30. Januar 1933. Wir saßen gemeinsam im Wohnzimmer und lauschten der verzerrten Stimme des Reporters. „Unendlich ist die Kolonne der heranrückenden Freiheitskämpfer, auf deren braunen Hemden der Fackelschein gespenstisch hin und her huscht." Der Sprecher ging von den tausenden Fackel tragenden SA-Männern und Sympathisanten Hitlers aus, die nun in tosenden Applaus und Jubelrufe ausbrachen. Nur wenige Stunden zuvor hatte ihn Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Auf diesen Tag hatte die NSDAP zehn Jahre lang hingearbeitet. Nun endlich war der Machtwechsel da.
In dem Wohnzimmer war nicht zu hören, außer dem immer noch anhaltendem Applaus der Tausenden. Niemand sprach ein Wort. Es schien als habe selbst der eisige Wind seinen Atem angehalten.
Dann endlich. Mein Vater ließ seinen Kopf in die Hände fallen und meine Mutter, die neben ihm gesessen hatte legte ihren Arm um ihn. „Adolf Hitler also“, er seufzte, „es wird sich noch herausstellen, was das für uns bedeutet. Ich befürchte wenig Gutes.“ Er war im Zentrum. Jeden morgen gegen fünf Uhr fuhr er mit dem Fahrrad in die Stadt, um dort seine Tätigkeit bei der Bahn auszuüben. Ich wusste nicht was er dort genau macht. Nur Lokomotivführer war er nicht, das wusste ich. Abends kam er dann wieder zurück. Dann schaukelte stets lustig ein Laib Brot in einer Tüte an dem Griff seines Lenkers. Manchmal lag auch noch eine Tafel Schokolade oder eine Packung Süßigkeiten daneben. Ich machte mir nichts mehr daraus. Früher schon, doch mittlerweile war ich alt genug um mich nicht mehr wegen ein paar Bonbons zu freuen. Sonntags gingen wir dann alle gemeinsam in die Stadt um den Gottesdienst zu besuchen. Um sieben Uhr kam dann immer meine Mutter zu meinen drei Brüdern und mir in das Zimmer und scheuchte uns aus den Betten, um rechtzeitig um neun Uhr dem Gottesdienst beizuwohnen. Ich mochte unseren damaligen Herrn Pfarrer wirklich sehr. Er hatte stets ein offenes Ohr für uns alle. Sein Lieblingspsalm war „Der gute Hirte“. Er machte es sich zur Lebensaufgabe dieser gute Hirte für seine Gemeinde zu sein. Außerdem verteilte er oft Süßigkeiten, was ihn noch um längen beliebter bei den Kindern machte.
Im Sommer war die Landschaft traumhaft schön. Überall zwitscherten die Vöglein ein frohes Lied und man hörte in den Abendstunden ringsumher das Zirpen der zahlreichen Grillen. Oft lag ich dann stundenlang auf dem Hügel hinter unserem Haus im Gras und sah den Wolken bei ihrer Reise durch das unendliche Blau zu. An anderen Tagen spielten wir auf der großen Wiese am Stadtrand mit einigen Jungs Fußball. Wir nahmen ein paar Stöcke und rammten sie in den Boden, um uns Tore zu markieren. Es machte großen Spaß sich die Kugel hin und her zu passen und den Gegner auszuspielen bis man dann zum Torabschluss kam. Aber es war kein Sommer, es war Winter und zwar obendrein ein ganz bitter kalter. Ich hasste den Winter, denn dann drängelten sich alle im Haus und man ging sich schnell auf die Nerven. Keine Privatsphäre mehr.
Unsere Mutter schickte uns mit einer Handbewegung und einem Zischen raus. Meine drei Brüder und ich standen auf. Die Tür schloss sich mit einem Knarren hinter mir. Schnell presste ich mein Ohr an das kalte Holz, um noch etwas von dem Gespräch meiner Eltern mitzubekommen. „Es wird gefährlich werden seinem Glauben nach zu gehen“, klang nun die Stimme meines Vaters zu mir durch, „Wir werden darüber beratschlagen. Ich denke die Meisten werden aus der Partei austreten, um ihre Haut zu retten.“ „Das solltest du auch. Denk an deine Familie. Deine Kinder!“, das war meine Mutter. Plötzlich packte mich von hinten eine Hand an der Schulter. Ich blickte in das Gesicht meiner Großmutter. Es klatschte. „Du sollst nicht lauschen“, krächzte sie und schob mich beiseite, „Ab in dein Zimmer. Lass dich ja vor dem Abendessen nicht mehr blicken.“
10. Februar 1933. Es war die gleiche Szene wie am vor elf Tagen. Die ganze Familie versammelt im Wohnzimmer, lauschend dem Radio.
„Unser Führer, der Reichskanzler Adolf Hitler, hat das Wort“, Goebbels trat zurück.
„Deutsche Volksgenossen und -genossinnen! Am 30. Januar dieses Jahres wurde die neue Regierung der nationalen Konzentration gebildet. Ich und damit die nationalsozialistische Bewegung traten in sie ein. Ich glaubte, daß nunmehr die Voraussetzungen erreicht sind, um die ich das vergangene Jahr gekämpft habe.“
Das Rauschen übertönte die Worte des Führers. Mein Vater sprang auf und klopfte gegen den Holzkasten.
„Wir wollen nicht lügen und wollen nicht schwindeln. Ich habe deshalb es abgelehnt, jemals vor dieses Volk hinzutreten und billige Versprechungen zu geben. Ich will Ihnen nicht versprechen, daß diese Wiederauferstehung unseres Volkes von selbst kommt. Wir wollen arbeiten, aber das Volk selbst, es muß mithelfen. Es soll nie glauben, daß ihm plötzlich Freiheit, Glück und Leben vom Himmel geschenkt wird. Alles wurzelt nur im eigenen Willen, in der eigenen Arbeit. Glaube niemals an fremde Hilfe, niemals an Hilfe, die außerhalb unserer eigenen Nation, unseres eigenen Volkes liegt. In uns selbst allein liegt die Zukunft des deutschen Volkes. Wenn wir selbst dieses deutsche Volk emporführen zu eigener Arbeit, zu eigenem Fleiß, eigener Entschlossenheit, eigenem Trotz, eigener Beharrlichkeit, dann werden wir wieder emporsteigen – genau wie die Väter einst auch Deutschland nicht geschenkt erhielten, sondern selbst sich schaffen mußten.“
Erneutes Rauschen.
„Deutsches Volk! Gib uns vier Jahre Zeit, dann richte und urteile über uns. Deutsches Volk, gib uns vier Jahre, und ich schwöre dir: So wie wir, und so wie ich in dieses Amt eintrat, so will ich dann gehen. Ich tat es nicht um Gehalt und nicht um Lohn, ich tat es um deiner selbst wegen.“
Adolf Hitler, Sportpalast Berlin
Tosender Applaus. Ich sah bildlich vor mir, wie die Männer aufstanden, um dem Führer ihre Begeisterung und ihre vollste Unterstützung zu demonstrieren.
„Vier Jahre. Er wird soviel verändern, wie keiner vor ihm. Diese Unterstützung aus der Bevölkerung macht mir Angst.“
Wir saßen alle im Wohnzimmer und starrten zu Boden. Immer noch lauschend dem anhaltendem Applaus. Meine beiden jüngeren Brüder verstanden nicht so recht was der Mann aus dem hölzernen Kasten gesagt hatte.
Texte: Lukas Flügel, Adolf Hitler (Berlin, Sportpalast, 10.02.1933)
Bildmaterialien: © DHM, Berlin
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2012
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