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Wowa


Wowa nervt. Das ist eigentlich nichts Neues. Die Stunde hat noch nicht richtig begonnen und schon verkündet er wieder einmal ungefragt, was er so weiß, laut und nicht zu überhören. Niemand reagiert, denn jeder ist mit anderen Dingen beschäftigt.
Das alles stört Wladimir, von allen nur Wowa genannt,in keinster Weise. Also redet er weiter, bis Viktor, sein Banknachbar, ihm freundschaftlich auf die Schulter klopft und beruhigend auf ihn einredet.
Wowa setzt sich endlich hin und beginnt, seine Sachen auszupacken. Auch diese Aktion kommentiert er ununterbrochen, holt zuerst sein Essen aus der Tasche, kontrolliert die Bestandteile, bestaunt und bewundert sie natürlich wieder laut und kommt dann endlich dazu, seine Unterrichtsmaterialien auf den Tisch zu legen.
Er ist ein aufgewecktes, neugieriges Kerlchen.
Vor zwei Jahren kam Wowa in der 11. Klasse in die Schule, weil er am Russischunterricht teilnehmen wollte.
Sein Problem war: Er konnte aufgrund seiner ukrainischen Herkunft perfekt Russisch sprechen und verstehen, die Schriftsprache jedoch war ihm mehr oder weniger unbekannt.
Das hatte Gründe.
Wladimir kam im Juli 1987 in einem Russischen Krankenhaus in Potsdam zur Welt.
Sein Vater, ukrainischer Staatsbürger, lebte seit einiger Zeit in der damaligen DDR. Er war als Angehöriger der damals in dem Land stationierten sowjetischen Armee in Potsdam tätig.
Zu Hause hatte er eine Familie, Frau und Tochter.
Erst später zog auch die Mutter mit Wowas älterer Schwester dorthin, damit die Familie zusammen sein konnte und hier kam dann der Sohn, Wladimir, zur Welt.
Zu Hause wurde russisch gesprochen, Wowa lernte gleichzeitig dazu die deutsche Sprache, die er zumindest im schriftlichen Bereich später besser beherrschte als seine Muttersprache.
Die Familie zog später aus persönlichen Gründen von Potsdam nach Berlin
Noch ein paar Jahre später, als Wowa erfolgreich die zehnte Klasse beendet hatte, wählte er eine Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe aus, auf der er sein Abitur ablegen wollte.
Seine Schulauswahl war beeinträchtigt, denn nicht an jeder Schule wird Russisch unterrichtet und – nicht jede Schule ist behindertengerecht gebaut.
Wowa wurde 2005 Schüler der Sekundarstufe II .
Wladimir war aber nicht nur nervig.
Unsicher betrat er die ersten Russischstunden und hatte selbst die größten Bedenken, den geforderten Ansprüchen, nicht gerecht zu werden. Eben weil er die Sprache mündlich und nicht schriftlich beherrschte.
In erstaunlich kurzem Zeitraum brachte er sich autodidaktisch alles bei und schon im zweiten Halbjahr des 11. Schuljahres war nichts mehr davon zu merken, dass er zu Beginn nicht russisch schreiben konnte.
Das war meine erste Begegnung mit diesem originellen Kerlchen.
Wowa fiel mir sofort auf. Er strahlte immer Optimismus aus, auch wenn er von Zweifeln geplagt wurde. Auf seinem etwas rundlichen Gesicht, umrahmt von braunen Locken, lag immer ein
Lächeln. Dieses Lächeln konnte ansteckend sein, es konnte einen aber auch in den Wahnsinn treiben, wenn Wladimir wieder einmal keine Ruhe geben wollte und sich ungefragt in alles einmischte.
Was gar nicht erst auffiel, war der unbeholfene Gang Wowas.
Das ist eigentlich eine gar nicht zutreffende Bezeichnung für seine körperliche Beeinträchtigung.
Wie gesagt, Wowa nervte gerne und oft.
Wurden mir während des Unterrichts Fragen von Schülern gestellt, war Wowa der erste, der darauf ungefragt antwortete.
Aus diesem Grund gab es immer mal wieder Zank und Streit auf beiden Seiten. Das hielt zum Glück nie lange an.
So nach und nach traten die körperlichen Behinderungen Wowas näher zu Tage, wurden sichtbarer.
Beim Laufen humpelte er stark und erst nach langer Zeit unseres Kennenlernens erzählte er mehr über diese Seite von sich, die jedem anderen eventuell den Lebensmut genommen hätten. Besonders schwierig ist ja gerade die Phase des Heranwachsens, weil eben in dieser Lebenssituation das persönliche Handicap immer deutlicher wird.
Andere Mädchen und Jungen in dem Alter treiben Sport, gehen in Discos, sind auf jeden Fall körperlich fit und beweglich.
Das alles war Wowa nicht möglich. Er hatte eine Vielzahl unterschiedlichster Interessen für sich entdeckt, z.B. die Beschäftigung mit dem Computer und mit dessen Hilfe die Verbindung zu Freunden und Bekannten.
Die genaue Diagnose seiner Behinderung ließ mir doch einen Schauer über den Rücken laufen: „Spina bifida aperta (Myeloschisis) , Hydrocephalus , Klumpfüße und eine Schrägstellung der Hüfte.
Nachdem ich mich mit diesen mir zuvor unbekannten Bezeichnungen beschäftigt hatte, war die Persönlichkeit Wowas umso beachtlicher.
Das soll aber nicht heißen, dass er eine Extrabehandlung bekommen sollte. Das hätte er in jedem Fall strikt abgelehnt. Er wollte so normal wie möglich sein Leben leben, was natürlich einfacher klingt als es möglich ist.
Bewundernswert ist er ja schon, aber eben auch durch sein ganzes Verhalten und Auftreten ein ganz normaler Schüler wie alle anderen auch. Nur eine Besonderheit ist hier zu nennen. Wowa nervt. Und das mit völliger Hingabe und Konsequenz. Auf einen Mitleidsbonus konnte und wollte er nicht hoffen.
Wowa wurde im Juli 1987 mit schwersten Behinderungen geboren. Laut seiner eigenen Aussagen, bzw. denen seiner Mutter, waren die Ärzte damals mit diesem Krankheitsbild völlig überfordert und rieten der Mutter, „ihren Sohn fallen zu lassen“!
Was immer das bedeuten sollte, Wowa hatte Glück im Unglück, sehr engagierte Eltern und so wurde er an seinem vierten Lebenstag in der Berliner Charité mit finanzieller Unterstützung durch das Rote Kreuz operiert und blieb so von einer Querschnittslähmung verschont.
Bis heute hat er 9 Operationen und insgesamt 5 Jahre Aufenthalte in Kliniken und Reha-Einrichtungen hinter sich.
Sein ganzes weiteres Leben wird er medizinisch betreut werden müssen.
1986, am 26. April, kam es in der ukrainischen Stadt Tschernobyl zur zweitgrößten nuklearen Havarie der Erde und einer der furchtbarsten Umweltkatastrophen aller Zeiten.
Vermutlich waren Mängel an der Konstruktion des Reaktors, Bedienungs- und Planungsmängel, sowie Verletzung von diversen Vorschriften die Ursachen. Eigentlich sollte nur ein totaler Stromausfall simuliert werden.
Riesige Mengen radioaktiven Materials wurden in die Luft geschleudert. Viele Menschen starben.
Über Langzeitfolgen gibt es bis heute kontroverse Aussagen von verschiedensten Wissenschaftlern.
Ein Tschernobyl-Forum, zusammengesetzt aus vier Nebenorganisationen der Vereinten Nationen, begann erst fünf Jahre nach der Katastrophe mit gründlichen Untersuchungen.
Die Geheimhaltungspolitik der damaligen Regierung der UdSSR
ließ weder sorgfältige Untersuchungen noch wichtige Informationen zu.
Studien zu genetischen und teratogenen Schäden in der Unglücksregion führen auch noch 20 Jahre nach dem Reaktorunglück zu kontroversen Debatten. Der beständige Anstieg von berichteten angeborenen Fehlbildungen im kontaminierten Gebiet wurde nicht ursächlich auf die Katastrophe, sondern auf eine genauere Erfassung solcher Schäden zurück geführt.
Wowa wurde ein Jahr und drei Monate nach dem Tschernobyl-
Unfall in einem Russischen Krankenhaus in der DDR geboren.
Seine Mutter lebte zum Zeitpunkt des Unglücks 200 km von Tschernobyl entfernt in der Ukraine.
Nie wurde ein Zusammenhang zwischen dem Wohnorte der Mutter und Wowas Erkrankung dokumentiert. Im Gegenteil – nur die Kinder, die ein Jahr nach dem Austritt radioaktiver Stoffe mit Fehlbildungen geboren wurden, erhielten staatliche Unterstützung durch die Ukraine. So z.B. Wowas Cousin, der drei Monate nach dem Unfall mit einer leichten Fehlbildung des rechten Fußes geboren wurde. Er bekommt eine finanzielle Zuwendung und bis zu seinem 18. Lebensjahr ein- bis zweimal jährlich eine Kur. Sollte er später nachweislich nicht arbeitsfähig sein, erhält er eine Invalidenrente.
Wowa wurde in der DDR geboren.
Mit Rücksicht auf den sowjetischen Bruderstaat wurden in der Republik Informationen nur sehr spät und zögerlich verbreitet.
Fakten wurden verharmlost oder gar nicht erst genannt.
Demnach hatte Wowa eben Pech.
Tschernobyl gilt heute als Vorlage für zwei Argumente. Einmal als Symbol für die Gefahr der Nutzung von Kernenergie und auf der anderen Seite als Scheinargument oder Vorurteil gegen deren Nutzung.
Das alles nützt Wowa sehr wenig.
Er hat es gelernt mit seinen Beeinträchtigungen zu leben.
Nach bestandenem Abitur ist er Student für Nachrichtentechnik an der FHTW in Berlin, er gehört zu den Besten seines Jahrgangs. Nebenbei erledigt er Planungsarbeiten in einem Ingenieurbüro und gibt Nachhilfe in Mathematik.
Wie gesagt, Wowa ist eine anstrengende Persönlichkeit, dennoch liebens- und bewundernswert.
Er wird seinen Weg gehen und das zum größten Teil aus eigener Kraft und der Unterstützung von Familie und Freunden.
Das Reaktorunglück von Tschernobyl ist furchtbar gewesen, noch grausamer sind das menschliche Versagen und die Ignoranz persönlicher Schicksale in dessen Anschluss.
Never again!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.04.2009

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