich mit der Vernichtung des Aggressors. Gestärkt ist Deutschland aus diesem ruhmreichen Krieg hervor gegangen und unterlag im Ersten Weltkrieg doch nur, weil an der Heimatfront durch roten und jüdischen Verrat der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen worden ist.“
„Ausgezeichnet, Fähnleinführer“, unterbrach ihn die Prüfungskommission in Gestalt von Scharfschwerdt als deren Vorsitzender.
„Denken Sie aber in diesem Zusammenhang auch daran, dass der Führer die Antike, insbesondere die römische Kultur, durchaus als Vorbild für unsere Bewegung betrachtet. Dessen ungeachtet haben Sie natürlich Recht, es waren die Germanen, die sich als überlegen herauskristallisierten.
Vielleicht noch eine Zusatzfrage. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie gemeinsam mit dem Baumgart in Sachsenhausen waren, stimmt doch, oder?“
Robert nickte, leugnen hatte keinen Sinn.
„Wie schätzen Sie derartige Maßnahmen ein, ich meine die Schutzhaft einzuführen?“
„Ja, es ist so, wie Sie es sagten. Ich habe Franz Baumgart aus zwei Gründen begleitet. Ich halte es für meine freundschaftliche Pflicht, auch um mit ihm über seine Zweifel an unserer Bewegung reden zu können. Franz ist ein schwankender Charakter und ich sehe es als meine Aufgabe an, ihm die historische Aufgabe des Nationalsozialismus näher zu bringen.“
Das zustimmende Nicken Scharfschwerdts zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war, diese Frage zur Zufriedenheit zu beantworten.
„Was Ihre eigentliche Frage betrifft, ist es für mich eindeutig. Wer den Nationalsozialismus und damit unserem Führer Schaden zufügen will, gehört in die Schranken gewiesen. Wenn nun bereits im Vorfeld die Vermutung nahe liegt, dass diese Subjekte Maßnahmen gegen uns planen, warum sollen wir dann erst warten, bis der Schaden eingetreten ist. Nimmt man sie in Schutzhaft ist unsere gesamte Volksgemeinschaft einer Sorge entledigt. Ich persönlich halte diese Maßnahme für äußerst effizient. Dass unter Umständen der eine oder der andere durch einen Irrtum einsitzen muss, liegt in der Natur der Sache. An dieser Stelle möchte ich auf Schweickart verweisen. Dieser bekannte Kriminologe verweist auf den bekannten Satz:`Der Zweck heiligt die Mittel`. So ist es nach meiner Ansicht auch in diesen Fällen. Der Nationalsozialismus hat erst eine junge, und wie ich betonen möchte, sehr erfolgreiche Geschichte vor zu weisen, und es ist nur zu verständlich, dass die Bewegung sich schützt, um weitere Erfolge zu erzielen.“
Scharfschwerdt schien voller Begeisterung wegen dieser Antwort zu sein.
„Würden doch alle Deutschen unsere Maßnahmen so sehen, wie sie sind. Immer zum Nutzen der gesamten Volksgemeinschaft, ausgezeichnet, Buhl, ausgezeichnet. Warten Sie draußen, die Prüfungskommission tagt jetzt, und wir rufen Sie dann wieder rein. Soviel kann ich Ihnen aber trotzdem verraten, Sie haben die Prüfung mit Sicherheit bestanden, also...“
Erleichtert stand Robert auf, verließ gut gelaunt den Raum und traf draußen auf dem Flur seinen Freund Franz.
„Na, wie war es“, wollte der gleich wissen, ohne ihn zu begrüßen.
Robert lächelt:
„Och, alles halb so schlimm. Genaues Faktenwissen wollten die gar nicht wissen, mehr etwas zu unserer Bewegung.“
„Eure Bewegung, ja, ja, eure Bewegung. So wie du aussiehst, wundert mich das Thema nicht. Hat der Alte auch seine schwarze Uniform an?“
„Natürlich!“, Robert war wegen dieser Frage erstaunt. Wann, wenn nicht zu diesem Anlass, sollte man seiner Überzeugung nach nicht auch nach außen beweisen, welche Überzeugung man vertritt, fragte er sich.
Die Tür öffnete sich, und der kurzgeschorene Kopf von Scharfschwerdt erschien im Türrahmen.
„Herr Buhl, kommen Sie bitte!“
Mit freudiger Erwartung betrat Robert den Prüfungsraum.
„Herr Buhl“, begann Scharfschwerdt die Prüfungsauswertung, „die Prüfungskommission hat an Ihren Ausführungen deutlich erkannt, dass Sie die geschichtliche Entwicklung unserer Nation im richtigen Kontext betrachten und daraus die notwendigen, konsequenten Schlussfolgerungen ziehen.
Die gezeigten Leistungen rechtfertigen deshalb, dass wir Ihnen ein -sehr gut- bescheinigen können.“
Robert atmete tief durch, bedankte sich artig bei der Kommission und verließ mit einem breiten Lächeln den Raum.
Mit einem -na?- wurde er von Franz empfangen, der aber schien das Ergebnis voraus zu ahnen.
„Sehr gut, stimmt´s?“
„Stimmt, aber dein Unterton gefällt mir nicht. Was ist los?“
„Du wirst es irgendwann verstehen, möglicherweise schon nach meiner Prüfung.“
Robert verstand diesen Einwand nicht, hatte allerdings auch nicht die Zeit, nach zu fragen. Die Tür öffnete sich wieder und Franz wurde herein gebeten.
„Guten Morgen, Herr Baumgart, nehmen Sie Platz. Fühlen Sie sich in der Lage, eine Abiturprüfung zu absolvieren?“
„Ja, natürlich!“, war die fast schüchterne Antwort.
„Wir werden sehen!“, bemerkte Scharfschwerdt.
„Frage eins.“ begann der Vorsitzende und Franz hatte das bedrückende Gefühl, auf einem Appellplatz zu stehen.
„Nennen Sie einige Aspekte, aus denen Sie die Überlegenheit der arischen Rasse herleiten.“
Franz wurde schwindelig. Sollte er die Fakten auf den Tisch legen, oder sollte er aus taktischen Gründen das sagen, was die Prüfungskommission hören wollte. Er zögerte mit der Antwort, entschied sich dann aber für die Tatsachenvariante. Er meinte, das seinem Vater schuldig zu sein, ohne genau sagen zu können, woraus sich diese Schuld ergab.
„Nun“, begann er, „ Arier ist nach wissenschaftlicher Ansicht die Bezeichnung von Gruppen prähistorischer Nomaden, die sich seit dem 3. Jahrtausend vor Christi Geburt von ihrer Urheimat in den Steppen westlich des Urals in die zentralasiatische Steppe, nördlich des Kaspischen Meeres und des Aralsees ausbreiteten.
Die Arier teilten sich in zwei Gruppen auf, deren eine Seite im heutigen Hindukusch beheimatet ist, während die andere Seite die Vorfahren der heutigen Perser und Baschtunen bildet.
Die oft vertretende Meinung, die Arier kämen aus dem heutigen Deutschland beziehungsweise aus Skandinavien ist wissenschaftlich nicht haltbar. Die einzige Gemeinsamkeit, die die Germanen mit den Ariern haben, ist die indogermanische Sprachfamilie, nichts weiter.“
Scharfschwerdt reagierte mit erstaunlicher Ruhe auf diese, der nationalsozialistischen Rassentheorie konträr gegenüber stehende Meinung.
„Haben Sie geendet?“, fragte er mit bedrohlicher Ruhe in seiner Stimme.
Franz wurde zunehmend sicherer. Er wusste auf der einen Seite, dass seine auf Tatsachen beruhende Argumentation beim Scharfschwerdt nicht auf Gegenliebe stieß und dass es ihm unter Umständen ein -durchgefallen- einbrachte, auf der anderen Seite erfüllte es ihn immer mehr mit Stolz, nicht in das nationalsozialistische Horn zu blasen.
„Ja, durchaus!“, gab er mit sicherer Stimme zur Antwort.
„Sie wollen also allen Ernstes behaupten, dass das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2009
ISBN: 978-3-7309-2807-3
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