Cover

Liebe Leser

Ich kenne weder meine Vergangenheit, noch weiß ich, wohin es mich morgen verschlägt.

Mitja Nikolajewitsch Kalinin

 

Der erste Teil der Trilogie, Flashback - Verraten, hat uns gezeigt, wie verdorben Menschen sein können. Mehrere Leser haben mir geschrieben, dass sie noch viele Tage an Masons Schicksal gedacht haben. Doch wenn ihr glaubt, es geht nicht schlimmer, dann irrt ihr.

Mason hatte seine Familie und Luana, die ihn gestärkt haben. Timo allerdings hat man alles genommen: Familie, Liebe und Erinnerungen.

Menschen, die traumatisiert sind, und Jugendlichen unter 16 Jahren rate ich von dieser Geschichte ab. Es kommen Folter, Drogen, Missbrauch und Entführungen vor.

Zum besseren Verständnis werden hier die vollständigen Namen der beiden Protagonisten aufgeführt. Sie werden je nach Handlung verwendet:

Timothy (Timo) Johnson/ Dimitri (Mitja) Nikolajewitsch Kalinin /Nr.46

Michail (Mike oder Micha) Semjonowitsch Belowski

In Russland ist es üblich, dass vor dem Familiennamen der Vatersname steht. Die beiden Namen werden dem Geschlecht angepasst. Es gibt für jeden Vornamen auch Kurzversionen, mit der Verwandte, Freunde und gute Bekannte angesprochen werden.

Jegliche Personen sind frei erfunden. Namensgleichheiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind reiner Zufall.

Die Organisation Schwarzes Blut in Russland und die Gang Schwarze Bären in Bern sind ebenfalls Fiktion und haben nichts mit bekannten Mafiaorganisationen zu tun. Die russischen Orte gibt es tatsächlich, haben aber nichts mit der Geschichte gemein. Das Waisenhaus und das Camp sind reine Fantasie.

Klappentext


Der siebzehnjährige Timo wird kurz nach dem Tod seines Vaters entführt und verschwindet spurlos. Jegliche Suche verläuft im Sand, bis sein Pate zwei Jahre später einen Tipp erhält und nach Russland reist, um der Spur nachzugehen. Dort bekommt Michail unerwartet Hilfe von Sascha, die ihm gehörig den Kopf verdreht.

Die achtzehn Monate im Waisenhaus der Organisation bedeuten für Mitja die Hölle. Er wird als Toy Boy vermittelt und muss täglich Qualen über sich ergehen lassen. Nur die Freundschaft mit Maxim gibt ihm Halt. Seine Vergangenheit liegt im Dunkeln, bis eines Nachts die Flashbacks beginnen und ihm stückweise die Wahrheit über seine Herkunft zeigen. Oder sind es doch nur Träume?



Inhaltsverzeichnis


 




1

Timothy

 

Mit einem gefühlt riesigen Knoten im Hals und gesenktem Kopf stand ich am offenen Grab meines Vaters.

Die enganliegende dunkelblaue Krawatte, die ich auf Befehl meines Großvaters trug, machte es auch nicht besser. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Meine Hände hatten sich in den Hosentaschen zu Fäusten geballt, um mich daran zu hindern, die Krawatte vom Hals zu zerren.

Innerlich schrie ich vor Kummer. Nach außen drang jedoch nur ein leises Wimmern über meine zusammengepressten Lippen, während der Pfarrer seine lange Predigt hielt. Konnte er sich nicht kürzer fassen?

Meine Augen brannten trotz des Versuchs, die Tränen zurückzuhalten. Ich stand kurz davor, in der Öffentlichkeit doch noch die Fassung zu verlieren, sollten wir nicht bald von hier wegkommen.

Ich wollte am liebsten weit fortrennen, um allein um Dad zu trauern. Ohne die unerbittlichen Blicke meines Großvaters, der mir das Leben täglich zur Hölle machte.

Selbst der Himmel schien zu weinen. Der Regen prasselte ununterbrochen auf unsere Schirme herab. Während wir am Grab standen, dachte ich an heute Morgen, zwei Stunden bevor wir zur Beerdigung gefahren waren.

 

Ein paar Minuten bevor meine Mutter aus ihrem Zimmer kam, passte mich Großvater ab.

Ich hatte mich gerade ans Büfett gestellt, um mir Brötchen und Beilagen auf den Teller zu legen, da stand er schon neben mir, legte seine große Hand auf meine Schulter und drückte zu. Ich schrak auf und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Der alte Mann hatte ziemlich viel Kraft in seiner Pranke.

Kein Morgengruß oder ein liebes Wort war ich ihm wert. Nein, er begann gleich wieder mit seinen Verhaltensregeln: »Du wirst dich heute am Begräbnis zusammenreißen, Timothy. Deine Mutter braucht dich als Stütze, solange sie selbst so schwach ist. Hast du verstanden?«

Er ließ mir nicht einmal Luft zum Antworten. »Ich will mich wegen dir nicht vor meinen Freunden und Geschäftspartnern schämen, die sich extra die Zeit genommen haben, um deiner Familie die Ehre zu geben.«

Er ist einfach ein Arschloch, dachte ich genervt. Dabei hielt ich meinen Teller so fest, dass er beinahe zerbrach. Nur mit großer Mühe schaffte ich es, ihm das Ding nicht einfach an den Kopf zu werfen.

Wieder zeigte er mir, wie wenig ich ihm bedeutete. Sein Stolz und sein Umfeld waren ihm wichtiger als ich - was nichts Neues war.

»Ich werde heute meinen Dad beerdigen. Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass mich das kalt lässt. Ich bin keine Maschine, die ihre Gefühle an- und abstellen kann.«

Meine Worte hallten lauter und wütender zwischen uns, als ich es vorgehabt hatte.

»Mäßige deinen Ton, junger Mann. Das verlange ich auch nicht, obwohl alles einfacher wäre, wenn du keine solche Mimose wärst. Ich will einfach, dass du weder vor allen zusammenbrichst noch, dass du wie ein kleines Kind losheulst. Das kannst du meinetwegen im Bett tun, wenn es niemand hören und sehen muss.«

Das verächtliche Verziehen seiner Mundwickel brachte mich beinahe dazu, auszuflippen. Nur mein Stolz hinderte mich daran, ihm diese Freude zu machen. Ich kochte aber vor Wut vor mich hin.

 

Ein plötzlicher Schmerz in der Armbeuge brachte mich wieder in die Gegenwart zurück. Meine Mutter hatte sich mit ihren langen Fingern an meinem Arm festgekrallt. Sie drückte mich so stark, dass ich morgen vermutlich lauter blaue Flecken haben würde. Nicht, dass es mir etwas ausmachte. Sie gab mir damit unbewusst den Halt, den ich jetzt brauchte. Trotzdem musterte ich sie bekümmert. Ihre langen hellblonden Locken fielen ihr über die mageren Schultern, die vor lauter Schluchzen bebten. Ihr dunkelblaues Kleid saß locker an ihrem schlanken Körper. Sie musste seit dem Beginn von Dads Krankheit einiges an Gewicht verloren haben. Jeglicher Glanz war aus ihren Augen verschwunden. Das Gesicht ganz verquollen vom vielen Weinen.

Erneut schluchzte sie auf, denn jetzt wurde die Urne in das dunkle Loch hinabgesenkt. Dieser Akt war auch für mich das Schlimmste. Ich schluckte mehrmals, um den Kloß loszuwerden, der sich in meinem Hals festsetzte.

Mein Großvater, an dessen Arm sich Mom auf der anderen Seite eingehakt hatte, wirkte kühl und unnahbar, geradeso, als würde ihn das Ganze nichts angehen und warf mir unentwegt mahnende Blicke zu.

Meine Großmutter hingegen warf mir öfters einen tröstenden Blick zu. Die kleine Frau war mitfühlend und hatte Dad, im Gegensatz zu ihrem despotischen Mann, sehr gemocht.

Leider änderte dies nichts für mich. Sie war, wie Mom, kaum in der Lage, sich ihm zu widersetzen. Nur kurz nach Dads Tod hatte sie mich an sich gedrückt. Großvater hatte nur darüber geschnaubt. Liebe und Zuwendung hielt er für Schwäche.

Alles hatte nach seiner Pfeife zu tanzen. Das spürte ich zurzeit nur allzu gut. Er spielte sich als neuer Chef unserer Familie auf, seitdem es Mom so schlecht ging und wir in seiner Villa wohnten. Wie mich das alles ankotzte.

Mich dem strengen Familienregime anzupassen, fiel mir schwer. Ich war es nicht gewohnt. In unserer Familie hatten wir einen engen Zusammenhalt gehabt. Dad war der freundlichste Mensch gewesen, den ich kannte. Er war warmherzig und hatte immer ein offenes Ohr für mich gehabt. Bei Problemen durfte ich jederzeit zu ihm kommen, auch wenn er in seiner Autowerkstatt gearbeitet hatte. Wenn es mir als kleines Kind schlecht ging, hatte er mich stets mit seinen von der schweren Arbeit muskulösen Armen getröstet und auf den Schoß genommen.

Auch Mom war meist gut gelaunt und hatte uns immer unterstützt. Sie war dagewesen, wenn wir abends heimkamen, und hörte zu, wenn wir am Tisch fröhlich über unseren Tag geplaudert hatten.

Dank diesen beiden liebevollen Menschen waren wir eine glückliche kleine Familie gewesen, um die mich so mancher meiner Freunde beneidet hatte. Doch vor drei Monaten hatte sich alles verändert.

 

Ich kam von der Schule und wunderte mich, weshalb Mom um diese Zeit nicht zu Hause war. Nicht, dass ich das für selbstverständlich hielt. Nur normalerweise gab sie Bescheid, wenn es später bei ihr wurde.

Erneut sah ich auf mein Handy, um nachzuschauen, ob ich eine Mitteilung verpasst hatte. Doch da war nichts. Also ging ich erst einmal an den Kühlschrank, um mir etwas zu essen rauszuholen und versuchte sie eine halbe Stunde später erneut anzurufen, als sie immer noch wegblieb. Allmählich begann ich mir Sorgen zu machen.

Doch weder sie noch Dad, den ich ebenso zu erreichen versuchte, gingen ans Telefon. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit.

Ich sollte Recht behalten. Eine Stunde später kehrte Mutter blass und verweint zurück und sah mich traurig an, bevor sie mein Gesicht mit beiden Händen umfasste.

»Timo, Schatz. Du musst jetzt stark sein.« Tränen rannen ihr dabei unablässig über die Wangen.

»Mom, was ist los? Du machst mir Angst. Wo ist Dad? Ist was mit ihm? Hat er sich verletzt?« Mit großen Augen starrte ich sie an und wartete auf ihre Antwort. Meine Hände verkrampften sich an der Theke, an der ich gerade mein Geschirr abgewaschen hatte.

»Dave ist heute Morgen im Geschäft zusammengebrochen. Er wurde untersucht und sie haben einen Tumor in seiner Lunge gefunden.«

Geschockt sah ich sie an. Das durfte nicht wahr sein. Ausgerechnet Dad, der nicht einmal rauchte und sich meist gesund ernährte!

»Ist es Krebs?«, stammelte ich. Die Worte brachte ich kaum heraus.

Meine Mutter bestätigte es weinend und erklärte mir, dass es nicht behandelbar war. Für uns brach eine Welt zusammen.

 

Bis ein paar Tage vor seinem Tod pflegten wir ihn gemeinsam zu Hause, um ihm einen langen Krankenhausaufenthalt zu ersparen.

Wir mussten elendig zusehen, wie er immer schwächer und schwächer wurde. Nur noch Morphium half ihm, die Schmerzen annähernd auszuhalten. Trotzdem hoffte ich bis zuletzt auf ein Wunder.

In der Schule konnte ich mich kaum konzentrieren, weil ich immer Angst hatte, dass er abends nicht mehr da sein würde. Meine Noten sanken rapide.

Ein paar Wochen später holte mich Großmutter aus dem Unterricht, um ins Krankenhaus zu fahren.

Nackte Angst packte mich. Wenn ich nun zu spät kam?

Mit einem riesigen Kloß im Hals betrat ich das Krankenzimmer - Dad war vor einer Woche ins Krankenhaus gebracht worden, weil er immer schlechter atmen konnte.

Mom kam mir entgegen und drückte mich fest an sich. Dann wandte sie sich an Großmutter: »Danke, dass du Timo geholt hast.«

»Das war doch selbstverständlich, Lea. Ich gehe dann mal raus, damit ihr noch etwas Zeit für euch habt.«

»Timo«, sagte Dad leise, als ich ans Bett trat. »Schön, dass ich dich noch einmal sehe. Ich werde bald gehen dürfen.«

»Nein, Dad. Bitte sag sowas nicht. Du darfst uns nicht verlassen. Wir brauchen dich doch«, heulte ich auf und umarmte ihn.

Er löste sich nach ein paar Minuten sanft und umfasste mein Gesicht mit seinen schwachen Händen.

»Timo. Ich habe keine Kraft mehr, um weiter zu kämpfen. Du bist aber ein großartiger junger Mann geworden und wirst dich auch ohne mich im Leben zurechtfinden. Ich bin so stolz auf dich.« Sein Atem ging rasselnd, während er auf mich einsprach.

»Danke Dad«, schluchzte ich. »Du bist auch der Beste und wirst mir so fehlen.« Die Tränen liefen jetzt ununterbrochen über mein Gesicht. Meine Hand klammerte sich an seine.

Zehn Minuten später stockte sein Atem und die Hände erschlafften, nachdem Dad seinen letzten Atemzug genommen hatte.

Mein Großvater trat ins Zimmer, nachdem der Arzt den Tod bestätigt hatte, und zog Mom vom Bett weg, damit die Pfleger ihre Arbeit tun konnten.

Ich dagegen hatte mich wie betäubt auf den nächsten Stuhl gesetzt und die Hände vor mein Gesicht geschlagen.

 

An diesem Abend zogen wir in die Villa meiner Großeltern, weil Mom kaum mehr ansprechbar war. Sie legte sich in ihr ehemaliges Zimmer und überließ meinen Verwandten die ganze Beerdigungsorganisation. Die Frau, die vorher ein starker Rückhalt für uns gewesen war, gab es nicht mehr.

Die ersten Tage nach Dads Tod verkroch ich mich ebenso im Gästezimmer und lag einfach auf dem Bett. Ins Nichts starrend hörte ich mit meinen Kopfhörern düstere Musik. Etwas Essbares brachte ich kaum hinunter. Ab und zu schlurfte ich ins Bad und trank Wasser oder aß ein Sandwich, das mir Großmutter liebenswürdigerweise auf den Nachttisch gelegt hatte. In mir war alles dunkel. Ich hatte das Gefühl, nie wieder fröhlich werden zu können.

Irgendwann, vermutlich waren etwa drei Tage vergangen, stapfte mein Großvater ins Zimmer und riss die Fensterläden auf.

»Hey, was soll das?«, schimpfte ich und blinzelte gegen das grelle Licht der Sonne, welches mich blendete. Gepeinigt legte ich den Ellbogen vor das Gesicht.

»Timothy, du wirst demnächst siebzehn und lässt dich gehen wie ein Kind. Sei gefälligst ein Mann und trag deinen Verlust mit Fassung. Der Tod deines Vaters ist tragisch, aber jetzt wird es Zeit, dass du dich zusammenreißt. Morgen gehst du wieder zur Schule«, schimpfte er und lehnte sich an die Wand neben dem Fenster, während er mich mit einem grimmigen Blick anstarrte.

»Was? Nein. Ich bin noch nicht soweit«, antwortete ich betroffen. Der rüde Tonfall meines Großvaters schockierte mich. Wieso konnte er mich nicht einfach in Ruhe trauern lassen?

Doch er hatte noch nicht genug gesagt. »Mach kein Drama. Ab morgen werde ich dich persönlich zur Schule bringen, da ihr hierbleiben werdet, bis es deiner Mutter wieder bessergeht.«

Bestürzt starrte ich ihn an und widersprach: »Das ist nicht dein Ernst. Ich will in unser Haus zurückkehren.«

Doch meine Meinung war ihm egal.

»Nein, das kannst du nicht. Geh duschen, du stinkst.« Angeekelt verzog er das Gesicht. »Dann zieh etwas Anständiges an. Meinetwegen kann es auch nur ein Poloshirt und eine Anzugshose sein, wenn du sowas überhaupt besitzt.«

Wie konnte er nur so grausam sein?

»Sicher besitze ich so etwas, aber ich bevorzuge Jeans und Shirts«, gab ich in gereiztem Tonfall zurück.

»Mach, was du nicht lassen kannst. Alles ist besser als dieser Fummel, den du jetzt anhast.« Er sprach von meinen langen Jogginghosen und einem Shirt, das Dad gehört hatte. Es war mir zu weit, aber es war seins gewesen und sein schwacher Geruch haftete noch daran.

Die Zähne zusammenbeißend, formte ich unter der Decke meine Hände zu Fäusten.

»Morgen nach der Schule wirst du zum Friseur gehen. Deine Haare sind zu lang und so verfilzt wie die eines Obdachlosen. So kannst du nicht an der Beerdigung teilnehmen«, fuhr er mit seinen Befehlen fort.

Ich strich mir automatisch mit der Hand über den Kopf und blieb in den zerzausten Strähnen hängen. Sobald sie länger als drei Zentimeter wurden, begannen sie sich zu locken und zu verheddern. Deshalb trug ich meine Haare meist sehr kurz, war aber in der letzten Zeit nicht dazugekommen, sie schneiden zu lassen. Doch von Großvater wollte ich mir nicht vorschreiben lassen, wie ich mich zu kleiden oder zu frisieren hatte. Ich war doch kein kleines Kind mehr, verflucht nochmal.

Sein anzügliches Lächeln, als er mich bei meinen erfolglosen Bemühungen beobachtete, brachte mich vollends auf die Palme und vorbei war mein guter Wille, mich zurückzuhalten.

»Du hast mir gar nichts zu befehlen!«

Mit schnellen Schritten - Großvater war ein agiler Mensch und trieb viel Sport - eilte er an mein Bett und starrte auf mich herunter. Wollte er mich so einschüchtern?

»Das sehe ich anders«, erwiderte er grimmig. »Es wird Zeit, dass du dich endlich zu benehmen lernst, Timothy. Dein Vater hat dich verzogen und verweichlicht.«

Es reichte mir. Ich stand auf und stellte mich vor ihn hin. Ich war zwar kleiner als er, trotzdem fühlte ich mich ihm so weniger unterlegen.

»Lass meinen Vater aus dem Spiel. Er war ein guter Dad!«, schrie ich. Mein Gesicht war heiß vor Wut.

Dad war gerade drei Tage tot und der Alte wusste nichts Besseres, als ihn zu beleidigen. Großvater hatte schon immer auf ihn hinuntergesehen. Er war dagegen gewesen, dass Mom einen Amerikaner heiratete, der zudem auch noch ein einfacher Mechaniker war. Sie hatte ihn auf einer Reise in seinem Heimatland kennengelernt.

Großvater packte blitzschnell mein Kinn mit einer Hand, sodass ich ihm ins wütende Gesicht blicken musste. Das geschah so schnell, dass ich nicht einmal reagierte.

»Du bist ein respektloser Bengel. Dein Benehmen lässt eindeutig zu wünschen übrig«, fuhr er mich an. Sein Kopf wurde immer röter. »Solltest du weiterhin gegen mich rebellieren, werde ich ein ernstes Wort mit deiner Mutter sprechen. Sie wird einsehen, dass du im Internat von Lausanne besser aufgehoben sein wirst. Dort wurden schon deine Onkel und Cousins ausgebildet. Damit würdest du endlich eines von Bergen würdig sein.«

Er ließ mich los und trat einen Schritt zurück, funkelte mich aber mit seinen grauen Augen weiterhin an.

»Vergiss es. Ich werde niemals diese Schule besuchen«, gab ich zurück. »Dort gibt es nur versnobte Spießer.«

Ich sah meine älteren Cousins und Onkel vor mir, die auf mich herabsahen, als wäre ich nicht einmal den Dreck unter ihren Sohlen wert. Zu einem solchen Arschloch wollte ich niemals werden.

»Was erlaubst du dir eigentlich?«, herrschte er mich an. Seine Stimme wurde immer lauter. »Deine Verwandten sind starke aufrechte Männer, die etwas im Leben erreicht haben. Lea wird froh sein, wenn ich ihr eine Bürde abnehme. Sie ist nur eine Frau und im Moment sowieso nicht in der Verfassung, auf dich aufzupassen.«

Ich dachte, dass ich nicht richtig gehört hatte. »Frauen sind genauso viel wert wie Männer. Mom trauert eben. Sie wird sich erholen. Wir sind ein Team und achten aufeinander«, fuhr ich ihn an. Ich begann vor Wut zu zittern und als ich es merkte, verschränkte ich die Hände vor meinem Körper, um meine Reaktion zu verbergen.

»Ja klar. Man weiß ja, wie das endet. Jungs wie du, ohne Vater, lungern auf den Straßen und Plätzen herum, besaufen sich, statt fleißig zu lernen. Michail, dein großes Vorbild, war in deinem Alter genauso. Ich werde nicht zulassen, dass du auf die schiefe Bahn gerätst.«

Damit hatte er wohl geschlossen und verließ das Zimmer, ohne mir die Möglichkeit zu geben, Micha in Schutz zu nehmen. Der war ein aufrichtiger Typ und kein bisschen, wie Großvater ihn geschildert hatte. Wütend und verletzt, weil er gleichzeitig mich und meinen Patenonkel beleidigt hatte, warf ich das Kissen an die geschlossene Zimmertür.

Ich würde erleichtert sein, wenn mein Pate endlich von seiner Weltreise zurückkehrte. Dann hätte ich jemanden, der für uns einstand. Leider hatte ihn seine Mom noch nicht erreicht. Er war vermutlich, wie so oft, ohne Handy unterwegs.

 

»Timo! Hör auf zu träumen. Die Gäste wollen dir kondolieren«, zischte mir Großvater zu und zerrte mich damit in die Gegenwart.

Ich riss mich zusammen, nahm mit stoischer Miene die teilweise geheuchelten Beileidsworte seiner Bekannten entgegen, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, und war erleichtert, als sich die meisten Gäste endlich verzogen.

Mir war heute nichts anderes übriggeblieben, als zu gehorchen. Ich war tapfer gewesen. Nun stand mir eine grauenhafte Zeit bevor. Ich schwor mir, mich niemals von Großvater unterkriegen zu lassen.

Er kannte mich nicht. Ich hatte etwas erreicht. Meine Schulleistungen waren vor der Krankheit meines Dads mehr als akzeptabel gewesen und in meinem Zimmer hingen bereits Medaillen von meinen Wettkämpfen beim Geräteturnen. Ich wüsste nicht, weshalb ich herumlungern sollte, wenn ich doch den Sport hatte, der mich aus diesem Tief herausholen könnte, wenn er mich endlich wieder trainieren lassen würde.

Trotz seiner Drohung, mich aufs Internat zu schicken, die ich sehr ernst nahm - Mom war in einer Verfassung, in der sie ihm womöglich nachgab - hatte ich die Schnauze voll vom Eingesperrt sein.

2

Michail

Zwei Jahre und drei Monate später


Wie hielt es meine Cousine bei diesem Eisblock von Vater nur aus? Sie lebte wieder bei ihren Eltern, da sie nach Davids Tod in eine Depression gefallen war und deswegen nicht arbeiten konnte. Das war nicht weiter verwunderlich, denn ein paar Tage nach der Beerdigung verschwand auch noch Timo spurlos. Lange Zeit verlor sie jeglichen Lebenswillen, bis sie sich vor ein paar Tagen endlich aufraffte und mich anrief. Ich sollte sie doch besuchen. Sie hätte Neuigkeiten.

Nun saßen wir gerade gemütlich zusammen im Wintergarten auf der Rattan-Couch, inmitten der vielen Pflanzen, und unterhielten uns über Timo, den ich seit über zwei Jahren vergeblich suchte.

Ich sprach sie sanft auf eine Rückkehr in ihr Haus und ins Berufsleben an, denn hier zu wohnen und nur in den Tag zu leben, tat ihr nicht gut. Sie brauchte meiner Meinung nach eine Veränderung.

Natürlich kam gerade in diesem Moment der alte Saftsack von Vater, wie ich ihn insgeheim nannte, aus dem Salon, lehnte sich an die Glastür und musste seinen Senf dazugeben.

»Wie soll das funktionieren? Sie hat dank Dave kaum Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt.«

»Du hast doch Wirtschaft studiert, Lea. Da muss es doch möglich sein, dass du wieder einen Job kriegst«, wandte ich mich an sie. Die Beleidigung bezüglich ihres verstorbenen Mannes ließ ich unkommentiert, um ihm keine Angriffsfläche zu bieten. Trotzdem setzte ich mich gerader hin. Ich war bereit, wenn nötig, auch auszuteilen.

»Danach hat sie aber nur Daves Büroarbeiten erledigt. Ich habe mich sowieso immer gefragt, weshalb Frauen studieren wollen. Kaum haben sie ausgelernt, wollen sie Kinder und der Staat hat vergebens eine teure Ausbildung finanziert«, gab Kurt seine archaische Einstellung ungefragt weiter, was mich noch mehr gegen ihn einnahm. Lea bekam dagegen knallrote Wangen.

»Sie ist hier und wird selbst für sich sprechen können«, gab ich deshalb scharf zurück. Mein Gott, Lea war achtunddreißig Jahre alt. Wie lange wollte sie sich das noch gefallen lassen? Manchmal verstand ich sie ehrlich gesagt nicht. Doch plötzlich stand sie auf, ging mit schnellen Schritten auf ihren Vater zu, der sie überrascht anstarrte. Lea zeigte plötzlich Zähne und drückte ihm die Hand an den Brustkorb.

»Du bist unmöglich, Vater. Ich habe mich selbst entschieden, dass ich Dave unterstützen und für Timo da sein wollte. Das ist weder verkehrt noch machen das alle. Das weißt du genau. Also wirf gefälligst nicht alle Frauen in denselben Topf. Wir sind nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, als die Frau nur im Haushalt tätig war. Übrigens hat mir meine Freundin einen Job bei Luzias-Fashion vermittelt.«

»Du willst in einem Kleiderladen arbeiten?«, fragte Kurt ungläubig.

»Nein, im Büro. Es ist außerdem kein gewöhnlicher Laden, sondern eine exklusive Boutique. Und ja, ich werde die Stelle annehmen und demnächst zurückkehren, damit Timo sein altes Zuhause wiederkriegt, sobald Micha ihn gefunden hat.«

Kurt schnaubte laut und schlug ihre Hand weg. »Mach dich nicht lächerlich. Du verrennst dich in etwas, das kaum mehr möglich ist.«

Unsensibler Arsch, dachte ich gereizt und stand auf. Ich konnte nicht mehr stillsitzen und ihnen zuhören. Zudem plagte mich mein schlechtes Gewissen, weil ich Timo immer noch nicht gefunden hatte.

Ihre folgenden Worte machten es kaum besser.

»Du bringst ihn mir doch zurück, Micha, nicht wahr?« Sie drehte sich hoffnungsvoll zu mir um. »Ich spüre, dass er irgendwo da draußen ist und noch lebt.«

»Lea, ich versuche wirklich alles Mögliche. Es ist nicht so einfach.« Ich hasste es, ihr keine bessere Antwort geben zu können, und schluckte.

Bei meinem Worten begann ihre Oberlippe zu zittern und sie lief mit der Hand vor dem Mund aus dem Wintergarten. Das Gefühl, versagt zu haben, nagte an mir. Hoffentlich zog sie sich jetzt nicht wieder ganz zurück. Ich war vorhin wirklich stolz auf sie.

Mein Onkel fasste mich am Arm, bevor ich ihr hinterherlaufen konnte. »Das hast du blendend hingekriegt, Michail«, schimpfte er. »Wenn du keine Neuigkeiten hast, dann sage ihr endlich, dass es vorbei ist, damit sie trauern kann. Lass Lea nicht in der Schwebe. Du weißt selbst, dass der Junge vermutlich nicht mehr lebt.«

Ungläubig starrte ich ihn an und riss mich von ihm los. »Wie bitte? Ich soll ihr die Hoffnung nehmen? Du bist der kaltherzigste Typ, dem ich je über den Weg gelaufen bin.« Nur mein Anstand verbot es mir, ihn laut als Arsch zu betiteln.

»Wenn du es ihr nicht sagst, dann werde ich es tun. Diese Situation ist nicht mehr tragbar. Hätte ich ihn nur gleich nach der Beerdigung nach Lausanne geschickt, dann wäre er noch am Leben«, gab er mir zur Antwort. In seinen Augen sah ich nur Kälte.

Das durfte nicht wahr sein. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Du wolltest ihn wegschicken, nachdem Lea gerade ihren Mann beerdigt hat? Bist du völlig von Sinnen?«

»Das verstehst du nicht. Wie solltest du auch? Du denkst genau so wenig nach, wie Dave und Lea es getan haben. Ein Junge in seinem Alter braucht Führung und keine Eltern, die sich als Freunde aufspielen.«

»Der Junge hat einen Namen«, gab ich scharf zurück.

»Der Timothy lautet und nicht Timo, wie ihr ihn immer genannt habt. Schlimm genug, dass er halb Amerikaner ist. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass er sich wie ein Gossenjunge verhalten hat.«

So eine queere Logik. Ich war kurz davor, die Kontrolle über mich zu verlieren. Wie konnte dieser Mann nur so verbohrt sein? »Dave und Lea haben Timo zu einem feinfühligen, anständigen Jungen erzogen. Er wusste immer, was sich gehört, und war stets hilfsbereit. Dir war aber das gute Einvernehmen, das Timo mit seinen Eltern gehabt hat, schon immer ein Dorn im Auge. Du bist ein eifersüchtiger alter Sack, Kurt.« Jetzt war ich doch unhöflich geworden. Der Alte brachte meine schlimmste Seite zum Vorschein.

Meine Nerven waren sowieso schon zum Zerreißen gespannt, voller Sorge um Timo. Ich hoffte sehr, dass Kurt nicht recht hatte. Insgeheim gab ich ihm sogar die Schuld am Verschwinden meines Patensohns. Er hatte ihn mit seinen Drohungen ja quasi in die Hände der Entführer getrieben.

Nun schnappte er brüskiert nach Luft. Das war mir aber egal. Mir war es nicht mehr wichtig, was er von mir hielt. Für mich war dieser Mann gestorben.

»Verlass mein Haus, du arroganter russischer Bastard!«, brüllte er. Sein haarloser runder Kopf wurde rot wie eine Tomate. »Kein Wunder, dass man dich bei der Polizei entlassen hat. Du bist keinen Pfifferling wert. Von dir lasse ich mir keine Vorschriften machen. Meine Schwägerin war eine Idiotin, als sie sich mit deinem Erzeuger im Bett gewälzt hat!«

Wie bitte? Jetzt war es an mir, nach Luft zu schnappen und ich war knapp davor, ihm eine Faust ins Gesicht zu donnern. Die Freude aber, mich danach anzuzeigen, würde ich ihm nicht schenken. So überging ich seine Worte zähneknirschend. Ich war weder ein Bastard, wie er es so schön nannte - meine Eltern waren verheiratet gewesen, als Vater starb - noch war ich von der Polizei entlassen worden. Vor der Weltreise hatte ich selbst gekündigt, aber es hatte keinen Wert, ihm erneut die Fakten klarzumachen. Es war ihm sowieso egal. Deshalb ging ich zur Tür. Im letzten Moment wandte ich mich noch einmal um.

»Weißt du was? Du kannst mich mal. Sollte Timo zurückkehren, werde ich alles tun, um ihn von dir fernzuhalten«, antwortete ich verächtlich. »Er wird Liebe brauchen und keinen narzisstischen Großvater, der in ihm nur einen Verlierer sieht.«

Kurt machte einen Schritt auf mich zu, blieb dann aber stehen. Er ballte eine Hand zur Faust und hob sie nach oben, als wolle er mich gleich schlagen. Sein Gesicht verzog sich voller Hass. »Das werden wir noch sehen. Geh mir aus den Augen! Du bist ab sofort nicht mehr willkommen.«

»Danke, dazu habe ich auch keinen Bedarf. Ich bin schon weg. Mach dir keine Mühe, mich zum Ausgang zu begleiten.«


Nachdem ich aus der Villa geeilt war, zerrte ich den Helm von der Lenkstange meiner blauen Harley und stülpte ihn über den Kopf, ehe ich die Handschuhe anzog und mich auf meine geliebte Maschine setzte. Kaum fünf Minuten später fädelte ich mich in den Verkehr ein und fuhr ins Büro.

Meine Gedanken rasten vor Wut und Verbitterung. Hoffentlich würde ich im Büro eine Antwort aus Moskau vorfinden. Das wäre zumindest ein Lichtblick. Demjan Wolkonov war auch Privatdetektiv und suchte in meinem Auftrag in Russland nach Timo. Ich hatte diesen Mann vor ein paar Jahren kennengelernt, als ich mit Mutter Verwandte besuchte. Wir waren ab und zu per Mail in Kontakt getreten, bis ich ihn vor ein paar Monaten um Hilfe ersucht hatte.

Als ich ankam, warf ich meine Lederjacke kurzerhand über einen der beiden ledernen Sessel, die in der Ecke meines kleinen Büros standen. Eigentlich war es das des Tanz-Clubs. Ein zweites für meine Detektivarbeit zu haben, fand ich überflüssig. Das Geld konnte ich anderweitig gebrauchen und meist traf ich mich mit Kunden sowieso außerhalb.

Während der Computer hochfuhr, ließ ich mich mit einer Cola in der Hand in den Bürostuhl fallen und strich mir durch die blonden Haare.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Mails heruntergeladen waren. Es wurde Zeit, mir einen neuen Laptop zu gönnen. Ich war nicht gerade der Techniktyp und behielt meine Geräte, bis sie fast von selbst den Geist aufgaben. Eric, mein Geschäftspartner des Sixty-Eights, zog mich damit immer wieder auf.

Aufmerksam las ich die Nachrichten durch. Wieder keine Post aus Russland. Verdammt, das durfte doch nicht wahr sein. Vor einer Woche hatte Demjan mich angerufen und erzählt, dass er einer neuen Spur nachging und mir schreiben wollte.

Nochmals sah ich alles durch, ehe ich die Mails aus dem Spamordner zu löschen begann. Nur meine Gewohnheit, alle vorher zu kontrollieren, rettete mich vor einer Dummheit.

Eine zwei Tage alte russische Mail in der Spamliste war mit vermisst betitelt. Zur Vorsicht öffnete ich sie nicht direkt und sah mir die Nachricht zuerst in der Voransicht an. Erleichtert bemerkte ich, dass sie aus Demjans Büro stammte.


Hallo Michail

Mein Partner Demjan hat mir den Auftrag gegeben, dich über den neusten Stand unserer Suche zu informieren. Wir brauchen noch ein paar Tage in der Angelegenheit Timo. Doch erste Ergebnisse liegen vor. Sie müssen nur noch bestätigt werden. Wir melden uns spätestens Ende der Woche nochmals. A.K.


Knapper ging es wohl nicht. Frustriert und gleichzeitig aufgeregt, lehnte ich mich nach hinten und seufzte laut. In meinem Magen grummelte es gehörig. Endlich passierte etwas, auch wenn ich wieder einmal warten musste.

Ich hoffte nur, dass Timo noch lebte und ich ihn bald fand. Es reichte, dass ich erst zwei Tage nach der Beerdigung von Daves Tod erfahren hatte. Ich war auf einer Safari gewesen und hatte das Handy im Hotel vergessen. Natürlich war ich so schnell wie möglich von meiner lang geplanten Weltreise zurückgekehrt, um meiner Cousine und meinem Patensohn zur Seite zu stehen. Es war jedoch zu spät gewesen. Timo war einen Tag vor meiner Heimreise spurlos verschwunden. Ich hatte mir immer Vorwürfe gemacht, weil ich unerreichbar gewesen war.

So hatte ich die Suche nach der verdammten Nadel im Heuhaufen begonnen. In Gedanken blickte ich auf über zwei Jahre zurück, als ich bei Jan, Timos bestem Freund, begonnen hatte.

3

Michail


Jan und ich hatten uns im Café verabredet und saßen uns gegenüber. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten, um über ein paar Dinge Klarheit zu erlangen. Timos besten Freund kannte ich schon lange von gemeinsamen Unternehmungen oder wenn er einfach bei Timo rumgehangen hatte. Deshalb redete ich nicht lange um den heißen Brei herum.

»Könntest du mir bitte sagen, wann du ihn das letzte Mal gesprochen hast?«

»Vor vier Tagen in der Schule. Es war der letzte Tag, an dem er gesehen wurde.« Jan strich eine dunkelbraune Haarsträhne zurück, die ihm ins kantige Gesicht hing, bevor er mit seiner Erklärung fortfuhr. »Am Abend zuvor habe ich ihn am Bahnhof mit einem dunkelhaarigen Typen in Lederkluft beobachtet. Dessen Kumpels trugen die Kutten eines Motorradclubs.«

Ich fasste mir an den rasierten Nacken. Scheiße. Woher hatte Timo solche Leute gekannt?

Jan trank indessen einen Schluck seines Wassers. Ich merkte, dass ihn etwas plagte. Seine Stirn lag in Falten und seine braunen Augen hatten einen dunkleren Farbton angenommen.

»Was ist los, Jan?«, fragte ich ihn aufmunternd.

»Ich hätte zu ihm gehen sollen. Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich meine Trainingsstunde nicht ausfallen ließ und ihn da weggelotst habe.«

»Es ist nicht dein Fehler. Wir wissen nicht, ob die Männer etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben. Die Polizei hat sie vermutlich gefilzt und nichts gefunden.«

Er seufzte. Meine Worte schienen wohl nicht viel zu nützen.

»Komm schon, du konntest doch nicht hellsehen. Mach dich nicht verrückt«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Doch er lächelte nur gequält. »Hast du vielleicht einen Patch auf ihren Kutten gesehen?«, fragte ich weiter, denn ich musste wissen, welcher Club das gewesen war. Es gab unzählige davon. Einige waren auch kriminell unterwegs.

Jan kniff die Augen zusammen. »Ich sah einen Bären auf der Kutte. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

Erleichtert atmete ich auf. Die Berner Bären? Die waren völlig harmlos. Ein paar Jungs, die sich zusammentaten, um Spaß zu haben. Doch ich würde dem trotzdem nachgehen. Ich musste allerdings noch mehr erfahren. »Hast du Timo vielleicht nach den Typen gefragt?«

»Klar. Ich habe ihn am nächsten Tag in der Schule über die Kerle gelöchert.

»Und? Was hat er dir erzählt?« Konnte er nicht schneller damit rausrücken? Ich wurde langsam ungeduldig. Mit dem Finger klopfte ich auf meinem kräftigen Oberschenkel herum, um die Anspannung loszuwerden.

»Na ja. Timo wurde richtig wütend und befahl mir, die Nase in meine eigenen Angelegenheiten zu stecken. Der Typ sei ein ehemaliger Arbeitskollege seines Vaters.«

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. »Bist du dir ganz sicher? Hat er einen Namen genannt?«, fragte ich skeptisch.

»Nein. Hat er nicht.«

Verdammter Mist. Das würde schwierig werden. »Wie kam dir Timo am Tag seines Verschwindens vor?«

Jan schien zu überlegen. Dabei zog er seine Stupsnase kraus. »Sehr aggressiv und angespannt. Während des Morgens sah ich ihn mehrmals aufs Klo eilen. Ein Kumpel beobachtete, wie Timo sich dort verdächtig umgesehen hatte, ehe er die Kabine betrat. Nach der Schule verschwand Timo gleich, sobald die Glocke klingelte.« Jan trank erneut einen Schluck Wasser. Sein Glas hielt er so fest in der Hand, dass seine Muskeln hervortraten. Ich bangte beinahe um das Gefäß. Doch dann stellte er es ab und sprach weiter.

Sein Ton hörte sich bedeutend wütender an als zuvor. »Ich habe mir nichts dabei gedacht, denn das tat er fast immer. Sein Großvater machte ihm täglich die Hölle heiß, wenn er nicht sofort nach der Schule nach Hause fuhr, und hat ihm mit irgendetwas gedroht, sollte er sich nicht an seine Regeln halten. Deshalb fiel mir auch erst am nächsten Tag auf, dass etwas nicht stimmte. Timo kam nicht zur Schule. Ich habe nachmittags seine Mom angerufen und nach ihm gefragt, weil ich dachte, er sei krank. Sie wirkte überrascht. Lea wusste eindeutig nichts davon. Sie hatte etwas vor sich hingemurmelt und danach einfach aufgelegt, was gar nicht ihr Stil war.«

»Das ist komisch, da stimme ich dir zu. Ich frage mich, ob er ihr etwas vorgelogen hat.«

»Das würde mich nicht wundern. Er war enttäuscht von ihr. Ich verstehe nicht, weshalb seine Mom erlaubte, dass sein Großvater so mit Timo umsprang.«

»Kurt kann sehr überzeugend sein und seine Mom ist im Moment nicht sie selbst«, gab ich zurückhaltend zur Antwort. Das war eine familieninterne Sache.

Jan sah plötzlich verstohlen auf die Uhr. »Brauchst du mich noch? Ich muss los.«

»Nein. Das wäre vorerst alles. Sollte ich noch etwas von dir wissen wollen, melde ich mich wieder. Danke, dass du mir geholfen hast.«

»Kein Problem. Das ist doch selbstverständlich. Er ist mein bester Freund. Nur habe ich heute noch einen Termin.«

»Alles klar. Bis dann.«


Das darauffolgende Telefonat mit einem ehemaligen Kollegen der Polizei lief erfolglos. Wie befürchtet, war ihre Suche im Sand verlaufen.

Die Bären gab es angeblich nicht mehr. Ein Russe hatte ihr Lokal an sich gerissen. Mit dem war, gemäß meinem Kollegen, nicht gut Kirschen zu essen. Die Polizei hatte dort bereits gesucht, aber nichts gefunden. Die Suche über Interpol war sogar eingeleitet worden.

Ein eisiger Schauder lief über meinen Rücken. In was war Timo da reingeschlittert?

Am selben Abend fuhr ich mit meinem Motorrad zu einem bekannten Bikertreff und setzte mich an die Bar. Ich wollte mich etwas umhören.

Ab und zu hing ich hier ab, war aber nie einem Motorrad-Club beigetreten. Für mich war das nichts. Ich wollte meine Freiheit und bei der Arbeit als Polizist hatte ich früher meist Dienst, wenn die Mitglieder der Clubs sich trafen.

Es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Typen hier antanzten. Eine Gruppe kam auf mich zu und begrüßte mich mit Händedruck und Schulterklopfen, wie es unter Männern oft üblich war.

»Hey Mike, lange nicht gesehen. Wie geht’s dir?« Sie sprachen mich mit meinem Spitznamen an. Den richtigen kannte niemand in der Szene. Das kam mir jetzt gerade recht.

»Bestens. Ich war ein Jahr im Ausland.«

»Das hört sich toll an.«

»Ja, war echt cool. Ich bin aber nicht hier, um rumzuhängen, sondern brauche eine Auskunft. Kennt ihr die Typen der Berner Bären?«

Mehrere lachten.

»Man sieht, dass du nicht mehr auf dem Laufenden bist. Die Bären gehören jetzt einem Russen. Was willst du von ihnen?«

Die Wahrheit konnte ich niemandem erzählen. Wenn ich Pech hatte, ging jemand direkt zu ihrem neuen Boss. Also flunkerte ich: »Schade. Ich wollte Peter Weller besuchen, dessen Adresse ich nicht mehr kenne. Er war dort früher Mitglied.«

Ich hatte irgendeinen Namen genannt, den es hier hoffentlich nicht gab.

»Von dem habe ich noch nie gehört.« Steve wandte sich an einen Kumpel. »Warst du früher nicht mal bei den Bären, Markus? Sagt dir der Name Weller was?«

»Nö, nie gehört, aber ich bin dort schon eine Weile weg.«

»Mist«, fluchte ich. »Dann suche ich anderweitig. Danke trotzdem, Jungs.«

Ich trank noch mein Bier aus, erzählte von der Safari, der ich mich im Juli angeschlossen hatte, und machte mich danach auf den Weg nach draußen, wo mich ein jüngerer Unbekannter anquatschte.

»Hey, ich hörte, du suchst einen der ehemaligen Bären. Einige des alten Clubs haben zum Russen gewechselt, als er das Clublokal übernommen hat.« Er lächelte hinterhältig und hielt mir die Hand hin. »Vielleicht könnte ich dir einen Namen nennen. Du weißt schon, wie das läuft, oder?«

Im ersten Moment erstaunt, blinzelte ich ihn an. Dann schüttelte ich über sein Angebot den Kopf. »Dein Ernst?«, motzte ich und zog widerwillig einen Zwanziger hervor.

»Zwanzig Franken?«, spottete er. »Ein Fünfziger muss es schon sein.«

Verdammt, hoffentlich war diese Info das wert. Ich warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und drückte ihm das geforderte Geld in die kräftige Hand.

Der Mann lachte. »Schon besser. Geh zum Bärengehege. Vielleicht ist dein Bekannter auch dort. Jedenfalls hängt Silvio oft da ab. Er ist ein Mitglied des Russen und kann dir sicher weiterhelfen.«

»Eine Beschreibung wäre sinnvoll«, sagte ich und warf dem Jüngling mit den Aknenarben einen genervten Blick zu.

»Er sieht kräftig aus und ist kahlrasiert, wie alle Männer des neuen Clubs«, gab er preis. »Das ist aber meine letzte Info«, erklärte er barsch, setzte sich auf seine Maschine und brauste davon. Ich kam nicht einmal mehr dazu, ihm zu danken.

Was war das denn für eine krasse Bande? dachte ich und runzelte die Stirn. Sie waren alle kahlrasiert? Das hörte sich nach radikalen Typen an. Mir blieb aber keine andere Wahl, als mich dort umzusehen. In meinem Kopf formte sich ein Plan, der heftig schiefgehen konnte, aber für meinen Patensohn würde ich so gut wie alles tun.

Also stieg ich auf mein Motorrad und fuhr direkt zum vorgeschlagenen Ort.


Der heutige Bärenpark war ein einzelnes riesiges Gehege, lag an der Aare und war das Ziel vieler Touristen.


Ich musste über eine Stunde warten, bis dort ein Mann, der auf die Beschreibung passte, auftauchte. Meine Harley hatte ich etwas abseits geparkt, damit sie mein Nummernschild nicht sehen konnten.

Er lehnte in Begleitung einer Frau, die sehr ausgeflippt aussah, an dem Geländer und trank ein Bier. Ihr hingen blaue Haarsträhnen über den Rücken. Die Seiten dagegen waren kurz rasiert. Mehrere Piercings zierten ihre Nase, Ohren und Augenbrauen.

Ich ging aufs Ganze. Provokativ stellte ich mich zu den beiden. Meine kräftige großgewachsene Statur würde bestimmt Eindruck machen. Zurückhaltung war jetzt fehl am Platz. Nach Timo zu fragen, war natürlich keine Option. Sie würden mir nichts verraten. Ich musste anders vorgehen.

»Hey, was willst du von uns?«, schnauzte mich die Kleine sofort an. Ihr Dialekt war gefärbt. Sie stammte vermutlich aus dem Ostblock. Ich tippte auf meine zweite Heimat, denn einige meiner wenigen Verwandten, die Deutsch sprachen, hörten sich auch so hart an.

Nicht gerade subtil musterte ich die junge Frau neben mir und raunte ihr in fließendem Russisch zu: »Stell dich nicht so an. Ich bin auf der Suche nach Silvio.«

Ihr Begleiter, der mich mit zu Schlitzen verengten Augen ansah, meckerte: »Sprich gefälligst deutsch, wenn du was von mir willst.«

»Dann bist also du der Gesuchte«, gab ich etwas spöttisch zurück.

»Ja, sonst hätte ich ja wohl nicht reagiert«, blaffte er mich an. Wir würden vermutlich keine Freunde werden, dachte ich amüsiert über seinen Ausbruch.

»Also Silvio, du kannst mich deinem Boss vorstellen«, forderte ich ihn heraus. Mein Herz klopfte wie wild, aber es war wichtig, gleich den richtigen Ton anzuschlagen, wenn ich etwas erreichen wollte.

»Der Chef spricht nicht mit jedem«, blaffte er mich an. Seine engstehenden Augen musterten mich misstrauisch.

»Ich bin nicht jeder und will mich der Gang anschließen«, sagte ich bestimmt, jedoch etwas leiser, damit uns die anderen Leute, die sich in der Nähe des Parks aufhielten, nicht verstanden.

Der Typ verzog das runde Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. »Nur weil du eine Lederkluft trägst, hast du noch lange nicht das Zeug dazu, ein Club-Mitglied der Schwarzen Bären zu werden.«

»Ich denke schon, dass ich euch behilflich sein kann. Wie viele Männer von euch sprechen fließend Deutsch und Russisch, wissen zu verhandeln und kennen die Stadt in- und auswendig?«

Silvio zögerte erst, kam mir dann aber entgegen. »Okay. Ich werde mit dem Boss sprechen. Komm in zwei Tagen zur Matte und geh dort zur Aare hinunter. Wir werden uns schon finden.«

Die Kleine zischte mir in ihrer Muttersprache noch so einige Worte wie arroganter Arsch und Macho zu, was ich bestimmt nicht war. Ich behandelte die Frauen stets höflich und rücksichtsvoll, wenn sie es verdienten. Doch sie hatte es herausgefordert und in den Gangs ging es rau zu. Also gab ich ihr die Antwort, die sie verdiente.

»Kleine. Du bist zwar recht hübsch, aber eben eine Frau.«

Wenn Blicke töten könnten, wäre ich spätestens jetzt mausetot.


Zwei Tage später, es war einundzwanzig Uhr und es dunkelte bereits, traf ich mich wieder mit diesem Silvio. Er brachte einen anderen Typen mit. Ich wartete in der Nähe des genannten Platzes und lehnte mit den Schultern und einem Fuß an der Mauer, die Hände vor mir verschränkt. Meine Miene war undurchsichtig. Sie sollten mein Unwohlsein nicht bemerken.

War dies etwa der Boss? Ich bezweifelte es stark. Der würde sicher nicht einfach hier auftauchen.

Der mitgebrachte Fremde mit den langen grauen Haaren, was mich nach der Aussage des Bikertypen verwunderte, musterte meine Aufmachung nicht gerade subtil. Sie bestand heute aus Cargos, Lederjacke und Boots. Meine Harley hatte ich zu Hause gelassen.

»Du bist also der Großkotz, der sich für den Besten hält. Wie ist dein Name?«

»Mike«, gab ich selbstsicherer zurück, als ich mich fühlte.

»Mike?«, fragte er mit erhobener Augenbraue. »Das ist doch kein russischer Name.«

»Mike Semjonowitsch. Ich bin Halbrusse, aber meine Familie lebt in Russland.« Meinen Familiennamen Belowski gab ich nicht preis. So brauchte ich Mom nicht zu gefährden.

»Kannst du dich ausweisen?«, fragte er spöttisch. Er schien mir kein Wort zu glauben.

Ich reichte ihm das gefälschte Dokument, das ich noch von einem früheren Einsatz hatte. Glücklicherweise hatte ich noch daran gedacht, es einzupacken.

Semjon hatte mein Vater geheißen, also log ich nicht völlig. Ich nannte mich in der Schweiz einfachhalber nur Belowski, statt wie in Russland Michail Semjonowitsch Belowski. Belowski stand auch an der Haustür meiner Mutter. Also konnten sie mich nur schwerlich ausfindig machen.

»Na dann Mike Semjonowitsch. Unser Boss ist neugierig auf dich.«

Ich atmete auf, fragte mich aber, wie sie eine Gegenüberstellung organisieren würden.

Plötzlich spürte ich einen Stich in der Halsbeuge und sackte in die Knie. Mit verschwommenem Blick bemerkte ich ein Auto, das neben uns hielt. Verdammte Scheiße! Ich wurde gepackt und in den Kofferraum des SUVs geworfen. Dann umgab mich nur noch Schwärze.


Auf einer weichen Unterlage liegend, die Augen verbunden und die Hände oberhalb meines Kopfes gefesselt, erwachte ich mit rasenden Kopfschmerzen.

»Er ist wach«, hörte ich jemanden flüstern.

Ich hörte, wie etwas über den Boden gezogen wurde, und sich jemand neben mich setzte.

»Was willst du von mir, Semjonowitsch?«, fragte mich ein Mann mit dunkler Stimme auf Russisch.

»Ich will bei euch mitmischen. Ihr gehört angeblich zu den Besten.«

Er lachte laut. »Du bist unverschämt, doch du kommst gerade richtig. Ich denke, dass du mir nützlich sein könntest. Natürlich wirst du von Silvio oder Natascha begleitet, wenn du außer Haus gehst. Verarschst du uns, bist du ein toter Mann.«

»Klar, das verstehe ich. Ich werde dich nicht enttäuschen. Wie kann ich helfen?«

»Nicht so hastig. Wo wohnst du zurzeit? Natascha wird entweder zu dir ziehen oder du wirst hier unterkommen. Wir wollen dich jederzeit unter Kontrolle haben.«

Die stellten sich ja echt an, dachte ich genervt, antwortete aber schnell, um ihn nicht zu verärgern. »Ich habe gerade nichts Eigenes. Einen Job auch nicht. Meine Möbel sind noch eingestellt, weil ich auf Weltreise war. Für mich also kein Problem, bei euch zu wohnen.«

Mein Magen schien Purzelbäume zu schlagen, so übel war mir. Meinen früheren Polizeijob verschwieg ich aus gegebenen Gründen. Da ich die letzten Jahre im Labor gearbeitet hatte, schien es ohnehin eher unwahrscheinlich, dass mich jemand von ihnen kannte. Ein Restrisiko blieb. Damit musste ich leben. Ewig wollte ich schließlich nicht in der Gang bleiben. Ich hoffte schnell Infos zu finden. Die Leute redeten gern.

»Silvio wird dir deinen Schlafplatz zeigen und dich in das Wichtigste einweisen. Wir sehen uns demnächst, wenn du dich nicht völlig dämlich anstellst.«

Dann hörte ich, wie er sich erhob und den Raum verließ. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wurde ich von der Augenbinde und den Fesseln befreit.

»Gib mir dein Handy«, schnauzte mich Silvio an und zertrat es mit seinem Stiefel, als ich ihm es mit einem Grummeln gegeben hatte. Ich gab mich entrüstet, obwohl ich mit sowas gerechnet hatte und mir ein altes Prepaidhandy organisiert hatte.

»Spinnst du? Was soll das?«

»Halt die Schnauze. Hier bist du nur ein kleines Licht. Du bist mir direkt unterstellt und brauchst kein Gerät, mit dem man dich orten kann. Ein Privatleben kannst du dir erst einmal abschminken.« Er lachte hämisch. Drei weitere Männer, teils in schwarzen Lederhosen und schwarzen Kutten, warfen mir spöttische Blicke zu. Sie saßen an einer Bar aus Holz und tranken Bier. Ich war eine unbekannte Konkurrenz, die ihnen den Weg nach oben streitig machte.

»Setz dich auf den Stuhl im Bad. Wir werden dir deine Haare abrasieren. Du hast dich für uns entschieden und wirst dich anpassen. Deine Haare sind zu auffällig. Ein solch helles blond habe ich erst einmal gesehen.«

Helles Blond? War das eine Anspielung auf Timo?

Ich musste mich zusammenreißen, um meine Aufregung nicht preiszugeben.

»Wer …«

»Ein Verwandter von mir«, blockte er mich ab. »Beeile dich jetzt.«

Er log eindeutig. Ich hatte es an seinem Zusammenzucken gesehen, als Natascha ihm einen grimmigen Blick zugeworfen hatte. Ich war ein guter Beobachter. In mir begann es zu brodeln, aber ich musste die Klappe halten, was mich schier umbrachte.

Kurz danach war mein Schädel blitzblank. Ich nahm trotz meiner Wut alles hin. Haare wuchsen schließlich wieder nach. Zu Beginn war es nur ein komisches Gefühl, wenn der Wind über meine kahle Kopfhaut blies. Nach einiger Zeit merkte ich das bestimmt nicht mehr.


Schnell kapierte ich, was abging. Ein halbes Jahr zuvor war die Gang noch ein harmloser Motorradclub gewesen. Dann hatte Natascha, die Freundin von Silvio, ihren Bruder Nikolaj dazu geholt. Der stellte sich selbst als Boss auf und die illegalen Machenschaften begannen.

Ich passte mich ihnen rasch an, um mich hinaufzuarbeiten. Als normales Mitglied würde ich niemals an Infos kommen.

Ich arbeitete lange Zeit als Rausschmeißer in ihrem Untergrundclub, in dem Wetten abgeschlossen und illegal gekämpft wurde. Für den Job war ich prädestiniert. Das Tattoo mit kyrillischen Buchstaben an der Halsseite, das ich mir in der Jugend hatte stechen lassen, passte ausgezeichnet zu meinem neuen Leben.

Ein halbes Jahr danach bekam ich wichtigere Aufgaben. Ich organisierte die Kämpfe und stieg selbst ab und zu in den Käfig, um den Frust über meinen bisherigen Misserfolg loszuwerden.

Ich hatte mich geirrt, was die Schnelligkeit meiner Infos anging, denn ich war noch genauso weit wie am Anfang. Niemand schien sich über einen entführten Jungen zu unterhalten. Meine Zweifel wuchsen. Vielleicht folgte ich der falschen Spur. Vielleicht hatte ich mich in etwas verrannt, was mich nie an mein Ziel bringen würde.

Sechs Monate später übernahm ich die Leitung des Sixty-Eights, das im Erdgeschoss und im ersten Stockwerk zu einem modernen und legalen Tanzschuppen umgebaut worden war, um Geld zu waschen. Im Keller des Gebäudes, der von einem separaten Eingang erreicht werden konnte, wurden jedoch weiterhin die kriminellen Tätigkeiten der Gang geregelt. Das Sixty lief unter dem Namen einer Briefkastenfirma. Ich war vom seriösen Polizisten zum Kriminellen mutiert. Alles, um die Wahrheit über Timos Verschwinden rauszukriegen.

Ein Jahr war so vorübergegangen, ohne dass ich zu Informationen kam. Es war zum Verzweifeln und ich fragte mich mehrmals, was ich hier eigentlich tat. Aussteigen war zu dem Zeitpunkt keine Option. Ich wäre ein toter Mann gewesen.

Meine Mutter wusste nichts von meinem Job. Sie dachte, dass ich für die Polizei

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Britta Keller
Bildmaterialien: shutterstock.com
Cover: Kristina Licht
Lektorat: Kristina Licht
Korrektorat: Kristina Licht
Satz: Britta Keller
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0399-9

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