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The virtuel world

Es war spät, schon nach 21.00 Uhr, als Marcel Jurijs Laden, mit seiner Tüte unter dem Arm, verließ. Inmitten auf dem leeren Parkplatz leuchtete einsam eine einzelne Laterne. Marcel ging schnell auf sie zu, durchquerte ihren grellen Lichtkreis und verschwand dahinter in der Dunkelheit. Seine einzige Orientierung waren jetzt die Lichter aus den Fenstern der ein paar hundert Meter entfernten Wohnblöcke. Seine Füße fanden auch im Dunklen den bekannten Pfad, hoch zu seinem Wohnblock. Das Gespräch mit Jurij beschäftigte ihn. Immer dieses Gerede von Gut und Böse, ärgerte er sich. Wer sagt eigentlich, was Gut oder was Böse ist? Jurij etwa? Das ist doch letztendlich immer subjektiv. Außerdem ist man nicht Böse, wenn man gleichgültig ist. Wenn man weder Gutes noch Böses tut, ist man neutral. Oft hinterließen die Gespräche mit Jurij eine solche innere Unruhe in Marcel. Selten aber, wie es jetzt der Fall war, hatte er das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Ein Bedürfnis, das er schnell von sich abwarf: Ich bin ein Mensch mit einer weißen Weste, weder gut noch böse! Das beruhigte sein Gewissen.
Ein nahes Geräusch aus der Dunkelheit. Marcel schreckt zusammen und bleibt abrupt stehen. Bevor er sich zu irgendeiner Handlung entschließen kann, steht jemand vor ihm. Marcel starrt erschrocken die wie aus dem Boden gewachsene Gestalt, an. Ein Mann mittleren Alters, in dreckigen, zerschlissenen Kleidern. Das Gesicht ist bärtig, verschwitzt und verstört. Erleichtert atmet Marcel aus, als er ihn wiedererkennt. Es ist nur Stephan, der verrückte, harmlose Irre aus dem Nachbarwohnblock.
„Marcel!“ hört man ihn mit zitternder, hoher Fistelstimme flüstern. „Marcel, der dritte Krieg wird ausbrechen! Nostradamus, der große Prophet, hatte uns schon im 15. Jahrhundert davor gewarnt: ´Wenn die zwei am Nordpol sich zusammengeschlossen haben wird Angst und Grauen im Osten entstehen...´ Damit, Marcel, meinte er das Bündnis zwischen USA und Europa, und die Angst vor diesem Bündnis in der islamischen Welt. Es geschieht alles, wie er es vorausgesehen hat, es passiert, weil wir Menschen es nicht verhindert haben, vielmehr es hervorgerufen haben mit unser Lebensweise, von Generation zu Generation. So haben wir den Blutmann, von dem Nostradamus schon in seinen Prophezeiungen sprach, willkommen geheißen: ´Gefolgt von Massenmord und Betrug. Dieser Feind aller Menschen wird schlimmer sein als alle anderen, in Eisen, Feuer, Wasser, blutig und unmenschlich´. Der Blutmann ist der Antichrist, Marcel! Aber er ist nicht einer, nicht ein Mensch. Blutmänner sind viele, überall sind sie, überall!“ -
„Ist schon gut.“ sagt Marcel, lässt den Verrückten einfach stehen und geht schnell weiter.
Das Stephan total durchgedreht ist, daran gibt es für Marcel kein Zweifel. Wer irrt sonst durch die Dunkelheit, Nacht für Nacht und faselt von Tod und Verderben? Beim Wohnblock angelangt, arbeitet er sich langsam die vielen Treppenstufen hoch zur 5. Etage, in der seine kleine Wohnung liegt. Im Gang riecht es nach zubereitetem Essen und altem Fett. An der Eingangstür seiner linken Nachbarwohnung vorbeigehend, kann er laute Stimmen zweier sich streitender Menschen hören. Und das Geschrei eines Kleinkindes. Marcel bleibt vor der Eingangstür lauschend stehen. Die beiden Idioten streiten sich schon wieder, und das Kind heult. Immer das gleiche! Auf dem Fußabtreter unter der Tür leuchtet es in rosa Schrift: „Willkommen bei der Familie Petersen!“ Hier wäre ein Therapeut, ein Beziehungsberater, am meisten willkommen. Marcel schmunzelt in sich hinein. Eine weibliche Stimme kreischt hinter der Tür, laut und auch im Gang gut vernehmbar: „Du sitzt arbeitslos rum und bist die ganze Zeit in dieser verdammten, virtuellen Welt, und wir haben kein Geld!“ Aha, sein werter Nachbar war also auch in der virtuellen Welt unterwegs. Wie er sich dort nannte? Schlechter Vater, oder lausiger Ehemann? „Ist doch gar nicht wahr!“ verteidigte sich der Mann hinter der Tür. Es klang wenig überzeugend.
Marcel geht zu seiner Wohnung und schließt sich ein. Kurze Zeit später hat er ein Fertiggericht im Micro erwärmt und aufgegessen. Hastig, als wäre er in Eile, stellt er das Geschirr in die Spüle und entsorgt die Packung des Fertiggerichts mit einem gezielten Wurf in den Mülleimer. Dann widmet er sich seiner Lieblingsbeschäftigung - dem Computer, auf dem Schreibtisch. Macht ihn an, loggt sich ins Internet und reisst gleichzeitig die Tüte Süßigkeiten aus Jurijs Laden auf. Mit geübten Handgriffen setzt er sich einen aus schwarzem Plastik, den ganzen Kopf und das Gesicht bedeckenden und umschließenden Helm auf und loggt in die virtuelle Welt ein, die den schmeichelhaften Namen trägt: „The Better World.“ Voller Vorfreude und mit erhöhtem Pulsschlag schreibt er seine Anmeldedaten in das Anmeldekästchen: Ein Passwort und seinen Benutzername: „Marcel 007.“ Und drückt „Enter.“
Im gleichen Augenblick erwacht Marcel 007 in der virtuellen Welt in seinem Bett, in seinem Haus, einem großem luxuriösen Apartment. Marcel, vor dem flimmernden Bildschirm, sieht jetzt nicht etwa eine kleine sich bewegende Figur auf dem Bildschirm, er sieht und fühlt sich sozusagen von innen heraus, wie in der Wirklichkeit, als ein lebender Mensch. Der Helm macht diese Wahrnehmung möglich. Für diese Zaubermaske und die virtuelle Welt reklamierten die Hersteller mit verheißungsvollen Versprechungen: „Tauche ein in eine bessere Welt. Erlebe, fühle, spüre alles, als wäre es Wirklichkeit! Lebe ein besseres und ideales Leben!“
Marcel 007 macht es sich in seiner schönen Wohnung bequem. Zieht sich aus und beginnt sein Genussprogramm nach altbekannter Abfolge. Es beginnt mit einem langen, warmen Bad in einem Marmor-Pool. Danach ist er eine ausgiebige Mahlzeit, die er sich beim Hausservice bestellt hat. Gefolgt wird die Mahlzeit von einer mehrstündigen Ruhezeit im „Entertainment- Raum“, in dem er sich Filme anschaut. Als es ihm zu langweilig wird, macht er sich bereit in die Stadt zu gehen. Telefonisch trifft er eine Verabredung mit seinen virtuellen Freunden, Georgio und Sebastian. Ein Italiener und ein Deutscher aus der weiten Welt des Internets. Sie treffen sich in der Bar: „Virtuell Love.“ Halbnackte Frauen laufen von Gast zu Gast, andere tanzen in Glaskästen. In flauschigen Sofas sitzen junge Männer. Marcel 007 kommt ins Gespräch mit einer hübschen Frau. Sie setzt sich zu ihm, nachdem er ihr Geld zwischen ihre nackte Haut und ihren G-streng gesteckt hat. Marcel 007 fühlt sich frei, wild und stark. So fühlt man sich hier in der virtuellen Welt.
Das Gespräch zwischen ihm und der jungen Frau beginnt so, wie es zwischen den Nutzern von: „The Better World“ sehr oft beginnt: „Hallo! Ich bin Gisela 2089“ - „Bist du im Realen auch eine Stripperin, hübsch wie eine griechische Göttin, hast ein Puppengesicht und so tolle blonde Haare?“ fragt Marcel 007 und grinst die gut aussehende, blonde, junge Frau an. Gisela 2089 erwidert lächelnd: „Nein. Im Realen mache ich einen furchtbar öden Bürojob und habe dunkelbraune Haare. Das hier macht mir natürlich viel mehr Spaß. Und außerdem verdiene ich viel mehr! Hier in der virtuellen Welt verdiene ich an einem Abend mehr, als in einer Woche in der realen Welt.“ - „Das ist cool,“ findet Marcel 007, „und dass diese Welt so realistisch ist. Die 20 Euro, die ich dir jetzt gebe,“ er steckt ihr das Geld zwischen den Büstenhalter, „hast du im gleichen Augenblick im Realen auf deinem „Connect-the-Worlds- Konto.“ - „Ja, danke.“ Sie streichelt seinen Arm, von da wandert ihre Hand zärtlich zur seinen Schultern. Er fühlt ihre warme Haut auf seiner, und ein wunderbares Energiegefühl entsteht im Kopf - ein herrliches Gefühl, das seinen ganzen Körper durchströmt.
„Hier ist einfach alles besser.“ setzt Marcel fort. „Es gibt keine Idioten, und Hamburg steht hier nicht unter Wasser.“ - „Steht Hamburg unter Wasser?“ mischt sich Sebastian in die Unterhaltung der beiden ein. „Ja, in real, wusstest du das nicht? Die Dämme sind eingebrochen. Eine enorme Welle, Tausende von Toten. Es kam überraschend.“ - „Überraschend?“ lacht Georgio, sich aus der Umarmung einer Frau lösend. „Ich bin Journalist in ´the real World´ und ich sage euch, Leute: Das hat nichts mit Überraschung zu tun, vielmehr mit „Niemand weiß mehr, was zu tun ist.“ Unser Staat und mehr oder weniger alle Staaten und Regierungen haben die Kontrolle verloren. Die wirkliche Welt ist nichts mehr als ein erbärmlicher Sauhaufen!“ lacht der Italiener. „Da geht alles drauf! Und bis dahin gilt es, Spaß zu haben! Prost darauf!“ Er trinkt sein Glas leer. „Das wurde uns alles vorhergesagt,“ sagt Marcel 007 „schon vor Jahrhunderten. Wir haben aber nicht reagiert“ - „Bist du Student?“ fragte Gisela 2089 neckisch. “Ich mag Männer, die klug sind.“ - „Ja“, lügt Marcel „Ich studiere Theologie und Philosophie...“ Ein eintöniges, vibrierendes Warngeräusch meldet sich in Marcels Kopfhörer und unterbricht das Gespräch. Er kennt diesen Ton nur zu gut. Sein „Connect-the-world-Konto“ war leer. Um weiter in dieser schönen Welt mit Sabine im Arm plaudern zu dürfen, muss er zu einer Bank in der virtuellen Welt und sein Konto aufladen. „Ich komme wieder.“ verspricht Marcel 007 und verlässt schnell das Lokal, auf der Suche nach einer Bank.
Die Stadt war, trotz Nachtzeit, hell und verschwenderisch erleuchtet, die Straßen voll von virtuellen Menschen. Alles war wie immer sauber, geordnet und ansprechend. „Wahnsinnig, der Unterschied zwischen der realen Welt und dieser Welt.“ dachte Marcel 007, als er durch die gepflegten Straßen schlenderte, auf dem Weg zur Bank. Hier war die Welt noch in Ordnung! Lachende und fröhliche Menschen kamen ihm entgegen, überall in der virtuellen Welt waren sie unterwegs, in einer Welt des Vergnügens und der Sorglosigkeit.
„Hallo.“, sagte die junge, vollbusige Frau am Bankautomaten und drehte sich zu Marcel 007 um.
„Ich bin SexyJanicke 6349. Hast du Lust mich kennenzulernen?“
Marcel kannte schon eine Janicke. In einer Etage seines Wohnblocks, direkt ihm gegenüber, wohnte eine Janicke. Eine ca. 50-jährige Frau, alleinstehend und alles andere als jung und hübsch.
Gut möglich, dass sie auch hier herumgeisterte. Lieber vorsichtig sein. Außerdem wollte er zurück zu Gisela 2089.
„Nein, jetzt nicht, vielleicht ein anderes Mal.“
Die vermeintlich junge Frau lächelte stumpf und ging aus der Bank.
Marcel musste zu seiner Enttäuschung am Automaten feststellen, dass er Gisela 2089 und seine virtuellen Freunde heute nicht mehr wiedersehen würde. Sein Konto, mit dem er sein virtuelles Konto aufladen wollte, war leer. In real. Die Zeit, die ein Nutzer der virtuellen World zu Verfügung hatte, um sein Konto aufzuladen, lief auch in wenigen Sekunden ab. „Verehrter Nutzer, leider ist ihre Zeit in „The Better World“ abgelaufen, besuchen Sie uns bald wieder“ , informierte ihn eine nette, weibliche Stimme aus dem Kopfhörer. Marcel 007 musste „The Better World“ verlassen - es wurde schwarz um ihn und er nahm den Helm ab. Es kam kein Geld vor nächster Woche, das Konto war sogar überzogen. Zu essen hatte er auch nichts mehr. Der gute Jurij wird mich schon nicht verhungern lassen. Der junge Mann machte den Computer aus und legte sich ins Bett.


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Tag der Veröffentlichung: 22.12.2010

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