Cover

Kapitel 1: Fest der Sinne

Ein Besuch in den Katakomben der Hauptstadt Königsfeuer war immer ein Fest der Sinne. Sie bestanden aus verwinkelten Gängen, die sich durch das schwarze Gestein fraßen und symbolträchtige Namen trugen, die dies noch schmeichelhaft unterstrichen. Leichenhalle, Stadt der Toten und die letzte Station vor dem ewigen Feuer, waren dabei nur ein Bruchteil der Beschreibungen, die diesen Ort unter dem westlichsten Viertel beschrieben. Ein Ort, den die Lebenden nur mit einem Grund aufsuchten und das war keiner von freiwilliger oder fröhlicher Natur. Dabei wurde die einzigartige Schönheit und das besondere Erlebnis zwischen dem Tod völlig missverstanden und missachtet.
Die Reise begann durch ein schmales Tor, dass den Friedhof von den anderen Stadtbereichen trennte. Wie ein ungewollter Verwandter hing dieser Bereich an den militärischen Bezirken. Er gehörte insoweit zur Stadt, da er von den hohen Außenmauern mit eingeschlossen war, allerdings hörte da die Gemeinsamkeit auch auf. Anstatt schmale Häuser, verwinkelte Gassen und gepflasterte Straßen zu sehen, trat man schon kurz nach dem Tor auf ein weites Feld, in dessen Mitte das einzige Gebäude thronte, das selbst bei dem höchsten Sonnenstand von den langen Schatten verschluckt wurde. Es passte sich mit seinem dunklen Stein nahtlos in die Umgebung ein und war der Mittelpunkt des symmetrischen Musters das aus Gedenktafeln und Grabsteine bestand. Wie Sonnenstrahlen zogen sich die vier Hauptwege von dem Mittelpunkt des Friedhofs zu den Außenmauern. Verbunden waren sie durch ringförmige Pfade, die in reiner Perfektion denselben Abstand zueinander hatten und ermöglichten jeden Winkel zu erkunden, ohne einmal gehindert zu werden. So konnte man die Ruhestätten besuchen, auch wenn die Erde darunter weitestgehend unberührt war. Die Toten wurden, ganz nach der herrschenden Religion und ihrem Glauben des ewigen Feuers, verbrannt und die Asche in kleinen Urnen gesammelt. Namen, fein säuberlich in Stein graviert, waren hauptsächlich der Ort der Trauer und nicht die Überreste, die die Flammen von Knochen und Fleisch zurückließen.
Die Seele war laut den alten Glaubenstexten sowieso ungebunden und nach dem absoluten Tod noch allgegenwärtig, um über die Zurückgeblieben zu wachen und sie vor Unglück zu beschützen. Spätestens wenn der magische Kern, den jeder Mensch in sich trug, für die Verteidigungs-Banne verbrannt wurde, erfüllte er seinen Schutz, und zwar über Stadt und Bewohner.
Die Freiheit, die einheitliche Kunst der Wege und der einsame Wächter, waren an sich schon ein kleines Meisterwerk, jedoch lag die wahre Schönheit hinter einer unscheinbaren Tür. Das Gebetshaus, der Mittelpunkt des Totenviertels, bestand aus ebenso geraden Formen und Strukturen, auch in seinem Inneren. Das Einzige, das davon abwich war, war die große Feuerschale, die im Hauptsaal stand und geschwungene, verzweigte Verzierungen trug. Die letzte Funktion, die sie heute jedoch nur noch hatte, war von symbolischer Natur, ebenso wie das falsche, ewige Feuer, das in ihr flackerte.
Früher wurden tatsächlich dort die menschlichen Hüllen der Verstorbenen verbrannt und war der Höhepunkt jeder Trauerfeier in diesen Hallen gewesen, jedoch hatte sich die Traditionen und der Brauch schon vor vielen Jahren geändert. Das Niederlegen der Gedenktafeln, das Verschließen der Urnenkästen und das Versiegeln der letzten Ruhestätte besaßen mehr Bedeutung für die Trauernde und kostete wesentlich weniger Zeit, als zu hoffen das die Flammen ihr Opfer schnell zerfraßen. Es gab keine Stühle mehr in der Nähe der Feuerschale, nur schwarze Türen, die sich kaum von den Wänden abhoben und in kleine Nebenräume führten. Der eigentliche Weg von den Toten und Lebenden führte über eine Rampe in die schwarze Tiefe des Steins. Es war dabei egal welche Art von Besucher die letzte Tür durchschritt, dieser war immer ein Eindringling in ein Reich dessen Gänge die Geschichte prächtiger erzählten, als jeder Barde es vermag. Bildlich gesehen war das Betreten der Katakomben wie eine Klinge, die weiches Fleisch Durchschnitt. Generell war dieser Ort zu beschreiben wie kranker und menschlicher Körper, der seine letzten Atemzüge tat. Während die Gänge die Blutbahnen waren, kam durch das Öffnen der Tür kleine Windzüge hinein, die sich schnell verflüchtigten. Die Räume, in denen die Toten für die letzte Reise ins Feuer präpariert wurden, brachen aus wie Beulen der Pest. Atmosphärisch passend dazu waren die Beleuchtungen staubige Halter, die sporadisch und unregelmäßig die rauen Wände zierten. Auf ihnen waren weiße Kerzen angebracht, die jeglichen Zustand ihrer Lebensdauer präsentierten und ihr Leid selbst auf den Boden zu Schau stellten. Herabtropfendes, altes Wachs klebte wie Eiter in den verwebten Fäden des abgetretenen Teppich, der ebenso alt war, wie die ersten Gräber im neueren Bereich der Katakomben. Schritte dämpfte er schon lange nicht mehr, was jedoch das besondere Gefühl unterstrich niemals allein zu sein. Außerdem war es nützlich, denn so wurde man vorgewarnt, wenn jemand die Gänge durchschritt und die Ruhe störte. Lebende, wie auch Tote, wobei ersteres meistens der Fall war. Selten war allerdings selbst das, vor allen zu der späten Tageszeit. Die wurde angezeigt durch schwere Uhren aus verformtem Metall. In jeder Kammer konnte man eine finden, zum Teil auch in den Nischen und auf den Särgen der Toten, die noch auf ihre letzte Reise warteten. Stehend oder hängend erfüllte das synchrone Ticken die Stille, durchbrach die Ruhe und gaben den Takt vor. Entgegen jeglichen Behauptungen und Erwartungen war dieser Ort erfüllt von Musik, durch einzigartige Lieder, die von keinem Instrument erzeugt wurden und auch die Sänger waren für manch einer ungewöhnlich, wenn nicht gar furchterregend. Erwachte Leichen lagen stöhnend in ihren versiegelten Gefängnissen aus Holz, kratzten sich die Haut von den Knochen und rüttelten an den Deckeln. Besonders laut wurden sie, wenn sie das Leben in ihrer Nähe spürten und danach gierten es sich einzuverleiben. Nur empathische Menschen konnten eine Art Mitleid empfinden und einen Vergleich zu den Lebenden verstehen.
„Es ist, als würde man hungrig vor einem besonders leckeren Kuchen sitzen, aber man darf nicht nach ihm greifen.“ bemerkte Ray und nahm noch etwas Salbe. Nun, nur besonders empfängliche Menschen konnten diese bildliche Beschreibung nachvollziehen die er urplötzlich als ausgesprochene Gedanken in den Raum war und seine lebende Besucherin war keiner von ihnen. Dafür lag auf dem Gesicht des Toten vor ihm ein seliges Lächeln, so als hätte dieser die Worte verstanden. Die Leiche konnte es in ihrem Zustand natürlich nicht, genauso wenig wie sie erwachen und aufstehen würde. Die Sorge und das ängstliche Verhalten, in Form von hektisch umherschweifender Blicke, waren daher nicht von Nöten. Außerdem störte es ihn, denn er wurde bis jetzt noch nie so skeptisch bei der Arbeit beobachtet. Es war ihm unangenehm, dass jemand Fremdes ihm auf die Finger sah, während er die Salbe in die tote Haut des nackten, leblosen Körpers auf dem Tisch vor ihm einmassierte.
„Das ist makaber.“ stieß seine Besucherin aus, die fehl am Platz wirkte. Alles um sie herum war farblos, denn Schwarz war nicht nur die Farbe der Trauer, sondern besaß seine eigene Eleganz. Das Mädchen, das von ihrem Vorgesetzten hier bei ihm zurück gelassen wurden war, war ein einziges Chaos aus allen möglichen Farben, angefangen bei ihrem rötlichen Haar. Ray mochte kein Rot. Oder ihre Gesellschaft. Vor allen, weil er sie nicht kannte und sie schon beim Eintreten in den Raum die Nase gekräuselt hatte. Der Geruch von Kräutern lag schwer in der Luft, so dass man ihn fast schmecken konnte. Es war auch logisch, denn die Salbe, die er zum Einbalsamieren nutzte, bestand hauptsächlich aus Gewürzen und Ölen, die man vermutlich auch zum Vorbereiten eines Sonntagsbratens nutzte. Nur das hier das Ziel war, das Fleisch und Knochen möglichst schnell verbrannten und nicht durchgebraten wurden.
„Nichts ist hier unten makaber.“ erwiderte er bemüht ruhig. Obwohl er seine Arbeit in den Katakomben schon seit einigen Jahren verrichtete, gehörte diese Tätigkeit nicht zu seinen Lieblingsaufgaben. Jetzt noch weniger. Er hatte die ganze Zeit nur immer mal wieder flüchtig aufgesehen, denn er traute Menschen, die noch atmeten, weniger, als den Toten, die ihre Lieder sangen. Letzteres konnte er um einiges besser einschätzen und solange sie in ihren versiegelten Särgen lagen, ging auch keine Gefahr von ihnen aus. Wieder kräuselte seine Besucherin die Nase, als er das nächste Mal aufsah. Seine Finger hörten dabei nicht auf den rechten Arm zu behandeln. Er war dürr und die Haut fühlte sich auch nach mehrmaligen salben an, als würde sie jeden Moment auseinanderfallen. Wie trockene, herabgefallene Blätter der Bäume im Herbst. Es war wieder ein interessanter bildlicher Vergleich, den er sich merken musste. Seinen Meister damit beeindrucken würde er nicht, denn dieser hatte viele Jahrzehnte Zeit gehabt hier unten seine sprachlichen und geistlichen Fähigkeiten zu schulen. Mit genügend Fantasie konnte man interessante Gespräche mit den Toten führen, die in ihrem Gestöhne teilweise auch ganze Wörter herausbrachten.
Im Raum nebenan ruhte zum Beispiel eine ältere Dame, die ständig nach ihrer Katze Minnibert rief. Das lockte Tiffa an, die Katze von Meister Arbos, und entlockte anderen ein erschrockenes Einatmen. So furchterregend war Tiffa nicht, auch wenn ihr Fell schon längst ausgefranst und ihr Gesicht so plattgedrückt, das es ein Wunder war, das sie atmen konnte. Oder war sie schon längst tot und musste das nicht mehr? Das hatte Ray bis heute noch nicht rausgefunden. „Du kannst aufhören ständig nach deiner Waffe zu greifen. Die Wahrscheinlichkeit das sich einer der Toten befreit ist geringer, als das plötzlich jemand hier unten mit Kuchen auftaucht und diesen großzügig verteilt.“ Niemand hatte ihn bis jetzt ein Stück süßes Gebäck gebracht und er war schon fast zehn Jahre in der Lehre.

Seine Besucherin hatte entweder kein Humor oder sie wollte lieber an einen anderen unterirdischen Ort Lachen, denn ihre Hand verließ nicht eine Sekunde den Griff ihres Kurzschwertes, das sie an ihrer Hüfte trug. Sie zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen und vollendete damit das Werk des typischen Rekruten der Stadtwache, auch wenn das Wappen dieser unter ihrem geflochtenen Zopf verschwand und ihre Haltung die Disziplin mit der Zeit verloren hatte.
„Ich kenne noch nicht einmal Euren Namen oder weiß was Sie von mir wollen.“ zischte sie und zuckte erneut zusammen, als nach Minnibert gerufen wurde. Er hingegen lehnte sich leicht zur Seite, um durch die offene Tür in den Nebenraum zu schauen. Tiffa hockte auf dem Sarg der älteren Dame und putzte sich seelenruhig ihre Pfote, während ihre gelben Augen seinen Blick erwiderten. Bestimmt plante sie später seine Seele aus seinem kleinen Zeh zu zerren, gut, dass er nicht in den Katakomben schlief wie sein Meister.
Ihr habt auch nicht danach gefragt und mir einfach geantwortet.“ Er betonte aus Prinzip die Höflichkeitsform mit ironischem Unterton, denn anscheinend war sie jemand der viel Wert darauflegte. Sie würde vermutlich auch einer der Wachen sein, die darauf bestanden, ständig mit vollständigem Rang und Namen angesprochen zu werden. Diesmal verkniff er sich in Gedanken diese Situation durchzugehen und auszumalen. Darauf schwieg sie einen Moment und machte keine Anstalt nach seinen Namen zu fragen oder nach dem Grund, warum er plötzlich etwas gesagt hatte. Beides hätte er ihr wahrscheinlich auch nicht verraten. Die einzigen Namen, die hier unten wichtig waren, waren die der Toten und das auch nur, damit keine Verwechslungen oder gar ein Missverständnis passierten. Er wusste noch nicht einmal ob sein Meister seinen Namen wusste, wurde er häufiger mit 'Vierter Lehrling', 'Du' oder mit einem einfachen Fingerzeig angesprochen. Bis jetzt hatte es ihn nicht gestört oder war zu einem Problem geworden.
„Wie lange dauern in der Regel solche Besprechungen um Trauerfeiern?“ Ray merkte das sie sich dazu durchrang mit ihm zu sprechen. Wenn es nach ihm ginge, musste sie das nicht, denn er hatte genug Gesprächspartner, außerdem lenkte es ihn von seiner Arbeit ab das er Antworten auf sein Gerede bekam. Mittlerweile war er bei der Hand angekommen und verteilte die Salbe auch zwischen den Fingern. Der Mann vor ihm musste ein Schreiber gewesen sein, denn seine Haut wies keine Narben oder Verletzungen auf, die auf einen körperlichen Beruf hinwiesen. Handwerker hatten die meisten Spuren an den Händen und auch im hohen Alter spürte man bei der Präparierung der Körper die Muskeln. Wenn einer dieser erwachte, vor allen nach einem urplötzlichen Tod in der Mitte des Lebens, dann war es schon schwieriger sich zu befreien. Tiffa hätte es vor Jahren fast das Leben gekostet, wobei Ray nach dem Vorfall mehr der Meinung war, dass sie nicht mehr lebte, so lange wie sie im Griff des Erwachten gehangen hatte.
Jetzt war er es, der eine Weile schwieg, einfach um seine Besucherin zu ärgern, aber auch um zusammenzukratzen, was er nebenbei vernommen hatte. Er war beim Ausfüllen der letzten Dokumente gewesen und hatte sich eher darauf konzentriert alles richtig zu übertragen, als auf das Gespräch zwischen den Herren zu achten. Ihr Vorgesetzter hatte der Rekrutin angewiesen hier auf ihn zu warten, während er mit dem Meister der Katakomben die Vorbereitungen besprach. Es war anscheinend jemand aus einem höheren Rank in der Stadtwache verstorben, da sie jedoch keine große Trauer zeigte schien der Verstorbene keine Bedeutung für sie zu haben. Vermutlich war es ein ehemaliger Offizier, der seine Lebensjahre im Ruhestand beendet hatte. Soldaten und Magier wurden allerdings immer vorgezogen in den Vorbereitungen, um ihre Seelen und den magischen Kern so schnell wie möglich dem ewigen Feuer zu übergeben. Die Wahrheit war jedoch von praktischer Natur und eine Vorsichtsmaßnahme: Jemand der zu seinen Lebzeiten gelernt hatte eine Waffe zu nutzen, verlor diese Fähigkeit nicht im Tode. Auch wenn das Gehirn seine Arbeit schon längst eingestellt hatte, erinnerte sich der Körper an Bewegungsabläufe und das Gefühl einer Klinge in der Hand.
Erst in drei Jahre würde Ray selber von seinem Meister gelehrt bekommen, wie man magische Kerne vollständig aus dem Körper entfernte, um vorzubeugen, dass die Leichen wieder erwachten. Es gab den Tod und den endgültigen Tod. Der eine konnte auf viele Arten passieren, der andere nur auf eine. Jeder Mensch besaß so ein Kern, der wie ein zweites Herz in der Brust saß und ebenso Bahnen hatte, durch der die Energie floss. Mal war dieser magische Punkt voll entwickelt, so dass jemand bewusst darauf zugreifen konnte, mal nahm er nur Einfluss auf verschiedene Sinnesorgane. Im meisten Fall jedoch war dieser nicht ausgeprägt und zu schwach, um einen Nutzen daraus zu ziehen. Dann war der magische Kern nur noch wie ein zusätzliches Organ ohne Funktion, das jedoch ebenso anfällig war für Krankheiten wie der Rest. Vor allen im hohen Alter.
„Es kommt drauf an, für wie wichtig der Verstorbene gehalten wird.“ Er ließ die Hand des Toten wieder sinken und schätzte mit einem kurzen Blick ab, ob er soweit alles vorbereitete hatte. Einmal hatte er einen Fuß vergessen zu salben und dieser war beim ersten Verbrennen übriggeblieben. Es hatte ihn für eine Weile einen seltsamen Spitznamen hier unten eingebracht und noch heute machten sich die anderen Lehrlinge ihren Spaß daraus. Wortwitze waren, nach besonders ausführlichen, bildlichen Vergleichen, sehr beliebt bei den teils eintönigen Arbeiten. „Ich kann Sie aber beruhigen, es wird nicht mehr lange dauern.“ Er sah kurz zur Uhr, die über der Tür zum Nebenraum hing. „Vielleicht eine Viertelstunde, wenn nicht sogar kürzer.“ Er wollte auch, dass sie ging und ihn nicht beobachtete, vor allem ihm nicht antwortete. Nach den salben wurde der Körper nämlich in Leinen eingewickelt werden, die das Verbrennen fördern sollten.
Seine Besucherin nickte, denn so wie sie seinen Namen nicht kannte, so hatte er auch nicht nach ihren gefragt. Vermutlich würde er sie nicht mehr wieder sehen und wenn, dann vor ihm auf den Tisch als Leiche. Allerdings hingen selbst daran viele Faktoren ab, unter anderem die Voraussetzung das er länger lebte als sie. Bei ihm standen die Chancen allerdings wesentlich höher alt zu werden als bei Mitgliedern des militärischen Bereichs. Wenn er starb, dann nur durch Krankheit, Dummheit oder unglücklichen Zufällen und das auch nur mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit, als bei jemand der sich tagtäglich mit Menschen und Klingen beschäftigte. Also Menschen, die zu Beginn lebten und so etwas wie Gehirnfunktionen hatten, also auch etwas dachten und planten. Zwar lobte sich die Stadtführung damit, dass die Kriminalität in Königsfeuer geringer war als in anderen Städten, aber die die hier herrschte war dafür umso gefährlicher und ging in der Gesellschaft weit nach oben,  wenn nicht sogar bis zur Spitze. Die Stadtwache hatte dazu noch Macht und viele Befugnisse, die mit Zähneknirschen hingenommen werden mussten. So wie er hinnehmen musste das Tiffa ihren eigenen Kopf hatte und ihre Andersartigkeit nur durch ihre Sturheit übertroffen wurde. Leise hatte sie ihren neuen Lieblingsort bei der alten Dame verlassen und strich nun um seine Beine, dabei rammte sie ihren Kopf mehr als einmal gegen sein Schienbein. Sie war ihm im Weg, miaute unablässig und Ray musste aufpassen nicht auf ihren Schwanz zu treten, denn dann würde sie ihn schon wieder die Krallen in die Gliedmaßen rammen. Reizendes Ding. Die Rekrutin der Stadtwache hatte die Katze erst bemerkt, als sie zum ersten Mal ihre Anwesenheit kundgetan hatte mit einem Maunzen.
„Mein Meister wäre nicht erfreut, wenn Sie seiner Katze die Kehle durchschneiden.“ Er deutete bei diesen Worten auf die Hand der Besucherin, die ihre Klinge reflexartig ein Stück aus ihrer Hülle gezogen hatte. Tiffa war unbeeindruckt davon und um strich ihn weiter, bis er die Geduld verlor.
„Sie hat mich erschreckt.“ War die Verteidigung und das Schwert glitt wieder vollständig zurück, die Finger blieben, wo sie waren. „Außerdem hätte ich ihr nicht die Kehle durchgeschnitten.“
„Selbst wenn Ihr sie auch nur durchstochen hättet, wäre er nicht erfreut darüber.“ kommentierte er und wusch sich die Hände in der Wasserschale, die neben ihm auf einen Hocker stand. Das Abtrocknen machte er nur fahrlässig, weil die Katze dazu über gegangen war ihr Klagelied einzustimmen. Begleitet wurde sie dabei von den Rufen nach Minnibert und dem Gestöhne eines anderen Toten.
„Das hatte ich nicht vor!“ Zum ersten Mal ließ die Besucherin das Schwert los und verschränkte die Arme vor der Brust. Er deutete hingegen nur erklärend auf ihre Waffe, bevor er sich Tiffa widmete. Er schnappte sich die dürre Katze und trug sie zu den beiden Stühlen im Raum, die zuvor maßlos ignoriert wurden waren. Auf einen ließ er sich fallen, platzierte das haarige Wesen auf seinen Beinen und begann sie zum Schrecken der Rekrutin zu streicheln.
„Was ist mit der Leiche?“ fragte sie und ihre Stimme stieg etwas in die Höhe. Sie klang, als würde er gerade versuchen die Katze zu braten und nicht sie davon abzuhalten ihn für die nächsten Stunden zu belästigen, weil er herzlos war und ihr keine Beachtung schenkte.
„Die bleibt vorläufig da liegen. In diesen Zustand läuft sie nicht mehr weg.“ Außerdem ignorierte niemand Tiffa, selbst der Meister nicht. Seine Besucherin schenkte Ray einen seltsamen, fast anklagenden Blick. Ihm hingegen fiel auf, dass er sich neue Bezeichnungen für sie ausdenken musste, bevor es in seinen Gedanken zu eintönig wurde. Nach ihrem Namen würde er sie trotzdem nicht fragen.
Der Blick blieb, auch wenn er zwischen ihm, der Katze und dem Toten auf dem Tisch hin und her wanderte. Sie glaubte ihm nicht und hatte wirklich die Befürchtung gleich in einen Kampf verwickelt zu werden. Wäre interessant und ein guter Test dafür, ob die Feder stärker war als das Schwert, denn mehr als ein Schreibgerät würde die Leiche nicht halten können. Er wusste allerdings nicht inwiefern Tote noch berechtigt waren Strafzettel zu verteilen, aber er beschloss sie aufzuklären, da es anscheinend niemand außerhalb der Katakomben je tat. „Der magische Kern wurde schon entfernt. Er sorgt dafür, dass die Toten wieder erwachen und ein neues Eigenleben entwickeln. Alles was Sie nun vor sich haben ist nur Fleisch und Knochen.“ Er deutete mit der Hand, mit der er nicht die Katze auf seinen Schoß streichelte, zum Tisch. „Außerdem passiert das nicht so oft wie man es sich vermutlich erzählt.“ fügte er hinzu. Sie sah ihn nur ungläubig an, bevor sie zur Tür nickte.
„Allein in der Nähe höre ich zwei Tote...“
„Drei.“ korrigierte er wie automatisch und unterbrach sie. Neben der älteren Dame waren da noch zwei Herren wach, auch wenn ihr Lied sich gerade eher als leise Hintergrundmusik eignete. Seine Besucherin schüttelte den Kopf.
„Es scheint aber soweit alltäglich zu sein, dass Sie mit scheinbarem Desinteresse reagieren.“ Desinteresse war es nicht, aber es stimmte. Er reagierte als wäre es etwas völlig Normales, was es im Grunde auch für ihn war. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er Tag für Tag in den Katakomben verbracht und sich einfach daran gewöhnt. Die Rekrutin hingegen hatte wahrscheinlich noch nicht einmal so viele Tote an einem Ort gesehen oder gar den Erzählungen über die Erwachten geglaubt. Hier in der Hauptstadt waren sie seit Jahrzehnten kein Problem mehr und jeder Vorfall wurde fein säuberlich vor den Augen anderer vertuscht. Der letzte Tote, der die Katakomben verlassen hatten, war ein Magier gewesen, der sich einen Weg an die Oberfläche und in die andere Viertel gesprengt hatte. Allerdings war das so lange her, dass selbst die Spuren an Mauern und Häusern schon längst verblasst waren. Alles was zurückgeblieben war, waren Schauergeschichten.
„Kein Desinteresse. Gewohnheit passt besser.“ erwiderte er und ließ zu, das Tiffa mit seinem Finger spielte und auch ankaute. Schon lange besaß die Katze keine Spitzen Zähne mehr. „Außerdem empfehle ich das ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Drei erwachte Leichen, die in ihren versiegelten Särgen liegen, sind noch nicht einmal eine nennenswerte Zahl im Vergleich zu den Massen an Toten, die hier auf ihre letzte Reise warten.“ Erneut schüttelte sie den Kopf, aus Unverständnis oder weil sie das Bild noch nicht fassen konnte. Menschen starben täglich und sie kamen fast alle hier hin. Da sie sich in der Hauptstadt befanden, waren es nun mal mehr als nur eins oder zwei. Aufgerechnet hatte er in einer Woche mit mehr Leichen Kontakt als zu den Lebenden und das, obwohl er jeden Tag zweimal durch zwei andere Viertel ging. Sie hielt ihn wahrscheinlich für abgestumpft, das war er vielleicht auch, aber anders würde er seine Arbeit auch nicht machen können, würde er jeden Toten, den er begegnete betrauern. Oder zusammenzucken, wenn jemand von Innen an den Sargdeckel klopfte.
Mit einem Seufzen setzte er Tiffa auf den Boden ab, die ihn klagend ansah und seine Seite nicht verließ. Die Zueignung gerade war nicht genug gewesen für die Katze. Entweder würde sie ihn jetzt bis zu seinem Dienstschluss belagern, zur älteren Dame laufen, um sich dort zu beschäftigen oder sie fand ein anderes Opfer. Er hoffte sehr, dass sein Meister gleich mit um die Ecke kam und sich sein Haustier mitnahm.
Noch immer lächelte der Tote vor ihm selig, auch als Ray diesen fest in die Leinen wickelte. Es waren weiße Stoffbahnen, die im Licht der Kerzen wertvoller aussahen, als das sie waren. Er arbeitete fein säuberlich, so dass jedes Stück Haut unter dem Stoff verschwand. Selbst der Kopf, mit Haar und Gesicht wurden bedeckt und nahmen dem Mann den letzten Rest Menschlichkeit. Jetzt konnte jeder darunter ruhen, unerkannt und unbekannt, wäre da nicht das kleine Schild aus Holz mit dem Namen, das Ray an der Brust befestigte. Er selbst hatte es gestern mit roter Farbe angefertigt und sich Mühe gegeben es Kunstvoll zu gestalten. Sein Meister hatte immer gesagt, dass der Name das Einzige war, was blieb, auch wenn der Körper schon längst verbrannt war und mit ihm das Stück Holz. Auch wenn das Präparieren und Verbrennen von Leichen sein Alltag war, gab es kleine Rituale, die er in Ehren halten sollte, damit es ihm nicht zu egal wurde. Er mochte das Schreiben, das Zeichnen, das Formen, auch wenn er die meiste Zeit Menschen in Leinen zu Paketen verschnürte.
Die ganze Zeit schwiegen sie, auch weil er spürte, das seine Besucherin unruhig war. Nicht nur wegen den Toten, sondern auch weil die Zeit verging, ohne ein Zeichen der Rückkehr ihres Vorgesetzten. Sie musste sich allerdings keine Sorgen machen, denn spätestens nachher würde er sie aus den Katakomben werfen, bevor er selber diese verlassen würde. Er war noch nicht volljährig und durfte die Nächte nicht hier verbringen, weil es so das Gesetz vorschrieb, allerdings hatte sein Vater ihn jetzt schon vorgewarnt, dass es später keine Entschuldigung wäre, bei den Familienessen zu fehlen. Gerade als er sich erneut die Hände wusch und viel zu viel Seife dafür verwendete, wurde die Stille gebrochen. Von der Besucherin. Er schätzte sie nicht viel älter als er selbst ein, allerdings bestand sie so auf Höflichkeiten das er sie nicht als Mädchen bezeichnen wollte. Seine Schwester wollte es auf jeden Fall nicht so und sie war auch ein Mitglied der Stadtwache, sogar ebenfalls eine Rekrutin.
„Es ist mehr als eine Viertelstunde vergangen.“ sagte sie und klang dabei eher enttäuscht als unzufrieden, obwohl ihr Blick genau das ausdrückte. Noch immer hatte sie die Arme verschränkt, sich jedoch nicht von Ort und Stelle gerührt, dabei war sie fast seit einer Stunde bei ihm.
„War auch nur eine Schätzung gewesen. Der Verstorbene muss dann doch wichtiger sein als gedacht.“ erwiderte er und musste einen großen Schritt über Tiffa machen, die ihm noch immer an den Fersen hing. Er schritt zur Tür, die zum Gang führte, und nahm aus einem Schälchen zwei Holzmarken. Sie waren rund und abgenutzt, aber erfüllte allein durch ihre Anwesenheit ihren Zweck. Er hängte sie an den unauffälligen Hacken zwischen dem Kerzenhalter und dem Türrahmen. Das war für den Abholer nachher relevant, damit er wusste, dass hier im Raum zwei Leichen bereit lagen, die dem Feuer übergeben werden konnten. Der Mann auf dem Tisch war nicht die erste Leiche, die er heute präpariert hatte, die andere war von einer jungen Frau gewesen, die allerdings nicht eines friedlichen Todes gestorben war. Ein Unfall hatte sie völlig erstellt und sie war an den Folgen der schweren Verletzungen verstorben, dabei hatte sie noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt. Er war die Geräusche in den Katakomben gewöhnt, doch mit eins konnte er sich nach all den Jahren nicht abfinden und das war das Weinen der Eltern um ein Kind, auch wenn dieses schon Erwachsen war. Es hinterließ selbst bei ihm ein bedrückendes Gefühl und der Gedanke das es falsch war. Kinder wurden daher ebenfalls mit einer Priorität versehen, damit diese ebenfalls nicht erwachten. Nicht aus einem praktischen Grund, sondern einfach, weil es grausam war. Allein daran zu denken, ließ ihn erschaudern und er war froh, dass er bis jetzt immer davon ferngehalten wurde.
„Es war ein Ausbilder.“ verkündigte die Rekrutin plötzlich und er verharrte kurz an seiner Position, bevor er sich entschied das es einfacher war Tiffa wieder hochzuheben. Diesmal blieb er stehen und legte die Katze in seine Arme, um sie zu streicheln. Sie war ein kleines Ding, weswegen sie auch vollständig in seine Kapuze passte und nicht schwer war. Allerdings mochte sie es lieber, wenn sie ihr Opfern in die Augen schauen konnte.
„Was?“ fragte er irritiert von der plötzlichen Aussage. Sein Besuch trat von einem Fuß auf den anderen.
„Der Verstorbene, war ein Ausbilder in der Stadtwache. Ein Veteran von der Grenze, die in der Nähe des Bluttals liegt.“ Er blinzelte, noch immer unsicher warum sie es ihm erzählte. Er hatte bis jetzt nichts mit dem Toten zu tun gehabt und wenn wäre er dann auch nur eine Leiche auf Rays Tisch. Außerdem klang ein Ausbilder jetzt nicht wichtig genug, dass die Besprechung so lange dauerte, außer es gab wieder zahlreiche Sonderauflagen. Wobei er sich mit den Strukturen innerhalb der Stadtwache nicht auskannte, da er kaum hinhörte, wenn seine Familie darüber sprach. Er würde nicht so einfach in diesen Dienst treten können und wenn er ehrlich war, wollte er das auch nicht, nicht nach all den Jahren, die er in den Katakomben verbracht hatte. Er gehörte zu den so genannten Abgaben, also war er ein Kind dessen magischer Kern und den damit verbundenen Fähigkeiten ihm ein fester Platz in einer der Gilden verschafft hatte. Ohne Widerspruch, gebunden an einen Vertrag der älter war als manche Stadtviertel, aber wirklich erfreulich war es niemals. „Er ist ohne Vorwarnung verstorben. Heute Mittag beim Training ist es passiert.“ fuhr sie fort. Tiffa schnurrte in seinen Armen.
„Passiert als Veteran würde ich sagen. Verletzungen, die nicht vollständig verheilen, können noch Jahre später ihren Tribut fordern.“ erwiderte er. Es klang für ihn nicht unbedingt ungewöhnlich, aber für die Rekrutin schien es doch wichtiger zu sein, als das er vermutet hätte. Sie schüttelte den Kopf und er runzelte die Stirn. Da er für heute keine Aufgaben mehr hatte, musste er nur noch auf seinen Meister oder einem anderen vollwertigen Mitglied der Katakomben warten, um von ihm entlassen zu werden. Es war eine neue Reglung, die vor einigen Wochen eingeführt wurden, war, zum Schutze der Lehrlinge. Vor was wurde nie gesagt, außer den üblichen Gefahren, denen man in einer Stadt über den Weg laufen konnte. In seinem Fall lebende, denkende Menschen. Der Blick, der nun auf Ray lag, war nicht zu ignorieren und er hob die Augenbrauen, auch wenn sie sicher nicht seine Mimik deuten konnte. Er war allerdings auch nicht besonders emphatisch und gut darin in andere Gesichter zu lesen, aber er versuchte es trotzdem mal. Da war er Lernresistenz.

„Sie waren dabei gewesen und anscheinend war es so ungewöhnlich, dass Sie mir jetzt davon erzählen.“ Die Rekrutin stutzte und sah für einen Moment an ihm vorbei zur Wand. Es war keine besonders hübsche und eher ein Kunstwerk aus rauem Stein. Niemand hatte sich hier unten die Mühe gemacht irgendwas glatt zu streichen und zu verzieren.
„Sie haben immerhin angefangen mit mir zu sprechen, mit ihrem Kommentar über den Kuchen.“ entgegnete sie. Fehlte nur noch, dass sie mit dem Finger auf ihm zeigte und irgendetwas rief. Überraschen würde es ihn nicht. „Und wir befinden uns in den Katakomben.“
„Was? Wieso sagt mir das keiner?“ Sie schnaubte auf seinen Worten hin, die er schlecht geschauspielert zum Besten gab. Daraufhin rollte er mit den Augen und trat an ihr vorbei. Wenn sein Meister nicht in den nächsten fünf Minuten hier war, würde er diesen Suchen oder ein Zettel hinterlassen. Langsam wurde es ihm zu bunt hier unten in der farblosen Umgebung.
„Die Erwachten gieren nun einmal nach den Lebenden.“ sprach er eher zu sich und versuchte Tiffa von seinem Arm zu lösen, was kein Leichtes Unterfangen war, weil die Katze ihn nicht gehen lassen wollte. Gestern hatte das Vieh ihn für Stunden den dürren Hintern hingestreckt und ihn gerade mal für würdig erachtet diesen zu betrachten. „Jeder mag Kuchen.“ fügte er hinzu, was die Besucherin wieder dazu veranlasste den Mund zu verziehen. Es war ihr Fehler, dass sie sich das viel zu bildlich vorstellte. Oder annahm, dass sie den Kuchen hier unten aßen. Alle. Das war seltsam. Er wendete sich zu der Rekrutin um, noch immer mit dem Fellball am Kämpfen. „Also dieser Ausbilder. Wer war er und was ist passiert?“ fragte er einfach frei heraus. Sie hatte ihm die Schuld zugeschoben, also konnte er auch darauf herumtrampeln.
„Ich dachte Sie wollen darüber nichts hören.“ Das war der Grund, warum er die Toten bevorzugte in einem Gespräch. Die gaben wenigstens sinnvolle Antworten, auch wenn sie nur nach Minnibert riefen. Er ließ Tiffa einfach fallen, die auf ihren Pfoten landete und ihn pikiert ansah. Er sah zurück mit dem Willen dieses Blickduell zu gewinnen.
„Sie haben angefangen mir einfach zu antworten.“ erwiderte er, ohne aufzusehen. Er war sich jetzt sogar sicher, dass er seine Seele verlor, würde er die Katze aus den Augen lassen. Allerdings hob er die Hand, noch bevor seine Besucherin etwas erwidern konnte. Er war kein Experte in Kommunikation, aber hatte dann doch soweit Zeit mit seinen Geschwistern verbracht, um zu wissen, wohin diese sprachliche Reise führen würde, würde er sie jetzt nicht beenden. „Wie hieß der Verstorbene nun und was ist passiert, vielleicht kann ich Euch ja etwas mehr sagen.“ Er gab dem Tod regelmäßig die Hand, außerdem wurde er durch seine Zugehörigkeit auch in anderen Bereichen geschult, wie die Heilung. Sein Meister war nicht nur der Ranghöchste Magier unter der Erde, sondern war auch für seine Arbeit oberhalb bekannt. Immerhin durfte er sich unter anderem dafür auf die Schulter klopfen, dass er ein Heilmittel für Kernbeulenfieber gefunden hatte. Keine schöne Angelegenheit, die viel zu viel mit Körpersäften jeglicher Art zu tun hatte. Sie schwieg, er führte noch immer ein Duell und Tiffa plante wahrscheinlich die Übernahme der Weltherrschaft, dabei standen sie in einem kleinen Raum unter der Erde und waren umgeben von Toten. Es war die ältere Dame die, die Stille brach und nach Minnibert rief. Wer nannte seinen Flohfänger bitte so? Muss wohl ein hässliches Tier gewesen sein und der Name war nur eine Bestrafung.
„Berrat Falham.“ Ray erstarrte, innerlich nur, denn er bewegte seinen Körper und sah die Rekrutin an, die erstaunt schien über seine Reaktion. Aber ihre Überraschung war egal, ebenso das Tiffa ihm nicht die Seele stahl. Berrat Falham. Ein Ausbilder aus der Stadtwache. Ein Veteran, der mehrmals Dienst an der Grenze nahe dem Bluttal absolviert hatte, bevor er erst vor wenigen Monaten wieder nach Königsfeuer zurückgekehrt war. Es musste eine Verwechslung sein, ein Missverständnis, eine Namensdopplung. Langsam schüttelte er den Kopf und blinzelte, während er den Mund öffnete, ohne zu wissen was er sagen wollte.
„Nun...“ murmelte er eher zu sich. „Zufällig kenne ich einen Berrat Falham.“ fügte er hinzu, diesmal lauter. „Wobei kannte jetzt eher passender wäre, wenn er tot ist. Es ist noch immer seltsam jemand mit diesem Familiennamen hier unten zu begrüßen.“ Denn es gab da ein Phänomen: Wenn eine oder einer mit einem Namen hier auftauchte, konnte man sicher sein, das bald noch jemand damit auf dem Friedhof anzutreffen war. So war es mit den Trauernden, die Abschied nahmen von den Verstorbenen. Er irritierte sie nun mit seinem Gerede und eher nebenbei ließ er es zu, das Tiffa sich sein Stiefel vornahm und daraus das Hosenbein fischte. Es war eine seltsame Situation. „Die Falham-Familie ist nicht gerade bekannt die Trauerfeiern unnötig in die Länge zu ziehen.“ Er konnte es sich daher nicht erklären warum der Vorgesetzte und sein Meister so lange in der Besprechung brauchten, so wie er es sich nicht erklären konnte, warum seine Besucherin überhaupt hier war und vor allen warum er mit ihr sprach.
Krallen gruben sich durch den Stoff seiner Hose in sein Bein und er zischte die Katze an, die unschuldig miaute. Allerdings machte sie keine Anstalt ihre Pfoten zurückzuziehen, sondern sah aus ihren großen Augen zurück. Durch ihre Kopfform wirkte es, als wollten ihre Augäpfel jeden Moment aus ihrem Schädel kullern. Auf abstrakter Art und Weise und mit viel Mitgefühl und Fantasie konnte man das Wesen als niedlich bezeichnen, so wie man die Katakomben als Kunstwerk erklären konnte. Und ein Besuch war ein Fest der Sinne. „Dort wirst du meine Seele nicht finden.“ Er versuchte sein Bein aus der Gewalt zu befreien, ohne Tiffa aus Versehen durch die Gegend zu treten. Kein leichtes Unterfangen, denn wenn das Vieh eins hatte, dann ungeahnte Kräfte, anders konnte er es sich nämlich nicht erklären. Die Katze schaffte es durch eine verschlossene, schwere Tür zu kommen, um die letzten Kekse vom Tisch des Meisters zu stehlen. Und es waren wirklich leckere Kekse, meist in Form von Sternen, die vom Geruch her nur aus Zimt, Zucker und Äpfel bestehen konnten. Es war eine Abwechslung vom Tod und den Gemischen aus Öl und Kräuter. Abwechslung gab es hier unten nicht besonders viel, aber es war völlig in Ordnung, denn oben in der Stadt gab es mehr als genug. „Dort auch nicht, ich dachte du wüsstest das sie im kleinen Zeh steckt.“ belehrte er eine Katze, die nur als Erwiderung miaute. Tiffa schlug gerade einen sehr frechen Ton an.
Ein leises Lachen ließ ihn Aufsehen. Es war die Rekrutin, natürlich war es sie, denn in der Regel lachten die Erwachten nicht und die Toten ebenfalls.  „Was?“ stellte er seine ausformulierte, hochkomplizierte Frage.
„Sie reden mit einer Katze. Ich glaube nicht, dass sie Euch versteht.“ Sie machte sich über ihn lustig und sie machte sich über Tiffa lustig. Als Antwort wurde seinem Bein die Freiheit geschenkt und er runzelte die Stirn.
„Unterschätzen Sie niemals eine Katze.“ warnte er. Das hatte er einmal gemacht und seine Hand verloren. Gut, dass er beide noch hatte, aber er hätte eine fast verloren. Stumpfe Zähne bedeutete nicht stumpfe Krallen.
„Wahre Worte.“ Jetzt sprach weder Ray, weil er zwar Selbstgespräche führte, aber den Toten immer eine Chance gab zu antworten, noch Tiffa, da sie davon gehuscht war in die unzähligen dunklen Nischen und Ecken und auch seine Besucherin war nicht die Quelle der Worte. Es war sein Meister.

Meister Zacharias Arbos war in den Augen von Ray schon alt gewesen, als dieser seinen Eltern übermittelt hatte, dass ihr ältester Sohn eine Abgabe war. Sie waren wenig begeistert gewesen und lange Zeit hatte der oberste Magier der Katakomben für eine Art Feindbild hergehalten, dabei erinnerte dieser einen eher an den Großvater vor dem Kamin anstatt an ein Monster, dass Kinder entführt. Das Haar war von einem Gemisch aus weiß und Silber, ebenso wie der Bart. Beides fein-säuberlich gestutzt, gepaart mit einer schmalen Brille mit Halbmondförmigen Gläser ließen seinen Meister sogar wirken, wie einer der Professoren, die in der Universität lehrten. An seiner Seite wirkte der Offizier der Stadtwache wie ein Student, trotz dem Schnurrbart und der Uniform. Wie automatisch hatte sich die Rekrutin in die Haltung begeben und Ray fiel auf, dass sie ihn um einige Zentimeter überragte. Das tat auch seine Schwester, zu seinem Leidwesen.

„Sind die beiden Verstorbenen fertig?“ Der Blick glitt zu den zwei eingewickelten Körpern, die auf den Tischen lagen und Meister Arbos erwartete nicht einmal eine Antwort. Er sah es sofort anhand den Holzkärtchen am Haken. „Gut. Denn ab morgen wirst du für die Woche bei Madam Callum arbeiten.“

„Ich war schon letzte Woche bei ihr.“ bemerkte Ray und machte eine Kopfbewegung zu seiner Besucherin, als Aufforderung sie endlich wieder mitzunehmen. Er hatte schon genug geredet. Sein Meister jedoch ignorierte es und seine Worte. Es war in seinen Augen eine beschlossene Sache, egal ob es auf Begeisterung oder Widerstand seines Lehrlings stieß. Es war eher der Widerstand.

Madam Josephine Callum war eine gute Meisterin, aber sie war grausam zu Ray. Sie lehrte, indem sie ihre Lehrlinge und Schüler zu ihrem Schatten machte, dabei zwang sie diese viel zu oft zum Kommunizieren. Mit Worten und mit Menschen. Menschen mit einem Atem, Herzschlag und Gehirnfunktionen. Er seufzte, was dem alten Mann ein Lächeln entlockte.

„Das schaffst du schon. Du hattest schon immer Spaß daran Wunden zu Nähen und Gedärme wieder an den richtigen Ort zu bringen, nur in der anderen Reihenfolge.“

Seltsame Blick streiften ihn und es grenzte schon an Diskriminierung, allerdings ignorierte er sie, denn es gab da noch eine andere Sache. Sein Meister schickte ihn weg, damit nicht die Gefahr bestand, dass er Berrat Falham behandelte und zu einem Paket schnürte. Es wurde immer darauf geachtet, dass keine Familienmitglieder auf den Tisch von Verwandten landeten, außer es war eine ausgelassene Familienfeier, aber in der Regel waren dann die Betroffenen lebendig. Sein Meister wollte ihn daher diese Woche nicht hier haben und wies damit ohne direkte Worte zur Tür.

„Begleite bitte noch Leutnant Williams und seine Rekrutin Kayla nach draußen auf deinem Weg. Mach Feierabend, damit du pünktlich zu deiner Familie kommst.“

Zu der Familie, die ihr Augenmerk heute auf jeden Fall mit mehr Beachtung auf die Katakomben legen würde als die obligatorische Frage nach seiner Woche. Der verstorbene Berrat Falham war anscheinend nicht mehr in der Stadtwache von großer Bedeutung, aber dafür zwischen seinen Verwandten, denn er diente als Beispiel für einen ordentlichen Werdegang. Familienpflicht, die man Tradition schimpfte und eigentlich nur ein Wort war, für die Tatsache das es keine Wahl gab für andere Lebensentscheidungen. Außer man hatte die merkwürdige Freizeitbeschäftigung sich am liebsten immer und immer wieder erklären zu müssen, meist zwischen der Vorspeise und dem Hauptgang. Niemals aber direkt vor der Nachspeise, denn diese diente dazu hitzige Diskussionen über Tagesthemen und Politik zu besänftigen. Kuchen eignete sich dazu am besten, nur nicht den seiner Großmutter, denn der erinnerte ihn durch seine Trockenheit tatsächlich an den Tod. Es war so, als würde man auf der Asche der Verstorbenen herumkauen in der Hoffnung nicht zu ersticken.

„Kann ich nicht hierbleiben?“ entkam es Ray allein beim Gedanken heute Abend bei seiner Familie zu sein. Er bevorzugte dann die Ruhe hier und würde sogar freiwillig eine weitere Leiche behandeln, ja sogar Tiffa wieder hervorlocken. Sein Meister jedoch schüttelte den Kopf. Normalerweise konnte er mit einem einmaligen Nachfragen immer eine Verlängerung heraus handeln. Eine scheuchende Handbewegung später fand Ray sich schon außerhalb des Raumes und innerhalb einer Situation, mit der er sich nicht auskannte. Und mit der er sich nicht auskennen wollte. Wie war nochmal der Name des Mannes, der Recht unauffällig war für einen höhergestellten Soldaten der Wache?

„Folgen Sie mir.“ schaffte er es nach mehreren Momenten die Worte zu finden, die alles sagten, ohne dass er was sagte. Seine Besucherin schnaubte kaum hörbar und er hatte ihren Namen erfahren, ohne danach fragen zu müssen. Ihre Schritte wurden nicht vom Teppich in den Gängen gedämpft und er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie jemand um die Ecke sah. Es war Bern, ein anderer Lehrling, der überrascht war über die Betriebsamkeit zu dieser Uhrzeit. Als stummen Gruß verzog er ungesehen den Mund, bevor der andere verschwand und er wieder die Besucher nach draußen führte. Mittlerweile kannte er die Wege hier unten zwischen dem schwarzen Gestein besser als in dem Haus seiner Familie. Nur in seiner kleinen Kammer im Gildenhaus fand er sich noch besser zurecht und das auch nur, weil sie keine zwei Schritte breit war.

„Mein Beileid über Ihren Verlust.“ Diese Worte waren so überraschend, dass Ray sich erst mal nicht angesprochen fühlte. Erst als niemand anders darauf reagierte sah er über die Schulter zum Offizier. Dessen Blick war prüfend, fast erwartungsvoll und darin war Ray nicht besonders gut. Erwartungen zu erfüllen, angemessen zu reagieren und zu lügen. „Ihr Meister erzählte mir, dass Sie mit Ser Falham verwandt sind. Es tut mir leid, dass Euch die Information über seinen Tod so überbracht wurden ist.“ Es war eine deutliche Verwarnung an die Rekrutin, die pflichtbewusst den Kopf einzog. In ihren Augen jedoch wichen der Ärger und er konnte fast eine Entschuldigung darin sehen. Er mochte auch nicht die Farbe Grün. Als Erwiderung zuckte er mit den Schultern.

„So wurde ich wenigstens vorgewarnt und kann mich auf den Weg darauf vorbereiten Fragen zu beantworten.“

Das war anscheinend nicht die Antwort die üblich war, aber ehrlich gesagt war es ihm auch egal. Nicht das sein Onkel tot war, wobei schon irgendwie. Er hatte Berrat erst beim letzten Familienessen gesehen, aber seit Monaten hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, genau genommen ab dem Tag, an dem dieser von der Grenze wieder zurückgekehrt war.

„Ser Falham war ein ausgezeichneter Ausbilder und Kamerad, nicht nur im Dienst.“

„Kann sein, das müssten Sie besser wissen als ich.“ entkam es ihm tatsächlich und es schien den Leutnant zu verärgern, denn sein Schnurrbart erzitterte leicht. Das fiel auch der Rekrutin auf, die sich einschaltete.

„Soll ich meinen Bericht über den Vorfall schriftlich bei ihnen einreichen, Leutnant?“ fragte sie und Ray war ihr dankbar, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich zog wie das Licht die Motten.

„Nicht nötig Rekrutin. Deine Aussage wurde schon offiziell aufgenommen.“ Sie nickte bei diesen Worten, zuckte aber zusammen als sich ihr Vorgesetzter sich vor ihr aufbaute. „Und nun bewahren Sie Ruhe über das Thema.“ Was für ein sympathischer Kerl. Anscheinend hatte die Anwesenheit des obersten Magiers der Katakomben dazu geführt, dass der Soldat der Wache zivil und ruhig blieb.

Ray war froh, als sie drei endlich die letzte Tür erreichten, die nach oben in das Gebetshaus führte. Von hier aus konnte er die beiden allein lassen, weil niemand sich auf dem Friedhof verlaufen konnte. Allerdings wurde Ray nicht allein gelassen, sondern es tauchten noch mehr Mitglieder der Stadtwache auf. Zwei um genau zu sein und bestätigte damit das Phänomen mit dem Familiennamen. Das Verlangen zurückzugehen und seinen Meister nochmal zu fragen, ob er doch hierbleiben konnte, war stark. Er würde sogar Tiffa dafür die ganze Zeit beschäftigen und als persönlicher Sklave herhalten, damit sie nicht schon wieder die Kekse klaute. Allerdings kam er nicht drum herum hier zu verweilen, auch weil jemand ihm die Hand auf die Schulter legte. Er vermisste das Lied der Toten und die Schönheit der Katakomben, aber vor allen die Ruhe, die er nur dort unten fand.

Ray war eine Abgabe, weil sein magischer Kern Einfluss auf seine Ohren und Augen hatte und diese Fähigkeiten nützlich waren das Leben zu sehen und dem Tod zu lauschen. Das bedeutete allerdings auch, dass zu viel davon ihn verwirrten und betäubten. Berührungen gehörten nicht dazu, die war er einfach nicht gewohnt in seinem Alltag, daher breitete sich das mulmige Gefühl wie eine Krankheit in ihm aus. Wäre es nicht sein eigener Vater, hätte er schon längst abweisend reagiert. Wäre es nicht sein Vater, würde der andere ihn allerdings auch nicht berühren. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er sich verspannte und versuchte die Situation genauer einzuschätzen, denn Yorrick Falham war nicht allein. Neben dem hochgewachsenen Mann wirkte dessen Schwester nicht nur wesentlich jünger, sondern auch kleiner. Etwas, was Fremde vor allen dazu verleiteten sie zu unterschätzen, dabei gehörte Lorena Falham zu den Besten der ganzen Stadtwache. Sie war der Stolz der Familie, störte sich allerdings auch mit am meisten daran das ihr Neffe, also Ray, der Tradition nicht folgte. Abgabe hin oder her. Er war jedoch zum Glück nicht der Mittelpunkt und die Aufmerksamkeit strich über ihn hinweg, wie der Wind durch die Blätter eines Baumes. Da der Herbst noch keinen Einzug im Land hielt musste er sich auch über den Tod keine Sorgen machen. Ihm blieb noch einige Zeit, bis er fallen sollte, außer er erlag einer plötzlichen Dummheit oder der Zufall nahm ihn ins Visier.

„Guten Abend, Ser Falham, Madam Falham.“ grüßte der Vorgesetzte der Rekrutin, die seinem Vorbild folgte und salutierte. Ihre Augen huschten jedoch zwischen ihnen drei hin und her und suchte wahrscheinlich nach Gemeinsamkeiten, die in der Familie weitergegeben wurden. Sie gab es gewiss, auch wenn Ray selber sie nicht als so deutlich empfand, wie sie nachgesagt wurden. Während sein Vater so wirkte, als hätte man ihn zu lange in der Sonne stehen gelassen, war er selbst das Gegenteil davon. Unter der Erde erreichte einen das Wetter nur durch Erzählungen oder durch Fußspuren nasser Stiefel auf dem Teppich. Aber es schien einen Vorteil zu sein blass zu sein, denn laut seinem Meister fand man ihn dadurch wesentlich besser im Kerzenschein und der Dämmerung.

Der Gruß wurde steif erwidert, mal mehr und mal weniger.

„Wir wurden schon über den Tod unseres Bruders informiert.“ sprach Yorrick Falham, der dem Familienspruch alle Ehre bewies. Gefühle wurden nur im engsten Kreis der Familie offenbart, denn es war die Pflicht eines jeden Stärke zu beweisen. Das erwartete er auch von seinen Kindern und wurde kaum enttäuscht, außer von seinem ältesten Sohn, aber da konnte er eine Entschuldigung vorbringen. „So wie uns mitgeteilt wurde, dass Sie schon die ersten Schritte einer baldigen Beisetzung in die Wege geleitete haben.“

„Verbrennung.“ murmelte Ray unter dem Atem und die Hand auf seiner Schulter drückte diese kurz, aber kräftig. Es war trotzdem eine Verbrennung, denn am Ende blieb von der menschlichen Hülle kaum mehr als ein Häufchen Asche zurück, die gesammelt wurde. Staub kam manchmal dazwischen, wie ein besonderes Gewürz beim Kochen und Backen.

„So ist es.“ bestätigte Leutnant Williams, ohne die Haltung zu verlieren. „Man übergab mir die Aufgabe mit Meister Arbos zu sprechen.“ Etwas, was Misstrauen wecken konnte, wenn man wusste das sich der oberste Magier der Katakomben um besondere Todesfälle kümmerte oder um Verstorbenen, die wirklich eine Bedeutung hatten, da in der Regel andere Verfahren angewandt werden mussten. Für die Aufbereitung des einfachen Toten waren andere zuständig, unter anderem auch die Lehrlinge, wobei diese eher sich um die menschliche Hülle kümmerten. Um den magischen Kern zu entfernen, brauchte man nicht nur die Ausbildung dazu, sondern auch eine gewisse mentale Reife, die man angeblich mit der Volljährigkeit erreichen sollte. Ihm entschloss es sich noch nicht ganz, da er die sonstigen nötigen Voraussetzungen schon länger erfüllte. Meister Arbos war da allerdings sehr penibel, auch wenn er sich die Namen seiner Lehrlinge nicht merkte oder eher nicht laut aussprach, dabei gab es nur eine Hand voll und die meisten waren schon seit vielen Jahren im Dienst.

„Weswegen habt Ihr eine Rekrutin bei euch?“ Lorena Falhams Stimme war so scharf wie das Schwert, was sie bei sich trug und dass er zum Glück noch nicht im Einsatz gesehen hatte. Ray mochte zwar sonst sich aus den Gesprächen zurückziehen, doch hören und zuhören konnte er.

„Sie ist eine Augenzeugin. Außerdem gehört es zur Ausbildung der Rekruten, diese in andere Bereiche der Stadt einzuweisen. Rekrutin Kayla fehlte bei dem letzten Rundgang in den Katakomben und sie wurde mir mitgeschickt, um diesen Part abzuschließen.“ Anstatt etwas gelehrt zu bekommen, hatte seine Besucherin bei ihm warten müssen und hatte den Fehler gemacht ihm zu antworten. Diese Erklärung um ihre Anwesenheit genügte vorerst, auch weil Williams fortfuhr. „Ich werde Ihnen morgen früh meinen vollständigen Bericht überreichen. Meister Arbos bat mich Ihnen mitzuteilen, dass er sich in den nächsten Tagen persönlich an Sie wenden wird.“

Nein, das würde er nicht tun, denn in der Regel wurden Briefe verschickt, wie es Schüler es unter der Bank gerne taten. Ein Todesfall wurde zu einer persönlichen Angelegenheit, die allerdings in manchen Fällen, der Kontrolle der Familie entrissen wurde. Zum Beispiel wenn der Verstorbene wichtig für die Allgemeinheit gewesen war und das war Berrat Falham nicht. Er war zwar älter als seine Geschwister, aber nicht erfolgreicher. Unauffälliger, ruhiger und hatte nicht dazu geneigt sich besonders hervorzuheben, dazu war er auch nur ein Zweitgeborener.

„Danke für Ihre Mühen.“

„Es ist zwar ein Befehl gewesen, aber ich habe mit Ihrem Bruder einige Zeit gedient. Es ist daher für mich von Bedeutung Ihnen meine Unterstützung zu bieten.“

Genau deshalb bevorzugte er tatsächlich das Gespräch mit den Toten mehr, denn gerade konnte Ray nicht sagen, ob die Worte höflich waren mit guten oder bösen Absichten, wenn es diese überhaupt gab. Sein Vater drückte erneut seine Schulter, ließ ihn aber nicht gehen. Flucht war ausgeschlossen, obwohl das Gespräch sich werde um ihn drehte, noch seine Aufmerksamkeit erforderte. Außer, sein Vater benutzte ihn als Stütze und wollte nicht das er ging, warum auch immer. Die Arbeit in den Katakomben und die fehlende Verbindung zu seiner Familie hatten ihn nicht nur abgegrenzt, sondern auch dazu geführt, dass er sich ungewöhnlich entwickelt hatte. Themen, die für andere von Bedeutung waren, konnte er wie Staub davon wischen. Das Spiel ging auch andersherum, allerdings stand er meist allein auf seiner Seite im Gespräch und hatte weder die Motivation noch die Lust darüber zu streiten. Oder zu diskutieren. Oder sonst darüber zu sprechen. Auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah oder anmerkte, konnte er trauern und ihm tat es leid um seinen Onkel, aber mehr um seinen Vater.

Die Toten, selbst die Erwachten, spürten keinen Schmerz, hatten keine Gefühle, um nachzuvollziehen was die Trauer um den Verlust war. Das konnten nur die Lebenden und dazu gehörte er auch, trotz seiner anderen Beziehung zum Tod. Es war ein Gang auf einen schmalen Grad, denn zu einem war es schlichtweg sein Beruf, den er tagtäglich ausführte und zum anderen hatte er Empfindungen, sogar mehr als das man ihm zutraute. Nur das Zeigen dieser war eine Sache, aber da hatte er eine Entschuldigung und konnte es auf seine Familie schieben.

„Er war ein ausgezeichneter Soldat für die Wache und hat ehrenvoll gedient. Er wird noch lange als Vorbild dienen.“ Sein Leben, sein Dienst oder sein plötzlicher Tod? Das war die Frage die ihm bei den Worten als erstes in den Sinn kam, doch er hütete sich das laut zu sagen. Sein Vater schwieg auch, daher war es seine Tante, die antwortet.

„Das wird er.“ Noch immer klang sie, als wollte sie allein mit ihrer Stimme in eine Schlacht ziehen, um damit ihre Feinde zu Boden zu bringen und in den Katakomben auf den Tisch. Leutnant Williams stellte das auch fest und die Rekrutin ebenfalls, dessen Name Ray schon wieder vergessen hatte. Dieser war auch für ihn nicht von Bedeutung, denn er würde sie nicht wieder sehen. Eine große Trauerfeier erwartete er nicht und wenn würde es einige Zeit dauern, bis sie stattfand. Meister Arbos kümmerte sich auch um die Verstorbenen, die durch Fremdeinwirkung gestorben waren oder dessen Tot Fragen aufwarf, die eine genaue Untersuchung erforderten. Er hatte mit seinen Worten nicht unrecht, das vor allen Veteranen und ältere Mitglieder aus dem militärischen Bereich an vergangenen Verletzungen häufiger starben, da der Körper irgendwann seine Grenze erreichte oder ein anderes Leiden diese wieder erweckten, wie der magische Kern es bei einem Leichnam tat. Berrat Falham war jedoch einer der glücklichen gewesen, die von der Grenze zurückgekehrt war ohne ein großes körperliches Leiden. Prädestiniert, um zu sterben war er nicht gewesen und wenn dann nur nach einer langen Phase der kontinuierlichen Schwächung durch Krankheiten und dem Alter. „Ich werde Sie morgen früh aufsuchen, Leutnant Williams.“ Das klang nicht nur wie eine Drohung, es war eine Drohung.

Der Angesprochene nickte, bevor er salutierte und entlassen wurde. Die Rekrutin folgte ihrem direkten Vorgesetzten auf Schritt und Tritt, schwieg aber wie die, die in der Halle zurückblieben.

„Es ist meine Schulter.“ machte er seinen Vater darauf aufmerksam, dass dieser ihn noch immer in seiner Gewalt hatte. Er brach damit die Stille, denn das falsche Feuer in der großen Schale in ihrer Nähe gab keine Geräusche von sich. Es war nur eine Illusion von Flammen, die tanzten und weder Licht noch Wärme abgaben, was gut war. Wenn Tiffa nicht die Toten belästigte oder Kekse stahl, lag sie gerne in dem Gefäß, das so groß war, dass eine ganze Legion an Katzen darin passen würde. Sein Vater zog allerdings nicht die Hand zurück, sondern gab ihm seinen vollständigen Namen. Nur eine Hand voll Personen benutzten den Namen, den seine Eltern ihn bei seiner Geburt gegeben hatten, alle anderen Sprachen ihn anders an oder zeigten nur auf ihn.

„Wie geht es dir, Rayven?“

„Wenn ich meine Schulter wiederbekomme, dann wahrscheinlich besser.“ Er war Berührungen nicht gewohnt. Seine Tante schnaubte nur und damit konnte sie alles ausdrücken, worum er sie beneidete. Er musste sein Verhalten stetig erklären.

„Der Junge hat zu viel Zeit in den Katakomben verbracht.“ bemerkte sie, während ihr Blick auf die Wappen auf seiner Jacke fiel. Es waren zwei, denn die Gilde der Heiler hatte schon vor langer Zeit Platz für die der Toten gemacht, ihnen jedoch weiterhin gestattet die Zugehörigkeit zu präsentieren. „Es ist nur eine Frage von Monden, bis er keine Trauer mehr zeigt.“

„Vermutlich liegt es aber eher daran, dass ich den Namen Falham trage.“ konnte er es sich nicht verkneifen. Seine Tante ließ ihn außer paar vereinzelte Kommentare in der Regel in Ruhe, dass sie es jetzt nicht tat, war ein Beweis, dass der Tod ihres Bruder sie mitnahm. Mehr als das sie vermutlich wahrnahm.

„Es reicht, Lorena.“ schaltete sich sein Vater ein und klopfte ihn genau dreimal auf die Schulter. „Besprechen wir das zu Hause weiter.“ Es war keine Verteidigung, aber das brauchte Ray auch nicht, denn im Grunde hatte seine Tante ja Recht. Und er auch. Es war ein seltsames Konstrukt an Wahrheiten, was ihm oft als das Gegenteil begegnete. „Außerdem ist die Nachricht noch frisch, gibt anderen Zeit zu akzeptieren das der Tod die Familie ereilt hat.“

Seine Augenbrauen hoben sich wegen dieser Behauptung. Ray hatte es akzeptiert, schon in dem Moment, in dem ihm davon erzählt wurden war. Wenn ihm seine Lehrjahre eins beigebracht hatten, dann das es keinen Weg zurückgab, selbst für die Erwachten nicht. Auf den Tod folgte immer der endgültige Tod, entrissen aus der Brust und verbrannt in den Flammen der Ewigkeit. Durch die hohen Fenster des Gebetshauses sah er genau dieses Feuer nur allzu deutlich, dass hoch über der Stadt auf dem Silberturm thronte und selbst in der finstersten Nacht den Himmel erhellte. Bald würde auch die Seele seines Onkels dort oben brennen und damit die Schutzzauber verstärken, damit die Dunkelheit nicht Einzug erhielt. Es reichte schon, dass diese an den Grenzen lauerte und an ihnen kratzte wie eine Katze an der Tür.

„Nicht wirklich, Vater.“ hörte er sich selbst sagen und sah diesen an. Sie teilten sich dieselbe dunkle Augenfarbe, die hier wie schwarz wirkte und auch sonst ähnelten sich die äußerlichen Attribute mehr als von Ray zu seiner Mutter.

„Lasst uns gehen.“ War jedoch alles was als Erwiderung kam und durch die Hand auf der Schulter wurde er geführt. Aus dem Gebetshaus hinaus über dem Friedhof. Lorena folgte ihnen, das verriet das leichte Klappern der Rüstung, die sie trug und ihr Leben lang tragen würde, bis sie starb. Und auch dann würde jemand dafür sorgen, dass Ray nicht sie auf dem Tisch vor sich fand, sondern ein anderer sie begann einzubalsamieren. In Ölen und Kräuter, in den Katakomben der Hauptstadt Königsfeuer und umgeben von Toten, die ihre Lieder sangen. Ein Besuch in der Halle der Toten, war immer wieder ein Fest der Sinne.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet, Rayven.“ sprach sein Vater leise und sah ihn aufmerksam von der Seite an. Misstrauen konnte durch die seltsamsten Sachen hervorgerufen werden oder von den kleinsten. Yorrick Falham war ein mitfühlender Mensch, der auch ihm gegenüber väterlicher Zuneigung pflegte, obwohl sie sich in der Woche nur einmal beim Familienessen sahen und sprachen. Seine erneute Nachfrage war daher nicht ungewöhnlich, es war eher die Art wie er sprach. Leise.

„Wie immer.“ War er in seiner Antwort trotzdem ehrlich, was seinen Vater dazu brachte zu nicken und leicht zu Lächeln.

„Gut, dann hat sich zumindest das nicht verändert.“ Doch was genau er mit diesen Worten meinte wusste Ray und erfuhr er auch nicht. Hatte sich etwas verändert oder wurde tatsächlich mehr durch den Tod von Berrat Falham ausgelöst als gedacht?

 

• • •

 

Ray war umgeben von Lichtern, die flackerten und tanzten, jedoch alle zu unterschiedlichen Musikstücken, die sich Herzschlag nannten. Sie saßen in der Brust und streckten ihr Schimmer, ihre Bahnen durch jeden Bereich des Körpers. Wie ein Geflecht von Pflanzenwurzeln umschlossen sie im Inneren Arme und Beine, zogen über Bauch und Brust, bis sie ihre Finger selbst um den Hals legten. Doch anders als die Hände eines fremden Menschen, nahmen sie nicht die Luft, sondern spendete Leben bis über den Tod hinaus. Es war der magische Kern, der für ihn so deutlich war wie eine Kerze in der Dunkelheit, aber für andere weder sichtbar noch hörbar, oder greifbar war. Das war einer der Gründe, warum er eine Abgabe war und sein Leben im Dienst der Gilde tätigen musste. Denn jemand, der diese Strukturen im Inneren der Menschen sah, konnte auch sagen, wenn dieses Licht dabei war zu schwinden.

Wenn jemand starb, begann der Kern schwächer zu werden und die Energie verließ langsam seine Bahnen, die zurückblieben, auf das sie verschrumpelten und zerfielen. Der Schimmer zog sich in der Regel erst aus den äußersten Punkten zurück, bis er an seinem Ursprung angekommen war. Dort versagte seine Kraft, wie auch das Herz, dessen Takt nicht abhängig war von dem anderen Organ, jedoch verbunden durch ein feines Geäst. Dieses Licht erlosch nicht vollständig, wenn der Mensch starb, sondern kämpfte so lange, bis man es mit sanfter Gewalt dem Körper entriss und damit den endgültigen Tod herbeiführte. Blieb ein magischer Kern zurück, konnte er sich durch eine letzte Entladung selbst wieder in einen neuen, lebensähnlichen Zustand bringen und die Kontrolle über die menschlichen Überreste erlangen. Wie der Marionettenspieler zog dieser an den Gliedern und machte sich die Erinnerungen der Muskeln und Sehnen zum Nutzen, um diesen zu bewegen. Die Quelle an magischer Energie hatte dazu die Eigenschaft anderer seiner Art zu erkennen und versuchte diese in einem verzweifelten Akt zu erreichen, um sich die Kraft zu nehmen. Das war der Grund, warum die Erwachten den Lebenden folgten und mit ihren kalten Finger nach ihnen griffen.

Jemand daher ohne Licht im Körper vor sich zu haben, brachte nicht nur Sicherheit für Ray, sondern war eine Wohltat. Erholung für seine Augen, die schnell müde wurden, wenn um ihn herum das Leben pulsierte. Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass er schon als ganz kleines Kind sich am liebsten versteckt hatte und das an Orten, an dem andere nicht kamen und ihn schnell fanden. Schon da hätte es klar sein müssen, dass er zu denjenigen gehörte, dessen eigener magischer Kern stärker war als der anderer. Trotzdem hatte es ein Todesfall in der Familie gebraucht und ein Test, damit diese Tatsache akzeptiert wurden war. Und Schuld waren dazu unbedachte, kindliche Worte in der Anwesenheit von Meister Arbos, während einer Trauerfeier. Seine Eltern hatten am Ende keine Chance gehabt und ihn persönlich an seinem ersten Tag in der Lehre bis zu den Katakomben gebracht. Seine Fähigkeiten hatten Ray jedoch nie als wahrlichen Fluch wahrgenommen, sondern als eine einfache Begebenheit in seinem Leben, das er anders auch nicht kannte. Allerdings bedeutete es nicht, dass es ihn manchmal nicht zu sehr belastete, wie jetzt.

Er war umgeben von Lichtern, die seinen Verwandten gehörten und er war der unfreiwillige Mittelpunkt. Selbst der weiche Sessel vor dem Kamin, auf dem er saß, konnte ihn mit seinen Polstern nicht abschirmen oder gar verschlucken, während er dazu verdammt war dieselben Fragen immer und immer wieder zu beantworten.

„Mein Junge, warum hast du denn nichts gesagt? Deinen Onkel vorgewarnt?“

Seine Großmutter saß ihm gegenüber und sah ihn aus traurigen Augen anklagend an. In ihrer Stimme lag Vorwurf der Welt gegenüber, aber auch ihm. Noch schwerer als seine Eltern hatte sie es aufgenommen, dass er sich nicht dem militärischen Bereich anschließen wollte, dabei war es nie seine Wahl gewesen. Jahre lang hatte sie ihm immer gesagt, dass er anders war und nicht in die Familie passte, gar ein Fremder war, da er sich lieber mit den Toten beschäftigte als mit den Lebenden. Mittlerweile tat er das und jetzt vermisste er die Leichen um sich herum. „Du hättest es ihm sagen müssen, dass seine Zeit sich dem Ende neigt.“ Das Licht seiner Großmutter war noch hell für eine Frau ihres Alters und hatte auch noch die Finger in ihrem festen Griff, so wie sie ihren Gehstock, der immer wieder auf den Teppich aufkam. Dieser Stoff dämpfte das Geräusch, war aber nicht so gütig Ray mit sich zu ziehen. Unruhig strich er trotzdem mit dem Fuß darüber, in der Hoffnung ein Loch zu finden, in das er verschwinden konnte.

„Ich habe es nicht gesehen.“ War seine wiederholte Antwort, die ein wiederholtes Seufzen hervorlockte. Nicht von seiner Großmutter, sondern von Rays Mutter Vivica Falham, die hinter der älteren Dame stand und ihn ebenso betrachtete. „In der Regel kann ich nur feststellen, dass der Kern schwächer wird. Wann der genaue Todeszeitpunkt ist, entzieht sich mir.“

„Und dafür wurdest du aus der Familie gerissen. Mein Sohn, warum hast du nichts getan, um deinen Jungen vor diesem Leben zu schützen?“

Diesmal streifte der anklagende Blick nicht Ray, sondern seinen Vater, der diesen jedoch nicht sah. Yorrick stand mit dem Rücken zu seiner Mutter, seiner Ehefrau und seinem ältesten Sohn und hatte sich ganz dem Feuer zugewandt. Also den echten Flammen, die im Kamin waren und das Holz fraßen. Es knackte und knisterte.

„Mach ihm und mir keine Vorwürfe. Du kennst die Gesetze. Außerdem hat niemand gesehen, dass etwas mit Berrats Gesundheit nicht stimmt. Er war erst vor kurzen bei der Heilern gewesen im Rahmen seiner Rückkehr.“ Rays Vater klang so ruhig, dabei lag das unausgesprochene in der Luft, wie der Duft des verbrannten Holzes und das schwere Parfüm von Esmaria Falham.

Berrat Falham hatte gelogen. Es verschwiegen, dass etwas nicht stimmte, bis zu dem heutigen Tage. Sein Todestag.

Ray sank noch tiefer in die Polster und fiel damit völlig aus dem Bild. Alle anderen Mitglieder seiner Familie hielten sich gerade und aufrecht, während er sogar überlegte die Stiefel abzustreifen, um die Füße auf den Sessel zu ziehen. So hätte Baritur, der große Hund seiner Großmutter, mehr Platz und würde ihn nicht mehr aus kleinen Augen anstarren. Das Tier roch Tiffa an ihm, was ihm nicht gefiel, wobei es auch nur die natürliche Abneigung gegenüber Ray sein konnte. Baritur hatte ihn noch nie gemocht und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

„Schau mir in die Augen, wenn ich mit dir rede, Junge. Und lass Baritur in Ruhe.“

Seine Großmutter klopfte erneut mit ihrem Stock auf den Boden und ließ Ray zusammenzucken, ebenso wie sein älterer Cousin neben ihm. Silas Falham war so klug und hielt sich aus dem Gespräch raus, obwohl er ebenfalls beim Kamin saß. Er las ein Buch über Gesetze, was anscheinend sehr spannend war und ein idealer Vorwand, um in Ruhe gelassen zu werden. Silas jüngerer Schwester Caitlyn Falham hatte sich stattdessen beim Klavier in ihren Notenblättern vertieft, sollte sie später der anwesenden Familie ihre Fortschritte präsentieren.

„Da du dich an Vater gewendet hast, bin ich davon ausgegangen, dass du erst mal keine weiteren Fragen an mich hast.“, konnte Ray es sich nicht verkneifen. Man sagte das sich Hunde ihren Besitzern ähnelten, oder andersherum, denn seine Großmutter hatte genau denselben Blick wie ihr Haustier. Doch es wurde nicht mit ihm gesprochen, auch wenn sie ihn nicht aus den Augen ließ.

„Ich wiederhole es nochmal, aber an den Manieren eures ältesten Sohns müsst ihr weiterarbeiten. Ihr habt nicht mehr lange, bevor es zu spät ist.“

Seine Eltern waren gemeint, die in seiner Erziehung nur eine zweit gestellte Rolle gespielt hatten. Während seine Mutter zustimmend nickte, sagte sein Vater einen Moment kein Wort, bis er sich umdrehte.

„Du befragst ihn schon seit einer halben Stunde und hast ihn dabei drei Mal vorgeworfen mit Absicht geschwiegen zu haben.“, ergriff dieser Partei für Ray. Die halbe Stunde hatte sich angefühlt wie mindestens drei. „Lorena und ich habe ihn direkt bei den Katakomben abgeholt, er hat da auch erst von dem Tod seines Onkels erfahren.“

Esmaria sah ihren Sohn einen Augenblick an, bevor ihr Blick wieder zu ihrem Enkel glitt. Ray nahm es ihr und ihr Verhalten noch nicht einmal übel, denn erstens war es ein gewohntes und zweitens hatte sie erst vor wenigen Stunden erfahren, das einer ihrer Kinder verstorben war. Dabei wurde sie bis zum Morgen im Unklaren gelassen, was genau auf dem Hof in der Kaserne vorgefallen war. Es folgte keine Entschuldigung, sondern sie klopfte mit der freien Hand auf die Armlehne.

„Vivica, meine Liebe, mach uns doch bitte einen Tee.“ bat sie mit einer liebevollen Stimme. „Und schicke bitte doch die anderen wieder rein.“

Rays Mutter erfüllte diese Bitte nur zu gerne und nutzte diese, um aus dem Raum zu flüchten. Es war ihre Art mit der Trauer umzugehen, denn immer nach einem Todesfall in der Familie oder Freundeskreis konnte sie nicht lange mit Ray in einem Raum verweilen. Mit den anderen waren seine Tante Lorena und seine Geschwister gemeint, die schon nach dem Essen nach draußen in den großen Garten gegangen waren. Vor allen die Jüngeren sollten nicht mit diesem schweren Thema belastet werden, auch weil ein Teil der Familie fehlte. Als Mitglied des militärischen Bereichs, sei es der Stadtwache oder der königlichen Armee, war ein Zusammentreffen aller nicht immer möglich und Ray war ein bisschen froh darum. Je weniger Lichter um ihn herum, desto besser konnte er sich auf andere Dinge konzentrieren. Die magischen Kerne innerhalb seiner Familie waren ausgeprägt und stark, weswegen ihr Flackern seine Augen schneller überforderten.

Das Trampeln kleiner Füße kündigten die Ankunft Rays jüngerer Schwester Amethyne an, die den Raum regelrecht stürmte. Sie zögerte nicht einmal, bis sie in den Armen ihres Vaters war und sich an seiner Brust versteckte. Das sie dabei Baritur aufschreckte war ihr egal, auch wenn der Hund eher wieder Ray in seinen Blick nahm, als wäre er Schuld an allem. Er vermisste Tiffa jetzt tatsächlich ein bisschen, auch wenn seine Hose am Knie jetzt kleine Löcher von ihren Krallen hatte. Ihm wurde zum Glück seine Kleidung von der Gilde gestellt und es war bald wieder Zeit, dass er eine neue Montur bekam, denn er war tatsächlich nach all den Jahren ein Stück gewachsen.

Nach Amethyne betraten auch die anderen den Raum, nur nicht so schnell. Seine Schwester Merida bewegte sich mit der Selbstsicherheit einer Stadtwache voran und setzte ihre Schritte bedacht. Ihre Haltung war gerade und sie machte dadurch nur noch deutlicher, dass sie nicht nur älter war als Ray, sondern auch größer. In ihrem Schatten und nach ihrem Vorbild folgte der Letzte von ihnen, Payel. Seine Großmutter begrüßte die beiden mit Stolz, während sie ihrer jüngsten Enkelin fürsorglich über den Rücken strich. Ray bekam auch diese Zuneigung von ihr, nur nicht jetzt, so oft oder offen. Dadurch, dass er schon so früh sein Elternhaus verlassen hatte, war er schneller erwachsen geworden und er war aus dem Alter raus, indem er ein tätschelnd brauchte. Dabei wurden wesentlichen Tatsachen gekonnt ignoriert, unter anderem das seine ältere Schwester wesentlicher reifer und vernünftiger war als er, aber es störte ihn noch nicht einmal. Berührungen war er nicht gewohnt und außerdem war es wesentlich leichter jemanden zu loben, der tatsächlich etwas sichtbares machte, wie zum Beispiel in der Stadtwache zu dienen. Rays Arbeit ging in Flammen auf.

„Tante Lorena hilft Mutter beim Tee. Sie bringen auch Gebäck mit.“ teilte Merida mit und stellte sich neben ihrer Großmutter. Bariturs ganze Aufmerksamkeit wurde allerdings auf Payel gelenkt, denn dieser hatte begonnen den großen Hund zu streicheln. Von einer Feindseligkeit war keine Spur mehr in diesem Hundegesicht, dessen schmale, lange Schnauze sich in den Stoff der Tuniker des Jungen drückte. Dafür machte er sich anderweitig breit und stieß andauern mit der Pfote gegen Ray Fuß, als wollte er diesen vertreiben.

Und Ray saß einfach auf seinen Sessel und überlegte noch immer seine Stiefel auszuziehen. Dafür sprach die Bequemlichkeit des Polsters, dagegen die Tatsache, dass er später diese dann wieder anziehen musste, wenn er sich auf den Weg zum Gildenhaus machte. Ihm wurde jedes Mal angeboten, das er auch hier in einem Gästezimmer schlafen konnte, doch er lehnte immer ab. Jetzt vor allen, weil er sein Frühstück nicht mit denselben Fragen verbringen wollte wie die letzte halbe Stunde. Außerdem war er sich sicher, dass man ihn belehren würde, wegen seiner Hose, die etwas zu kurz war, oder wegen seiner Haltung, oder wegen seinen Manieren, oder wegen seinem Beruf, den er nicht freiwillig ergriffen hatte.

Ray war umgeben von mehr Lichtern, durch die Anwesenheit der anderen und es belastete seine Augen noch mehr. Seine Geschwister hatten die stärksten magische Kerne im Raum, vor allen Payel der genau in seinem Blickfeld saß. Sein ganzer Körper schien zu leuchten und es tat ein bisschen weh ihn anzusehen. Tatsächlich war es einfacher sich durch die belebten Viertel zu kämpfen, als nur einzelne starke Lichter vor zu sich zu haben. Waren es viele, vermischte sich alles und nahmen einander die Intensität, Details wurden unwichtig und er konzentrierte sich nicht mehr automatisch auf einen Punkt. Der Weg jedoch dahin war lang gewesen und es funktionierte nicht immer, es wurde nur besser, je mehr er sich daran gewöhnte. Das war auch einer der Gründe, warum er regelmäßig zu Madam Callum geschickt wurde und in einem gemeinschaftlichen Gildenhaus schlief. Auch wenn er in den Katakomben arbeitete, wollte man nicht, das er den Anschluss an lebende Menschen verlor, denn für seinen Beruf musste er wohl oder übel auch mit diesen kommunizieren. Außerdem war jedes Mitglied verpflichtet sich im Bereich der Heilung und Medizin ausbilden zu lassen. Zu Zeiten des Krieges waren sowohl die Pflege der Verletzten als auch die der Toten wichtiger und jemand der in beides geschult war bekam einen neuen Wert. Und natürlich auch mehr Arbeit. Anders jedoch, wie unter Meister Arbos durfte er bei den Heilern trotz seines jungen Alters und Minderjährigkeit schon vieles selbst tun und behandeln. Knochen und Gedärme wieder an Ort und Stelle im Körper bringen hatte er aus der Not zum ersten Mal letztes Jahr gemacht, als abstraktes Geschenk zum Jahresende. Es machte ihm tatsächlich Spaß, nur das Entfernen von magischen Kernen blieb ihn verwehrt, dabei schrumpften langsam die Dinge, die ihm noch nicht beigebracht werden konnten.

Eine Unterforderung von ihm war nicht zu empfehlen, da er sonst dazu neigte Sachen auf seine Art zu erforschen. Er war neugierig und stur in seinem Egoismus, was eine schlechte Kombination war und ihn schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Allerdings ihm auch eine neue Freizeitbeschäftigung und Gesprächspartner. Vielleicht war es gut, dass er die nächste Woche wieder bei Madam Callum war, so konnte er wieder nach seinen Bekannten sehen und schauen, ob sich etwas bei ihnen verändert hatte. Während er es bei seinem Onkel nicht gesehen hatte, bemerkte er durch aus schon bei anderen, wenn sich die Lebensjahre dem Ende neigten. Es begann immer bei den Fingern und Zehen.

„Was habt ihr draußen schönes gemacht?“

Seine Großmutter mochte keine Stille und brach das Schweigen immer wieder, vor allen in ihrem eigenen Haus, das jetzt leerer wurde. Obwohl drei ihrer Kinder noch hier wohnten, mitsamt Nachkommen, würde Amethyne die Einzige sein, die nächstes Jahr ihre Zeit hier spielend verbringen würde. Sie war noch zu jung, um der allgemeinen Schulpflicht nachzugehen. Merida stand mit beiden Beinen schon fest im aktiven Dienst, während Ray schon lange aus dem Haus war. Payel hingegen würde schon bald mit dem Training beginnen, denn sein Wunsch und sein Weg standen schon länger fest. Er würde auch in der Stadtwache enden.

„Merida hat uns Übungen mit dem Holzschwert gezeigt.“

Amethynes kleines Gesicht tauchte auf, jedoch weigerte sie sich ihren Vater loszulassen. Dieser störte es auch nicht. Ray wusste das sein Vater es ebenso bedauerte, dass seine Kinder Erwachsen wurden. Zum Glück hatte er noch eine Tochter, die ihm länger erhalten blieb. Trotzdem lag Stolz in seinen Zügen, wenn er hörte das auch die Jüngsten voller Begeisterung der Familientradition folgten.

„Macht ihr große Fortschritte?“

Die jüngste Tochter nickte begeistert und begann zu erzählen, was sie alles gemacht hatten. Über jede Bewegung wurde genausten berichtet, während Merida mit ihrer analytischen Art Anmerkungen machte. Sie erklärte möglichen Schwächen und Stärken, die ihr bei ihrer kleinen Schwester aufgefallen waren. Erzählte von den Fortschritten die Payel gemacht hatte und wies auch darauf hin, dass beide sehr ehrgeizig waren. Es war eine genau Abbildung einer Lebensgeschichte, die sich in diesem Haus schon mehr als einmal abgespielt hatte. Genau genommen war Ray die einzige Abgabe, die in dieser Familie, seit vielen Generationen vermerkt wurden war. Jedes andere Mitglied hatte sein Weg im militärischen Bereich gefunden.

Ray hörte irgendwann nicht mehr zu, bis es Zeit wurde nach Tee, Gebäck und Musik zu gehen. Es war eine Erleichterung das Licht um sich herum hinter sich zu lassen und neues wieder in seiner Nähe zu finden. Trotz der Abendstunde waren die Straßen des militärischen Viertels noch belebt, hauptsächlich durch Personen, die von oder zum Dienst gingen. Hier und da schmuggelten sich jedoch Menschen aus anderen Gilden und Gruppierungen dazwischen, doch die waren ihm gerade egal, denn als er um die Ecke bog stieß er fast mit jemanden zusammen. Es war ihre schnelle Reaktion zu verdanken, dass sie es doch nicht taten, trotzdem stand er einen Moment irritiert an Ort und Stelle, bis ihm klar wurde, dass der Zufall ihn heute nicht wohlgesinnt war.

Seine Besucherin schien aber ebenso wie er überrascht, bevor erst Ärger über ihr Gesicht huschte und dann so etwas wie eine Entschuldigung. Kayla, das war ihr Name und im Licht der Straßenlaterne schimmerte ihr Haar noch rötlicher als vor einigen Stunden in den Katakomben. Sie trug noch immer ihre Rüstung, allerdings lag ihre Hand nicht an ihrem Schwert, dabei musste man auf den Straßen eher erwarten angegriffen zu werden als auf einen Friedhof.

„Sie!“ begann sie und er war sich sicher, dass es ihr in den Händen kribbelte. Wer so sprach drückte und bohrte auch anderen die Fingerspitze am liebsten gegen das Brustbein im Versuch es mit der Meinung zu zertrümmern. „Sie stammen aus der Familie Falham und sind der Bruder von Merida Falham, der eine Abgabe ist.“

„Das ist mir bekannt.“ erwiderte Ray und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen. Ihr magischer Kern war ausgeprägt, jedoch schätzte er ihn durch die Helligkeit ein, dass es für eine passive Fähigkeit reichte. Sie stieß ein Seufzen aus und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Er schaffte es sie mit nur vier Worten zu ärgern, doch sie überraschte ihn.

„Es tut mir leid.“ Er blinzelte, sie fuhr fort. „Das Sie den Tod ihres Verwandten von mir erfahren haben. Das war unsensibel von mir.“

„Nicht unsensibler als das Sie jemanden auf eine Tatsache reduzieren, die erstens nicht relevant ist und zweitens Jahre zurück liegt.“ entgegnete er, weil er überfordert, war mit ihrer Entschuldigung. „Wenn Sie das trotzdem tun wollen, dann machen Sie das mit meinem Beruf, der schon allein viele Möglichkeiten bietet. Ist eine Gewohnheit und die ist mir vertraut.“

Ärger huschte über ihr Gesicht und sie erinnerte ihn an Tiffa, wenn jemand sie von einem Sarg verscheuchte. Damit konnte er arbeiten.

„Sind Sie immer so unhöflich?“ fragte sie, obwohl die Antwort für sie schon auf der Hand lag. Das machten viele Leute und Ray mochte es absolut nicht. Es war, als würde man die Todesursache schon erzählen und dann jemand anders bitten, diese herauszufinden. Leichen wurden erst beurteilt, wenn man ihre kalten Glieder selbst zur Hand nehmen konnte.

„Nein.“

„Dann liegt es tatsächlich an ihrem Beruf.“

„Sehen Sie, das klingt doch schon besser.“ Es machte die Rekrutin jedoch nicht sympathischer, denn sein Beruf war auch einer wie jeder andere. Sie hatte allerdings angefangen ihm zu antworten, dabei überging er, dass nicht viele Besucher wussten, dass die Affinität zu Selbstgesprächen ein Nebeneffekt der Lehre war und sich nach und nach entwickelte. Sie schnaubte und er wusste, dass sie ihre Entschuldigung ihm gegenüber bereute. „Aber um auf Ihre Worte wieder zurückzukommen. Ja ich bin der Bruder von Merida Falham, falls sie eine familiäre Verbindung brauchen.“

Und da beide jungen Frauen Rekruten waren ging er davon aus, dass sie sich aus der Ausbildung kannten, wobei es in der Stadtwache nicht selbstverständlich war. Der militärische Bereich war in zwei Hauptstränge unterteilt, der Wache und der Armee. Während die einen dafür sorgten das Leben zu schützen, nahmen es die anderen, zumindest wenn man die komplizierte Tatsache auf einen Aspekt herunterbrach.

Die Rekrutin vor ihm sah ihn einen Moment an, ohne etwas zu sagen, bevor ein erneutes Seufzen ihren Lippen entglitt.

„Sie wirken völlig anders, wie Ihre Schwester.“ stellte sie schließlich fest, was ihm fast etwas entlockt hätte. Ein Schnauben vermutlich, oder doch verletzende Worte. Er wurde immer mit seinen Geschwistern verglichen, vor allen mit Merida, die nur zwei Jahre älter war als er. Früher, bevor er in die Lehre gegangen war, waren er und seine Schwester wie Pech und Schwefel gewesen, doch das hatte sich in den Jahren geändert. Ihm gegenüber war sie vorsichtig und schweigsamer, als dass er es aus Erzählungen und Beobachtungen kannte, denn ebenso wie andere aus der Familie wusste sie nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Auch Payel und Amethyne verhielten sich ihm gegenüber so, denn mit keinen seiner Geschwister war er wirklich aufgewachsen. Er rechnete es ihnen jedoch an, dass sie sich mit Kommentaren zurückhielten und zumindest ab und zu aus tatsächlicher Neugierde mit ihm sprachen. Fragen stellten. Sich zu ihm setzten.

„Sie sind wirklich so begabt, wie man mir erzählt hat.“ konnte Ray es sich nicht verkneifen und überraschte damit die Rekrutin tatsächlich, weil er anscheinend überzeugend klang. Lügen konnte er noch.

„Was? Ihnen wurde etwas von mir erzählt?“

Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust, grub die Finger in seinen Ärmeln. Außerhalb der Katakomben trug er aus verschiedenen Gründen die meiste Zeit Handschuhe.

„Nein. Ich bin trotzdem beeindruckt, dass sie anscheinend aus einer Begegnung das ganze Wesen einer Person erfassen können, um ein professioneller Vergleich mitsamt Urteil abzugeben.“

Die Verärgerung bohrte sich regelrecht in ihr Gesicht, indem sie die Augenbrauen zusammenzog und den Mund zu einer Linie formte. Hätte sie einen Schnurrbart wie ihr Vorgesetzter, würde er unter ihrer Nase zittern.

„Das kann ich nicht.“ gab sie zu und ihre Stimme passte zu ihrer Mimik. Sie bildeten eine Einheit, die ihre Gefühlslage nur noch unterstrich. „Aber allein wenige Sätze haben gereicht, um einen Unterschied zu ihrer Schwester festzustellen. Der fängt schon bei dem Verhalten gegenüber andere an.“

„Das könnte man als Argument gelten lassen.“

Er legte leicht den Kopf schief und fragte sich, ob er noch eine Bewunderin seiner Schwester vor sich hatte oder ob es nur die Solidarität innerhalb der Wache war, die hier mitschwang. Allerdings hoffte er das seine Gesprächspartnerin jetzt nicht begann, alle Unterschiede aufzuzählen, die einem tatsächlich bei der ersten Begegnung beider Parteien ins Auge fielen. Er musste, im Gegensatz zu Merida nicht gut darin sein mit anderen zu sprechen, denn seine Informationen bekam er in Textform oder konnte er am Körper ablesen. Es konnten noch immer leere Worte gesprochen werden, aber Fleisch und Knochen lügten in der Regel nicht. Zumindest hatten sie nicht die Fähigkeit dazu, es aus eigener Kraft zu tun.

„Gut.“

Er nickte bei diesem Wort zustimmend, auch wenn er nicht wusste, warum. Das Einzige was ihm bewusst war, war das sie sich eine Weile anschwiegen und einfach ansahen. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen und ein logischer Schluss wäre jetzt zu gehen, doch irgendwas veranlasste es nicht zu tun. War es ihr magischer Kern?

Ihr Licht schimmerte in vielen verschiedenen Farben. Es war ein Phänomen das häufiger auftrat, aber ihn schon in frühen Kindertagen dazu gebracht es so lange zu betrachten, bis er alles entdeckt hatte. 'Was für ein schöner Regenbogen', waren seine Worte auf der Beerdigung seines Großvaters gewesen und der Grund, warum man ihm die Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Es war ein grauer, regnerischer Tag gewesen, doch für ihn hatte die Welt um ihn herum in allen Farben geleuchtet. Meister Arbos hatte es mitbekommen, wie jeder andere auch bei der Trauerfeier, denn Ray hatte es regelrecht herausgeschrien und auf einen der Anwesenden gezeigt. Eine kindische Reaktion, denn seine Eltern hatten nicht auf seine Versuche ihre Blicke zu erhaschen reagiert. Zurückblickend betrachtet konnte man amüsiert darüber sein und die Situation in einem humoristischen Theaterstück packen, das den Titel 'Falsch gedacht' oder 'So spielt das Leben' trug. Es würde es auf den Punkt bringen, so wie es ihn in die Katakomben gebracht hatte. Das Einzige was ihn minimal störte war, dass es außerhalb seiner Familie und der Gilde anscheinend als das einzige beschreibend Attribut für ihn galt. Sein Beruf bot dabei mehr Möglichkeiten, denn er war ja nicht die einzige Abgabe.

Die verschiedenen Gilden nahmen ihre alten Rechte sehr ernst, vor allen die die auf spezifische Fähigkeiten angewiesen waren. Darunter zählte auch die Gilde der Heiler, wobei diese keine Probleme hatte ihre Mitgliederzahl zu halten, sie konnten es sich sogar leisten verschiedene Prüfungen aufzustellen und die Besten herauszufiltern. Niemand wurde abgewiesen, jedoch war es ein Unterschied, ob man nur als Pfleger tätig war oder die Möglichkeit bekam sich eines Tages Doktor zu nennen. Außerdem gab es viele Freiwillige in den Reihen der Heiler, egal ob ein ausgeprägter magischer Kern vorhanden war oder nicht. Diesen Luxus hatte der Bereich innerhalb der Gilde, der sich um die Verstorbenen kümmerte, nicht. Ray war einer der sieben Lehrlinge, die derzeit in den Katakomben von Königsfeuer ausgebildet wurden, darunter zählten auch diejenigen die schon die Volljährigkeit erreicht hatten und nur noch darauf warteten, dass Meister Arbos und Madam Callum ihnen ein Zertifikat und neue Armbinden gaben. Leider waren beide oberste Magier viel zu beschäftigt und dazu vergesslich.

Wie Ray auch, denn er wusste immer noch nicht, warum er noch nicht gegangen war. So wie auch die Rekrutin, die mittlerweile dazu übergegangen war mit dem Fuß zu wippen. Kleine Staubwolken auf trockenem Pflaster wurden aufgewirbelt, denn es hatte schon lange nicht mehr geregnet.

„Starren Sie andere immer so seltsam an?“ fragte sie gereizt und als Antwort zuckte er mit den Schultern. Es war noch eine Eigenart, die mit seinen Fähigkeiten in Verbindung stand: Er starrte fast jeden an, aber nicht aus Faszination für die Person, sondern für das Licht, das diese in sich trug. Er wurde außerdem ausgebildet zu erkennen, wann das Leben sich dem Ende neigte und seinen letzten Kampf führte.

„Ja, das mache ich.“ erklärte er. Sie runzelte die Stirn, da sie anscheinend etwas anderes erwartet hatte. Ihm war nicht bekannt das auch andere dieses Verhalten an den Tag legten, außer vielleicht der alte Borda, aber dieser war halbblind und brauchte seine Zeit, um Dinge erkennen zu können. Dazu war dieser alte Mann zu stolz, um sich helfen zu lassen, auch wenn Ray es schon mehrmals angeboten hatte.

„Hören Sie damit auf.“

„Ich dachte es wäre unhöflich sein Gesprächspartner nicht anzusehen.“ konnte er es sich nicht verkneifen. Mittlerweile hatten sie beide eine ähnliche Haltung angenommen, als wären sie zwei Katzen vor und hinter einer Glasscheibe. „Außerdem stehen Sie mir genau gegenüber. Ihr Licht ist derzeit sehr präsent in meinem Blickfeld.“

„Was?“ 

Das entlockte ihm ein Seufzen, doch er erbarmte sich, damit seine Großmutter ihn nicht wieder vorwerfen konnte, dass er keine Manieren besaß. Er wurde tatsächlich erzogen von seinem Meister oder eher von dessen Ehefrau Louisan, die sich um die Jüngeren kümmerte und diese pflegte. Ray hatte auch dazu gezählt und noch heute sah sie nach ihm.

„Ihr magischer Kern ist so ausgeprägt, das er leuchtet.“

„Sie können ihn sehen?“

Das hatte er erst vor wenigen Momenten gesagt, doch darauf wies er nicht hin, sondern nickte. Es war nun auch kein Geheimnis, dass es diese Fähigkeit gab, sie war nur nicht so weit verbreitet oder so auffällig. Außer der Person, die dies betraf, erfuhren andere nur im direkten Gespräch davon, bei anderen Begabungen bemerkte es man wesentlich früher. Es war nicht zu übersehen, wenn die magische Energie einen ins Gesicht traf oder trat.

„Erstaunlich.“ Jetzt war er es, der die Stirn runzelte, denn diese Reaktion hatte er ehrlich gesagt nicht erwartet. Die meisten fanden es langweilig oder nicht besonders genug, die Rekrutin jedoch teilte eine ungewöhnliche Begeisterung. „Ich dachte die Sache mit dem Licht wäre nur eine Art Beschreibung für den magischen Kern, damit man es sich bildlich vorstellen kann und nicht das sie tatsächlich leuchten.“ erklärte sie und es passierte ein ganz merkwürdiger Wandel. Ihre Verärgerung war verschwunden, so als hätte es sie nie gegeben. Allerdings verschwand auch ihre Begeisterung, als ihr Blick über seine Schulter fiel und sie anscheinend etwas oder jemand entdeckte.

Er drehte sich nicht um, da es ihn nichts anging und auch, weil Kayla ihm kurz eine Hand auf die Schulter legte. Vermutlich um zu testen, ob er noch da war, oder?

Es irritierte ihn, auch wenn er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen.

„Ich habe viele Fragen.“ sprach sie schnell, aber leiser als zuvor. „Ich komme einfach auf Sie zurück.“ Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie fuhr fort. „Im Gegenzug werde ich Ihnen alles sagen, was ich über den Vorfall heute weiß. Ich habe Ihre Frage von eben nicht vergessen.“ Sein Nicken passierte, wie automatisch und sie erwiderte es.

Ein letztes Mal klopfte sie ihm auf die Schulter, während ihr Licht an Intensität zunahm. Bei stärkeren Gefühlslagen konnte der magische Kern visuelle Veränderungen erliegen, wie auch jetzt, auch wenn er nicht deuten konnte, was nicht stimmte. Wie schon gesagt ging es ihn nichts an und schneller als das er reagieren konnte hatte sich die Rekrutin zum Gehen abgewandt.

„Mein Name ist Ray Falham und ich bin bei der Gilde der Heiler zu finden.“ rief er ihr hinterher. Sie blieb für einen kurzen Moment stehen und sah ihn über die Schulter an. Er mochte Rot immer noch nicht.

„Ich weiß. Ich heiße Kayla Williams.“ sprach sie und wieder glitt ihr Blick hinter ihm, bevor sie leicht grinste. „Sie sind trotzdem merkwürdig.“ Und mit einer Handbewegung, dass einem Winken glich, verschwand sie in den Gassen des militärischen Bezirks. Er blieb zurück und fragte sich aller ernsten was gerade passiert war. Er mochte seine ehemalige Besucherin noch nicht einmal, hatte sie ihm einfach geantwortet. Und berührt, was niemand außerhalb seiner Familie und den Katakomben tat, immerhin haftete der Tod an ihm.

Er schüttelte den Kopf nicht nur über diese Begegnung, sondern auch über den ganzen Tag und dessen Ereignisse. Der Tod seines Onkels war nicht die einzige Nachricht, die ihn heute erreicht hatte, sondern war nur die Letzte und alles hat angefangen mit dem Gespräch zwischen Meister Arbos und einem Boten des Obersten Rates. Es war zur frühen Morgenstunde gewesen, als Ray gerade das Gebetshaus betreten und die Aufmerksamkeit beider Männer auf sich gezogen hatte. Sein Meister hatte ihn vorgestellt, ohne seinen Namen zu nennen und gelobt für seine Arbeit, die er seit Jahren machte. Es war feiner Sarkasmus gewesen, das Ray für eine schnelle Auffassungsgabe geachtet wurde. Er hatte immerhin mehr Leichen präpariert, als das er Stunden draußen Ball gespielt hat. Natürlich wurde er fortgeschickt, aber er hatte noch Worte vernommen, die nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren.

'Das Moor im Bluttal gibt seine Geheimnisse nicht gerne heraus, außer man weiß wie.'

Es ging ihn nichts an, wirklich, aber während Ray durch die Straßen ging setzten sich seine Gedanken wie automatisch auf einen Punkt. Sein Onkel war erst vor kurzem von der Grenze wieder gekommen und war nun urplötzlich verstorben. Er wusste das er zu viel las und seine Fantasie manchmal ungeahnte Höhen erreichte, aber es fütterte sein Misstrauen soweit, das er beschloss es zu vermerken. Zufälle gab es, aber manchmal blieben sie keine. Allerdings würde er erst einmal den Bericht über den Tod von Berrat Falham ansehen, denn es konnte auch noch immer ein natürlicher tot gewesen sein.

Irgendwie.

 

• • •

 

Während ein Besuch in den Katakomben die Sinne mit einer harmonischen Komposition an Geräusche, Gerüche und dem Anblick schmeichelten, schrie alles in dem Heilerhaus nach Aufmerksamkeit. Scharf war der Geruch von Kräutern und Alkohol, der zum Desinfizieren von Wunden, aber auch für die Gerätschaften genutzt wurde. Er brannte ebenso in den Augen, wie das helle Tageslicht, das durch einige großen Fenstern schien. Es gab kein Entrinnen, denn diese zierten beide Seiten der langen Halle, in der die Patienten sich von Verletzungen erholten. Wobei Erholung eins war, dass man Rays Meinung nach nicht finden konnte. Wie ein Braten auf dem Silbertablett lagen die Unglücklichen in harten, weißen Betten, die in einer Reihe unter den Fenstern standen. Trennung gab es nur durch schmale Tische und beweglichen Wänden aus Stoff, die dazwischen platziert waren. Privatsphäre gab es hier nicht, wie auch keine derzeitige Ruhe, denn er war einer der Gründe, warum die Stille immer wieder durchbrochen wurden.

Er putzte.

Und dabei war er sich nicht sicher, ob er versuchte jedes Staubkorn zu vernichten oder seine Hände. Die Haut spannte durch das alkoholische Gemisch, das ihm auf die Handgelenke getropft war. Es war nicht giftig oder ätzend, auch wenn es sich so anfühlte, trotzdem war die Anweisung bei der Benutzung Handschuhe zu tragen. Handschuhe die unnötig waren, denn diese waren nicht lang genug und so dünn, dass er jede Unebenheit des Holztisches ertasten konnte. Doch er fluchte nicht, denn das tat in der Regel niemand aus den Katakomben. Hektik war etwas, was unter der Erde nicht so leicht aufkam, denn die Toten konnten durch die Sicherheitsmaßnahmen nicht weglaufen und nicht noch einmal sterben, also musste man auch nicht für ihr Leben kämpfen. Nicht wie hier.

Madam Callum war zu einem Patienten gerufen wurden, der blutüberströmt ins Heilerhaus gebracht wurden war. Es war ein Unfall gewesen im Hafen, ein Unfall mit schweren Lasten und viel Magie. Das Licht des magischen Kerns hatte in der Brust des jungen Mannes regelrecht pulsiert, als dieser auf einer Trage vorbeigekommen war, so sehr das Ray die Befürchtung fast ausgesprochen hätte, dass er explodieren konnte. Er hatte es noch nie selbst gesehen, aber davon gelesen, dass der magische Kern sich in extremen Situationen überladen konnte und dann von sich selbst auseinandergerissen wurde. Die Energie brach aus dem Körper so kraftvoll hinaus, dass eine Gefahr für die Umstehenden bestand. Und den Fenstern, weniger die Mauern, den die waren aus festem Stein erbaut und hatten schon Kriege standgehalten. Er hatte aber geschwiegen und sich so lange in eine Ecke zurückgezogen, bis der ganze Trubel sich zumindest hier in der Halle gelegt hatte. Allein war er nicht, doch der einzige Patient im Raum war eine alte Frau, die tief und fest schlief, und dann war da noch ein Wartender.

Der junge Mann hatte den Verletzten begleitet und in kurzen Zügen erklärt was genau vorgefallen war, dabei war er sehr akribisch in der Beschreibung der Magie gewesen. Das war wichtig, denn nur so konnten die Heiler verhindern das diese noch weiter um sich griff. Unkontrollierte Energie war so gefährlich, wie ein scharfes Schwert, das auf der Brust gerichtet war oder ein Ausflug mit verbundenen Augen in eine einsturzgefährdete Höhle beim Erdbeben.

Madam Callum war zwar eine Koryphäe auf ihrem Gebiet, jedoch konnte sie entgegen jeglichen Behauptungen keine Wunder vollbringen und das wusste sie selbst. Es war immerhin ihr Leitspruch, dass man auf seine Fähigkeiten vertrauen sollte, sie aber niemals überschätzen. Vor allen wenn es um Magie ging. Die magische Energie war schließlich überall als Spur um sie herum und in allen Menschen, die die Reiche auf dem Kontinent bevölkerten. Fehler verzieh sie nicht so leicht, waren aber schnell gemacht. Deswegen waren in manchen Gilden das leichtfertige Experimentieren mit dieser so verpönt, wie das nackte Tanzen am Markttag auf dem großen Platz vor dem Rathaus. Wie auch in der Händlergilde.

Der Wartende gehörte zu dieser Gilde, wie vermutlich auch der Verletzte, der noch immer in einen der Behandlungsräume versorgt wurde. Das wusste Ray nicht nur durch das Wappen auf der Jacke, sondern konnte es auch im Gesicht des jungen Mannes ablesen. Geschwungene Zeichen aus schwarzer Tinte zierten den Hals und zogen sich hinauf bis zum kräftigen Kiefer. Selbst der Schatten des Hutes konnte diese nicht verbergen, auch weil das Licht des magischen Kerns zu hell war. Das Leuchten war ruhig, so wie auch der Besitzer von diesem. Es war ein Gemisch aus verschiedenen Farben, die ihren Ursprung jedoch in Blau und Grün hatten, wie ein Wirbel durchzogen sie ihre Bahnen und glichen einen stummen Sturm. Ein Sturm der immer wieder Rays Blick auf sich zog und dafür sorgte das er unvorsichtig war mit dem alkoholischen Gemisch. Er machte Fehler und konnte sich gerade noch davon abhalten, sich mit dem Unterarm über die Augen zu wischen. Das hatte er einmal unbedacht gemacht und beschlossen, dass es die schlimmste Foltermethode war, die er sich vorstellen konnte. Er hatte schon einmal das Vergnügen gehabt in Form einer Leiche, deren Körper ihm mit alten Verletzungen viel darüber erzählt hatte. Meister Arbos war wütend gewesen, dass ihm der Verstorbene in die Hände gefallen war, denn das war zu einer Zeit gewesen, wo Ray erst begonnen hatte die Präparierungen alleine vorzunehmen. Aus Neugierde hatte er Fragen gestellt und den Bericht zu sehr studiert. Jetzt zügelte er sich, auch wenn es ihm unter den Finger juckten nachzuhaken, Welche Auswirkungen dieser magische Kern hatte? Er war ausgeprägt, so viel stand fest und die Händlergilde war sehr akribisch mit ihren Rechten. Sie ging sogar soweit vor, das sie regelmäßig die allgemeinen Bildungsstätten aufsuchten, um mögliche Abgaben und Kandidaten für sich zu finden. Während andere Gilden aus klaren Strukturen mit wenigen Bereichen bestanden, war die der Händler ein ganzes Geäst, kompliziert verwinkelt und verknotet. Daher hatten sich einzelne Gruppierungen ihre eigenen Markierungen und Zeichen ausgesucht, um eine Zugehörigkeit zu demonstrieren. Wie die Tätowierungen am Gesicht, die für die Seefahrt standen. Der ganze Handel über das Wasser war ihr Reich, wie auch die Häfen. Die meisten Inseln vor der Küste gehörten der Gilde und keine Ware entkam den prüfenden Blick der Händler.

Ray hatte selten Kontakt zu den Seefahrer, auch in Form von Leichen, denn diese wurden woanders für die Flammen vorbereitet. Das ewige Feuer brannte nicht nur im höchsten Turm in der Mitte von Königsfeuer, sondern war auch in den größten Leuchttürmen zu finden. Sie wiesen den Weg und boten Schutz vor vielen Gefahren. Zu vielen Gefahren.

Nur mit Mühe konnte er sich wieder von dem Leuchten abwenden und fuhr mit seiner Arbeit fort. Eigentlich wollte Madam Callum ihm in neue Aufgaben einweihen, um so seine Gedanken von dem Todesfall innerhalb seiner Familie abzulenken, jedoch war der neue Patient dazwischengekommen. Sie war unglücklicher gewesen als er über diese Tatsache, auch wenn das Putzen nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Er musste nicht darüber nachdenken, was er tat und hatte so die Möglichkeit andere Dinge in den Fokus zu nehmen. Wie der Tod seines Onkels. Er tat ihm schon leid, aber er empfand keine tiefe Trauer, wie zum Beispiel seine Großmutter. Das es aber von ihm erwartet wurde ließ ihn sich unwohl fühlen, weswegen er froh war, dass man seine Schweigsamkeit anders interpretierte und er in Ruhe gelassen wurde. Er wollte nicht darüber sprechen, weil es ihn schmerzte, war die Annahme, die Wahrheit war allerdings das er nichts dazu sagen konnte. Es war immerhin ein Unterschied derjenige zu sein, der Beileid aussprach, oder es bekam.

Er war gerade mit dem letzten Bett fertig, als ein lautes Schnarchen die Stille durchbrach und nicht nur das Geräusch der unebenen Tischbeine auf dem Boden, der beim Putzen wackelte.

Es war die schlafende ältere Frau am anderen Ende der Halle, die noch weitere brummende Töne ausstieß, bevor sie wieder verstummte. Sie lebte also noch, denn er erkannte selbst aus der Entfernung, dass ihr magischer Kern schwächer war. Er schätzte sie aber allerdings auch auf mindestens 70 Winter, nicht wie der junge Mann aus der Händlergilde, der plötzlich aufstand und näherkam. Seine Schritte hallten durch den Raum, dessen hohe Wände und Decke sie lauter machten, als das sie waren. Früher, bevor diese Gebäude den Heilern zugesprochen wurden, waren, war es mal ein Ort des Glaubens gewesen. Man hatte sich die größte Mühe gegeben jeden Funken Religion aus den Räumen, die tagtäglich genutzt wurden, zu entfernen, die große Malerei an der Decke war jedoch geblieben und wurde zur Freude der Patienten gepflegt. Lag man hier für Tage, wenn nicht sogar Wochen, dann war Ablenkung zwischen den Besucherzeiten willkommen. Außerdem hatte es sogar etwas Gutes im Sinne der Bildung, denn über dieses Bild wurde die Geschichte des Königreichs lebhaft erzählt. An der Farbe Rot hatte man nicht gespart, was ein deutlicher Kontrast zu dem bläulichen magischen Kern war.

Ray sah auf, als der junge Mann im Gang genau auf seiner Höhe war und es war keine Absicht das er diesem ins Gesicht sah. In die Augen, um genau zu sein. Augenkontakt war etwas, was ihm schon immer schwer fiel zu halten, obwohl er oft starrte. Er hatte das Gefühl eine viel zu enge Bindung während des Gesprächs mit seinem Gegenüber einzugehen und das wollte er vor allen nicht bei Fremden.

„Ist was?“ fragte der Wartende.

Dieser war stehen geblieben, hoch aufgerichtet und mit einer geraden Haltung, die eher zu einem Soldaten passte als zu einem Händler und Seefahrer. Allerdings war dieser jünger als erwartet und Ray schätzte den anderen nur ein wenig Älter als er selbst ein. Die Haut war sonnengebräunt und unter dem Hut kamen dunkle Strähnen zum Vorschein, die durch ein Stück schmales Seil zusammengehalten wurden.

„Nein.“ War alles was er erwiderte, bevor er seine Sachen zusammenräumte. Da er keine weiteren Aufgaben hatte, würde er sich das Kräuterbuch vornehmen, dass jemand liegen gelassen hatte. Er konnte behaupten, dass er sich schon gut mit diesem Bereich auskannte, jedoch konnte man nie wissen, wann man mal Gifte verwenden konnte. Oder eher die Gegenmittel dazu.

Der junge Mann hatte die deutliche Aufforderung nicht verstanden und stand noch immer an Ort und Stelle im Gang. Er warf seinen Schatten über Ray, den er ignorieren konnte, jedoch nicht den neugierigen Blick.

„Sie gehören zur Gilde der Toten.“

„Ich weiß.“  Wäre seltsam, wenn Ray es nicht wüsste. Es war sein Leben und das Symbol von diesem trug er immerhin an seiner Weste. Es war schnell zu entdecken und rief verschiedene Reaktionen hervor. Die schlafende Frau hatte er einen Schrecken eingejagt, weil sie für Stunden der Meinung gewesen war, er wäre hier, um sie mit in die Katakomben zu zerren. Wenn wurde sie getragen und das würde er nicht allein machen, weil sie zu schwer war. Außerdem waren Menschen unhandlich. „Und ja, ich starre immer andere an.“

„Vermutlich gehören sie zu denjenigen, die den magischen Kern sehen können.“ Überrascht sah er von den Lappen in seinen Händen auf, die er eigentlich in den Korb mit der alten Bettwäsche werfen wollte. Dieser stand an den Füßen des anderen am Bettende, der Satz, der in der Luft hing, war eine Erklärung. Eine Erklärung für Rays Verhalten, das er diesmal nicht beschreiben musste, damit andere es verstand.

„Und hören.“ entkam es ihm zu seiner eigenen Überraschung, denn eigentlich wollte er kein Gespräch führen. Aber was hatte er auch anderes zu tun? Außerdem war in ihm noch die Neugierde.

Die Seefahrer blieben unter sich, denn sie waren, wenn nur für den Transport der Fracht zuständig und nicht mit dem eigentlichen Handel. Deswegen und wegen ihren Tätowierungen wurden sie mit vielen Bezeichnungen versehen, auch wenn sich eine über die Jahre durchgesetzt hatte: Inselkinder. Wobei dieser Begriff eigentlich diskriminierend war, nicht nur denn die erfahrenen Männer als Kinder beleidigt wurden. In der Religion herrschte der Glaube, dass der Mensch von der Erde stammte und das Wasser in der Schöpfungsgeschichte nur eine untergeordnete Rolle spielte. Es war also ein typisches Merkmal einer Gesellschaft, die die Freiheit hatte zu Denken.

Der junge Mann nickte. Zustimmend? Verstehend? Es verwirrte Ray zunehmend und er warf den Lappen daneben. Sie sahen beide auf den Stoff hinab, als könnten sie sich nicht erklären, wie er dahin gekommen war.

„Das sind keine weitverbreiteten Fähigkeiten.“ Er blinzelte bei diesen Worten und fuhr fort seine Sachen einzusammeln. Alles stopfte er in den Korb mit der schmutzigen Bettwäsche, denn es musste zum selbe Ort: In den Keller. Sein Weg war jedoch versperrt und diesmal war es nicht er, der jemand anstarrte. „Nicht nur die Gilde der Toten, kann diese gebrauchen.“

„Was?“ entkam Ray die hochkomplexe Frage.

„Ihre Gabe. Sie ist sicher hilfreich, auch außerhalb der Katakomben und den Hallen der Heiler.“ Bestimmt, doch darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Warum auch? Sein Leben war vorgeschrieben und eng verbunden mit den Orten der Toten unterhalb der Erde. Es gab kein wenn, kein aber und kein Kuchen.

„Ich glaube nicht, dafür ist sie zu passiv.“ erklärte er einem völlig Fremden, der halbwegs intelligent durch seine Bemerkungen wirkte. Und dieser berührte Ray nicht, so wie Kayla, die noch immer nicht aufgetaucht war. Die Mittagszeit war schon seit einer Weile verstrichen, aber sie hatte ihm auch nicht gesagt, wann sie ihn aufsuchen wollte. Es konnte heute sein, morgen, in ein paar Tage, Wochen, Monaten oder schlichtweg niemals. Darüber ärgerte er sich ein bisschen, auch weil er es nicht geschafft hatte Einblicke in die Akte seines Onkels zu bekommen. Jemand hatte vorsorglich alles weggeschlossen, was sein Misstrauen nur noch verstärkt hatte. Es wurde etwas versteckt und das fütterte seine Paranoia.

„Mir ist noch kein Fall untergekommen, wo das ein Problem gewesen ist.“ Ray runzelte bei diesen Worten noch mehr die Stirn. Noch immer stand er mit dem Korb im Arm neben dem Bett und sah den jungen Mann an. Was machte er noch hier? Also er und er selbst. Außerdem war der Wartende viel zu jung, um zu behaupten genug erlebt zu haben, um so etwas zu sagen.

Selbst als Kind der Inseln.

Er wollte widersprechen, wirklich, doch kein Ton kam über seine Lippen, denn er wusste schlichtweg nicht, wie er es formulieren sollte, ohne dass ein falsches Bild entstand. Er hatte es wesentlich schlechter treffen können mit seinem magischen Kern und den damit verbundenen Fähigkeiten, die ja nützlich waren. Trotz Passivität. Aber sie waren nun auch kein Wunder oder etwas Besonderes im Vergleich zu jemand, der Feuer beschwören konnte. Oder ähnliches. Er hatte gehört das manche aus der Seefahrt mit Tieren sprechen, die Strömungen spüren und den Wind lenken konnten. Traf das auch auf sein Gegenüber zu, dessen magische Energie noch immer dem Abbild eines Sturms glich? Eines sehr langsamen Wirbels, der sich drehte und jeden Winkel des Körpers erfüllte.

Statt etwas zu sagen, schaffte Ray es nicht sein Impuls zu unterdrücken. Der Korb fiel zu Boden und er zuckte beim Geräusch zusammen, ebenso wie er versuchte unauffällig die Hand zu senken. Manchmal starrte er nicht nur, sondern in ihm kam das Verlangen auf nach dem Leuchten zu greifen, auch wenn er es nicht berühren konnte. Wie auch jetzt. Das ließ ihn sich mehr als Verrückten fühlen, als die Tatsache das er mehr nackte Menschen sah als ein Bordellbesitzer. Es wäre nur merkwürdiger, wenn die Toten plötzlich aufsprangen und Geld dafür verlangten, während sie tanzten. Er schüttelte sich und griff nach dem Korb, der zum Glück nicht umgekippt war.

„Sie stehen im Weg.“ bemerkte er, überfordert mit der Situation, denn wenn er nach etwas griff, dann nicht so offensichtlich. Das letzte Mal war es bei seinem Onkel gewesen, am Tag seiner Rückkehr. Bei Berrat Falham, der jetzt tot war.

Der junge Mann vor ihm trat beiseite, doch Ray machte keine Anstalt sich zu bewegen, sondern er wagte es sogar den magischen Kern genau zu betrachten. Das Leuchten seines Onkels war anders gewesen, minimal, aber die Veränderung hatte ihn angelockt wie Licht eine Motte. Er wusste nicht was es gewesen war und am Ende des Tages war es auch nicht mehr wichtig gewesen, aber wenn er jetzt darüber nachdachte, dann war da noch mehr. Sie hatten sich nicht gestritten, warum hatten Berrat und er nicht mehr miteinander gesprochen?

„Seltsam.“ murmelte Ray und stellte den Korb ab, um seine Hände frei zu haben. Kurz sah er in die Augen des anderen, der verwirrt zurückblickte. Er war aber nicht verärgert, würde es vermutlich aber bald sein. „Darf ich?“ er machte eine wage Handbewegung in Richtung Brust des Wartenden, auch wenn er wusste das es eigentlich keinen Sinn hatte. Er sah die Kerne, hörte nur ihr Rauschen und den leisen Klang in der Ruhe, aber gespürt hatte er sie noch nie. Warum sollte es jetzt anders sein? Was wollte er überhaupt erreichen?

Starke Finger umgriffen sein Ärmel fest, doch er bekam keine Abfuhr, sondern mit Erstaunen beobachtete er, wie seine Hand an die Stelle geführt wurde, wo die Quelle der magischen Energie saß. Es war als würde Ray mit den Fingerspitzen in die Nähe einer Fackel kommen. Nah genug das er die Hitze spürte, aber sofern das er sich nicht verbrannte. Es konnte einfach die Körperwärme des anderen sein, doch da war mehr. Ein Kribbeln stieg in ihm auf, durch seine Hand bis zu seinem Ellenbogen. Das war mehr als seltsam. So seltsam, dass er unbewusst einen Schritt nähertrat. Der Geruch von Wind und Wasser empfingen ihn so sehr, dass er es fast auf seine trockenen Lippen schmecken konnte. Es gab keine Veränderung in der magischen Energie vor sich, aber seine verformte sich zu etwas, was er noch nicht deuten konnte. Er sah in die Augen des anderen, jedoch sah er in dessen keine Gefühle. Oder waren es zu viele? So wie die Stimmen, die in seinem Ohr flüsterten oder war es nur das Rauschen seines Blutes?

Da war Blut, er sah es vor sich auf den Holzbrettern vom Steg, so wie Magie, die von Tropfen zu Tropfen sprang und versuchte zu ihrem Kern zurückzukehren, obwohl sie sich schon außerhalb des Körpers befand. Ein Körper, über den sich jemand beugte und etwas nahm, während der Atem schmerzte. Oder war es seiner?

Seine Lunge brannte als Ray wieder ausatmete und er musste jegliche Kraft aufwenden, die er besaß, um sich zurückzuziehen. Mental wie auch körperlich. Wie ein nasser Sack ließ er sich auf das Bett fallen, das er erst vor kurzer Zeit neubezogen hatte, doch das war ihm egal, denn er machte etwas viel Wichtigeres. Er sah auf seine Hand, dann zu dem jungen Mann und wieder zurück. Was war passiert?

Hatte er auf einen magischen Kern zugegriffen, obwohl er es eigentlich nicht tun konnte? Es noch nie zuvor gemacht hatte? Und was hatte er gespürt, gesehen, wahrgenommen?

Er schüttelte sich und hatte das Gefühl zu schwanken, was er auch tat, jedoch musste er sich selber fangen, so wie seine Stimme. Sein Blick suchte den des anderen.

„Es war kein Unfall.“ entkam es ihm leise, rau, so als hätte er für lange Zeit nicht geredet oder als hätte er in kurzer Zeit viel geraucht. „Mit ihrem Kollegen. Da war noch jemand und hat...“

„Ich weiß nicht was Sie meinen.“ Wurde er unterbrochen und damit völlig zurückgeworfen in sein Ich. Was machte er hier?

„Ich auch nicht.“ erwiderte Ray, während er sich fühlte, als hätte ihn jemand gegen die Brust geschlagen. Er wusste nicht ob es Scham war über diese unbedachte Aktion, auf jedenfalls brannte sein Gesicht, als er den Korb nahm, um mit schnellen Schritten die Halle zu durchqueren. Vorbei an der schlafenden Frau, wie auch an Madam Callum und Kayla, die beide in der großen Flügeltür standen. Er ignorierte sie alle und wünschte sich sehnlichst in seine Katakomben gehen zu können, um so zu tun, als wäre das hier nicht passiert. Doch das war es und als Beweis kribbelte seine Hand nur noch mehr, während alles begann um ihn zu drehen. Schwarze Schatten begannen vor seinen Augen zu tanzen, huschten hin und her und zerfraßen das Bild an den Rändern. Er wusste nicht, ob es Sturheit war, jedoch reichte diese nicht aus. Zum zweiten Mal fiel der Korb zu Boden, diesmal jedoch kippte er um und sein Inhalt breitete sich auf den Boden aus. Es wirkte fast als wollte Bettlaken und Putzlappen ihm den Sturz so weich wie möglich gestalten, der ihn trotzdem überraschte. Jemand rief seinen Namen, doch da lag er schon und konnte nur noch den Stein betrachten, der sich eisig gegen seine Wange anfühlte. Jemand kniete sich neben ihm nieder, doch zum Glück verlor er das Bewusstsein, bevor die Person ihn berühre. Er wollte nicht noch einmal die Bilder eines anderen sehen und auch keinen magischen Kern, dessen Summen sich in seinen Kopf bohrten wie heiße Nadeln.

Es war ein Fest der Sinne, nur nicht für ihn.

Kapitel 2: Ereignis, Zufall, Muster

 

Während Kayla noch völlig überrascht im Türrahmen stand, war Madam Callum dabei den am Boden liegenden Ray zu behandeln. Magie schimmerte in den Händen der Heilerin, die den Jungen auf den Rücken gedreht hatte und sanft mit den Fingern über seine Schläfen strich. Ihr Blick huschte dabei aufmerksam über seine Gesichtszüge, glitten aber immer mal wieder zu Brust, wo der magische Kern saß. Sah sie diesen ebenfalls?

Neugierde zupfte an ihr wie Fäden eines Marionettenspielers, doch zog sie sie in zwei Richtungen. Einmal zu der älteren Frau und ihrem neuen Patienten, mit dem sie eigentlich sprechen wollte und zum anderen zum anderen jungen Mann, der neben ihr erschienen war. Erstaunen spiegelte sich unter seinen Tätowierungen wieder, aber auch Sorge. Er war schon immer jemand der sich viele Gedanken um andere gemacht hatte, aber anscheinend war er jetzt zum Teil schuld an der ganzen Situation.

Kayla hatte an der Pforte nach Ray gefragt und war an Madam Callum verwiesen wurde, die gerade aus einer Behandlung gekommen war. Es hatte erstaunlich gut gepasst. Die ältere Frau hatte auch nicht viele Fragen gestellt, sondern nur geschmunzelt als sie ihr Vorliegen mitgeteilt hatte. Ray bekam nicht oft Besuch, aber er würde sich freuen. Freuen war nun nicht etwas, was sie mit dem Jungen aus den Katakomben in Verbindung bringen würde, allerdings hatte sie eine andere Begrüßung erwartet und nicht das man sie ignorierte. Ray war ohne einen Blick an ihnen vorbeigeeilt, als wäre eine Kreatur hinter ihm her gewesen, die ihn fressen wollte. Er war aber nicht weit in seiner Flucht gekommen und war gestürzt. Jetzt lag er ohne Bewusstsein im Gang zwischen dem Inhalt des Korbes, den er getragen hatte. Sie hatte in die Halle gesehen, doch außer einer schlafenden Patientin war nur eine weitere Person im Raum gewesen.

„Was ist passiert, Tristan?“ fragte sie diese. Sein Blick verließ nicht das Bild vor ihnen, zu der noch jemand gestoßen war. Es war ein anderer Heiler, doch im Gegensatz zu Madam Callum wirkte er riesig und Ray wie ein Kind, der er hochgehoben wurde. Dafür das der Mann so groß war, waren seine Schritte erstaunlich leise auf dem Steinboden. Ohne ein Wort schob er sich an Kayla und Tristan vorbei, um den neuen Patienten in sein Bett zu bringen. Sanft war nur eine Art zu beschreiben, wie der Heiler Ray auf die Matratze legte und zudeckte, nachdem Weste und Schuhe entfernt wurden waren. Würde der Mann die Hand aufs Gesicht des Bewusstlosen legen, könnte er den halben Kopf mühelos umfassen, daher wirkte es etwas seltsam, das die Finger durch das dunkle Haar strichen. Madam Callum bildete dagegen einen völligen Kontrast, wie sie vor ihnen beide stand. Dabei hatte Kayla keine Schuld daran, sondern nur ihr Cousin, der sich unter dem Blick der älteren Frau streckte.

„Ihr Kamerad hat die Behandlung überstanden, er wird in ein paar Wochen wieder auf den Beinen sein.“ erklärte die Heilerin und klang wie eine Mutter, die ihre ungehorsamen Kinder belehrte, dabei waren sie beide schon fast volljährig. Tristan nickte und es war anscheinend der Grund für sein hier sein. Nach ihren Informationen war er gestern erst nach Königsfeuer zurückgekommen, nachdem er mehrere Wochen auf dem Schiff und den Inseln der Handelsgilde verbracht hatte. Seine Fähigkeiten hatten ihm nicht nur in sehr jungen Jahren einen Platz in der größten Gilde verschafft, sondern ihm auch ermöglicht schon früh auf ein Schiff zu kommen. Es war eine Ehre unter einem bekannten Kapitän zu dienen und von dessen Navigator ausgebildet zu werden.

„Danke.“ sprach Tristan. „Und es tut mir leid. Mein Verhalten war unbedacht und hat dazu geführt, dass...“ Doch er wurde von der Heilerin unterbrochen, die den Kopf schüttelte.

„Es war schon länger überfällig das so etwas in der Art passiert. Aber als Warnung für das nächste Mal: Gewähren Sie niemanden aus den Katakomben ohne triftigen Grund eine Berührung zu ihrem magischen Kern. So behalten sie ihr Leben und ihre Erinnerungen.“ Sie blickte über ihre Schulter zu Ray und ihrem Kollegen. „Und es verursacht weniger Unordnung.“ fügte sie mit einem Seufzen hinzu. Anscheinend unbewusst tastete Madam Callum nach ihrem Zopf, aus dem sich keine Strähne gelöst hatte. Ihr schwarzes Haar war durchzogen von grauen Strähnen, doch das, und die Fältchen um ihre Augen waren das einzige, das ein mögliches Alter der Frau verriet. Nach Kaylas Ausbilder war Madam Callum schon seit mehreren Jahrzehnten die Leiterin dieser Gebäude und hatte früher sogar während der Kriege an den Grenzen gedient. Zusammen mit Meister Arbos, der Leiter der Katakomben, wurde sie immer wegen ihres ehrenvollen Verhaltens während der letzten großen Schlacht vor den Friedensverträgen genannt. Sie war ein Vorbild, auch wenn sich Kayla sie sich anders vorgestellt hatte nach den Erzählungen. Beeindruckender, größer und herrischer in ihrer Art, nicht so fürsorglich und mütterlich. „Neugierde lobe ich gerne, aber nicht jede sollte unbedacht gefolgt werden. Und nehmen Sie bitte die Hüte ab, unsere Gebäude sind in einem Einwandfreien Zustand.“

Schnell griff auch Kayla zu ihrer Mütze, die ihr rotes Haar bedeckte und fühlte sich ertappt. Tristan sah etwas zerknirscht aus, aber er leistete diesem freundlichen Befehl leiste. Sein Haar war lag geworden stellte sie fest und würde wohl bei seiner Mutter wieder auf großen Widerstand treffen. Kaylas Tante gehörte zwar auch zur Handelsgilde, jedoch war sie in einem anderen Bereich tätig, in dem viel Wert auf ein ordentliches Auftreten gelegt wurde. Das Tristan, ihr einziger Sohn ihr nicht glich war schon immer ein Lieblingsthema gewesen, über das sie sich aufregen konnte.

Madam Callum schien zufrieden mit der Erziehungsmaßnahme und nickte, bevor sie die Hände in die Hüften stemmte. Durch diese Bewegung klapperte der Schlüsselbund leicht, den sie am Gürtel trug. Allerdings war kein einziger Schlüssel an diesem, sondern viele Kristalle in verschiedenen Größen und Farben. Wozu die wohl gut waren?

„Es wird noch eine Weile dauern, bis Ray wieder beim Bewusstsein ist, daher würde ich vorschlagen, dass Ihr morgen wieder kommt.“ Sie beide nickten, auch wenn Kayla nicht wusste, ob man nur sie meinte oder auch ihrem Cousin. „Ich werde meinen Bericht persönlich an Euren Vorgesetzten einreichen, morgen wird Euer Kamerad wieder wach sein, dass Sie ihn gerne Besuchen können. Aber nur zu Besucherzeiten.“ erneut nickten sie, auch weil die Heilerin keine Antwort zu erwarten schien. Noch bevor Kayla eine Verabschiedung aussprechen konnte, hatte sich die ältere Frau abgewandt und war zu ihrem Kollegen gegangen, der mit leiser Stimme etwas zu ihnen sagte.

„Lass uns gehen.“

Tristan wartete ebenfalls nicht auf sie und ihre Auffassungsgabe war heute langsam. Den ganzen Vormittag hatte sie beim Training verbracht und wollte den restlichen Tag nutzen die Gesetze auswendig zu lernen, damit sie bei der nächsten Abfrage nicht unwissend dastand. Allerdings war ihre Neugierde größer gewesen und hatte sie hier hingeführt. Sie musste sich beeilen, um zu ihrem Cousin aufzuschließen, der zielsicher durch die Gänge ging.

„Was machst du überhaupt hier?“ fragte sie, als sie an seiner Seite war. Er spielte mit seinem Hut, während sie ihre Mütze an den Gürtel gesteckt hatte. Dieser Sommer war bis jetzt Recht kühl gewesen, weswegen sie schon jetzt öfters zu ihrer Mütze gegriffen hatte, als zu der leichten Kleidung, dazu kam das Königsfeuer nördlicher als ihr Heimatdorf lag. Auch nach den drei Jahren, in denen sie schon hier war, hatte sie sich noch nicht an das Wetter gewöhnt, aber sie verstand zumindest, warum bunte Kleidung beliebt war. Es brachte Farbe in die Hauptstadt, die ganz aus grauem Stein erbaut war. Nur der Silberturm brachte etwas Wärme und das nicht nur, weil an dessen Fassade die großen Banner der Gilden hingen, sondern auch wegen dem ewigen Feuer. Bei ihrer Ankunft war sie erstaunt gewesen über die Größe, hatte sie alle Erzählungen als Übertreibung abgetan.

„Es gab einen Unfall im Harfen. Lasko wurde verwundet. Ich habe ihn hier hinbegleitet, auch um den Heiler zu sagen welche Magie im Spiel gewesen ist.“

„War er sehr schwer verwundet?“ fragte sie besorgt, auch weil sie Lasko kannte. Der andere war ein guter, wenn nicht sogar der beste Freund von Tristan. Sie teilten sich einen ähnlichen Weg in die Gilde und waren zusammen aufgewachsen. Die Freundschaft hatte gehalten, obwohl beide auf unterschiedlichen Schiffen eingeteilt waren.

„Seine Hände wurden sehr in Mitleidenschaft gezogen. Ich hoffe das er schon bald wieder im Dienst sein wird.“ Es war also schlimm, denn in der Seefahrt waren die Hände wichtig. Ohne festen Griff konnten keine ordentlichen Knoten gebunden werden.

„Was ist genau passiert?“

„Das werde ich dir nicht sagen.“

Tristan war zumindest ehrlich und sie wusste, dass sie aus ihm nichts herausbekommen würde. Geheimnisse bewahren konnte er gut und es war für ihn auch wichtig. Vertraute man ihm etwas an, konnte man sicher sein, dass er es niemals weitersagen würde. Das war einer der Gründe, warum sie ihn am meisten mochte von der Familie. Leider sah sie ihn nicht so oft, wie sie es gerne hätte.

„Gut.“ erwiderte sie, als sie die Eingangshalle erreichten. Wie alle Räume waren die Decken hoch und verziert durch Bilder, während große Fenster die Wände durchbrachen, um viel Licht in die Gebäude zu lassen. Alles war hell und freundlich, was ein völliger Kontrast war zu den Katakomben, wo sie gestern gewesen war. Die Empfangsdame schenkte ihnen beide ein Lächeln und wünschte ihnen noch einen angenehmen Tag, jedoch wurde dieser unterbrochen, sobald sie das Gebäude verlassen hatten.

Es war kühl und roch nach Regen, weswegen sie ihre Mütze schnell aufzog. Den Zopf stopfte sie eher nachlässig unter den Stoff, während ihr Cousin mit viel Mühe seinen Hut aufsetzte. Er hatte schon immer gerne Kopfbedeckungen getragen und hatte eine beachtliche Sammlung von diesen, denn es war das Einzige, was er zu Feiertagen geschenkt bekam. Wenn es mit der Seefahrt nicht mehr funktionierte, konnte er ein eigenes Geschäft aufmachen.

„Erzählst du mir, was mit Ray passiert ist?“ fragte sie, weil sie ihre Neugierde nicht länger zügeln konnte. Tristan zuckte mit den Schultern, als er die Hände in die Taschen schob.

„Er hat mich schon die ganze Zeit beobachtet. Wir sind dann in ein Gespräch gekommen und aus Neugierde ist es dann zu dieser Situation gekommen. Er hat mich berührt oder viel mehr meinen magischen Kern, weil er ihn anscheinend fasziniert hat. Dann hat er begonnen was Unverständliches zu sagen und ist dann geflüchtet.“ Der Rest war Kayla bekannt, hatte sie es mit angesehen. Allerdings runzelte die Stirn.

„Ich weiß nicht, was ich von den Mitgliedern der Gilde halten soll.“ gestand sie. Sie hatte Ray nicht als eine Person eingeschätzt, die einfach so die Nähe anderer suchte. Er hatte immer so gewirkt als wären die Berührungen ihm unangenehm, selbst die von seinem eigenen Vater. Allerdings kannte sie ihn auch nicht wirklich, sondern sie waren, wenn nur flüchtige Bekannte. Bekannte die durch den Tod von Berrat Falham in Kontakt gekommen waren. Sie teilten sich anscheinend beide eine gewisse Neugierde, auch wenn sie sich fragte, warum Tristans magischer Kern so faszinierend war. Seine Fähigkeiten waren beeindruckend, ebenso seine Kontrolle über diese. Wie das Leuchten wohl aussah?

War es bunt oder besaß es keine Farbe?

„Sie sind eigen, aber wer wäre das nicht, wenn man den ganzen Tag nur mit Toten zu tun hat.“ Sie verzog bei diesen Worten leicht das Gesicht.

„Die Katakomben sind unheimlich. Ich war gestern dort und habe Ray getroffen. Während er einen Verstorbenen behandelt hat, hat er plötzlich angefangen von Kuchen zu reden. Außerdem war da noch eine Katze.“

„Kuchen und Katzen. Nicht dass was ich mir vorstelle, wenn ich an Leichen denke.“

Auf Tristans Lippen erschien ein kleines Grinsen, während sie durch die Straßen gingen. Die Gilde der Heiler hatten im Universitätsviertel ihr Zentrum, auch wenn es in jedem Bezirk eine Krankenstation gab, doch das war nicht das Einzige, was man hier fand. Hinter den Mauern der wenigen, aber großen Gebäude wurde in vielen Bereichen gelehrt und ausgebildet, während kluge Köpfe hier auf der Suche nach dem Sinn des Lebens waren oder wenigstens nach einer Erklärung. Kaylas Vater hatte immer gesagt, dass hier das Abstrakte wichtiger war als das wirkliche Leben, jedoch teilte sie nicht diese Ansicht. Hier wurde immerhin nach Heilmitteln erforscht, ebenso wie nach Schutzbannen und Zauber. Zwar wurde keine körperliche Arbeit ausgeführt, wie zum Beispiel im Handwerk, jedoch bedeutete das nicht das es weniger wert war. Sie musste zwei Heiler ausweichen, die an ihnen vorbeieilten, bevor sie wieder zu Tristan aufschloss.

„Ich habe es auch nicht erwartet, ebenso wenig, dass es wirklich Erwachte gibt. Ich weiß nur nicht was erschreckender gewesen ist: Das Gestöhne oder die Art wie Ray damit umgegangen ist.“

Als wäre es normal das die Verstorbenen wieder erwachten. Sie hatte davon gelesen und gehört, jedoch hatte sie es sich nicht vorstellen können das es wirklich passierte, weil es einfach unheimlich war. Dadurch das sie und keiner aus ihrer Umgebung je so einem Fall der Erwachten begegnet war, war sie so blind gewesen es als unwahr abzutun. Als unrealistisch, fast als wäre die Erzählungen nur Geschichten, die sich jemand ausgedacht hatte. Sie hatte die Nacht nicht gut geschlafen, weil sie sich vorgestellt hatte einem auferstanden Verstorbenen zu begegnen, der sie bis an ihr Lebensende jagen würde, um ihren magischen Kern zu stehlen.

„Ist vermutlich eine Sache der Gewohnheit.“

Tristan schien nicht wirklich beeindruckt von ihren Erzählungen und sie fragte sich was mit denjenigen passierte, die auf hoher See starben. Verbrennen konnte man sie auf einem Schiff schlecht und einfach ins Wasser schmeißen stellte sie sich seltsam vor. Es war in der Stadt untersagt etwas in den Fluss zu werfen, um eine Verunreinigung zu verhindern, nachdem magische Tränke laut Geschichten einmal eine Kreatur erschaffen, die Unschuldige ertränkt hatte. Generell wurde in Königsfeuer sehr auf Ordnung und Sauberkeit in den Straßen geachtet und das Universitätsviertel war ein gutes Beispiel dafür.

Die Grünflächen waren gepflegt, das Wasser der Brunnen war klar und kein Müll war auf den Wegen zu finden, deren Pflasterung so ordentlich war, dass man weder stolperte noch umknickte an losen Steinen.

„Was hast du überhaupt hier gemacht?“ stellte ihr Cousin die Gegenfrage und sie biss sich für einen Moment auf die Unterlippe, weil sie nicht wusste, wo sie beginnen sollte. Sie war etwas verwirrt und er wäre ein guter Ansprechpartner, um ihre Gedanken zu ordnen, auch weil sie nicht mit Ray gesprochen hatte. Sie senkte ihre Stimme als sie begann zu erzählen.

„Gestern beim Training gab es einen Todesfall, der viele Fragen aufgeworfen hat, weil er ohne Vorwarnung geschah. Mein Bruder wurde damit beauftragt in den Katakomben mit Meister Arbos zu sprechen und ich habe ihn begleitet. Dort habe ich Ray getroffen.“ Er sah sie an und hob eine Augenbraue. „Lange rede, kurzer Sinn: Ich wollte heute mit Ray sprechen, einmal wegen den magischen Kernen, die er sehen kann und im Gegenzug wollte ich ihm vom Todesfall erzählen.“

„Warum das? Was hat er damit zu tun?“

„Es ist sein Onkel.“ Für einen Augenblick schwiegen sie beide, während sie sich dem großen Tor näherten. Bis zur Abendstunde waren alle Tore zwischen den Vierteln offen, danach musste man durch die Seiteneingänge gehen. „Sein plötzlicher Tod hat einfach viele Fragen aufgeworfen und du kennst mich.“ fuhr sie fort. Sie war neugierig und ließ sich immer mal wieder von dieser leiten. Aber sie hatte Berrat Falham auch gemocht, obwohl er ihre Einheit erst vor kurzen trainiert hatte. Anders als andere Ausbilder hatte er sich die Zeit genommen für jeden von ihnen, um Schwächen auszumerzen und Stärken auszubauen. Er war eine ruhige Person gewesen, die auch einfach nur zugehört hatte.

„Ja ich kenne dich, aber steigere dich nicht zu sehr da rein.“ Mehr als einmal hatte sie sich schon verrannt, doch jetzt sagte ihr etwas, das da mehr war.

„Ich weiß, daher wollte ich mit Ray reden.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, während ihre Gedanken sich drehten. Hatte die Akte etwas ergeben und was war, wenn es nicht nur ein unglücklicher Todesfall war?

Sie hatte so viele Fragen und keine Antworten. Es war ein Zustand, den sie nicht leiden konnte und genau dieses empfinden hatte sie in die Stadtwache gebracht. Sie war keine Abgabe, sondern hatte ihren Weg selbst gewählt, auch wenn viele ihr sagten, dass es schön war, dass sie dem Beispiel ihres älteren Bruders folgte. Das tat sie nicht, denn im Gegensatz zu ihm wollte sie wirklich helfen und nicht nur in den Rängen aufsteigen. Sie war keine Führungspersönlichkeit, daher wusste sie jetzt schon, dass sie nicht das Zeug dazu hatte eine Kommandantin zu werden. Als erstes reichte es ihr die Ausbildung zu schaffen, damit sie in ihrer Schicht die Straßen sicherer machen konnte. Sie hatte gelernt, dass sie ihre Ziele nicht zu hochstecken sollte, denn sonst wäre die Enttäuschung viel zu groß. Außerdem kannte sie sich nur all zu gut.

„Es mag zwar etwas übertrieben klingen und seltsam.“ fuhr sie fort. „Aber es lässt mir keine Ruhe.“

„Ich weiß. Und falls du reden möchtest, bin ich für eine Weile noch hier.“

Das irritierte sie.

„Hieß es nicht, dass du schon bald wieder zu den Inseln fährst?“ Tristan verzog das Gesicht, was seine Tätowierungen ein Eigenleben gab. Er hatte die Zeichen noch nicht lange, daher war es noch ein ungewohnter Anblick. Sie fand es allerdings faszinierend und die geschwungenen Muster unterstrichen die scharfen Gesichtszüge ihres Cousins.

„Eigentlich schon, aber ich wurde ans Land versetzt, bis man mir andere Anweisungen gibt.“ Es klang bei ihm wie eine Strafe, was es vermutlich auch war. Tristan war ein Kind des Meeres und war am glücklichsten, wenn er auf einem Schiff war, mit nichts als die unendlichen Weiten um sich herum. „Aber ich bin nicht der einzige, daher denke ich nicht, dass es etwas persönliches ist.“

Sie nickte auf diese Worte.

„Wann bekommst du neue Anweisungen?“ fragte sie. In der Stadtwache wurden immer genaue Befehle ausgesprochen und möglichst genaue Angaben zu Ort und Zeit gegeben.

„Die nächsten Tag vermutlich, aber ich versuche mir nicht allzu viele Gedanken darum zu machen.“ Anders als sie machte er sich nicht so leicht verrückt. Sie würde bei so etwas schon längst unruhig werden und durch die Gegen streifen wie ein gefangenes Tier in einem Käfig. Nicht allzu viele Gedanken machen sollte sie sich auch, jedoch konnte sie das einfach nicht. Sie wollte am liebsten alles wissen.

War das Universitätsviertel leise wurden sie vom Marktbezirk mit viel Lärm begrüßt. Überall waren Menschen, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen. Händler versuchten durch Geschrei ihre Waren an den Mann zu bringen, während zwischen den Beinen der Erwachsenen die Kinder spielten, die noch zu klein waren, um sich Sorgen zu machen, außer um einen kleinen Ball, der hin und her geworfen wurde. Kayla hat es als junges Mädchen geliebt über die Felder ihres Dorfes zu rennen und mit Bällen zu spielen. Sie war das jüngste Kind, das einzige Mädchen und zwischen ihr und ihren Brüdern lagen viele Jahre, so dass sie kaum miteinander aufgewachsen waren. Das hatte ihr viele Freiheiten beschafft, auch weil ihre zukünftigen Aufgaben im Haus schon von ihren Schwägerinnen übernommen wurden, waren.

Die Freiheiten, die sie hatte, waren einen Luxus, den sie zu schätzen wusste, denn in ihrem Bekanntenkreis gab es Fälle, da waren Traditionen wie Ketten. Ketten die fesselten und denjenigen unbarmherzig durch das Leben zogen, der daran hing. Entscheidungen trafen dabei andere.

„Wie läuft es bei dir mit der Ausbildung?“ wechselte Tristan das Thema, auch wenn sie wusste das er wesentlich mehr zu erzählen hatte als sie. Er war immerhin derjenige der in die weite Welt hinausfuhr und die zahlreichen Inseln vor der Küste erkundete. Die Handelsbeziehungen der Gilde gingen sogar über Landesgrenzen hinaus, selbst zu ehemaligen Feinden. Der letzte Krieg lag einige Jahrzehnte schon zurück, jedoch noch nicht so lange das er vergessen war. Genügend Menschen lebten noch, die in den blutigen Schlachten für den Frieden gekämpft hatten, bis dieser durch Verträge zwischen den Ländern des Kontinents besiegelt wurden waren. Sie lebten heute in ruhigen Zeiten und doch war eine gewisse Anspannung zu spüren, vor allen in den militärischen Bereichen, wie auch in der Stadtwache. Die Rekruten, wie sie es einer war, wurden nicht nur darauf trainiert sich selbst zu verteidigen und nur im Notfall zur Waffe greifen zu müssen, sondern das ganze Training bereitete sie auf viel mehr vor. Wenn ein erneuter Krieg ausbrechen würde, würde es nicht lange dauern, um die königliche Armee wieder vollständig aufzustellen, um in die Schlachten zu ziehen. Das war einer der Kritikpunkte, die ihre Eltern angemerkt hatten, als sie sich entschieden hatte sich der Stadtwache anzuschließen. Doch Kayla war damals zu stur gewesen und geblendet von dem Wunsch helfen zu können. Jetzt, wo sie mitten in der Ausbildung war und älter, verstand sie die Sorgen, jedoch würde sie diese Entscheidung immer wieder treffen.

„Gut soweit.“ erwiderte sie, während sie neben ihrem Cousin durch die Straßen des Marktviertels ging. Sie hatte für diesen Nachmittag kein Training, da noch kein Ersatz für Berrat Falham gefunden wurden war, außerdem sollten sie die freie Zeit nutzen, um den plötzlichen Tod diesem zu verarbeiten. „Das Kampftraining fordert mich ziemlich, aber meine Leistungen gehören zu den besten der Gruppe. Nur mit den ganzen Gesetzen habe ich meine Probleme. Die ganzen Paragrafen sind kaum zu merken, so viele sind es.“

„Und Zahlen lagen dir noch nie wirklich.“

Als Erwiderung für diese Neckerei, stieß sie Tristan an, der leise lachte. Auch er wurde von der Handelsgilde im Kampf ausgebildet, auch wenn es kein Hauptaugenmerk war. Die Fähigkeit sich zu verteidigen, ließ die Chance steigen, aus gefährlichen Situationen ohne Verluste von Menschenleben und Fracht herauszukommen, so hieß es. Übersetzt bedeutete es, dass Überfälle durch Banditen oder andere Gruppierungen häufiger auftraten, als immer behauptet.

„Ich habe mich wirklich gebessert.“ murrte sie eher zu sich als zu ihrem Cousin, der darüber nur den Kopf schüttelte. Dabei löste sich eine Strähne aus seinem unordentlichen Zopf und machte deutlich, wie lang sein Haar wirklich war. „Ehrlich.“

„Das glaub ich dir, auch weil du das Schwert besser zu führen weißt als ich.“

„Du bist manchmal ein Idiot.“ Und sie war froh ihn wieder in ihre Nähe zu haben, auch wenn es nur auf begrenzter Zeit war. Mit ihm zu scherzen, fühlte sich völlig ungezwungen und vertraut an, weil sie genau wusste welche Scherze sie machen konnte. Sie hatte auch Freunde innerhalb der Stadtwache, jedoch stand zwischen ihnen immer ein gewisses Konkurrenzdenken, das von manchem Ausbilder immer wieder gefördert wurden. Nur die Besten bekamen unter der Hand Vorzüge und Privilegien, vor allen, wenn es zum Ende der Trainingseinheiten auf die Verteilung innerhalb der Wache zuging. Niemand wollte in den niederen Vierteln Dienst absolvieren. Königsfeuer war eine strukturierte Stadt, die sich darauf verstand, ein gutes Bild zu vermitteln. Es gab zwar ein Vergnügungs- und Armenviertel, doch selbst diese hatten einen höheren Stand als manche Ortschaften die weit auf dem Land lagen. Mit niederen Bezirken waren einfach die Ecken gemeint, in den ein Dienst wenig Abwechslung bot, wie unter anderem der Friedhof.

Ein Rekrut ihrer Gruppe hatte erzählt, dass es so wenig zu tun gab, dass es eine beliebte Aufgabe war lustige Namen auf den Gedenktafeln oder andere Besonderheiten zu finden. Er und seine Erzählungen waren sehr beliebt in den Schlafsälen, da er Geschichten sehr bildlich erzählten und damit für Unterhaltung sorgte. Sie beschloss dem anderen Rekruten jedoch nur noch die Hälfte zu glauben, hatte ihr Besuch gestern in den Katakomben dafür gesorgt, dass sie einige Dinge anders sah. Zum Beispiel die Vorbereitung der Verstorbenen für die letzte Reise ins Feuer. Sie hatte immer gedacht, dass es etwas sehr Zeremonielles an sich hatte und nicht wie eine Alltäglichkeit. Sie hatte sich allerdings auch nie vor Augen geführt wie viele Menschen tatsächlich starben.

„Ein Idiot, der nicht vergessen hat, dir wieder Muscheln mitzubringen.“ Diese Worte verdrängten schlagartig jedem düsteren Gedanken und sie begann zu lächeln. Sie war eine Sammlerin und Muscheln hatten es ihr schon in frühen Kindertagen angetan. Egal welche Größe, Form oder Farbe, sie freute sich immer, wenn jemand ihr diese Meeresschalen mitbrachten und in der Regel war es ihr Cousin.

„Danke.“ Auch weil er an sie gedacht hatte. Tristan war, trotz der unterschiedlichen Zugehörigkeiten, schon immer mehr ein Bruder gewesen als ihre eigentlichen, Bertram und Arthur. Letzteres gehörte wie sie auch zur Stadtwache, jedoch schritt er durch Erfolge derzeit steil die Karriereleiter empor, während sie hoffte in den nächsten Ausbildungsblock zu kommen. Sie war nicht schlecht, allerdings musste sie viel lernen, um weiterzukommen. Allerdings mussten das selbst die Ausnahmetalente, zu denen auch Merida Falham gehörte, deren Weg, so sagte man, ihr schon in die Liege gelegt wurden war.

„Gut, dass Vater mir eine neue Kiste für meine Sammlung machen wollte, zum Bestehen der Prüfungen.“ fügte sie hinzu. Langsam wurde ihre zu klein für all die Schätze, die sie über die Haare gesammelt hatten. Dabei hatte sie erst letzte Jahr aussortiert.

„Und ich dachte er wollte dir weitere Holzpferdchen schnitzen.“

„Aus dem Alter bin ich schon längst raus.“

„Bist du dir sicher.“

Für diese Neckerei stieß sie Tristan leicht gegen die Schulter, bevor sie die Arme verschränkte. Als einziges Mädchen hatte sie immer einen Sonderstatus in der Familie gehabt und wurde von ihrem Vater mit Spielzeug überhäuft. Pferde, Figuren und Puppenhäuser. Damit hatte sie sehr lange Freude gehabt, bis es an der Zeit gewesen war sich auch davon zu trennen. Es war einer der schwersten Entscheidungen gewesen, die sie in ihrem jungen Leben gemacht hatte. Ihr Vater jedoch wollte ihr noch immer was Gutes tun und war auf kleine, verzierte Kästchen umgestiegen, in denen sie ihre Sachen aufbewahren konnten.

Ihr Vater, Baris Williams, war Zeit seines Lebens schon Tischler gewesen und hatte seine eigene kleine Werkstatt in seinem Heimatdorf aufgegeben, um die seines Schwiegervaters in Königsfeuer zu übernehmen. Das war der Grund, warum die Familie in die Hauptstadt gezogen war. Ursprünglich stammte Kaylas Mutter von hier und auch der Großteil ihrer Familie lebte hier. Aus Liebe und die Zugehörigkeit zur Handelsgilde war sie in einem kleinen Dorf im Süden gelandet, hatte geheiratet und sich niedergelassen. Kayla wusste jedoch, dass ihre Mutter nicht glücklich war, wieder hier zu sein. Aus der eins lebensfrohen Frau, war eine ruhige Person geworden, die es im Haus nicht lange aushielt.

Eine Weile neckten Tristan und sie sich, bis es an einer der großen Straßenkreuzungen hieß Abschied für jetzt zu nehmen. Er musste zurück in den Hafen und auf sie warteten trockene Gesetze, die nicht gerade lockten.

„Wir sehen uns auf jeden Fall heute Abend.“

„Ich lasse es mir doch nicht entgehen, wie deine Mutter sich über deine Haare aufregt, Pirat.“ erwiderte sie und salutierte spaßeshalber. Tristan schnaubte nur und richtete sich seinen Hut.

„Lass du dich nicht von der Erwachten holen, ich habe gehört sie mögen Rothaarige.“

„Ach hör auf.“ murrte sie als er davonging. Geschickt schlängelte er sich durch die Passanten, ohne einen auch nur zu streifen. Da fühlte sie sich wie ein Trampel, als sie sich auch auf den Weg machte. Allerdings mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, denn durch den kleinen Spaß musste sie wieder an ihre Träume denken. Verfolgt zu werden empfand sie mit am schlimmsten und allein daran zu denken jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie versuchte sich mit Rays Worten zu trösten, dass es keine Gefahr bestand, jedoch half es wenig, weil sie automatisch an die Dame denken musste, die in ihrem Sarg nach Minnibert gerufen hatte.

Die heitere Stimmung, die sie noch vor kurzen verspürt hatte, war merklich gesunken, so sehr, dass sie die Ärmel über die Hände zog und die Schultern hob. Mit ihrer Mütze fiel sie unter den Menschen nicht auf, auch weil sie nicht mehr ihre Rüstung trug. Waffen durfte sie als Rekrutin außerhalb des Dienstes auch nicht führen. Sie hätte niemals gedacht, dass ihr Schwert ihr jemals so viel Sicherheit geben würde, und sie vermisste das vertraute Gefühl an ihrem Gürtel.

Ihr Weg führte weiter durch den Marktbezirk, der ihr jetzt weniger bunt vorkam, bis sie zum Tor kam. Das militärische Viertel war mit das größte der Stadt, weil sich innerhalb dieser zum Teil die Trainingsplätze befanden, auf denen Tagtäglich trainiert wurden. Allerdings herrschte hier auch eine Betriebsamkeit, ausgelöst durch Händler und Handwerker, die sich ganz auf darauf spezialisiert hatten, der Stadtwache und der königlichen Armee zu dienen. Das Geräusch von Hämmern, die das heiße Metall verformten, durchstreifte die Gassen und würde erst zur Abendzeit nachlassen, jedoch erst verstummt, wenn die Lichter zur Nachtruhe erlöscht wurden. Manchmal beneidete sie diese klaren Strukturen, denn innerhalb der Wache gab es drei Schichten. Der frühe Dienst, der noch vor den Sonnenaufgang begann, denn späten der bis über die Abendstunden ging und noch der Nachtdienst. Sie mochte den letztere am wenigsten und das lag nicht nur an den Zeiten. Mit der Dunkelheit hatte sie auch kein Problem, denn unter dem Silberturm und dem ewigen Feuer wurde es nie wirklich düster. Dieser Dienst empfand die deshalb am schwierigsten, weil er entweder zu ruhig war oder gefüllt mit kriminellen Machenschaften.

Außerdem hatte ihr erster Nachtdienst ihr gezeigt, wie sehr die Stadtwache gebraucht wurde und das sie nicht überall sein konnte. Die gesuchte Person, der Bruder einer besorgten jungen Frau, hatten sie erst in den frühen Morgenstunden gefunden mit der traurigen Nachricht, dass diese es nicht geschafft hatte. Ungewöhnlicherweise hatte sie sich keine Gedanken über den weiteren Gang des Verstorbenen gemacht, sondern sich davor gefürchtet eines Tages die Nachricht an die Verliebenden selbst überbringen zu müssen.

Sie wusste noch nicht einmal, wie ein genauer Prozess ablief, fiel ihr auf, während sie die Straße entlang ging. Vorbei an den Schmieden, vorbei an den Händler, vorbei an einer Gruppe junger Männer, die in der Nähe standen, direkt gegenüber dem Gebäude, in dem hier im Viertel die Heiler einen Ort hatten. In diesen kleinen Krankenstationen wurden leichte Verletzungen und Krankheiten behandelt, alles, was eine längere Behandlung erforderten wurden in den Hauptsitz der Gilde gebracht. Kayla war froh noch nie so ein Gebäude, außer als Besucherin, aufsuchen musste, denn sie war stolz auf ihre gute Verfassung und eine Robustheit, die sie ihrem ausgeprägten Kern zu verdanken hatte. Er war nur passiv, anders wie der von Tristan oder Merida, jedoch hatte er ihr geholfen in die Stadtwache aufgenommen zu werden. Jemand, dessen Knochen schwerer zu brechen war und dessen Kondition länger hielt war gefragter, als dass sie gedacht hatte. Dazu wurde sie nicht so schnell krank, was vor allen für ihre Kameraden gut waren, da Kayla die Schichten anderer übernehmen konnte. Es gab allerdings auch Nachteile, auch wenn diese zum Glück nicht so ausgeprägt waren, dass sie es im Alltag spürte.

Wie es wohl war die magischen Kerne zu sehen? Überall das Leuchten und bunte Schimmern? Gab es gravierende Unterschiede zwischen den Lebenden und Toten? Erlosch dieser Kern irgendwann, wenn er tatsächlich ein Licht in sich trug?

Das waren Fragen, die sie seit dem Besuch in den Katakomben beschäftigt hatten, noch mehr nach dem erneuten Treffen mit Ray. Sie hatte erstaunlich wenig darüber in der Schule gelernt, waren auf dem Land andere Themen wichtiger gewesen und ihr Interesse als junges Mädchen hatte geschwankt zwischen Spielen und die Welt erkunden. Sie war eine lausige Schülerin gewesen, das sich zum Glück geändert hatte. Hoffte sie zumindest.

„Warte mal.“ rief ihr plötzlich jemand hinterher, zumindest ging sie davon aus, denn als sie über die Schulter sah, kam ein junger Mann in ihrer Richtung. Sein Blick war auf sie gerichtet, während ihrer kurz zur Gruppe glitt. Da diese mehr oder weniger aufgehört hatten Gespräche zu führen machte die Schlussfolgerung das er dazu gehörte. Mit großen Schritten ging er auf sie zu und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das sie zu den gleichen Teilen erfreute wie auch Misstrauisch machte. Der junge Mann war hübsch und sie war wirklich gemeint. „Kayla, richtig? Aus der Einheit von Falham?“

Sie nickte und wusste für einen Moment nicht wohin mit den Händen. Sie wurde nicht alle Tage von jemanden angesprochen, auch wenn sie sich sicher war, dass er ihr bekannt vorkam. Allerdings musste das nichts heißen, denn in der Stadtwache sah man sich hin und wieder mal, ohne sich jemals wirklich kennen zu lernen.

„Mein Name ist Sirus, aus der Tremblay-Einheit. Du hast letzte Woche meine Schicht übernommen.“ stellte er sich vor und sein Lächeln wurde noch ein Stück größer. Allerdings fiel ihr auf, dass er sie nicht wirklich überragte. Eigentlich sollte es sie nicht stören, denn sie wurde durch ihre Körpergröße eher wahr und ernst genommen, allerdings war sie dann doch nicht erwachsen genug und zu sehr geprägt von ihrem Umfeld und den Büchern, die sie in der Freizeit gerne las. Altmodischer Schund, so wurde die Werke von anderen bezeichnet.

„Mir wurde gesagt du wurdest verletzt. Ich hoffe dir geht es wieder besser?“ Mitsendete konnte sie es sich wage daran erinnern. Letzte Woche war voller Stress und Hektik gewesen, das vieles untergegangen war.

„Ja. Es war ein blöder Unfall, aber ich bin bald wieder vollständig im Dienst. Danke der Nachfrage und danke für das Einspringen.“

„Ist doch selbstverständlich.“ Sie waren beide ein Teil der Wache und mussten Kameradschaft gegenüber den anderen haben, zumindest wurde das immer wieder gesagt.

„Es hat mir auf jeden Fall eine Sorge genommen zu wissen, dass es funktioniert.“ Sie nickte erneut, auch weil sie nicht mehr wusste, was sie sagen sollte. Es war eine ähnliche Situation wie gestern mit Ray, nur das sich diese sie unruhiger machte und in Verlegenheit brachte. Dabei wurde sie noch nicht einmal angestarrt oder bekam einen Kommentar zu hören, der noch nicht einmal am Humor kratzte. Allerdings stand sie jetzt jemand gegenüber, der sie vermutlich ohne den Vorfall letzter Woche niemals mit ihr geredet hätte. Es wirkte, als würde etwas von ihr erwartet und sie war zu sehr damit beschäftigt nicht Jahre zurückzufallen in sinnlose Schwärmereien einem Fremden gegenüber.

„Das ist schön.“ erklärte sie und jetzt nickte er.

„Finde ich auch.“ Er strich sich durchs Haar, bevor er umständlich über die Schulter zu den anderen sah, die das Gespräch mit Interesse beobachteten und sich noch nicht einmal die Mühe machten es zu tarnen. Kayla fühlte sich ein bisschen wie auf dem Präsentierteller.

„Dann wünsche ich dir noch gute Besserung. Vielleicht sieht man sich wieder.“

„Danke. Das nächste Mal lade ich dich auf ein Getränk ein.“ Sie glaubte nicht daran, aber ließ es so stehen, während sie sich gleichzeitig zum Gehen wandten. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Es war eine Mischung aus Verlegenheit, aber auch Enttäuschung, auch weil ihr bewusst war, dass sie zu viel erwartet hatte. Manchmal war sie noch ein junges Mädchen, das von schicksalhaften Begegnungen träumte, obwohl sie nicht danach suchte. Leicht schüttelte sie den Kopf über sich und hoffte das die Gesetzestexte ihr eine Klarheit brachten oder zumindest ihre schwirrenden Gedanken beruhigten. Jedoch sah sie noch einmal zurück zu dem jungen Mann, mit dem sie gerade gesprochen hatte.

Seine Schritte waren leicht und seine Haltung gerade. Er war noch nicht bei seinen Kameraden, da sagte er etwas, was die anderen zum Lachen brachten. Sie spürte den Ärger in sich aufsteigen, auch wenn er vermutlich nicht berechtigt war, so wie die Szene vor ihren Augen auch nichts mit ihr zu tun haben musste. Er war trotzdem da, wich jedoch so schnell wie er gekommen war, als Sirus stolperte und stürzte.

Es kam so urplötzlich, dass es falsch wirkte, aber doch so vertraut.

Sie spürte kaum, wie sie herumwirbelte und zu ihm lief. Als sie neben dem jungen Mann auf die Knie fiel waren seine Freunde schon bei ihm, doch egal was sie riefen oder wie sehr sie an diesem rüttelten, Sirus blieb reglos.

Kayla schob einen beiseite und griff nach dem Hals, doch kaum hatten ihre Finger die Schlagader gerührt ahnte sie schon, dass sie nichts spüren würde. Seine Haut war warm unter ihrer Hand und eigentlich sah er aus, als würde er nur schlafen.

„Schnell holt einen Heiler. Holt Hilfe.“

Doch sie schüttelte den Kopf, hob jedoch nicht den Blick von dem friedlichem Gesicht vor ihr. Sie fühlte nichts. Keinen Puls. Keine Atmung. Nichts.

Sirus war tot.

Er war innerhalb von Sekunden einfach verstorben und verlor mit jedem ihrer Herzschläge an Wärme und Farbe. Er war einfach gestorben, vor den Augen seiner Freunde und ihr, die hilflos um ihn herumstanden.

Schnelle Schritte kündigten die Heiler an, jedoch würden sie nur den Tod feststellen können, trotzdem machten sie den beiden Frauen Platz. Es wurde zwar ein Versuch der Wiederbelebung gewagt, auch mit Magie, doch sie wusste, dass es nichts mehr bringen würde. Von Anfang an hatte etwas in ihr gesagt, das sein Leben nicht mehr zu retten ist, denn solch eine Situation hatte sich auch gestern auf dem Trainingsplatz abgespielt.

Berrat Falham hatte gerade einige neue Kampfhaltungen erklärt, als er plötzlich den Halt verloren hatte. Er war gestürzt und verstorben, noch bevor einer der anderen Trainer bei ihm gewesen war.

Nur der Tod hatte man feststellen können.

Wie auch jetzt.

 

 • • • •

 

Selbst als gemaltes Bild an einer Decke strahlte der Silberturm sein Licht über die Landkarte aus und verschlang mit seiner Pracht andere Farben und Symbole. Er verschluckte sogar die Grenzen zwischen den Nationen, so dass es die Illusion erweckte, dass es keine gab. Bär, Falke und Werkzeug, Wappen der anderen Länder des Kontinents, wirkten wie Spielzeuge, die der Künstler einfach in die Malerei geworfen hatte, so als wären sie unbedeutend. Das waren sie nicht, selbst 35 Jahre nach dem letzten Krieg und der darauffolgenden Friedenszeit.

Das Gemälde in der Halle der Heiler war ein Abbild der Realität, jedoch eine, die schon längst vergangen war und von manchen sogar wieder herbeigesehnt wurde. Das Königreich Eldur mit seiner Hauptstadt Königsfeuer war eins das größte Land und bekannt für seine militärische Stärke gewesen. Doch genau diese hatte mit seiner Expansionssucht immer und immer wieder den Verlust einiger Regionen zu Folge gehabt, bis das Land seine heutige Form angenommen hatte. Gefangen zwischen dem Meer und den drei anderen Nationen, war die Sicherung ein Friedensvertrag und die Gewissheit, dass die Gebiete um die Grenzen nicht für eine Armee passierbar waren. Das Volk war jedoch zu stolz, um dies zuzugeben und schwörten lieber auf alte Traditionen und vergangene Zeiten.

Vergangene Zeiten, die in Geschichten und Lieder emporgehoben wurden wie der Alkohol in den Tavernen. Und als hätte Ray vor kurzen genau das gemacht waren die Schmerzen, die an seinen Schläfen pochten und pulsierten. Träge blinzelte er gegen das Licht an, das den Raum flutete, obwohl die Sonne schon tief stand. Anders wir in den Katakomben hatte jedes Bett seine eigene Lampe, ein kleines Licht von hellem Glas geschützt, das munter tanzte und den leichten Duft von Rosen in sich trug. Das sanfte biss sich so abscheulich mit dem scharfen Geruch der Kräuter, dass er sich für einen Moment den Arm über die Nase legte. Doch selbst der Stoff seines Ärmels konnte ihm nicht davor bewahren, dass ihm ein Schauer durch den Körper fuhr und es ihm schlecht wurde. Natürlich war es nicht das einzige, das seinen Zustand eher verschlechterten als verbesserten, den dazu kam noch, dass er in einem unbequemen Bett lag. Oder war es doch nur ein Holzbrett? Mit der anderen Hand fuhr er über das Laken, doch er registrierte kaum das Gefühl von Stoff unter seinen Fingerspitzen, ebenso wie wenig wie er in der Lage war klare Gedanken zu formen.

Alles, was er wusste, war das er hier lag und das Bild an der Decke anstarrte, dass gleichzeitig Lüge und Wahrheit präsentierte. Es war verwirrend und doch konnte er sich nicht losreißen. Dabei war das Gemälde noch nicht einmal hübsch und der Silberturm sah eher aus wie ein langgezogenes Haus, anstatt ein mächtiges Bauwerk, das man schon von weiten aus erblicken konnte.

Er blinzelte erneut und beschloss das, das Gefühl auf seine Lippen und in seinem Hals Trockenheit war, die sich anfühlte, als würde er auf Sandstein kauen. Doch um diesen Zustand zu beheben, musste er sich bewegen und es brauchte erschreckend lange Augenblicke, bis ihm klar wurde, was es bedeutete. Sein Arm fiel an seine Seite, seine Hände stützten sich auf die Matratze, doch er wurde in seinem Versuch gestört die Kontrolle über seine Situation und Körper wieder zu erlangen.

„Du bist aufgewacht.“ sprach eine Stimme neben ihm und Ray runzelte die Stirn, als er in die Richtung sah. An seinem Bett auf einem schmalen Stuhl saß jemand, der ihn aus klugen, alten Augen beobachtete, während auf den Beinen dieser Person ein aufgeschlagenes Buch lag.

„Kommt vor.“ murmelte er als Erwiderung, bevor er einen erneuten Versuch wagte sich aufzusetzen, trotz den Kopfschmerzen, die beschlossen sich auszuweiten. Außerdem wurde ihm ein Becher mit Wasser unter die Nase gehalten, nachdem er umständlich griff. Es fühlte sich an, als würde er fremde Arme benutzen, aber für seine Vorstellung waren sie zu kurz. Außerdem fehlten das Blut und eine logische Erklärung, warum er mit abgetrennten Körperteile nach etwas greifen konnte.

Sein Besucher inspizierte ihn beim Trinken, vermutlich um sicher zu gehen, dass Ray sich nicht selbst im Becher ertränkte. Das wäre nicht nur unglücklich, sondern würde auch bedeuten, dass Meister Arbos sich um einen neuen Lehrling kümmern musste. Papierkram war nicht die Stärke des alten Mannes, viel zu sehr liebte er es sich in seine Forschungen zu stürzen und Kekse zu essen. Wie auch jetzt. Ray mochte jetzt noch nicht vollständig bei Sinnen sein, jedoch konnte er entziffern, dass das Buch über die letzten Entdeckungen handelte, in Bezug auf die Auswirkung von Energie in Objekte auf den menschlichen Körper. Umständlicher Titel, langweiliges Thema.

Eigentlich besah er sich nur das Buch, um Meister Arbos nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Konturen verschwammen vor seinen Augen und ihm war schon schlecht genug, da musste er sich nicht noch so einen Brei betrachten. Solche Probleme waren jedoch nicht neu, denn immer, wenn er sich und seinen magischen Kern überanstrengte, konnte er keine Gesichter wahrnehmen oder wenn, dann nur unklar. Das war auch dem alten Mann bekannt, hatte er mehr solche Begabungen ausgebildet, als Ray Jahre gelebt hatte.

„Madam Callum hat mir schon erzählt, was passiert ist.“ Die Stimme seines Meisters war ruhig, jedoch unangenehm laut für Ray. Es war noch eine Empfindlichkeit, der er unterlag.

„Dann wissen Sie mehr als ich.“

Sein Besucher stieß ein tiefes Seufzen aus und als wäre es ein Ruf gewesen öffnete sich die Tür.  Madam Callum betrat die Hallen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er allein die Funktion als Patient einnahm. Die ältere Dame war verschwunden und andere Patienten schien es derzeit nicht zu geben oder sie waren in eins der anderen Gebäude untergebracht, die die Heilergilde sich zu eigen gemacht hatte.

„Ich habe doch gesagt, dass er die nächste halbe Stunde erwachen wird und sich an kaum etwas erinnern kann.“ Die Heilerin sprach noch, bevor sie auch nur in der Nähe des Bettes war, in dem er platziert wurden, war. Sie sah aus wie heute Morgen und ihre Schritte waren leicht, wie die eines jungen Rehs. Oder wie jemand der zu viele Kräuter genommen hatten und dass in höheren Massen.

„Es waren reine Spekulationen.“ widersprach Meister Arbos und Ray ließ sich wieder ins Kissen fallen, zum einen, weil es jetzt lange dauern würde und zum anderen, weil sich der Raum begann zu drehen. Aber nur dezent in eine Richtung, zumindest glaubte er das.

„Spekulationen die auf Erfahrungen und Wissen basieren, Zacharias. Ich habe in meinem Leben schon genug Begabte behandelt. Außerdem habe ich so einen Vorfall in nächster Zeit erwartet. Du wolltest nicht auf mich hören und hast was von nächstem Jahr gesprochen.“ Madam Callum stützte die Hände in die Hüfte, als sie am Bettende zum Stehen kam und ihre Ansprache vollendete.

„Der Junge hat auch keine Anzeichen gemacht, das er einen erneuten Schub unterliegt.“

„Wir wissen beide, dass es eine schlechte Ausrede ist. Es gab mehr als genug Anzeichen, wenn man genauer hingesehen hätte. Vielleicht ist es ratsam deine Aufmerksamkeit weg von den Toten und mehr auf deine Lehrlinge zu legen.“

Es wurde über Ray gesprochen, als wäre er nicht anwesend. Lag wohl daran das er lag und unvertraut war es nicht, jedoch hieß es nicht, dass es ihm gefiel. Wie auch jetzt. Seine Kopfschmerzen waren nicht schlimmer geworden, jedoch wollte er gehen. Alles in ihm sagte ihm, dass er von hier wegmusste und er musste noch nicht einmal das Gefühl ergründen oder analysieren, um es zu folgen.

Den leeren Becher ließ er auf das Laken fallen, was unbemerkt blieb. Doch Flucht war noch nie seine Stärke gewesen und so war der Versuch zu entkommen eher ein aus dem Bett fallen. Mit zu viel Schwung nahm er sogar die Decke mit und Verursachte so viel Lärm, dass die beiden Meister ihren Streit tatsächlich unterbrachen. Nur Tiffa war lauter, die vor Schreck auf das Nachtschränkchen sprang, während er sich den Kopf anstieß, um das Bild zu vervollständigen. Was war gerade passiert?

„Was wird das?“ Madam Callum war an seiner Seite und hob ihn auf, bevor sie ihn wieder ins Bett verfrachtete. Das ging ihm zu schnell und noch eher er sich wehren konnte sickerte Magie in seinen Körper ein. Das Licht brannte in seinen Augen, während es sich anfühlte als würde jemand sein Gehirn entknoten und mögliche Löcher stopfen. Vielleicht tat genau das die Heilerin auch in diesem Augenblick. „Ich glaube dein Sturz heute Mittag hat dich noch mehr verwirrt.“

„Oder es liegt einfach am Bett, selbst in meinen Katakomben liegen die Toten bequemer.“ kommentierte Meister Arbos die Situation. Er hatte sich nicht gerührt und das tat er auch nicht, als die Katze sich auf seinen Schoß flüchtete.

„Oder es liegt daran.“ Ray fand es schwer unter der Magie zu sprechen, daher schob er die Hände der älteren Frau beiseite. „Das ihr wieder streitet und ich Kopfschmerzen habe. Was ist los und warum ist Tiffa hier?“ Damit deutete er auf das Wesen, das er erschreckt hatte, worauf sie ihn erschreckt hatte. Der Raum drehte sich mittlerweile nur noch mehr und aus Versehen warf er den Becher zu Boden, als er versuchte auf der steinharten Matratze Halt zu finden. Ganz unrecht hatte sein Meister nicht, dass die Toten bequemer lagen. Allerdings sollten Patienten auch wieder gehen und Tote liegen bleiben.

„Tiffa ist einfach hier aufgetaucht. Du kennst sie ja.“ Er wusste, dass die Katze ihren eigenen Kopf hatte, jedoch hatte er sie bis jetzt nur an zwei Orten gesehen: in den Katakomben und im Gildenhaus, in dem er untergebracht wurden, war. Ihre Anwesenheit ergab keinen Sinn, ebenso wenig, dass sie ihn aus gelben Augen beobachtete und dass genauer, wie Madam Callum.

„Katzen sind hier eigentlich nicht gestattet.“ bemerkte sie mit einem tiefen Seufzen, als würde sie an der Welt zweifeln und vermutlich hatte sie auch allen Grund dazu. Sie sah ihn an, bevor sie sich auf die Bettkante setzte. Es war kein gutes Zeichen, wenn das jemand tat, denn es war immer der Beginn eines unangenehmen Gespräches. Also mehr als sonst.

Es war jedoch Meister Arbos der sprach.

„Dein magischer Kern hat sich weiterentwickelt.“

Ray blinzelte, einmal, zweimal, dreimal, bevor er den Kopf schüttelte. Schlechte Idee, doch das war ihm gerade egal.

„Ich dachte so was würde nicht mehr passieren, zumindest wurde es mir so gesagt.“ Es war nicht neu, dass sich der magische Kern weiterentwickelte, passte er sich dem Körper natürlich an. Wenn ein Kind wuchs, waren alle Bereiche betroffen, jedoch passierte so etwas nicht ohne einen Plan. In bestimmten Altersstufen waren solche Phänomene häufiger anzutreffen als außerhalb, aber immer ging es stufenweise. Während bei ausgeprägten Kernen, die eine aktive Fähigkeit zu Tage brachten, es um einige mehr gab, wurden passive, wie seine, in drei große Phasen eingeteilt.

Die Geburt, das Ausbrechen und der Abschluss. Seine Begabung hatte er von Geburt an, kurz nachdem er in die Katakomben gekommen war, hatte sich sein magischer Kern so verändert, dass er auch Einfluss auf seine Ohren genommen hatte. Seitdem hatte er sich nur verstärkt, aber nicht mehr gewandelt, daher war man davon ausgegangen, dass nichts mehr passieren würde. Zumindest hatte niemand ihm etwas anderes erzählt oder er hatte etwas gespürt. Das kam jetzt plötzlich und er hätte gerne eine Vorwarnung gehabt, bevor er das Verlangen verspürt hatte Fremde anzufassen, seltsame Bilder zu sehen und danach Bekanntschaft mit dem Boden zu machen.

„Werde ich jetzt den magischen Kern anderer riechen können oder schmecken? Was seltsam wäre und dem Leichenschmaus eine neue Bedeutung geben würde.“ fügte er hinzu, doch sein Meister schüttelte den Kopf, während er Tiffa streichelte. Die Katze schnurrte unter dieser Zuneigung, vergessen war der Schrecken, den Ray noch in den Gliedern saß. Und dabei war alles, was er getan hatte eine andere Person zu berühren.

„Nein.“ War die deutliche Antwort. Zumindest war das eine Erleichterung. Der Tod war sein Alltag und damit auch die Gerüche, mit denen er zu tun hatte. Er wusste nicht ob die magische Energie so wahrgenommen werden konnte, aber er stellte es sich als absonderlich vor. Ein sterbender Kern in einer Leiche konnte nicht nach Rosen duften und nach Kuchen schmecken. „Du wirst beginnen eine Sehnsucht zu entwickeln und das Verlangen nach den magischen Kernen anderen mit deinem zu greifen.“

„Wie ein Erwachter.“ Das war sein erster Gedanke, den er auch in Worte fasste, während er sich schon vor seinem inneren Auge als Toter durch die Stadt wandeln sah. Konnte er nicht dann doch lieber das Schmecken und Riechen nehmen, anstatt ständig Fremde zu belästigen? Sie anzusehen nicht nur mit Faszination und Neugierde für ihr Licht, das sie in sich trugen, sondern mit Begierde und Gier?

Allein daran zu denken, ließ ihn nicht nur schaudern, sondern Ekel vor sich empfinden. Empfindungen wie Ekel gehörten nicht zu etwas, was ihm vertraut war, dafür hatte er schon zu früh zu viel gesehen, allerdings hieß es nicht, dass es ihm völlig fremd war. Er stand immerhin, laut anderer, genau zwischen dem Stadium eines Kindes und eines jungen Erwachsenen. Es war natürlich, dass sich da neue Interessen zeigten, wie eine Neugierde für neue zwischenmenschliche Beziehungen zu anderen Menschen. Bis jetzt war er davon verschont geblieben und war auch froh darum, denn er wollte niemanden näherkommen, als eine Armlänge Abstand, geschweige denn Körperflüssigkeiten austauschen. Das rief Ekel hervor, der von denjenigen, die davon wussten belächelt wurden. Er war anscheinend noch nicht so weit, noch zu jung und stand noch am Anfang dieser Prozedur, die sich Erwachsenwerden nannte, aber im selben Augenblick war er schon so alt, dass er auf fast zehn Jahre Erfahrungen in den Katakomben zurückgreifen konnte.

„So schlimm wird es nicht.“ Madam Callum legte ihre Hand auf die Bettdecke neben seiner. Sie berührte ihn nicht, aber er spürte das sie da war. Es war eine Art Trost zu spenden und ihn zu beruhigen, ohne ihn zu bedrängen. Unwohl fühlte er sich trotzdem dadurch und tat sich etwas zu tun. Tiffa war da ausgezeichnet, auch weil er sie zu Not auf die Heilerin werfen konnte, um sich zu verteidigen. So wie die Katze, die er auf seinen Schoss setzte, seine Hose zerfetzen konnte, konnte sie wahrscheinlich auch Gesichter verunstalten.

Das Wesen schien erst mal empört über diesen plötzlichen Platzwechsel, war aber dann nach kurzer Zeit zufrieden, als er sie mit mehr Aufmerksamkeit kraulte als ihr Besitzer. Unter seinen Fingerspitzen spürte er die Knochen unter der Haut und dem spärlichen Fell. Aus der Nähe war sie keine Schönheit, aus der Ferne allerdings auch nicht. Meister Arbos nahm sich wieder sein Buch zur Hand. Ray würde sich allerdings nicht wundern, wenn der alte Mann plötzlich begann den Einband zu streicheln.

„Es wird aber eine neue Ausbildung von Nöten sein, denn deine neue Begebenheit wird Disziplin erfordern. Damit so etwas wie heute nicht nochmal passiert.“ fuhr Madam Callum fort und ignorierte sein Verhalten. Sie kannte ihn fast genauso lange, wie der Herr der Katakomben. Der anklagende Blick glitt über ihn hinweg, ebenso über Tiffa. „Es gibt viele Risiken und Gefahren, die damit hergehen können. Der magische Kern ist ein verzweigtes Konstrukt und eine unbedachte, untrainierte Berührung kann für beide Parteien zu schwerwiegenden Folgen führen.“

Und er dachte die ältere Frau hatte die Funktion in diesem Gespräch Sorgen zu lindern und Worte abzuschwächen. Sie machte diesen Beruf nicht besonders gut und er sah sie einen Moment einfach an.

„Und das bedeutete jetzt?“

„Veränderungen.“ Ein Wort reichte und er ließ sich wieder ins Kissen fallen. Er mochte keine Veränderungen, Überraschungen waren ein Graus und gegen Neuerungen wehrte er sich in der Regel so lange, bis er keine Wahl mehr hatte als sich zu fügen.

Wie auch jetzt.

„Ich kann das Ganze auch einfach ignorieren, machen viele und es scheint gut zu funktionieren.“ widersprach er und schob Tiffa so lange herum, bis sie genug hatte und ihm einen leichten Schlag mit der Pfote versetzte. Dann beschloss sie es auf ihre Art zu machen und fand ihren Platz an seiner Seite. Er spürte ihren warmen Körper an seinen Rippen, während seine Hand über ihr Fell strich.

„Kannst du aufhören meine Katze zu ärgern.“

„Sie macht dasselbe regelmäßig bei mir.“ erwiderte er seinem Meister, der daraufhin nur die Augenbrauen hob, denn dieses Argument konnte nicht widerlegt werden. Der alte Mann seufzte, aber konnte Rays andere Worte auseinandernehmen und sie versenken.

„Und nein, du kannst es nicht ignorieren.“ sprach er, auch wenn in seiner Stimme Unzufriedenheit mitschwang. „Und das lasse ich auch nicht zu. Nicht nur, weil ich mir dann einen neuen Lehrling suchen muss, sondern auch weil du unter meiner Verantwortung bist. Risiken werde ich minimieren, koste es was es wolle.“

Das war deutlich und eigentlich war es Ray auch bewusst, dass er darum nicht herumkam. Aber er fühlte sich nicht anders, außer den Kopfschmerzen und das Schwindelgefühl, und das machte es schwerer so etwas zu akzeptieren. Alles, was er gemacht hatte, war der Neugierde zu folgen, die schon immer da gewesen war. Er war gut darin, sich zu belügen, aber es gab tatsächlich etwas, was er nicht erklären konnte, und das waren die Bilder, die er gesehen hatte und das Kribbeln in seinem Arm. Beides war verklungen, aber es war nicht vergessen. Er schwieg, aber er musste auch nichts mehr sagen.

Madam Callum und Meister Arbos tauschten ein vielsagender Blick untereinander, den selbst Tiffa deuten konnte, die unter den Streicheleinheiten schnurrte. Ray wusste immer noch nicht, warum die Katze hier war. In letzter Zeit war sie häufiger in seiner Nähe anzutreffen gewesen, aber meist arbeitete er auch in der Nähe ihrer Lieblingsplätze.

Er zuckte mit den Schultern.

„Heute Abend bei der Versammlung werden Arbos und ich uns mit der Magiergilde in Verbindung setzen, um deine weitere Ausbildung zu besprechen. Aktive Fähigkeiten werde von dieser hauptsächlich beaufsichtigt.“ Die Heilerin wurde bestätigt, was Ray verwirrte. Aber nach einige Momenten wurde es ihm klar. Er würde nicht nur das Verlangen haben, sondern tatsächlich mit seinem magischen Kern nach anderen greifen können. Das war pervers. Außerdem war kein Platz für drei Wappen auf seiner Weste.

Es war möglich mehrere Gilden anzugehören und das nicht nur in seinem Fall. Die Totengilde war ein Teil der Heiler geworden, als vor vielen Jahren beschlossen wurde, dass beide Bereiche von der engen Zusammenarbeit profitieren. Ray gehörte deswegen zu beiden Organisationen und trug ihre Zeichen. Es gab aber unter anderem auch Magier, die ein Teil der Stadtwache waren und für militärische Aufgaben eingebunden waren. Oder ein Handwerker konnte gleichzeitig ein Teil der Handelsgilde sein, wenn dieser mehrere Geschäfte besaß und es sich leisten konnte.

„Ich möchte dich bitten so lange hier zu bleiben, bis Carl seine Schicht beendet hat. Er wird dich zum Wohnheim bringen und dich auch morgen früh abholen.“ Kurz gesagt bekam er einen Wachhund, da Tiffa anscheinend nicht reichte. Er setzte sich trotzdem auf.

Es bestand wenig Gefahr, dass er wieder jemanden anfasste, denn er würde sich von anderen Menschen fernhalten. Außerdem wurde er aus Prinzip allein gelassen, durch seine Angehörigkeit. Dazu kam das er durch sichere Viertel ging, also war es unwahrscheinlich das ihm etwas passierte, selbst wenn er seine Bekannten besuchte, was er eigentlich heute machen wollte. Carl war jemand, der seine Pflicht sehr ernst nahm und erst gehen würde, bis Ray sicher in seiner Kammer angekommen war und diese auch nicht wieder verließ, selbst mit ein wenig Gewalt. Ray wollte nicht berührt, geschweige denn gezogen oder getragen werden, daher entkam ihm etwas anderes.

„Bekomme ich wenigstens was zu tun, während ich hier gefangen bin?“ Er wollte nicht die ganze Zeit die Decke anstarren und sich die Geschichte des Landes durch den Kopf gehen zu lassen.

Auf Meister Arbos Lippen erschien ein Schmunzeln und so wie er dort saß wirkte es fast, als wollte er eine Geschichte vorlesen wie ein Großvater, jedoch kannte er diesen alten Mann schon viel zu lange und ahnte was jetzt kam.

„Ich bekomme noch einen Aufsatz von dir über die Absonderungen des Körpers nach dem Tot.“

„Tiffa hat ihn gefressen.“

„Ich weiß das meine Katze einen gesunden Appetit hat, aber sie kann nicht alle sieben Arbeiten meiner Lehrlinge verschlungen haben.“

„Vielleicht doch.“ widersprach Ray, obwohl er wusste das er nicht darum kam viele Seiten mit Körperflüssigkeiten zu füllen. Also darüber zu schreiben, was bei der Verteilung der Themen deutlich gesagt wurde. Anscheinend hatte es schon einmal ein Vorfall gegeben, wo was anderes abgegeben wurden war als beschriebene Seiten.

„Du wolltest etwas zu tun haben und endlich anzufangen zu schreiben ist eine sinnvolle Arbeit diese Wartezeit zu füllen.“ Der alte Mann griff neben sich und hob eine Tasche hoch, die Ray nicht gesehen hatte. Es war seine, jedoch wirkte sie voller als heute Morgen, als er hier angekommen war. „Ich war so frei und habe dir ein Buch über das Thema mitgebracht und deine Schreibutensilien aufgefüllt.“

„Sie haben das alles bis ins kleinste Detail geplant.“ Eine andere Erklärung gab es nicht und Madam Callum lachte leise über die Situation, bevor sie sich erhob.

„Ich bin bis zur Versammlung nicht mehr im Haus, wenn etwas sein sollte, ruf nach Carl. Viel Spaß.“ erklärte sie. Sie hatte ihren Beruf verfehlt, Heiler sollten eigentlich fürsorglich sein und sich nicht am Leid ihrer Patienten ergötzen. Aber sie war nicht die einzige. Auch Meister Arbos stand auf, nachdem er die Tasche in Reichweite aufs Bett gestellt hatte.

„Ich werde morgen hier vorbeikommen.“ Er strich ihm über das Haar. Wie auch Madam Callum ging er einfach ohne eine weitere Verabschiedung und zurück blieben Ray und Tiffa.

Warum blieb die Katze hier? War nicht bald Zeit die Kekse wieder zu stehlen und Ray würde sie sogar dabei unterstützen. Irgendwie.

Er sah auf das Wesen hinab, das sich von dem weißen Bettlaken abhob wie ein Rostfleck und klang, als läge ihr etwas quer im Hals. Anscheinend fühlte sie sich, im Gegensatz zu ihm, hier wohl, was er sich nicht erklären konnte. Das Bett war ein Brett und sein Kopf war ein Topf voller Brei, der zu lange gekocht wurde, während sich seine Gedanken drehten.

Den Aufsatz schreiben würde er trotzdem nicht.

Immer mal wieder kam sein Meister auf die Idee, dass es Zeit wäre schriftliche Arbeiten von allen seinen Lehrlingen zu verlangen, um irgendwann irgendjemand handfeste Beweise vorzulegen. Oder um eine gute Begründung zu haben ungebetene Gäste hinauszuwerfen. Ray wusste nicht, ob der alte Mann wirklich all diese Texte las, denn oft vergaß dieser, dass er überhaupt Aufgaben gestellt hatte. Andere Dinge waren wichtiger und wesentlich interessanter, als schlechte Berichte zu lesen über Themen, die Meister Arbos vertrauter waren als Socken zu sortieren. Was wohl auch daran lag das die Familie, die den Namen Arbos trug, alle mit dem Tod hantierten, forschten und Erkenntnisse zu Papier brachten. Ja, sogar zu ganzen Büchern. Da klangen die Erzählungen aus früheren Zeiten völlig unglaubwürdig.

Einst hatte die Gilde der Toten eine wesentlich größere Rolle gespielt, vor allen militärisch, bis, wie es nicht anders sein konnte, es Mitglieder dieser übertrieben hatten. Verdorben durch die Macht der reinen magischen Energie der Toten und der Lebenden war Krieg der einzige Weg gewesen, um die Schreckensherrschaft zu beenden und Frieden über das Land zu bringen. Die Gilde, geschwächt durch hohe Verluste, verlor Einfluss, bis sie zu einem traurigen Rest zusammengeschrumpft war. Jedoch wurde sie nie völlig aufgelöst, denn es wurde immer jemand gebraucht, der sich um die Verstorbenen kümmern musste. Freiwilligkeit und Freude waren keine Begriffe, die mit den Katakomben in Verbindung gebracht wurden und das auf allen Ebenen. Hatte die Geschichte vieles vergessen, war den Menschen scheinbar in Erinnerung geblieben, dass es Vorfälle des Machtmissbrauchs gegeben hatte und es sich vielleicht wiederholen konnte. Sonst hat niemand jemals Stellungen so genutzt und über die Grenzen der Menschlichkeit hinaus verwendet.

Ray konnte darüber nur den Kopf schütteln, denn sie waren keine Gefahr und schon lange hatten sie nichts mehr mit der früheren Gilde zu tun. Es hatte noch nicht einmal eine Familie die Zeit überlebt, um als Vorlage für die düsteren Geschichten zu dienen. Es gab keine Verbindung zwischen damals und heute, noch nicht einmal die Berufsbezeichnung war geblieben.

Wegbegleiter der Verstorbenen war eine nette Beschreibung, auch wenn er sich manchmal nicht nach einem Begleiter fühlte. Eher als Koch oder als Bürokrat. Aber jetzt gerade vor allen als jemand, der nichts zu tun hatte. Wäre die Langeweile ein Wesen, wäre sie flauschig und würde langsam auf ihn zu geschlichen kommen, ihn fest im Visier, weil er der Einzige war, der in dieser Halle lag.

 Allein.

Allein mit Tiffa, die ein Fauchen von sich ließ, als er sie einfach hochhob und sich vors Gesicht hielt.

„Das ist es, Wesen der Seltsamkeit.“ Es würde niemand auffallen, wenn er kurz verschwinden würde. Alles, was er tun musste war vor Schichtende hier zu sein. Theoretisch widersetze er sich auch keinen Regeln oder Anweisungen, denn Madam Callum hatte ja gesagt er solle hierbleiben. Sie hatte nicht explizit gesagt, ob sie damit das Bett, den Raum oder den Gebäudekomplex gemeint hatte. Er ließ die Katze sinken, die ein bisschen hilflos mit den Pfoten gewedelt und versuchte hatte nach ihm zu Schlagen. Der verdutze Ausdruck in ihrem Gesicht, als er sie wieder auf das Laken setzte, brachte keine Vorzüge an Schönheit, doch das war ihm egal. Er stieg aus dem Bett und fand schnell seine Stiefel, in die er umständlich stieg. „Tiffa, sei so gütig und schreib für mich diesen Text. Aber in Schönschrift.“ befahl er, jedoch merkte er schnell, dass sie andere Pläne hatte als er.

Sie folgte ihm auf Schritt und Tritt wie ein Schatten, allerdings einer, der wusste, wohin er gehen musste, während ihm erst an der Tür zum Gang auffiel das er nicht wusste, wohin er eigentlich wollte. Er konnte theoretisch nochmal nach der Akte seines Onkels schauen, denn er wusste noch immer nicht was genau passiert war. Oder er könnte jemand anderes besuchen, jemand den er nur zwei Mal gesehen hatte und davon nur einmal durch verschwommene Bilder und Erinnerungen einer anderen Person.

Es musste ja vermerkt wurden sein, ob der Verletzte von heute Vormittag tot oder lebendig irgendwo lag. Ihm wäre letzteres ein wenig lieber, denn er wollte keine Kommunikation betreiben und einen Schlafenden zu beobachten, stand auch nicht auf der Liste der Dinge, die er gerne tat. Borda war eine Ausnahme, denn der alte Mann schlief öfters mitten im Gespräch ein, nur um wenige Minuten später aus dem kurzen Schlummer zu erwachen. Das dieser dabei schnarchte waren Lebenszeichen genug.

Ray verließ den Saal und versuchte seine Begleitung nicht umzulaufen oder einzuklemmen, denn Tiffa war untalentiert talentiert immer vor seine Füße zu laufen. Es wirkte fast, als wollte sie ihm so nah wie möglich sein, und er fragte sich erneut, warum sie überhaupt hier war. Immerhin war es kein natürliches Verhalten für diese Katze und sie zeigte keine Anzeichen, dass sie Hunger hatte. Sie kam nie nach Futter betteln, sondern nur nach Streicheleinheiten, aber eher, um zu testen, wer würdig war ihr Sklave für die nächsten Stunden zu sein. Oder um zu schauen welche Seele gerade gestohlen werden konnte. Sie sagte ihm auch nicht ihre Beweggründe, obwohl es alles wesentlich leichter machen würde.

Er hatte es schon schwer. Und sein Leben würde bald noch komplizierter werden durch die neusten Erkenntnisse, die ihm mitgeteilt wurden, waren und die er immer noch nicht spürte.

Er fühlte sich nicht anders, noch nicht einmal besonders geschwächt und nur geplagt von Kopfschmerzen, dabei hatte er gehört das es der Fall war, wenn die magische Energie genutzt wurde. Diese verbrauchte sich bei aktiven Fähigkeiten und regenerierte sich anschließend langsam, was beides eine Belastung für den Körper war. Anscheinend gehörte er jetzt dazu, denn als er den Kern des Seefahrers berührt hatte, hatte er es mit seinem getan und eine Verbindung geschaffen, die ihn ermöglichte Bilder zu empfangen. Zumindest reimte er es sich gerade zusammen, auch wenn er sich nicht erklären konnte, was er genau und vor allen wie er es gemacht hatte. Ahnungslosigkeit trug sein Gesicht und er hatte viele Fragen.

Zum Beispiel warum er Bilder gesehen hatte, die eindeutig nicht von ihm gekommen waren? Lag es daran das die Adern, durch denen die Energie floss, mit dem Gehirn verbunden waren?

Seine Theorie das es nur seine Fantasie gewesen sein konnte musste er wohl oder übel ausschließen, denn beide Meister nahmen das ganze viel zu ernst und wollten sogar mit der Magiergilde sprechen, obwohl er ihnen die Sache mit den Bildern verschwiegen hatte. Ray hatte eigentlich nichts gegen diese Gruppierung, nur alles. Zum Glück kannte er nur wenige und sah sie selten, jedoch lieferte jedes Treffen ein Grund mehr diese zu meiden. Arroganz schien ein Charakterzug zu sein, denn jedes Mitglied mit Eintritt annahm, unterstützt wurde sie dabei noch von der Tatsache das die Gilde speziell gefördert wurde von der Regierung. Die Magier waren ein wichtiges Instrument der Gesellschaft und unersetzbar in ihrer Funktion zum Wohle der Allgemeinheit. Und Ray war die heimliche Königin von Eldur und tanzte am liebsten nackt über den Marktplatz mit Tiffa auf dem Kopf.

Als hätte die Katze dieses Gedankenbild gehört starrte sie ihn an und lief erneut vor seine Füße. Sie beschwerte sich mit einem Maunzen und er unterdrückte das Verlangen ihr so zu Antworten. Es war nicht seine Schuld, wenn sie ihm auf die Pelle rückte als würde sie etwas Interessantes an ihm finden. Ein Fisch war er nicht und auch kein Keks, nur eine arme Person, die von Veränderungen gequält wurde, die Neuerungen mit sich brachten. Wenn jemand schuld war, dann sein magischer Kern, der plötzlich der Meinung war das sein bisheriges Leben nicht genug gewesen war. Wobei plötzlich stimmte theoretisch nicht ganz, wenn er zurückdachte. Bei seinem Onkel hatte er auch einmal die Hand ausgestreckt, aus unbekannter Neugierde und das war fast so lange her, wie...

Er blieb wie erstarrt stehen und das haarige Wesen tat es ihm gleich, so als hätte er es ihr befohlen. Vielleicht hatte er es auch, wer wusste welche Fähigkeiten ihn noch aus dem Hinterhalt überfielen, doch das war nicht der Punkt, denn dieser war ein anderer und hatte etwas mit Tiffa zu tun. Oder viel mehr ihre Anwesenheit in seiner Nähe.

Bis vor ein paar Monate hatte sich das Vieh nie für ihn interessiert, sondern war um einen anderen Lehrling geschlichen, wie sie es jetzt bei ihm tat. Doch irgendwann war sie nicht mehr bei Bern gewesen oder seinem Zimmer im Wohnheim, sondern bei Ray. Ihm war es schon aufgefallen, dass er öfters verfolgt, wurden war, jedoch hatte er es auf eine Laune geschoben und es nicht weiter beachtet. Vielleicht tat sie es aus einem bestimmten Grund?

Tiere hatten keinen magischen Kern, keine passende Energie und noch nicht einmal eine Art Organ, weswegen der Mensch für sie theoretisch in diesem Fall uninteressant war. Wenn man jedoch bedachte, das Tiffa ungefähr zur selben Zeit ihn im Blick hatte, wie Ray bewusst geworden ist, dass er Ansätze seltsame Neigungen hatte, dann war die logische Schlussfolgerung das er keine Ahnung hatte. Er reimte sich gerade einen völligen Irrsinn zusammen. Als könnte das Tier vor ihm Veränderungen des magischen Kerns spüren und würde deshalb denjenigen begleiten, als Zeichen für Meister Arbos, damit dieser wusste, dass er sich auf etwas vorbereiten konnte. Das war lächerlich und es machte ihn wütend, dass er es überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Tiffa war eine Katze und die hatten von Natur aus ihren eigenen Kopf, ebenso die Weltansicht, dass alle Menschen ihre Sklaven waren.

„Es wäre einfacher, wenn du mir sagen würdest, was du von mir willst.“ murrte er und stieg über das haarige Wesen hinweg, das ihn beobachtete und dann wieder folgte. Natürlich ohne eine Antwort zu geben.

Sein Weg führte ihn durch die hohen und breiten Hauptgänge des Gebäudes, bis er in die Eingangshalle trat. Zu der späten Nachmittagszeit, war außer der Dame hinter dem Empfang, niemand mehr in dem Saal, der als Besuchereingang diente, was ihm zugutekam. Je weniger Menschen er begegnete oder sah, umso besser. Noch dankbarer war er dafür, dass der magische Kern der jungen Frau nicht ausgeprägt war und schwächer leuchtete. Er kannte sie nur flüchtig, wie eigentlich fast jeden außerhalb der Katakomben, aber sie erkannte ihn dafür. Von all den Lehrlingen war er derjenige, der am häufigsten bei den Heilern anzutreffen war, was schlichtweg einfach an seinen Fähigkeiten lag. Er war nützlicher, auch wenn er diese Meinung nicht teilte, denn Bern konnte so etwas wie kommunizieren und Sheila die Bestandteile des Bluts mit wenigen Berührungen ertasten.

„Ich dachte du bist schon weg.“ wurde er begrüßt, als er an die Tresen trat. Normalerweise wäre das auch der Fall, denn hier wurde penibel auf Zeiten geachtet, Arbeits- und Besucherzeiten besonders. Er wurde wachsam beobachtet und um dies zu entgehen, hob er Tiffa einfach auf die Steinplatte. Sofort war die ganze Aufmerksamkeit auf die Katze gerichtete, auch wenn Missbilligung die Überraschung bei weiten überdeckte. Kommentierte wurde das von einem Schnurren, von Tiffa und nicht von der Dame, die wiederum die Nase kräuselte. „Katzen sind hier nicht gestattet.“ ermahnte sie.

„Sagt das nicht mir sondern ihr.“ erwiderte er nur, denn er konnte nichts für seine Begleitung, die ihren Kopf an seine Hand rieb. Eher unbewusst fing er an das Fell zu kraulen. „Ich bin noch hier.“ fügte er hinzu, was sie zum Seufzen brachte.

„Was möchtest du?“

„Die Zimmernummer von einem neuen Patienten aus der Händlergilde. Kam als Notfall herein und war in Behandlung von Madam Callum.“

Die Dame hinter dem Empfang schüttelte den Kopf.

„Ich darf dir diese Auskunft nicht geben und das weiß du ganz genau.“ Er verdrehte die Augen, auch wenn er es bereute, denn die Kopfschmerzen meldeten sich wieder mit einem stechen. Aber es brachte ihn nicht davon abzulügen oder Ausreden zu benutzen. Seine Beweggründe, wenn er solche hatte, legte er nicht gerne offen, vor allen nicht gegenüber Fremden, Bekannten oder wie man sonst solche menschlichen Beziehungen nannte.

„Ich soll ihm Unterlagen liefern, Madam Callum hat vergessen zu sagen wo er zu finden ist.“ Er konnte auch anders an die Informationen kommen, allerdings war die ältere Dame nicht mehr im Gebäude und so war ihre Arbeitskammer abgeschlossen. Und zum Heilerzimmer wollte er nicht gehen, weil er dort Carl begegnen würde, der andere Ansichten hatte als Ray und die Kraft diese durchzusetzen.

Die junge Frau seufzte erneut und schluckte die Lüge, auch wenn er wusste das sie ihm nicht ganz glaubte. Allerdings hatte sie keinen Grund an ihn zu zweifeln, auch weil Madam Callum manchmal etwas vergesslich war.

„Er liegt auf der Station B, Zimmer 13.“ erklärte sie, nachdem sie in den unzähligen Akten auf ihren Tisch nachgeschaut hatte. „Und schaff die Katze hinaus.“ fügte sie noch hinzu.

„Tiffa.“

„Was?“ fragte die Empfangsdame irritiert, weil sie sich nach ihrer Antwort schon wieder ihrer Arbeit zugewendet hatte, in der Erwartung das er so schnell ging, wie er gekommen war.

„Sie heißt Tiffa und ist die Katze von Meister Arbos.“

„Von mir aus.“ Und damit war die Unterhaltung auch schon vorbei und Ray fragte sich, wie jemand so etwas gerne und oft machte. Es war unangenehm, daher schnappte er sich seine Begleiterin und machte sich wieder auf den Weg, diesmal jedoch mit einem Ziel und einer Katze unter dem Arm. Tiffa schien auch ganz zufrieden mit ihrem Platz, auch wenn sie die Beine von sich streckte und damit wirkte wie ein Spielzeug. Eins dieser Holzfiguren auf Räder, die man an einer Schnur hinter sich herziehen konnte. Merida hatte so ein Ding gehabt, nur dass es ein Pferd gewesen war, oder ein Kaninchen? Er wusste es nicht genau und eigentlich war es auch egal, denn er war schon längst aus diesem Alter heraus und seine jüngeren Geschwister sah er zu selten, um zu wissen mit was sie sich neben dem Training noch beschäftigten. Außerdem hatte er in den Katakomben nur Figuren gehabt, die er auseinander bauen konnte, um den menschlichen Körper kennen zu lernen und mit Stoffresten zu üben diesen einzuwickeln. Vorbereitung auf seine Aufgaben, die er von Anfang an vor Augen gehabt hatte. Louisan Arbos hatte immer die jüngeren Lehrlinge bei sich, um sie im Blick zu haben, auch während ihrer Arbeit mit den Verstorbenen. Und so verbrachte jedes Kind die Zeit spielend zwischen Stein und Leichen, umgeben von Ruhe und dem Lied der Toten. Ehrlich gesagt war es keine schlechte Art seine Kindheit zu verbringen, zumindest für Ray nicht, dem der Kontakt zu anderen Kindern schon immer gestört hatten. Leider hatte es die Schulpflicht es anders gesehen und ihn regelrecht dazu gezwungen.

Schon von seinem ersten Schultag an hatte er nicht verstanden, was so großartig war zwischen den Stunden über den Hof zu jagen und mit anderen Menschen freiwillig Zeit zu verbringen. Pausen hatten alles verbunden, was ihm ein Graus gewesen war, und so hatte er viele Gründe gehabt, sich das Schulende herbeizusehnen. Die Rückkehr in die Katakomben war bei ihm daher sehr beliebt gewesen und diesen Weg hatte er immer mit eilig zurückgelegt. Wenn man schnell rannte, dann verschwamm die Umgebung und man konnte sein Zielort erreichen, ohne dass man gezwungen war an dem gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Allerdings war er auch nicht völlig eine unsoziale Person, wie es für andere vermutlich erschien. Er mochte die anderen Lehrlinge, einfach weil sie einander schon lange kannten und ihr gezwungenes Zusammenleben sie auf eine Ebene der Bekanntschaft gebracht hatten. Er wusste das Bern zum Beispiel von Nüssen sterben konnte, auch wenn diese Erkenntnis einen Zufall geschuldet war und fast mit einem verstorbenen Schüler. Meister Arbos wäre nicht glücklich darüber gewesen, denn in jeden seine derzeitigen Lehrlinge steckte Jahre und er liebte es zu behaupten, dass unter seiner Leitung noch keiner seiner Mitarbeiter in den Katakomben verstorben war. Nur außerhalb, aber das war aus dem Wirkungsbereich und konnte in der Statistik ignoriert werden.

So wie Ray die schriftlichen Aufgaben ignorierte, bis sie vergessen waren. Eine Methode die er auch in seiner jetzigen Situation am liebsten nutzen wollte. Und trotzdem kam er auf Station B an, genauer am Zimmer 13. Es war eine Tür wie alle anderen auf dem Gang, nur die Nummer auf dem Schild neben dieser verriet das er richtig war.

Tiffa maunzte und begann ihren Kopf an seinen Arm zu schmiegen, was von seinem Blickwinkel aussah, als wollte sie sich das Genick brechen. Auch wenn er sich sicher war, dass sie nicht normal war, war er sich jedoch dann doch soweit unsicher, ob sie so etwas überhaupt überleben konnte. Er wollte es nicht ausprobieren, denn er empfand seine jetzige Situation schon stressig genug.

Theoretisch musste er nur so unauffällig wie möglich das Zimmer hinter dieser Holztür betreten und herausfinden, was mit dem Patienten passiert war und wie sein magischer Kern aussah. Möglichst ohne zu reden oder Fragen zu beantworten. Seine Begründung für seine Anwesenheit war selbst für Ray zu unverständlich und durchzogen von Löchern. Wenn er es sich nicht erklären konnte, konnte er es auch nicht anderen. Vor allen Menschen, lebenden und fremden Menschen.

Praktisch stand er vor der verschlossenen Tür und starrte das Holz an, während er die Katze unbewusste hinter den Ohren kraulte im Versuch seine Gedanken zu ordnen und einen Sinn zu finden.

Wenn er etwas tat oder es auch nur plante, das aus seiner gewohnten Struktur fiel, wuchs in ihm ein Unbehagen wie ein Geschwür. Es saß in seinem Magen und begann sich nach und nach auszubreiten. Immer mehr, bis es seinen Hals erreichte und ihn versuchte zu erwürgen. Das war nur eine bildliche Beschreibung, die sich sehr wörtlich anfühlte und ein Grund war, warum er Veränderungen mied und nicht mochte. Wer wurde schon gerne von etwas gewürgt, nachdem man nicht greifen konnte?

Ein Seufzen entkam ihm und Tiffa ein Schnurren. Geräusche waren ein Zeichen, das etwas oder jemand noch lebte, ob gut oder schlecht hing dabei von der Situation ab.

„Willst du übernehmen?“  fragte er das Wesen auf seinem Arm hoffnungsvoll, denn je länger er hier stand, desto weniger wolle er seinen Plan durchführen.

Die Energie und Motivation, die ihn dazu gebracht hatte aufzustehen, verkümmerten langsam wie eine Pflanze ohne Wasser. Dabei gab es genug Fragen und Ungereimtheiten, die er sich nicht einbildeten. Wie auch schnellen Schritte auf Stein, die von den Wänden wiedergegeben wurden. Jemand kam näher und es gab zwei Möglichkeiten: Entweder die Situation wurde durch die Person schlimmer oder sie wurde schlimmer. Denn in einer Krankenstation eilte nur jemand, wenn ein Notfall anstand.

Er erwartete daher einen Heiler, jedoch nicht eine Besucherin außerhalb der Zeiten und vor allen nicht Kayla.

An der Ecke des Gangs verharrte sie für einen Moment und drehte den Kopf suchend in verschiedene Richtungen, bevor sie ihn entdeckte. Ihr langer roter Zopf wippte hinter ihr her, als sie die Distanz mit großen Schritten überbrückte. Es wurde schlimmer, dachte er, denn ihr Gesicht glühte vor Anstrengung und war gezeichnet von Bestürzung und Unruhe.

Und was wollte sie dann von ihm?

Er machte sich noch nicht einmal die Mühe etwas zu sagen, denn als die Rekrutin von der Stadtwache genau vor ihm zu stehen kam, begann sie schon die Worte heraussprudeln zu lassen wie ein Wasserfall. Zum Glück wurde er nicht ertränkt.

„Es ist schon wieder passiert.“ stieß sie hervor. „Genau vor meinen Augen, wie bei deinem Onkel. Es war genau, wie auf dem Trainingsplatz gestern.“ Sie machte irgendwas mit ihren Händen, bewegte sie aufgeregt in ausladenden Gestiken, die keinen Sinn machten und Ray? Er hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie hatte zwar seine Aufmerksamkeit, mehr als das er sie manchen seiner Gesprächspartner jemals schenken würde, aber sein Blick wurde von ihrem magischen Kern nahezu angezogen. Er pulsierte leicht wie die Flügel einer Motte, aber nicht zaghaft, sondern im Versuch einen kleinen Sturm heraufzubeschwören. Es war aber dann doch wieder so leicht, dass er dieses Verhalten nicht hören konnte, noch nicht einmal ein Summen erreichte ihn.

Seine Fingerspitzen kribbelten.

„Er ist einfach zusammengebrochen und war tot.“

Wer war tot?

Es hatte viel Mühe seinen Blick in Kaylas Gesicht zu richten und noch mehr ihn dort zu halten. In die Augen sah er ihr trotzdem nicht, denn er fragte sich genau genommen drei Dinge:

Was wollte sie von ihm? Warum war er hier? Und wo war Tiffa?

Anscheinend hatte er die Katze fallen gelassen, als er seine Hand nach der Rekrutin ausgestreckt hatte. Jetzt verschwand das dürre Wesen fauchend um eine Ecke und seine Hand hing zwischen ihnen in der Luft. Er hatte nicht gemerkt, dass er sich bewegt hatte.

Kayla blinzelte so verwirrt, wie er sich fühlte, und noch immer lag die Bestürzung über die Ereignisse in ihrer Mimik. Unbehagen kroch ihm in den Hals und er ließ seinen Arm sinken, doch verstecken, was er getan hatte oder was er tun wollte konnte er nicht. Und ein Verstehen darüber zu entwickeln, glitt ebenfalls durch seine Finger, wie seine magische Energie, nach der er unbewusst gegriffen hatte.

Das Schlucken fiel ihm schwer, nicht nur weil sich sein Mund trocken anfühlte, sondern weil sich die Kopfschmerzen auch präsenter als zuvor zurückmeldeten. Pünktlich zum Dienst.

„Was?“ entkam es ihm, auch weil die Stille zwischen ihnen sich zog und dehnte, dass es mehr als unangenehm wurde, als es so wie so schon war. Mit jedem Moment, der verstrich, wurde Ray bewusst, dass er keine Kontrolle über sein Verhalten hatte. Er musste hier weg, sagte ihm sein Fluchtinstinkt, bleib hier, rief das seltsame Verantwortungsbewusst sein. Wenn etwas geschah, dann konnte er hier eher Hilfe bekommen als in der Stadt. Aber in beiden Fällen gab es ein Problem: Menschen. Überall waren Menschen und es waren viel zu viele von ihnen.

„Geht es dir gut?“

Er nickte bei dieser Frage und schob die Hände in die Taschen, krallte sich regelrecht mit den Fingern im Stoff fest. Es lag noch eine Spur Magie in der Luft, die sich hilflos bewegte und wandte, bis sie sich auflöste. Sein Kern war von einem tiefen blau, dunkel wie der Nachthimmel außerhalb der Stadt. Ohne Sterne und mit einem Mond, der sich versteckte. Etwas, was er auch gerne tun wollte. Doch er zwang sich stehen zu bleiben und die Wand hinter Kayla anzustarren. Sie drehte sich kurz um, jedoch fand sie nicht das, was seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt fesselte. Es gab auch nichts, aber es war eine seiner beliebten Methoden, um Augenkontakt zu vermeiden. Alternativ konnte er auch einfach auf ihre Nase starren. Sie schwiegen wieder beide, jedoch war es sie, die die Stille brach und weil sie auf seine Antwort keine Worte fand, fuhr sie mit ihrem eigentlichen Anliegen fort.

„Der Tod deines Onkels.“ begann sie. „Er ist plötzlich geschehen, völlig unerwartet. Er hat gerade etwas vor der Gruppe erklärt, als er den Satz mitten beim Sprechen abgebrochen hatte. Dann ist er umgefallen und war einfach tot. Niemand konnte ihm helfen. Und heute, als ich durch den militärischen Bezirk gegangen bin, auf dem Weg zu meiner Unterkunft ist es wieder passiert. Ich habe einen anderen Rekruten getroffen, einen flüchtigen Bekannten und er ist ebenfalls...“

„Tot.“ unterbrach er sie. Sie nickte, doch seine nächsten Worte beschwor eine kurze Verärgerung herauf. Diese kannte er und verband er mit der Rekrutin der Stadtwache. „Es kann auch einfach nur ein Zufall gewesen sein. In einer so großen Stadt wie Königsfeuer sterben jeden Tag viele Menschen an einem Tag. Mehrere sogar an solche scheinbar mysteriösen Ursachen.“

„Aber...“

„Vielleicht hast du einfach Pech, das zwei in deiner Näher und so kurzer Zeit hintereinander gestorben sind. Du bringst anscheinend ein tödliches Unglück.“ Er zuckte mit den Schultern, während Kayla schwankte zwischen Wut und Ersetzen durch seine Worte.

„Das ist...“ begann sie erneut und ballte die Hände zu Fäusten. Seine Finger griffen nur noch mehr in den Stoff. Obwohl er sie nicht direkt ansah, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass ihr Licht leicht flackerte. Es lenkte ihn zu sehr ab.

Er wollte sie nicht berühren, er wollte noch nicht einmal in ihrer Nähe sein und er wollte nicht...Ray atmete so tief durch, wie es ihm möglich war, denn das Unbehagen war nicht gewichen, sondern hatte sich nur noch fester um seinen Hals gelegt. Doch diesmal war es nicht er, der sie unterbrach. Links von ihnen öffnete sich die Tür, also vom Zimmer gegenüber der 12, und eine Frau trat heraus. Sie überragte Ray, aber auch Kayla und das lag nicht nur an ihrer aufrechten Haltung die geradezu nach „Stock im Hintern“ rief.  Ihr Blick zeigte nur kurz so etwas wie Überraschung, bevor nichts mehr in ihren Augen lag als aufgesetzte Höflichkeit.

„Guten Abend.“

Kayla strafte ihre Schultern und neigte leicht den Kopf zum Gruß, während sie versuchte entschuldigend zu lächeln. Das musste ein schwieriges Unterfangen sein, wenn man bedachte in welchen emotionalen Zustand sich die Rekrutin befand. Und er fragte sich wieder einmal, warum sich jemand dazu zwang. Es gab keine Vorteile.

„Guten Abend. Ich hoffe wir waren nicht zu laut und haben Sie gestört.“ Die Patientin schüttelte daraufhin nur den Kopf.

„Keineswegs.“ bestätigte sie noch mit Worten ihre Gestik. „Aber Ihr kommt mir bekannt vor? Eine Rekrutin der Stadtwache?“

Ray fragte sich, was er hier machte, während sich Kayla vorstellte. Langsam wich die Anspannung aus ihrer Stimme und auch die Verärgerung, die er in ihr Hervorgerufen hatte. Letzteres mochte er wesentlich mehr als die leeren Worte, die getauscht wurden wie Äpfel über einen Ladentisch auf dem Markt. Meister Arbos schickte zweimal im Monat seine Lehrlinge in die Stadt, um Besorgungen für die Katakomben zu erledigen. Es war nur eine fadenscheinige Ausrede, um vor anderen erzieherischen Maßnahmen vorzutäuschen, ebenso wie die Ausrede nicht fruchtbar war, dadurch Zeit zu haben sich wichtigeren Erledigungen zuzuwenden. Denn spätestens am anderen Morgen musste sich der Herr der Toten persönlich auf den Weg machen, um seine verlorenen Schäfchen einzusammeln. Allein dieses Ereignis war ein guter Beweis die Behauptung, „die Kinder“ kämen nicht an die „frische Luft“, zu widerlegen. Wenn man Wert darauflegte.

So wie Ray keinen Wert drauf legte sich an dem aufgekommenen Gespräch zu beteiligen. Er kannte das Thema zu genügend, denn in seiner Familie gab es selten ein anderes, und leider war er viel zu oft gezwungen dem Abendessen beizuwohnen. Völlig wegzuhören war genauso unmöglich, als mit offenen Augen nicht zu sehen. Also ging er, denn dass was er tun wollte war ihm entglitten und ihm fehlte der Impuls es noch einmal zu wagen seinen Gedanken zu folgen. Vielleicht passierte es später noch einmal oder niemals, allerdings erschien es ihm jetzt gerade nicht wichtig genug, auch weil er einfach fortwollte. Weg von Kayla und ihrer pulsierenden Magie, ebenso von dem Summen der Lichter um ihn herum. Das gedämpfte durch Stein und Holz, wie auch das Nahe, das in ihn juckte wie ein Ausschlag. Könnte er in seinen Körper greifen, so würde er seine Finger hinter seinen Augen legen und dort kratzen. Doch das war zu seinem Leidwesen nicht der einzige Ort, an dem dieses schreckliche Gefühl ruhte, ausgelöst durch die Geräusche um ihn herum. Sie waren viel zu nah. Zu nah und zu laut. Wie wütende Bienen, die in ihrem letzten Kampf um Atem rangen, während ihr gesetzter Stich ihnen den Stachel aus dem Hinterkörper gerissen hatte. Es war ein guter bildlicher Vergleich, fiel ihm auf, während er kaum wahrnahm das er seine Finger fester in den Stoff seiner Tasche krallte. Es war sogar ein sehr guter, fuhr er fort, während seine Füße ihn keinen Schritt weiterbewegten, obwohl sein eigentlicher Wille war weg zu gehen. Er tat es nicht, sondern blickte zurück.

Er sah zu den beiden, wie sie im Gespräch vertieft vor dem Zimmer standen. Zumindest wirkte es so, denn Kayla warf ihn einen Blick zu, der ihm ungewöhnlicherweise zeigte, dass sie ihm jetzt nicht unähnlich war. Sie wollte weg. Er konnte es ihr nicht verübeln, denn in ihren Augen lag ein Meer aus Gefühlen, während ihr Licht dieses widerspiegelte. Anders als die magische Energie der älteren Frau, deren Maske mehr war als nur ein gefangenes Abbild einer Mimik. Sie war die sterbende Biene und trotzdem überraschte es ihn wie lautlos sie starb.

Es war, als hätte jemand unsichtbare Fäden durchgeschnitten, wie bei einer Puppe. Der Körper fiel in sich zusammen, da hatte das letzte Wort noch nicht die Lippen verlassen. Kayla schrie, noch bevor genügend Zeit verstrichen war, um zu verstehen, was sich vor ihren Augen abspielte. Doch es dauerte keine zwei Herzschläge bis die Erkenntnis ihn erreichte und über ihn schwappte, es allerdings nicht schaffte ihn dazu zu bringen weg zu gehen. Stattdessen kam er näher zu dem Mädchen, an dem ein tödliches Pech hing und zu der Patientin, die nun am Boden lag. Ohne Herzschlag mit einem Licht, dessen leuchten ihm verriet, dass es vorbei war.

Endgültig.

Sie war tot, Kayla fiel in die Verzweiflung und griff sich hilflos in die Haare, während er all das tat, was ihm gelehrt wurden war: Nach Leben suchen. Doch wo keins war, konnte auch keins gefunden werden. Und so kniete er nur neben beide und konnte nur warten, bis einer der Heiler näherkam, der durch den Schrei alarmiert wurden, war. Bis es jedoch so weit war, die schnellen Schritte verrieten die Ankunft, wusste er das Madam Callum ihm nie verzeihen würde, würde er sich nicht um Kayla kümmern.

Er berührte sie nicht, jedoch zuckte sie zusammen. Sie weinte nicht, sondern war es nun die ihn anstarrte, bis zu dem Moment, wo er es wagte etwas zu sagen.

„Es gibt doch so ein Spruch: Eins ist ein Ereignis. Zwei ein Zufall. Und drei ein Muster.“ sprach er leise, doch seine Worte erschienen ihm viel zu laut in dem Gang aus Stein. „Nimm es nicht zu Herzen, das Menschen um dich herum sterben. Du gewöhnst dich dran.“

Tröstende Worte, waren noch nie seine Stärke gewesen.

Kapitel 3: Seerosen

 

Der Silberturm war ein Ebenbild des Königreichs: Er strahlte im Licht der untergehenden Sonne und warf tiefe Schatten hinab auf die Stadt, die vor seinen Füßen trügerisch ruhig wirkte. Zumindest im zentralsten Viertel von Königsfeuer, dem Königsviertel.

Die Straßen waren gesäumt von prächtigen Villen und überall gab es kleine Meere aus exotischen Blumen und Sträucher, dass allein ihr Anblick nach verschwenderischem Luxus schrie. Es waren keine Nutzpflanzen, sondern dienten nur zu kurzlebigen Dekoration, denn nur wenige überlebten nur einen Winter. Dieses Jahr dominierten violette Töne das Bild und hatten somit das Gelb vom letzten Jahr abgelöst.

Der Herr der Katakomben runzelte, wie immer darüber nur die Stirn und in seinen Zügen tauchte Missfallen auf. Josephine teilte diese Ansicht, auch wenn sie ihm nicht offen zustimmen würde. Sie und Zacharias waren selten einer Meinung und diese Art von gegensätzlicher Beziehung führten sie schon von Anfang an, was schon zu viele Jahre waren. Sie waren in derselben Straße aufgewachsen, hatten die Ausbildung in der Magiergilde gemeinsam bestritten und er war ihr Schwager. Es wäre daher fast Blasphemie, eine laute Einigkeit für die heutigen Ereignisse zu zeigen.

Es ging hauptsächlich um Ray und seine neue Entwicklungsstufe, die für sie nicht so überraschend gekommen war, wie für den alten Mann. Wenn der Junge bei ihr war, wurde er, wie jeder Lehrling, zu ihrem Schatten, daher konnte sie gut und recht behaupten das sie ihn besser kannte. Auch weil sie damals den Test bei ihm gemacht hatte, der darüber entschied, ob das Recht der Abgabe greifen konnte oder nicht. Wenn die Katakomben erwählten, gab es immer Weigerungen und starken Widerstand, denn keine Familie wollte ihre Kinder zu den Toten schicken. 

„Ich kann deinen anklagenden Blick fast hören.“ durchbrach Zacharias die Ruhe zwischen ihnen. Sie hatten den halben Weg über gestritten und dann in entspannte Stille geschwiegen. Er legte es heute allerdings an, erneut eine Diskussion mit ihr zu führen.

„Normalerweise ignorierst du ihn und das seit über 40 Jahren.“

„Nicht wenn er mir so in den Nacken brennt. Willst du versuchen mich in Flammen aufgehen zu lassen?“

Josephine seufzte tief und tastete eher unbewusst nach den Kristallen an ihren Gürtel, bevor sie antwortete.

„Das ist deine Leidenschaft und die Einzige, die dich scheinbar interessiert.“ Und Recht hatte er, ihr Blick war anklagend in seiner Richtung gewesen, sie hatte auch jeden Grund dazu. „Aber du muss dich mit deinen Lehrlingen beschäftigen, vor allen, wenn sie auf den Weg sind außer Kontrolle zu geraten.“ Fuhr sie fort und ihrer Meinung nach ging es in den Hallen der Toten schon viel zu lange ungeordnet zu. „Alle deine Lehrlinge haben weder Ehrgeiz noch ein Pflichtbewusstsein.“

„Jeden Tag brennen die Feuer ununterbrochen. Also erledigen meine Mitarbeiter ihr Tageswerk. Es wird nur nicht gefeiert oder bedankt.“ Wie immer versuchte er ihr und ihren Worten auszuweichen, während sie bemüht war ihn auf den Weg des Gesprächs zu halten.

„Ihre Arbeit innerhalb der Katakomben verstehen sie, sollten sie auch nach all den Jahren. Aber außerhalb tapsen sie herum wie Kätzchen. Sie geben dir noch nicht einmal alle schriftliche Aufgaben ab, die du ihnen aufgibst. Sie zur Kommunikation zu bewegen ist ein Kraftakt und ich habe das Gefühl immer wieder von Neuen anfangen zu müssen.“

Zacharias sah sie kurz an, bevor sich sein Blick wieder nach vorne richtete. Sie beiden näherten sich dem Eingangstor des Silberturms, der von zwei Soldaten der königlichen Armee bewacht wurden. Ihre dunkle Rüstung ließen ihre roten Umhänge wirken wie frisches Blut, während ihre Gesichter so ausdruckslos waren wie von einer Statue. Sie waren auch genauso unbewegt.

„Sie sollen ja auch nicht mit den Toten sprechen, sondern diese vorbereiten.“

„Sie sprechen aber mit den Toten.“ erwiderte sie und stemmte kurz die Hände in die Hüften bei so viel Sturheit. „Und ich habe sogar die Befürchtung das sie eher bei den Toten etwas zu trinken bestellen können als bei einer lebenden Person.“

„Wenn sie tatsächlich was bekommen, sind sie gut.“ Das leichte Schmunzeln in den Zügen ihrer Begleitung ließ sie erneut Seufzen. Diesmal schwerer als zuvor.

„Das ist nicht witzig.“ entgegnete sie mit einem Schnauben, was einen der Wachposten eine Regung entlockte, und es wirkte für einen Moment, als würde er sich ertappt fühlen. Schnell verfiel er wieder in seiner Starre und Zacharias fuhr fort, während sie beide durch den offenen Torbogen schritten. Im Turm wurden sie von einer Kälte empfangen, so dass sie es fast bereute nicht ihren Mantel angezogen zu haben. Sie trug noch immer ihre Heilerkluft und war somit auch farblich das Gegenstück zum Herrn der Toten, der wie immer ganz in schwarz gekleidet war. Es schmeichelte ihm nicht, denn so wirkte er nur noch blasser, als das er war.

„Außerdem kann ich deine Aussage bezüglich der Kommunikationsfähigkeit meiner Lehrlinge widerlegen. Sie sind völlig in der Lage sich in der Welt außerhalb der Hallen zurecht zu finden, wie jeder andere auch.“

„Letzte Woche musstest du Bern aus dem Gefängnis holen. Sheila hat bei anderen ohne deren Zustimmung ausprobiert welche Kräuter zu einem längeren Trancezustand führen und es als Versehen ausgegeben. Ray verbringt seine Freizeit mit verrückten Obdachlosen und Pete Lieblingsbuch handelt von einem riesigen Tausendfüßler, der Menschen frisst.“

„Er nennt ihn liebevoll Erwin.“

„Pete ist gerade Mal sechs Winter alt und freut sich viel zu sehr über abgetrennte Gliedmaßen.“

„Er zeigt ein frühes und spezifisches Interesse und wer wäre ich, wenn ich ihn nicht fördern würde.“ Es war Hoffnungslos und Zacharias hatte es tatsächlich geschaffte sie vom Thema abzubringen. Denn eigentlich wollte sie darauf hinaus, dass Rays Ausbildung schon die nächsten Tage beginnen sollte und nicht erst im nächsten Monat. Anders als ihr Kollege sah sie die Dringlichkeit, die diesen Fähigkeiten mit sich ging, nur zu deutlich. Sie hatte keine Lust den Jungen oder seine möglichen Opfer als Patienten bei sich oder als Tote in den Katakomben zu sehen. Arbos Abneigung gegen die Gilde der Magier sollte nicht dazu führen, dass sie größere Gefahren eingingen, als dass es notwendig war. Er war zwar ein Experte auf seinem Gebiet, jedoch traute sie ihm nicht zu, dass er seine Aufmerksamkeit von den Leichen wenden konnte. Vor allen nach den letzten Tagen. Es gab zwei Todesfälle, die ihnen beide ein Rätsel Aufgaben und sie hatte, das Gefühl, das dahinter etwas viel Größeres lag, als das es den Anschein machte. An Zufälle hatte sie ab dem Moment nicht mehr geglaubt, als ihr von dem zweiten Toten berichtet wurden war.

Sie gönnte ihrem Begleiter nur für einen kurzen Moment den Sieg, bevor sie eine ihrer Lieblingstaktiken einsetzte: Direktheit. Oder wie es Zacharias nannte: Drohung.

„Wenn du heute Abend nicht mit der Magiergilde sprichst, werde ich es tun. Ray ist theoretisch ebenfalls mein Lehrling.“ Der Herr der Katakomben war es diesmal der Seufzte. Tief und schwer, als hätte sie verkündigt, dass sie seine Katze zum Nachtisch dem Obersten Rat präsentieren wollte. Und wo sie schon einmal bei Katze war. „Tiffa ist nicht besonders unauffällig, wenn sie an jedem Ort auftaucht, an dem der Junge ist. Allein an ihrem Verhalten war schon deutlich das Veränderungen eintreffen würden. Sie liebt ungewöhnliche Magie.“

„Wir wissen beide, dass ich dir nicht zustimmen werde.“ verkündigte er, während sie die breiten Gänge durchschritten, auf den Weg zur Ratskammer. Die befand sich zwar in der Mitte des Turms auf der unteren Ebene, allerdings wurde nur eine Tür geöffnet und das war die, die am weitesten vom Eingang entfernt lag. Der König hatte dies erst vor kurzen beschlossen und es wurde von den anderen als eine Laune abgetan, sie jedoch war sich sicher, dass es mehr war. Jedes Mitglied des Rates musste nicht nur länger laufen, sondern passierte automatisch mehrere Wachposten. Die Frage war nur, zu welchem Schutz das ganze diente und vor allem wem. Sie fühlte sich beobachtet, was auch daran lag, dass sie erwartet wurden.

Gegenüber der offenen Tür, die in die Ratskammer führte, stand ein junger Mann mit verschränkten Armen an der Wand gelehnt. Seine Rüstung unterschied sich kaum von den Wachen außerhalb und innerhalb des Silberturms, nur das er wesentlich mehr Abzeichen an der Brust trug und sein Umhang von einer dunkleren Farbe war. Sie musste nicht den Rücken sehen, um zu wissen das auf dem roten Grund der Silberturm vor zwei gekreuzte Schwerter prangte. Eine dritte Klinge war dafür sichtbarer und vor allen greifbarer. Das Schwert des Generals war so schwarz wie die Nacht außerhalb der Stadt und verschluckte das Licht in seiner nahen Umgebung. Waffe und Scheide verschmolzen dabei und gaben der Waffe einen unheimlichen Charakter. Das einzige, was sie als unheimlich empfand war allerdings die Haltung ihres Neffen, der es schaffte gleichzeitig entspannt an der Wand zu lehnen und gleichzeitig aufrecht zu stehen. Und das mit seinem Schwert im Rücken.

Er grüßte Meister Arbos und sie mit einem leichten Kopf nicken.

„Ihr seid zu früh.“ fügte er noch hinzu und seine hellen Augen musterten sie beide aufmerksam. Ein Funken Schadensfreude war ebenso zu erkennen, was sie nicht nur skeptisch werden ließ.

„Uns wurde die falsche Uhrzeit mitgeteilt.“ stellte Josephine ernüchternd nach einem kurzen Blick in den Saal fest. Es war noch niemand anderes der Ratsmitglieder anwesend, was schon Beweis genug war für ihre Annahme. Der Herr der Toten und auch sie kamen, trotz der Vorbildfunktion die sie beide als Meister hatten, immer zu spät. Sie ist froh, dass diese Eigenschaft manche Familienmitglieder verschont hatte, doch jetzt kam in ihr das Verlangen auf ihren Neffen für jedes amüsierte Worte in diese Richtung die Ohren lang zu ziehen. General der Königlichen Armee hin oder her.

Es war jedoch Zacharias, der den schlechten Humor heute gepachtet hatte.

„Dann können wir uns ja heute die besten Plätze aussuchen.“ verkündigte er und entlockte dem jüngeren Mann ein leises Lachen. Die Sitze im Rat waren seit seiner Gründung in dieser Form festgeschrieben und hatten sich seit vielen Jahrzehnten nicht verändert.

„Die Besten sind nahe der Tür, falls man zwischendurch frische Luft schnappen möchte.“ War die Erwiderung. Heute hatte sie das Gefühl, nur von Narren umgeben zu sein, daher beschloss sie das Thema zu wechseln.

„Wie geht es dir, Graham? Wie ist die Lage an den Grenzen?“ Der Angesprochene sah für einen Moment schuldbewusst drein, bevor dieser Ausdruck verschwand, auch weil sich Schritte näherten. Graham hatte sie nicht, wie versprochen, über seine Rückkehr nach Königsfeuer informiert und in seinem letzten Brief war er sehr vage geblieben über seinen genauen Aufenthalt. Es war tatsächlich Arbos gewesen, der ihr von ihrem Neffen und sein Verbleib erzählt hatte.

„Das werdet ihr nachher in der Versammlung erfahren, ich will nicht die Überraschungen verderben.“ Er wendete leicht den Kopf und sah kurz den Gang entlang, bevor sich sein Blick wieder auf sie richtete. „Mir geht es gut, Tante Josephine.“ fügte er hinzu. Dunkle Schatten unter seinen Augen sprachen von etwas anderem, jedoch wusste sie nicht, ob diese allein nur seiner Arbeit geschuldet waren oder der Zeit des Jahres. Graham Callum war erst seit einigen Jahren der General der Königlichen Armee. Sein junges Alter schloss jedoch nicht aus, dass er nicht viel erlebt und verloren hatte, genau genommen konnte seine Erfahrungen verglichen werden mit den vielen Dienstjahren eines alten Veteranen. Sein scheinbar entspanntes Gemüt, war dabei mehr Schein als Sein.

„Das freut mich zu hören.“ erwiderte sie, ließ aber deutlich durchklingen, dass sie nochmal darauf zurückkommen würde. Jetzt jedoch war die Ankunft der anderen Ratsmitglieder von größerer Bedeutung, auch weil sie wusste, dass ihr Neffe nichts mehr dazu sagen würde.

Pünktlich zur richtigen Zeit tauchte die Vertreterin der Handelsgilde Valanie Dunstanville auf. Die Frau mittleren Alters mit dem kurzen Haar, hob beim Anblick von Josephine und Meister Arbos kurz überrascht die Augenbrauen, bevor sie grüßte und schnell in den Saal verschwand. Gerade als sie den Türbogen durchschritt, kam ihr Gegenstück durch die Gänge gepoltert.

Thos Mountbatten war ein Bär eines Mannes und der Leiter der Handwerkgilde. Alle Gilden wurden durch zwei Personen vertreten, die jeweils einen Platz im Rat hatten. Es waren nicht immer beide in Königsfeuer anwesend, denn die Vereinigungen erstreckten sich über das ganze Land und darüber hinaus. Während der eine also seine beratende Funktion einnahm, ging der andere seine Pflichten außerhalb nach. Was Thos Mountbatten zum Gegenstück von Valanie Dunstanville machte, war nicht nur das Äußere, sondern die ganze Wesensart. Laut traf leise, Ehrlichkeit kollidierte mit Zurückhaltung und Spontanität vertrug sich nicht mit Planung.

„Graham, mein Junge.“ Mit einer ausgestreckten Hand kam der Bär näher und umgriff die des Generals, der sich dazu bequemte, seinen Platz an der Wand zu verlassen. Jedoch erreichte er selbst aufgerichtet nicht die Größe von Thos. Das schaffte kaum jemand. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert das du wieder in der Stadt bist.“ Das Vögelchen war Thos Sohn Carl und Josephine musste ein kleines Wörtchen mit ihrem Heiler wechseln. Es war schön, dass jeder Bescheid wusste, außer sie.

„Erst seit ein paar Tage und ich werde auch nicht lange bleiben.“

„Ärger an den Grenzen?“

„Ihr seid alle immer so neugierig und ungeduldig.“ kam es vom General der königlichen Armee. Graham mochte es nicht sich zu wiederholen, doch so wie er die Worte betonte klang es, als wäre etwas vorgefallen. Von erneuten Unruhen in den Fürstengebieten hatte sie nichts mitbekommen und auch die Nachwehen der letzten Konflikte waren nach zwei Jahren deutlich abgeebbt. Sie wusste allerdings nicht, ob es noch Untersuchungen gab, oder diese auch ihr Ende gefunden hatten.

Josephine nahm sich vor, sich die Tage mehr über die Geschehnisse in Königsfeuer und im ganzen Königreich zu informieren. Manchmal vertiefte sie sich so sehr in ihre Arbeit und Forschung, dass sie den Bezug zu der Außenwelt verlor. Ihr ging es nicht allein so und das war einer der Gründe, warum sie sich so gut mit Zacharias verstand. Der Herr der Katakomben hatte wie sie einen skeptischen Blick aufgesetzt und war in ein nachdenkliches Schweigen verfallen, auch als sie gemeinsam das Zentrum des Turms betraten.

Beleuchtet wurde der große, runde Saal durch eine Vielzahl an Lichter, die sowohl die Decke als auch die Wände zierten. In den goldenen Halter waren weiße Kerzen angebracht, deren Flammen ein sanftes Licht warfen. Doch das war auch die einzige Wärme, die man hier fand, denn sonst war alles aus Stein und dunklen Holz gebaut und repräsentierte, dass dieser Ort keiner war von Vergnügen. Seit dem Bau der Silberturms diente dieser Raum den Besprechungen, die über das Land und sein Volk entschieden. Kriege wurden hier geplant, Niederlagen akzeptiert, Verträge unterschrieben und auch Verurteilungen hatte es hier schon gegeben. Wie auch in den anderen großen Gebäuden der Hauptstadt, hatte die Zeit hier keine allzu deutliche Macht oder Einfluss, selbst die Karte auf dem Boden zwischen den Stühlen des Rates trug keinen einzigen Kratzer oder konnte über den Verlust der Farbkraft klagen.

Das Abbild des Königsreichs Eldur war mit heißen Flammen des ewigen Feuers in den hellen Stein eingebrannt wurden und präsentiert die Vergangenheit gleichermaßen wie der Wunsch vieler ehemalige Könige, diese wieder in die Gegenwart zu bringen. König Richard Calvert II gehörte nicht zu denjenigen, die dieses Ziel verfolgten, zu sehr hatte er den Blick ins Innere des Landes geworfen und schon bei seinem Amtseintritt verlauten lassen, dass er nicht seinem Großvater und Namensvetter folgen wollte. Sowohl zu dessen Triumph-, noch seinen letzten Regierungsjahren. Der junge König saß auch nicht auf seinem Platz, dem prächtigsten und wohl bequemsten Stuhl im ganzen Raum, sondern stand am Fuße der wenigen Stufen des Podests, auf dem dieser thronte. Auch auf seine königliche Uniform hatte er zum Großteil verzichtet, allein die schmale Krone verriet seinen Stand im Reich, wobei das helle Metall unter seinem unordentlichen Haar zum Teil verschwand. Würde man ihn nicht kennen, würde man diesen Mann eher einer anderen Gesellschaftlichen Rolle zuordnen und dies wurde noch unterstrichen als er den General der Königlichen Armee entdeckte. Mit großen Schritten und ausgebreiteten Armen kam er auf Graham zu, der diese Gestik mit einem Kopfschütteln kommentierte. Die kurze, aber kräftige Umarmung akzeptierte er allerdings und erwiderte sie kurz.

„Seit wann bist du wieder in der Stadt, mein Freund?“

Sie war also doch nicht die Letzte die informiert wurden war. Graham und König Richard verband eine lange, tiefe Freundschaft, die sich geschmiedet hatte durch Matschkuchen. Ihr Neffe war auf die glorreiche Idee gekommen, dass der zukünftige König sein Land kennen musste und das würde nur am besten funktionieren, wenn dieser alles probierte. Josephine hatte sich ihr erstes Treffen mit der Königsfamilie immer anders vorgestellt und nicht im Rahmen einer Behandlung von Bauchschmerzen, Übelkeit und Regenwürmern. Das aus den beiden Knaben, was geworden war, war ebenso erstaunlich wie auch verwunderlich. Erst die militärische Ausbildung hatte es geschafft ihnen den gröbsten Unsinn aus zu Köpfen zu bringen. Irgendwann wurde jeder Erwachsen.

„Nicht lange, kaum der Rede wert.“ antwortete Graham. Thos Mountbatten hustete künstlich und schritt mit einem kurzen Gruß an König und General vorbei, um seinen Platz einzunehmen. Der Saal füllte sich langsam mit den Ratsmitgliedern, auch wenn heute nicht jeder anwesend sein würde. Der oberste Rat trat vier Mal im Jahr vollständig zusammen, dazwischen gab es Versammlungen, die nicht die Anwesenheit von jedem verlangte, wie auch heute.

Der König seufzte und klopfte seinem besten Freund einmal auf die Schulter. Sein Blick sprach Bände.

„Ihr macht immer zu viel Trubel um meine Rückkehr. Ihr werdet schon rechtzeitig informiert, sollte ich mich entscheiden meine Reisen in andere Reiche auszudehnen.“

„Trotzdem kannst du ab und zu schreiben und nicht nur diese formellen Berichte schicken. Wenn nicht für mich, dann tu es wenigstens für deine Tante.“ Der Blick von König Richard wendete sich zu ihr. Josephine stand noch immer zusammen mit Arbos in der Nähe, weil die beiden Männer den Weg zu ihrem Platz versperrten und anders als der Vertreter der Handwerksgilde bestanden sie mehr Anstand. „Guten Abend, Madam Callum.“ wurde sie begrüßt und sie neigte leicht respektvoll den Kopf.

„Ihnen auch einen schönen Abend, eure Majestät.“ erwiderte sie. Hier in den Hallen des Silberturms, umgeben von anderen Mitgliedern des Rates achtete sie auf die Anrede, auch wenn sie wusste das Richard es nicht mochte. Für ihn gehörte sie zur Familie und das nicht nur, weil sie ihn schon in vielen missliche Lagen gesehen hatte. Sie konnte auch gute Kekse backen, zumindest ging sie davon aus, denn schon das erste Blech lockte einige Personen an, die urplötzlich etwas mit ihr zu besprechen hatten. „Wie steht es um das Befinden eurer Gattin, mein König?“ fügte sie hinzu.

Königin Melisandre Calvert hatte sich wegen Gesundheitliche Probleme in den letzten Wochen kaum in der Öffentlichkeit gezeigt. Jedoch lag keinen Grund der Besorgnis vor, sondern die körperliche Verfassung der jungen Königin hatte große Freude im Reich ausgelöst. Sie erwartete ein Kind und würde somit schon früh die Thronfolge, auf die eine oder andere Art sichern. Allerdings machte ihr die Schwangerschaft zu schaffen, ein Phänomen, das bis jetzt bei allen Königinnen aufgetaucht war. Ihre Gesundheit lag in ausgezeichneten Händen. Der beste Heiler des Landes, Doktor Bagrun Valenz, kümmerte sich schon seit vielen Jahren mit seinem ausgewählten Team, um die Mitglieder der Königsfamilie. Josephine kannte diesen Mann aus ihrem Studium und wusste um seine Fähigkeiten der Heilung, hatte er in den Kriegsjahren entscheiden dazu beigetragen die Zahlen der Toten zu senken. So weit, wie es in einem Krieg möglich war.

König Richard lächelte freudig und glücklich über den Segen, der ihm zu Teil geworden war.

„Sie befindet sich auf den Weg der Besserung. Schon bald kann sie wieder an meiner Seite sein.“ Wieder klopfte er Graham auf die Schulter. „Meine Mutter ist heute bei ihr, daher wird sie nicht am Rat teilnehmen.“ Josephine nickte. Das Königin Berenike Calvert nicht anwesend war, war nicht zu übersehen. Die ältere Königin hatte eine einnehmende Präsenz, die die Blicke anderer automatisch auf sich lenkte, wenn sie im Raum war. Sie hatte nach dem Tod ihres Ehemanns, König Ragnar Calvert, das Land über Jahre allein regiert und diente ihrem einzigen Sohn als Beraterin, wenn nicht sogar als wichtigste.

„Das sind gute Nachrichten und erfreut alle sehr. Richten Sie doch bitte beiden meine Grüße aus.“

„Das mache ich. Aber wissen Sie was, Madam Callum. Besuchen Sie uns doch einfach auf eine Tasse Tee, dann können Sie auch die prächtige Linienzucht meiner Gattin betrachten. Langsam geht uns der Platz aus.“

„Seerosen.“ schaltete sich der General ein, ohne einen von ihnen anzusehen. Sein Blick lag eher auf einer Gruppe Ratsmitglieder, die sich am anderen Ende zusammengeschlossen hatte. Ihr Neffe teilte dabei eine ähnliche Antipathie gegenüber einigen Personen wie auch Meister Arbos. „Es sind Seerosen und keine Lilien.“

Der König hob leicht die Augenbrauen.

„Gut, dass ich dich habe, mein Freund. Sonst würde ich mehr Nächte außerhalb meines Schlafgemachs verbringen als sowieso schon.“ Es war eine ungeschickte Aussage, jedoch sagte keiner etwas dazu, denn in ihrer Gegenwart war so etwas nicht von Bedeutung. Andere wiederum würden jedoch diese Unachtsamkeit gnadenlos ausnutzen, um daraus Profit zu schlagen und manche wären dabei sehr erfolgreich.

Das entfernte Schlagen der Turmuhr verkündete die volle Stunde und somit den Beginn der Ratssitzung. Wie ein entfernter Donner klang es, der von Stein verschluckt wurde. Ein letztes Mal klopfte der König seinem General auf die Schulter, bevor alle ihre Plätze einnahmen.

Der oberste Rat bestand insgesamt aus vierundzwanzig Sitzen, die in einem Rechteck angeordnet waren. Im Osten, an einer der kurzen Seiten in der Mitte, war der Thron des Königs und der seiner Gemahlin. Ein Stück vor ihm saßen die vier wichtigsten Berater des Landes einmal zur linken, wie auch zur rechten Seite. Drei dieser Stühle waren besetzt und das unter anderem von den Befehlshabenden der beiden militärische Bereiche: dem General der Königlichen Armee Graham Callum und der Kommandantin der Stadtgarde Ahsen Braose. Die führende Soldatin war eine Frau mittleren Alters mit harten Zügen und einem ebenso festen Ehrgeiz, der die Wache in den Jahren unter ihrem Kommando zu einer festen Macht geformt hatte. Einfluss gewonnen hatte sie allerdings nicht nur aus eigener Arbeit, sondern auch durch die offene Unterstützung durch König Ragnar und Königin Berenike, wie auch die von anderen Gilden und Fürsten. Fürst Edwin Landcaster war einer von ihnen und der wohl mächtigste. Dieser Mann war der Bruder von der derzeitigen Königin, hatte ein wichtiges Gebiet unter seiner Führung und trug dazu den Titel als Ratsvorstand. Seine Stimme entschied unter den insgesamt sieben höchsten Adelshäuser und ihren Oberhäuptern über alle Beschlüsse. Die restlichen sechs Fürsten hatten ihre Plätze jeweils zur rechten und linken Seite, wobei heute nur zwei anwesend waren, der jüngste und der älteste, um genau zu sein und beide hatten die Grenzgebiete in ihrer Verantwortung. Die Familie Cherleton beschützte seit Generationen den Norden des Königreiches vor allen möglichen Gefahren, die aus dieser Region kamen und Fürst Lambert Cherleton folgte dieser Tradition, wie sein Vater und Bruder vor ihm. Dieser Mann war ein Abbild seines Reiches und im Alter hatte er keine Stärke verloren. Auch sein Bart war genauso voll und kräftig, wie zu seinen Jugendjahren. Ein Gegenstück war der jüngere Fürst Nicolas Cavan, der den Süden führte und somit die schwierige Aufsicht über das berüchtigte Bluttal hatte. Dementsprechend umgab den jungen Mann nicht nur eine müde Aura, sondern eine die sich vermischte mit der ständigen Sorge.

Das Donnern der Uhr verstummte und Fürst Landcaster erhob sich von seinem Platz. So wie vieles seinen festen Strukturen folgte, war es mit der Versammlung nicht anders. Der Ratsvorstand begrüßte die Mitglieder und verkündigte den Beginn mit lauter Stimme, die durch den Saal kroch und von den Wänden zurückgeworfen wurde.

Sie nahm sich die Zeit, während dieser Ansprache zu den Themen, die heute zur Diskussion auf dem Tagesplan standen, die anderen Mitglieder zu betrachten. Von jeder Gilde war mindestens ein Vertreter anwesend, selbst der Leiter der Universität Cedric Godwins saß auf seinem Stuhl. Der kleine, dickliche Mann mit der schmalen Brille und dem kahlen Kopf reichte Bruder Zeberus, dem Vertreter für die Kirche des ewigen Feuers, kaum zur Schulter. Für Thos Mountbatten wäre der Direktor eine ideale Stütze, um den Arm abzulegen. Der Leiter der Handwerksgilde saß links neben Jospehine an der langen Seite, direkt neben Valanie Dunstanville für die Handelsgilde. Nur für die Magiergilde waren beide Plätze belegt und bildeten eine Einheit, die mehr Netze gespannt hatten als die Seefahrer. Allein Faye Thynne war ein Kind der Vielen, was bedeutete das allein ihr Geburtsrecht sie mit einigen Adelshäuser verband und ihr neben ihrer Magie eine Sonderrolle einnehmen ließ. Jedoch nicht so sehr wie das inoffizielle fünfundzwanzigste Mitglied im Rat.

Von allen nur als Lady Mondblüte genannt, hatte sie ihren Platz in der Nähe des Königs, verborgen jedoch von der Präsenz von Königin Berenike. Ihre offizielle Bezeichnung war Leiterin der Hauptbibliothek des Königreichs Eldurs, hier diente sie jedoch mehr als Feder für die Protokolle der Versammlungen. Mehr war sie nicht und jeder Versuch sie zu jemand anderes zu machen schlug fehl, obwohl sie eine Prinzessin und somit die Schwester von König Richard war. Die junge Frau sah von dem Papier auf und ihre Hand verharrte für einen Moment, als sie anscheinend Josephines Blick auf sich spürte. Ihre weiße Haut schien im Licht fast durchscheinend und bildeten keinen starken Kontrast zu ihrem hellen Haar. Sie hatte etwas Unwirkliches an sich. Nur ihr Bruder schien ihr Beachtung zu schenken, denn er beugte sich leicht zur Seite, um ihr etwas zu sagen. Das unterbrach den kurzen Blickkontakt und Josephine zuckte zusammen, als Meister Arbos leise etwas sagte.

„Diesmal kein anklagender Blick von deiner Seite aus?“ fragte der alte Mann neben ihr. Sie runzelte leicht die Stirn.

„Du hast bist jetzt nichts gesagt und die Magiergilde auch in Ruhe gelassen.“ Zacharias lachte leise bei diesen Worten und sie schüttelte den Kopf über ihn. Aber dasd was er erreichen wollte hatte er. Seit der Sache mit Ray, war sie immer wieder innerlich angespannt gewesen, denn sie wusste, wie gefährlich seine Fähigkeiten waren und werden konnten. Wenn sie mit dem Herrn der Toten sprach, dann brachte er sie dazu sich aufzuregen, teils über kleine unbedeutende Dinge, um sie gezielt abzulenken. Einerseits von Themen, anderseits auch von ihren Sorgen und Gedanken. Laut zugeben würde sie das jedoch nicht.

„Sie haben ja auch mich in Ruhe gelassen. Bis jetzt.“ Es war keine Seltenheit, dass Meister Arbos und die Vertreter der Magiergilde aneinandergerieten. Mittlerweile war es sogar Tradition geworden, das beide Parteien in der Versammlung Diskussionen über Diskussionen führten über verschiedene Themen. War das zwischen ihr und Zacharias ein jahrelanger Spaß, geboren aus einer ebenso langen Freundschaft, war es im anderen Fall Abneigung zwischen den Personen. Dabei hatte alles sehr gut begonnen wie in einer Geschichte, die man sich vor dem Kamin gerne erzählte. Ein talentierter, junger Mann wurde entdeckt und schloss sich voller Träume der Gilde an, die ihn förderten. Doch dann kam der Krieg und alles änderte sich, bis aus dem besagten Magier der Herr der Toten wurde. Es hätte alles so gut und einfach werden können, aber sie hatte ebenso während ihrer Zeit in der Gilde gelernt das es das niemals war. Spätestens als sie Heilerin geworden war, hatte sie das Prinzip verinnerlicht, das es keine „normale“ Lösung gab, die man immer und immer wieder einsetzen konnte.

Egal wie sehr manche und sie sich das wünschten.

Fürst Landcaster beendete seinen Monolog und mehrere Mitglieder richteten ihre volle Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen. Das Wiederholen der Themen aus der letzten Ratssitzung war theoretisch nicht nötig, denn seit König Richard im Amt war wurde immer ein Protokoll geschrieben und an jeden gereicht. So erfuhren auch diejenigen von neuen Begebenheiten, selbst wenn sie nicht anwesend gewesen waren. Die restlichen Fürsten würden ebenfalls von der heutigen Versammlung erfahren, auch wenn es sich heute anscheinend nur um Angelegenheiten drehte, die die Gilden betrafen.

Es waren insgesamt fünf große Gilden, plus der Universität und Kirche. Die Stadtwache und die Königliche Armee galten theoretisch als andere Institutionen, jedoch war beiden militärischen Organisationen schon vor langer Zeit ähnliche Rechte und Pflichten zugesprochen, darunter auch das Recht der Abgabe. Abgaben wurden von manchen Gilden mehr oder weniger genutzt, für die Katakomben war es für das Bestehen wichtig. Die tagtägliche Arbeit mit den Toten setzte verschiedene Fähigkeiten voraus, die jedes Mitglied feinfühlig machten und empfänglich für Spuren der magischen Energie. Den Kern aus dem Körper zu entfernen, war mit mehr verbunden als mit einem Messer und der Überwindung seine Hände tief in die Brust einer toten Person zu stecken. Es galt mit Fingerspitzengefühl und seinem eigenen Kern, jegliche Magie aus dem Körper zu ziehen, um das wertvolle Gut nicht zu verschwenden oder unkontrolliert brennen zu lassen. Unsaubere Arbeit wurde gestraft mit Unfällen und gesprengte Feuerbecken.

„Danke, Edwin.“ Der König stützte seinen Ellenbogen auf seine Knie ab und sah aufmerksam in die Runde. Er machte eine solange Sprechpause bis sich der Fürst gesetzt hatte und alle Augen auf ihn gerichtet war. Von dem humorvollen Mann fehlte gerade jede Spur, so wie auch Graham ungewöhnlich angespannt wirkte. Beide hatten normalerweise eine wesentlich lockere Art an sich, aus verschiedenen Gründen. Richard, weil es sein Charakter war und ihr Neffe, um gegenüber anderen Mitgliedern zu verschleiern zu was er fähig war. „Befassen wir uns mit dem wichtigsten Thema zuerst, auch weil es drängt.“ fuhr der König fort. „Im letzten Monat hat sich der General unserer Armee sich sowohl der Sorgen von Fürst Cavan als auch Fürst Cherleton angenommen und die Grenzen einer erneuten Sicherung unterzogen. Allerdings sind es in beiden Regionen zu unvorhersehbaren Konflikten gekommen, teils unterhalb der Gilden, die diese Arbeit erschwert haben.“ Niemand von den Anwesenden machte eine Schuldbewusste Miene oder Anstalt etwas zu sagen, dafür war keiner breit mögliche Schwächen und Fehler einzugestehen.

Josephine wagte einen Blick in die Gesichter der anderen, behielt aber ihren Neffen im Blick, denn er spielte gerade eine größere Rolle, als sie gedacht hatte. Und auch seine Abwesenheit in den letzten Wochen bekam eine wichtigere Bedeutung. Eine wachsende Bedrohung an den Grenzen hatte noch nicht den Weg ins Landesinnere gefunden, selbst als Gerüchte nicht, denn bei so etwas wurde sie immer hellhörig. Sie hatte im Krieg genau in diesen grauen Gebieten gekämpft und mehr verloren als ihren Jugendjahren. Die Familie Callum war mit den Grenzen verwachsen wie Wurzeln und Äste mit einem Baum und wurde dieser gefällt, fiel auch ein Mensch im ewigen Kampf gegen die Dunkelheit.

König Richard richtete sich auf, nach der längeren Pause des Schweigens. Sein Gesicht verschlossen und die Gedanken verhüllt, machte er nur eine Gestik zu seinem Freund. Graham stand ebenso wortlos auf und trat in die Mitte des Raums, so das er am Rande der Karte zum Stehen kam.

„In den vergangenen Monden gab es in beiden Gebieten ein erhöhtes Aufkommen an Erwachte.“ begann er und deutete zuerst auf das Gebiet im Norden der Karte. Alle wichtigen Bereiche und Standpunkte waren mit geschwungenen Schriftzügen versehen. Auch wenn die Karte alt war und keine aktuellen Grenzen zeigte, veranschaulichte sie genug, um zu verstehen. „Wie allen bewusst sein sollte, sind diese grauen Areale seit dem Krieg betroffen durch unkontrollierbare, magische Phänomene, die großen Einfluss auf die Natur haben. Spuren der letzten Schlachten und vor allem dem Einsatz der Blutwaffen zu Schulden. Die Priorität liegt noch immer darauf diese Gebiete unter absolute Kontrolle zu bringen und eine Ausbreitung zu verhindern, nur so können wir den Ursprung dieser magischen Phänomene erreichen, verstehen und diese eindämmen. Die ansässigen Mitglieder der Armee und der Gilden haben erreicht weiter in die Weißklauenödnis vorzudringen, mussten jedoch Verluste hinnehmen, denn die Erwachten sind in diesem Gebiet stärker vertreten als erwartet.“

„Warum Verluste? Die nördliche Grenze gilt als sicher.“ Valanie beugte sich neugierig vor. Der Norden war für die Händlergilde weniger von Interesse, denn dort war der Handel nicht von so großer Bedeutung, wie an den Küsten.

„Wir haben den Rand einer der größten Schlachtfelder der letzten Kriegstage gefunden.“ Der Blick des Generals glitt für einen Moment zu Fürst Cherleton, dessen Augen jedoch auf die Karte gerichtet waren. Nicht verwunderlich, denn der Fürst hatte durch diese Schlacht ein Erbe antreten müssen, das er niemals haben wollte. „Die Schlacht des eisigen Bären. Die Kombination aus mehreren magischen Beschwörungen von beiden Seiten, haben eine große Fläche des Schlachtfeldes mit Eis bedeckt. Durch die Erschließung haben wir unglücklicherweise die Toten erweckt, auch weil dieses Eis beginnt zu schmelzen. Unkontrolliert. Es sind zu Angriffen gekommen, auch weil Absprachen überraschenderweise nicht eingehalten wurden, sind.“

Die Kommandantin der Stadtwache räusperte sich.

„Die auf Grund von Missverständnissen geschehen sind.“ sprach sie. Wie ein Falke saß sie auf ihrem Stuhl, aufrecht und wachsam, bereit sich auf ihre Beute zu stürzen. Nur war der General kein Hase, sondern ein ebenbürtiger Gegner.

„Missverständnisse über die wir uns beide noch genauer unterhalten werden, Kommandantin. Denn sie sind nicht die einzigen und unglücklicherweise häufigen sie sich in letzter Zeit.“ Graham verschränkte die Hände hinter dem Rücken und mit einem letzten Blick zur Ahsena Braose schritt er zum anderen Ende der Karte: dem Süden.

„Das Moor im Bluttal.“ fuhr er seinen Bericht fort. „Unterliegt einer ähnlichen Situation. Obwohl wir einen leichteren Zugang zu unseren Verstorbenen haben, ist eine Bergung dieser derzeit kaum möglich. Es erfolgen Überfälle auf alle, die sich ohne ausreichenden Schutz ins Moor wagen. Angreifer unbekannt. Herkunft unbekannt. Die meisten Angriffe enden mit mehreren Toten und Vermissten. Dazu kommt, dass dieses Fürstengebiet noch immer unter den Folgen der letzten Konflikte zu kämpfen hat. Unruhen breiten sich immer mehr aus, angefacht durch Gesetzlose, die ungewöhnlicherweise zu gut ausgerüstet sind, um sie als normale Kriminelle zu bezeichnen. Auch hier kam es zu unglücklichen Missverständnissen.“

Wieder räusperte sich die Kommandantin der Stadtwache, während der Blick von Thos so dunkel wurde wie seine Haut.

„Um es nach dieser Beschreibung der derzeitigen Lage auf den Punkt zu bringen: Es gibt zu viele Fronten und durch die Friedensverträge ist die Anzahl meiner Soldaten begrenzt. Mir stehen zwar die Söldner zu Verfügung und die Aufklärer, jedoch wird es nicht reichen, um beide Grenzen ausreichend über längeren Zeitraum zu sichern.“

Josephine war nicht die einzige, auf dessen Züge sich Sorge ausbreitete. Es war Faye Thynne die das Wort ergriff und ihre Robe raschelte leise bei jeder Bewegung in die aufgekommene Stille hinein.

„Ich übergehe mal die Tatsache, das wir nicht informiert wurden sind über diese...Begebenheiten.“ begann sie mit ihrer sanften Stimme zu sprechen, die melodisch durch den Saal strich. „Ich kenne Sie, General. Sie haben schon sicher ein Vorgehen bereit, sonst würden Sie nicht so direkt sprechen.“ Es stimmte. Graham hielt sich zurück in den Ratssitzungen, wenn er anwesend war, und diente nur als zustimmende Stimme.

„Das stimmt.“ war die Antwort vom König, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. „Graham und ich haben uns darüber ausgetauscht und ich bin zu einem Entschluss gekommen.“ Richards Hände legten sich auf die Armlehnen seines Throns und er wirkte gerade erhaben. Er hatte zwar nicht die Aura seiner Mutter, jedoch nahm er manchmal eine ähnliche Haltung ein. „Ich befahl bei meinem Amtseintritt jede Gilde und weitere Institution mir regelmäßig aktualisierte Liste der Mitglieder und Ressourcen einzureichen. Wir sind an die Friedensverträge der Nationen gebunden, die uns vorschreiben, wie groß die Königliche Armee sein kann und ich habe nicht vor diesen zu brechen. Jedoch hat sich eine Lösung gefunden.“ Lady Mondblüte stand plötzlich neben dem König, der ihr mit einem Nicken anwies, die Papiere in ihren Händen zu verteilen. Wie ein Geist bewegte sie sich durch den Saal und wurde von den Worten ihres Bruders verhüllt. „Jede Gilde, jede Institution wird eine ausgewählte Anzahl an Mitglieder aus ihren Reihen zur Unterstützung der Königlichen Armee stellen und an die Grenzen schicken. In speziellen Einheiten eingeteilt werden sie für mindestens ein Jahr dort stationiert und sich dem Kampf anschließen.“

Josephine nahm das Papier entgegen, auf dem eine Liste mit Namen zu finden waren. Namen von Mitgliedern aus der Heilergilde die in Königsfeuer stationiert waren und in ihr breitete sich ein mulmiges Gefühl aus.

„Mit Unterstützung verschiedener Berater habe ich eine Auswahl an Personen und ihren Fähigkeiten getroffen, die von großer Bedeutung sind. Die freien Plätze werden durch Freiwillige aufgefüllt.“ Doch die letzten Worte gingen unter, weil Zacharias neben ihr ein entschiedenes 'Auf keinen Fall' ausstieß. Auch wenn es nicht die einzigen Unruhen waren, die im Rat aufgekommen waren, waren seine Worte die lauteste.

Eher unbewusst griff sie nach seiner Liste, obwohl sie schon ahnte welchen Namen sie dort finden würde: Rayven Falham.

Das war nicht gut, das war gar nicht gut, vor allen jetzt.

Der König jedoch schien erwartet zu haben, dads seine Worte auf Widerstand treffen würden und war erstaunlich ruhig. Nur die Blicke die er mit seinem Freund austauschten sprachen Bände. Graham stand noch immer an der Karte und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Augen huschten zwischen den einzelnen Mitgliedern des Rates hin und her, wobei er manche mehr ins Visier nahm. Wie die Kommandantin der Stadtwache.

Zwischen Ahsena Braose und Graham Callum war seit einigen Jahren schon die Beziehung angespannt, doch seit den letzten Konflikten zwischen den Fürsten war dieses Band zum Zerreißen gespannt. Und jede Versammlung, wo beide anwesend waren, verstärkte diesen Riss. Josephine kannte ihren Neffen und sie wusste, dass er einen offenen Kampf zwischen den militärischen Bereichen um jeden Preis vermeinend wollte, allerdings würde er nicht die Augen verschließen. Das hatte er noch nie gemacht und war wahrscheinlich einer der Gründe, warum er das Amt als General der Königlichen Armee so früh vollständig übernommen hatte. In der Regel wurden die potenziellen Nachfolger erst als rechte Hand eingeführt, bevor sie erst Jahre später die Verantwortung übernahmen. Der ehemalige General Jaran Thorne war jedoch schon früh von seiner Position zurückgetreten, ebenso überraschend wie seine Wahl des neuen Leiters der Armee, und diente jetzt als rechte Hand und Berater.

Es dauerte einen Moment, bis sich die Unruhen gelegt hatte, danach folgte einige Minuten der absoluten Stille. Josephine sah wieder auf ihr Papier und mit einem entschuldigenden Lächeln gab sie Thos zu verstehen, dass auch Carl auf dieser stand. Der Leiter der Handwerksgilde nickte nur, jedoch war er schon immer jemand gewesen, der viel Vertrauen in seine Kinder gelegt hatte. Er war besorgt als Vater, keine Frage, aber er hatte in seiner Erziehung vieles richtig gemacht und konnte Stolz auf die gute Entwicklung von jedem Einzelnen sein. Anders als sie und es versetzte ihr einen kleinen Stich, wenn sie an ihren Sohn dachte. Doch schnell verdrängte sie diese Gedanken und konzentrierte sich auf die Versammlung.

Es war wieder Faye Thynne, die nach einer stummen Bitte des Königs das Wort ergriff.

„Dieser...Lösungsansatz kommt sehr überraschend und plötzlich.“ begann sie ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Auch sie gehörte zu den jüngeren des Rates und trotz ihrer Blutlinie und magischen Gabe kämpfte sie etwas mit der Anerkennung als Person. Der Vorwurf, dass sie nur hier war durch Beziehungen kam manchen viel zu leicht über den Lippen. „Zumal jede Gilde, meines Wissens, an den Grenzen vertreten ist und teilweise in eine Anzahl, die nicht zu unterschätzen ist.“

König Richard nickte bei diesem Einwand, aber diesen schien er erwartet zu haben. Nach seinem Verhalten zu urteilen, lag hinter der Entscheidung viele und weitreichende Diskussionen.

„In der Tat, Lady Thynne. Die Magiergilde ist unter anderem einer dieser. Jedoch haben die Dokumente gezeigt, dass ein Rückgang der Zahlen vorliegt. Bis jetzt ohne eine ausreichende Begründung, jedoch mit Folgen für die Sicherheit.“

Die Magierin sah zu ihrem Kollegen Godric Redvers, dessen Gesicht sich zu einer missfallenden Miene verzogen hatte.

„Diese direkte Auswahl an Personen ist regelrecht überfallend, zumal es sich teilweise um junge Persönlichkeiten handeln, die noch mitten in der Ausbildung stecken. Wir Gilden bilden unsere Mitglieder individuell aus und sind auf ihre Begabungen angewiesen. Es ist nahezu unzumutbar über unsere Rechte und Organisationen hinweg zu entscheiden und Personen aus ihrem zugehörigen Leben zu reißen.“ sprach er und unrecht hatte er nicht. Es gab zustimmendes Gemurmel und Zacharias sah für einen Moment so aus, als wollte er sich anschließen, jedoch besann er sich auf seine Abneigung.

„Ganze Jahrespläne werden dadurch nachhaltig beeinflusst.“ kam die zweite Stimme von der Handelsgilde. „Begebenheiten wie diese können mehr Schaden als Nutzen.“

Thos neben ihr Schnaubte und erhob das Wort.

„Spontanität ist mehr als nur die Entscheidung, ob man es wagt zwei unpassende Socken zu tragen oder nicht. Wir leben in Wechselhafte Zeiten und müssen uns diesen Anpassen, egal ob paar Münzen verloren gehen. Davon geht weder eine Gilde noch die Welt unter. Anders sieht es aus, wenn die Erwachten die Grenzen überwinden und an der Tür von Königsfeuer klopfen.“

Diese ehrliche Art mochte sie so sehr an diesen Mann.

„Außerdem können Ausbildungen an anderen Orten fortgeführt und dadurch erweitert werden.“ fuhr er fort. „Außer manche Gilden sind dazu nicht in der Lage, allerdings würde ich mir dann Gedanken machen um die innere Struktur.“

Eine Antwort kam von einer Partei, die im Rat weniger Einfluss hatte als die anderen Organisationen und das war die Vereinigung Kultur und der Schönen Künste. Unter diesem Namen verbanden sich viele kleinere Gilden, die sich hauptsächlich auf Musik, Kultur und Kunst spezialisiert hatten. Erst seit einigen Jahrzehnten hatten sie einen festen Platz in der Versammlung und waren repräsentiert.

Nun sprach Vikai Shepar.

„Wenn Hilfe im Kampf gebraucht wird, dann verstehe ich die Einberufung der Magiergilde und auch der Heilergilde. Aber was sollen Künstler an der Grenze ausrichten können?“

Auf jeden Fall nicht tanzen, dachte Josephine sich und langsam wurde sie die Diskussion leid. Sie akzeptierte diesen Befehl des Königs ohne Widerstand, denn sie wusste das die Grenzen obersten Priorität hatten. Jeder der direkt im Krieg gekämpft oder eine Zeit nahe den grauen Gebieten gelebt hatte, wusste welches Grauen sich dort abspielen konnte. Doch diese Tatsachen erreichte Königsfeuer nie ohne eine beschönigte Korrektur.

„Eine erweiterte Ausbildung im Bereich Verteidigung schadet bekanntlich nie.“ Der König wurde ungeduldig und tapte leicht mit den Fingern auf die Armlehne. „Nicht jeder wird in den direkten Kampf eingebunden. Aber geschult.“ sprach er mit einem leichten Unterton in der Stimme, der auch dem Ratsvorstand auffiel.

„Diese Entscheidung kam sehr überraschend. Von dieser war selbst mir nicht bekannt.“ Und das machte sie Misstrauisch. Lord Landcaster gehört mit zu den Beratern von König Richard und war in der Regel über einiges mehr informiert als andere Teilnehmer des Rates. Das er nichts davon wusste bedeutete entweder dass die Entscheidung erst vor kurzem getroffen wurde oder in einem noch engeren Kreis. „Es liegt eine Berechtigung vor Anmerkungen zu machen und auf Gegebenheiten hinzuweisen.“ Die Kommandantin nickte zustimmend. Auch sie hatte ein Blatt in der Hand, auf dem, so wie bei allen anderen, Namen standen. Namen von Mitgliedern aus ihrer Reihe.

„Edwin, sie kennen mich nun schon sehr lange und müssten wissen, dass ich Entscheidungen treffe, wenn sie von Nöten sind. Ich sehe es nicht ein dieses Thema in die Diskussion zu werfen, mit dem Wissen, das wir erst zu einer Lösung kommen, wenn es zu spät ist.“ Der König richtete sich auf. „Ich mache Ihnen ein Angebot und setze eine Frist. Meinen Standpunkt habe ich deutlich gemacht, jeder der Fragen oder Widerspruch pflegt soll diesen mir bis morgen Abend schriftlich einreichen. Sollte ich meine Meinung ändern werdet Ihr informiert. Alle genauen weiteren Informationen werden Sie erhalten.“ Die Mitglieder waren unzufrieden, doch die Unruhen waren verstummt und auch der General nahm wieder seinen Platz ein.

Josephine beugte sich leicht zu Zacharias, der nach seinem Ausruf geschwiegen hatte, doch sie war nicht die einzige. Bruder Zeberus, der Vertreter der Kirche, tat es ihr gleich und sprach leise, während das nächste Thema vorbereitet wurde.

„Keine Wiederworte von dir, alte Freund? Und das nach deinem dezenten Ausbruch.“ Der Herr der Toten winkte ab. Er sah weder sie noch den Bruder an.

„Das werde ich nachher machen. Persönlich. Manche Dinge werde ich nicht in den Rat hinausschreien, mit dem Wissen, das manche sich nur mit Vergnügend darauf stürzen würde wie Raubtiere.“ Sie seufzte.

„Dieses Ereignis ist zwar selten, aber nicht völlig unbekannt.“ bemerkte sie. „Es wird sich darum fachmännisch gekümmert.“

„Ich habe die Befürchtung zu sehr.“ Sie tauschte einen Blick mit dem Bruder der Kirche, der jedoch mit den Schultern zuckte und nicht ganz nachvollziehen konnte warum Meister Arbos sich so verhielt. Rays Fähigkeiten waren selten in der heutigen Zeit und gehörten zu denjenigen, die untergingen zwischen den Wunder. Außerdem wurden sie etwas belächelt, obwohl das Sehen des magischen Kerns nützlich war in der Heilung. Die Magiergilde hatte allerdings Erfahrung in der Ausbildung von Talenten und Affinitäten der magischen Energie, denn sie begannen immer mit den Grundlagen: Disziplin. Josephine wusste das der Junge erst mal Probleme bekommen würde diese Strenge zu folgen, jedoch war sie sich sicher, dass es ihm viele Vorteile bringen würde. Vielleicht fand er auch neue soziale Kontakte, die halfen ihn aus den Katakomben zu locken und eine Art Abenteuerlust zu wecken. Es war nicht gesund sich mit verrückten, alten Männern zu beschäftigen in Form von seinem Meister und einem Obdachlosen.

Sie sah Zacharias an.

„Wenn Ray an die Grenze geschickt wird, dann ist er bei Nevestika in guten Händen. Immerhin ist sie deine Tochter.“ Daraufhin brummte der Herr der Toten und dieses kleine Gespräch galt als beendet.

Fürs Erste.

 

• • • •

 

Die Dunkelheit kroch langsam ins Zimmer. Lange Schatten mit roten Rändern wanderten durch den Raum, streckten sich und griffen mit ihren gierigen Finger nach ihr, während die Sonne langsam schwand. Aber nicht ohne vorher zu Bluten und den Himmel in diesen Farben zu tauchen. Kayla lag seit ihrer Rückkehr auf dem Bett und starrte aus dem Fenster. Sie hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht ihre Oberbekleidung über den Stuhl zu hängen, sondern hatte sie einfach fallengelassen wie ein Wegweiser von der Tür zu ihrem jetzigen Rückzugsort. Normalerweise war sie ein ordentlicher Mensch, doch sie hatte keine Kraft mehr und ihre Gedanken waren so schwer, dass sie sich fragte ob ein Tag endete oder ein neuer begann. Sie war nicht traurig, sie war auch nicht wütend, sie fühlte sich einfach furchtbar leer und wusste nichts mit diesem Zustand anzufangen. Selbst ihr Herzschlag wirkte fremd, den sie träge unter ihren Fingern spüren konnte. Er war regelmäßig und ein Beweis das sie noch lebte. Doch anstatt Erleichterung drückte diese Erkenntnis nur noch schwerer auf sie ein als die Ereignisse der letzten Stunden.

Zwei Tage. Drei Tote. Und sie war bei jedem dabei gewesen und hatte diesen Personen in die Augen gesehen. Es war so paradox. In einem Moment waren alle drei voller Leben gewesen und im nächsten waren sie tot. Einfach so.

Und sie war immer anwesend gewesen.

So als wäre sie der Grund.

Schuld.

„Kayla?“ Die plötzliche Bewegung in ihrem Rücken, der Schatten, der über sie fiel und die leise Stimme ließen sie zusammenzucken und so als hätte sie etwas Verbotenes getan, riss sie ihre Hand von ihrem Handgelenk. Dort wo sie seit einer Weile ihren Puls gezählt hatte.

Der Geruch von kühlem Wind und das Gefühl von Salz auf den Lippen, gehörte zu Tristan, wie zu ihr ihre Sammelleidenschaft und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Sie sah ihn an, wie er auf der Bettkante saß und ihren Blick erwiderte. Er betrachtete sie, nicht mit Zweifel oder Sorge, sondern einfach mit Verständnis, so als wusste er, wie sie sich fühlte.

Seine Finger waren rau, als er sie über ihre Wange streichen ließ, doch seine Wärme spürte sie kaum auf ihrer Haut. „Du bist ganz kalt.“ fügte er ebenso leise hinzu und schenkte ihr ein kleines Lächeln, als sie wortlos nach seinem Hemd griff.

Mit einem schweren Geräusch kamen seinen Stiefel auf dem Boden auf, gefolgt von seiner Jacke und Hut, bevor er sich neben sie legte. Er zog sie näher und in seine Arme, in denen sie sich schon immer sicher gefühlt hatte. Erst als sie seinen Herzschlag hörte, atmete sie aus und entspannte sich zum ersten Mal seit dem letzten Vorfall. Auch Rays Worte verklangen nun in den Tiefen des regelmäßigen Pochens unter ihrem Ohr, während Tristan sie nur noch enger an sich drückte. Keiner von ihnen sprach ein Wort, das Schweigen lag in der Luft, aber es war nicht unangenehm oder drückend.

Kayla wusste nicht, wie lange sie schon dort lagen, aber es war auch ein Stück weit egal. Sie war von ihrem Vorgesetzten freigestellt und in einer Art Beurlaubung geschickt wurden, denn drei Akten mit Todesfällen trugen ihre Namen als Zeugin. Man würde sie zwar morgen befragen, jedoch sollte sie sich ausruhen. Die zusätzliche Begründung das sie in der letzten Zeit zu viele Dienste gemacht hatte war dumpf an ihr vorbeigerauscht, wie auch die Tatsache das der Junge aus den Katakomben plötzlich verschwunden war. Und sie fühlte sich noch nicht einmal schuldig bei dem Gedanken, dass sie ihn nicht so schnell wieder sehen wollte, denn mit ihm hatte alles angefangen. Zumindest behauptete sie das für sich selber, denn anders konnte sie es sich nicht erklären, als mit den Fingern auf anderen zu zeigen. Auch noch so, dass sich die Person noch nicht einmal verteidigen konnte.

„Schläfst du?“ durchbrach Tristan die Stille, doch nicht die Ruhe. Das veranlasste sie dazu, sich an ihn zu schmiegen wie eine Katze und er hatte nichts dagegen. Von Anfang an, als Tristans Mutter und Kaylas Onkel geheiratet und sie sich kennen gelernt hatten, waren sie sich nah gewesen. Eine Freundschaft die schnell entsprungen war aus wenigen Augenblicke und jegliche Entfernungen getrotzt hatte. Er war mehr als nur ein Kindheitsfreund, denn er war schon immer ihr Fels in der Brandung gewesen, egal vor welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten sie gestanden hatte.

Aufgeschlagenes Knie, er hatte sie mit Geschichten über Helden und Drachen abgelenkt. Stubenarrest, er hatte ihr Briefe unter die Tür und Süßigkeiten durchs Fenster geschmuggelt. Gehässige Kinder, er hatte sich mit Gebrüll in den Kampf gestürzt. Damals wie auch heute wäre sie ohne Tristan untergegangen.

„Ich schlafe schon.“ erwiderte sie und sie spürte sein leises Lachen auf ihren kleinen Scherz, anstatt dass sie es hörte. Zu sehr lauschte sie seinem Herzschlag, während seine Hand über ihren Rücken strich. Langsam begann auch die Wärme wieder zurück in ihren Körper zu drängen und die Leere zu vertreiben. „Siehst du das nicht?“ fügte sie hinzu mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen, dass sich nicht anfühlte wie die Grimasse, die sie eben für ihre Mutter gezogen hatte im Versuch zu Lächeln.

„Nein. Ich schlafe nämlich auch schon.“

Leicht hob sie den Kopf und sah in sein Gesicht. Noch immer lag in seinem Blick Verständnis, während er sie aufmerksam musterte. Das war er immer ihr gegenüber und dieses Vertraute ließ sie sich nur noch sicherer fühlen. Sicher im Schweigen, das wieder zwischen ihnen lag als sie einander einfach ansahen. Ohne etwas zu Suchen. Ohne Erwartungen.
Ihre Augen schlossen sich wie automatisch, als er ihr eine Strähne aus dem Gesicht schob und hinter ihr Ohr. Auch ihr Haar gegenüber war sie so nachlässig gewesen, wie gegenüber ihrer Kleidung, hatte sie vor Verzweiflung ihre Finger darin vergraben als ihr klar geworden war, was schon wieder passiert war. Das Tristan noch nicht wegen dem Vogelnest auf ihrem Kopf gelacht hatte rechnete sie ihm hoch an.

„Tust du gar nicht.“ murmelte sie und stützte sich etwas hoch, um ihre Muskeln zu lockern und sich selbst nun mehr aus dieser Beweglosigkeit zu wecken. Jetzt spürte sie wie ihr Körper schmerzte durch die Anspannung, die zum Glück nach und nach abfiel. Dabei bemerkte sie nur kaum, wie ihr Cousin den Kragen ihrer Bluse richtete, dabei sah er wilder aus als sie. Jetzt vor allen, weil er auch nicht seine Haare zurückgebunden trug. Die dunklen Strähnen breiteten sich auf das helle Kissen aus, das er ihr mal geschenkt hatte. Es war ihr erster Tag in Königsfeuer gewesen und der Stoff hatte ihre Tränen des Heimwehs getrocknet.

„Vielleicht doch.“ neckte er sie noch einen Moment, bevor er wieder ernster wurde und besorgter. „Geht es dir wieder besser?“ Sie wusste nicht wie viel er wusste, aber sie ahnte das ihr Vater ihn zu ihr geschickt hatte. Kayla war niemand der sich von jeden trösten ließ, sondern war nur bereit wenige in ihre Nähe zu lassen. Dazu zählte ihr Vater, Tristan, aber auch ihre Schwägerin Adaline.

„Etwas.“ gab sie ehrlich zu und widerstand den Drang sich wieder neben ihn zu legen. Sie konnte sich nicht ewig in ihrem Bett verkriechen, so wie sie nicht mehr viel Zeit hatte ihrem Cousin nahe zu sein. Ihre Mutter sah es jetzt schon nicht gerne, wenn die beiden sich auch nur für einen kurzen Moment das Bett teilte und bald wäre es sogar noch weiteren Personen nicht recht. Tristan und sie wurden bald volljährig, waren sie jetzt schon keine Kinder mehr und nahmen Fuß in ihren jeweiligen Berufen. Bald würden sie beginnen sich nach potenziellem Lebenspartner umzuschauen, auch wenn der Gedanke allein ihr ein mulmiges Gefühl beschwerte. Sie war ein Mädchen und Schwärmerei waren ihr nicht fremd, aber sie konnte sich mehr auch noch nicht vorstellen. So wie sie sich für Tristan niemanden vorstellen konnte, war er so frei wie ein Vogel. Sie schüttelte leicht den Kopf, bevor sie sich aufsetzte und mit ihren Fingern ihr Haar kämmte, dabei öffnete sie den geflochtenen Zopf, der ihr schwer im Rücken lag.

Während sie die Knoten löste und verschränkte er die Arme hinter dem Kopf, streckte seinen langen Körper und beobachtete sie dabei.

„Drei Todesfälle.“ begann sie und durchbrach die Stille ihres kleinen Zimmers. „Erst Berrat Falham, dann heute Nachmittag ein anderer Rekruten Namens Sirus und dann Jona Teran, ebenfalls ein Mitglied der Stadtwache.“ Sie stieß ein leises Seufzen aus, weil die Worte auf ihren Lippen brannten, doch mehr musste sie für ihn nicht sagen. Seine Hand war warm in ihren Rücken und sie lehnte sich leicht an diese.

„Wurde dir schon genaueres gesagt?“

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte nach dem Tod von Sirus gehofft Antworten bei Ray zu finden, immerhin war der Tod sein Alltag als Teil der Katakomben, jedoch war ihre Begegnung nur seltsamer gewesen als die erste. Der Junge hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, so als wäre ihm nicht bewusst gewesen, was er tat. Im ersten Moment hatte sie gedacht, dass er sterben würde, jedoch hatte er sie mit seinen Worten verletzt. Und wütend gemacht, so unglaublich wütend, dabei hatte er im Grunde ja Recht. Der zweite Tod war ein Zufall gewesen, der dritte ein Muster. Da musste etwas hinter liegen, denn wenn nicht konnte sie es sich nicht erklären und sie wollte nichts von einer Götterstrafe hören. Ihre Mutter war sehr gläubig, besuchte regelmäßig die Kirche und nahm Traditionen ernster als manchmal die Worte ihres eigenen Ehemanns. Kayla war mit dem Glauben an das ewige Feuer aufgewachsen, aber der Gedanken das ein übermächtiges Wesen, das sie nicht sehen oder greifen konnte, scheinbar wahllos Leute als Strafe tötete machte ihre Angst. Da klammerte sie sich lieber an die Ansicht ihres Vaters, der zu sagen pflegte, dass man den Gott, wenn es diesen gab, eher als Künstler sehen sollte. Nicht als rachsüchtiger Herrscher der kontrollierte, ob man sich abends auch gründlich hinter den Ohren und zwischen den Zehen wusch.

„Morgen wird jemand vorbeikommen und mich dazu befragen.“

„Ich habe morgen meinen freien Tag.“ Tristan lächelte sie an und sie erwiderte es, wenn auch nur klein, aber voller Dankbarkeit. Er würde bei ihr bleiben und sie unterstützen, so wie es ihm möglich war. „Wir können nach der Mittagsstunde auch durch die Viertel ziehen.“

„Du willst doch nur wissen, ob etwas an dem Gerücht des neuen Hutladens was dran ist.“ entkam es ihr und zu Lachen tat gut. Es half und mittlerweile fühlt sie sich befreiter. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und knurrte ihren Cousin spielerisch an, als er ihr als kleine Strafe an den Haaren zupfte. Für ihren Dienst war ein langer Zopf unpraktisch, doch sie musste ihrer Mutter versprechen das sie sich nicht die Haare schnitt, als Kayla der Stadtwache beigetreten war. Sie würde schon ein Teil ihrer Weiblichkeit einbüßen, zu einem halben Jungen werden, sollte sie nicht. Männer aus ihrer Schicht mochten keine Frauen, die stärker waren als sie selbst und es würde die Suche nach einem passenden Ehemann nur noch erschweren.

„Die Behauptung ich hätte eine Sucht, ist gelogen.“

„Glaubst du.“ entgegnete sie und sprang auf, um ihn zu entkommen. Mittlerweile saß auch Tristan, auch wenn er erst nach seinen Stiefeln fischte. Sie hätte ihn fast eingeladen die Nacht hier zu verbringen, doch ohne ein Klopfen öffnete sich die Tür. Nur ihre Mutter nahm sich das Recht heraus dies zu tun, alle anderen nahmen sich die Zeit eine Warnung der Anwesenheit zu hinterlassen.

Amalia Williams stand wie selbstverständlich im Türrahmen und ihr Blick glitt misstrauisch über ihren Neffen und ihrer Tochter. Missfallen tauchte in ihren Zügen auf, als sie die gesamte Situation in Augenschein nahm und dieses drückte sie in einem Kopf schütteln aus.

„So unordentlich wie dein Vater, Liebling.“ verkündigte sie und betrat den Raum. Kayla wusste das die gefaltete Wäsche in ihren Armen nur eine Tarnung war, um einen Grund zu haben vorbeizukommen. Wahrscheinlich hatte sie erfahren, dass Tristan hier war. Durch die offene Tür kamen Stimmen von unten herauf, die Kayla der restlichen Familien zuordnen konnte. Heute waren alle anwesend und sie sah zu ihrem Cousin, der stumme Worte formte. 'Wir wollten nach dir sehen' und allein für diese Tatsache musste sie nachher jedem danken, vor allem ihren Vater, der vermutlich dafür verantwortlich war. Familie war im Haus Williams wichtig und stand an oberster Stelle. Ihrer Mutter hingegen wurde es manchmal einfach zu viel. „Räume bis morgen noch deine Sachen auf und hilf mir beim Waschen.“

Kayla nickte, während sie schon einmal damit begann ihre fallengelassenen Kleidungsstücke aufzuheben. Tristan machte Anstalt zu helfen, doch er wurde entschieden daran gehindert.

„Es ist Kaylas Aufgabe.“ wurde verkündigt, doch bei diesen Worten lag vieles zwischen den Zeilen.  Ja es stimmte das sie selbst diese Unordnung gemacht hatte und dafür verantwortlich war diese zu beseitigen, aber ihr Cousin tat nichts Unanständiges, wenn er ihr dabei half.

Er würde auch nichts Verwerfliches finden oder etwas, das ihn in Verlegenheit brachte. Vor allen keine Jacke, die sie in der Öffentlichkeit trug und selbst ihre Blusen kannte er. Wenn Kaylas Mutter wüsste, wie sehr die Seefahrer feierten und wie ausgelassen es zu ging, würde sie Tristan eigenhändig in die ewigen Flammen werfen, denn er hatte Kayla schon mehr als einmal mitgenommen. Ihre Mutter seufzte schwer, nicht weil sie ihre Gedanken bezüglich des wilden Treibens im Hafenviertel erraten hatte, sondern weil sie ihren Kritiken und Mahnungen immer so begann und das immer mit einem Ton, als würde die ganze Welt allein auf ihren Schultern lasten.

„Manchmal habe ich das Gefühl, das ihr noch immer Kinder seid und über die Felder tobt, wie ein Rudel Welpen. Tollpatschig mit großen Augen, die neugierig die Welt entdecken.“ sagte sie, während sie begann die Wäsche weg- und andere Sachen umzuräumen, dabei nahm sie auch Kayla die Sachen aus der Hand. Mit einem deutlichen Bedauern in ihrer Stimme fuhr sie fort. „Doch dann sehe ich euch beide an und werde daran erinnert, dass ihr gewachsen seid. Stück für Stück in die Höhe. Ich hatte nur gehofft, dass wenigstens du Kayla kleiner bleibst und so zierlich wie du einmal warst.“

Kayla verzog ungesehen den Mund, Tristan hingegen runzelte offen die Stirn. Normalerweise war nicht anwesend, wenn diese Art von Vortrag kam, denn ihn zu belehren war eine Aufgabe der älteren Männer. Das machte aber keiner der Herren im Haus, daher bekam ihr Cousin nur das mit, was sie ihm erzählte. Anscheinend wurde ihm jetzt klar, dass ihre Worte keine Übertreibungen aus dem Ärger heraus waren.

„Vater ist schuld an meine Größe. Auf seiner Seite der Familie sind alle hoch aufgewachsen. Die Williams sind wie die Bäume, die sie bearbeiten und formen.“ verteidigte sie sich gegenüber diesen Vorwürfen, dabei konnte sie nichts für ihre Größe. Unwohl fühlte sie sich damit nämlich nicht, nur ihre Mutter schaffte es daraus ein Problem zu machen und das mit wenigen Worten.

„Ja.“ Wieder ein Seufzen. „Du hast viel von ihm, mein Liebling.“ Trotzdem glitt ein wehmütiger Blick über ihr rötliches Haar, dann über ihre Gesichtszüge und den Sommersprossen auf ihrer Nase und Wangen. „Dabei siehst du deiner Großmutter so ähnlich. Als sie in deinem Alter war, war sie bildhübsch und verheiratet.“ Es war ein Kompliment, das ihr ein Stich versetzte, denn es war nur dafür da, um auf das eine Thema zu kommen. Eine Heirat in den nächsten fünf Jahren und die Gründung einer neuen Generation durch die Geburt von Kindern. Kayla war selbst kein kleines Mädchen mehr, aber sie war noch lange davon entfernt auch nur daran zu denken. Sie wollte nach ihren Prüfungen erst einige Jahre in der Stadtwache dienen, bevor sie auch nur planen, würde sich niederzulassen und eine Ehe einzugehen. Wenn es jemals so weit kommen würde.

In der heutigen Zeit gab es deutlich mehr unverheiratete Frauen, die eine feste Position in der Gesellschaft einnahmen und nicht der Kirche angehörten. Es waren nicht viele und manch einer stand dem kritisch gegenüber, aber es war nichts ungewöhnliches mehr. Madam Callum war dabei ein gutes Beispiel, denn die Leiterin der Heilergilde war nie verheiratet gewesen, noch nicht einmal verlobt, und hatte neben ihrer Arbeit ein Kind alleine großgezogen. Diese wurde geschätzt und respektiert. Kaylas Mutter mochte sie nicht und stand ihr und der Ehelosigkeit kritisch gegenüber.

„Großmutter lebte auch in anderen Zeiten.“ Konnte es sich Kayla nicht verkneifen. „Mittlerweile braucht eine Frau nicht die Erlaubnis ihres Vaters oder ihres Ehemannes, nach der Volljährigkeit, um ein eigenständiges Leben führen zu können.“

Ihre Mutter presste bei dieser Erwiderung kurz die Lippen fest zusammen, bevor sie die Schubladen und Türen des Schrankes schloss, die sie im Zuge ihrer Anwesenheit geöffnet hatte. In den Händen hielt sie jedoch noch ein Kleidungsstück, das Kayla nicht kannte und verdächtig nach einem Kleid oder langen Rock aussah. Sie mochte weder das eine noch das andere, besaß aber viel zu viele davon, wogegen ihre Hosen regelmäßig schwanden, bis sie sie in einen Schrank am anderen Ende des Hauses fand.

„Diese Zeiten, mein Liebling.“ begann ihre Mutter. „Waren nicht so negativ, wie du es immer darstellen möchtest. Du wirst es verstehen, wenn du einsiehst, dass wir Frauen viel Gutes aus ihnen zu verdanken haben. Deine Großmutter war eine wunderbare Frau und glücklich in ihrer vorbestimmten Rolle als Mutter in der Familie. Sprich ihr das nicht ab und lass dir von Fremden keine falschen Bilder einreden. Sie wissen es nicht besser.“ Jetzt wollte sie ihrer Mutter von den Feiern der Seefahrer erzählen und viel zu sehr ins Detail gehen, nur um sie völlig zu schockieren. Wut über diese Worte lag schwer in Kaylas Brust und drängte dazu auszubrechen. Auf der einen Seite wollte sie es, auf der anderen wusste sie, dass ihre Mutter ihr daraus eine Stolperfalle bauen würde. Wut war eine männliche Natur und sie war und blieb ein Mädchen, egal ob sie Hosen trug und mit einem Schwert kämpfen konnte. Ihre Weiblichkeit in Vorwürfen abgestritten zu bekommen würde wehtun, weil es immer schmerzte, diesmal jedoch nur noch mehr, weil sie gerade erst aus dieser Leere zurückgekehrt war und ihre Gefühle ungeschützt offen lagen.

„Ich verstehe es jetzt schon,“ entgegnete sie. „Wie du sagtest bin ich kein Kind mehr und in der Lage mir eine eigene Meinung zu bilden.“

Ihre Mutter sah sie einen Moment an, die Hände in die Hüfte gestemmt und mit einem eindeutigen Blick, und Kayla hatte das Gefühl ihr gegenüber unterlegen zu sein. Sie konnte sich für die nächsten Worte wappnen, doch es würde sie nicht vor ihnen bewahren.

„Wenn du kein Kind mehr bist, dann hör endlich damit auf bei jeder Kleinigkeit zu deinem Cousin zu rennen und dich in seine Arme zu schmeißen.“

„Kleinigkeit?!“ Tristan erhob das Wort, so wie er vom Bett aufstand. Mit einem Schritt war er an Kaylas Seite und schob sie schützend hinter sich. „Das ist keine Kleinigkeit, die deine Tochter in den letzten Tagen erlebt hat. Und selbst wenn es eine wäre, kann sie jederzeit zu mir kommen und sich in meine Arme flüchten. Ich bin dafür da, um ihr zu zuhören, sie zu trösten und ihr bei zu stehen, weil sie es bei anderen Familienmitglieder nicht kann.“

„Tristan, mein Lieber. Du verstehst das nicht.“ Er schnaubte.

„Ich verstehe es sehr wohl, ebenso die ganzen Vorwürfe, die heute nur aus deiner Richtung gekommen sind, Tante Amalia. Du bist ihre Mutter und keiner deiner Worte haben ihr Leid gelindert, stattdessen es nur noch verschlimmert.“

Einen Moment herrschte absolute Stille, die sich im Raum ausbreitete. Kayla wagte kaum zu atmen, aber sie griff nach seinem Arm, um sich an ihn festzuhalten. Tristan hatte sie schon immer beschützt, selbst vor ihrer eigenen Mutter, die ihre Wut hinter der Maske aus weiblicher Gleichgültigkeit verbarg.

„Du muss das große Ganze sehen. Ihr müsst es sehen und werdet es. Ich sorge mich um meine Tochter und ihrer Zukunft. Alles, was ich tue, ist euch vor euren jugendlichen Dummheiten zu schützen und vor manchen Fehler zu bewahren. Fehler, die nur einmal gemacht werden können und unwiderruflich sind. Meine Tochter wird keine Bezeichnung bekommen, die die Leute hinter ihrem Rücken flüstern und ein schlechtes Bild auf die Familie werfen. Dafür werde ich alles tun.“

„Es reicht jetzt, Amalia.“ War es diesmal jemand anderes der sprach. In der Tür stand Kaylas Vater, Barris Williams, mit unergründlicher Miene. Sie drei waren so sehr in diesen Streit verwickelt gewesen, dass er sich unbemerkt genähert hatte. „Wir werden uns später ausführlich darüber unterhalten. Zu zweit als ihre Eltern, denn das letzte Wort haben bis zu ihrer Volljährigkeit noch wir.“ Er machte eine Handbewegung in den Flur hinein. „Außerdem fragte unsere Schwiegertochter nach dir und dein geschultes Auge für Stickereien.“

Kaylas Mutter wirkte für einen Augenblick, als wollte sie widersprechen, um zum finalen Argument zu kommen, doch sie sagte kein Wort. Stattdessen legte sie das Kleid auf das Bett ab und mit einem mahnenden Blick, der von Enttäuschung sprach, verließ sie mit erhobenem Haupt das Zimmer. Erst als ihre Schritte am Fuße der Treppe und außer Hörweite verklungen waren, entspannte sich ihr Vater sichtlich und lächelte sie an.

„Tut mir leid ihr beiden.“ Eine Spur Traurigkeit lag in seinem Blick und Kayla tat das einzig richtige. Sie umarmte ihn, auch wenn eine kleine Stimme in ihr ihn fragen wollte, warum er so lange gewartet hatte, bis er eingeschritten war. „Sie meint es nicht böse. Ihre Wortwahl war schon immer etwas unbedacht.“ Sie wusste das und sie kannte auch die liebevolle Seite ihrer Mutter, was, aber nicht bedeutete das es nicht wehtat. Denn es war nicht das erste Mal, das sie so etwas zu hören bekommen hatte. Ihr Nicken war ohne Worte, während ihr Vater ihr über das Haar strich. „Ich werde mit ihr reden und sie darauf hinweisen, dass es nicht in Ordnung war. Dein Onkel und deine Tante haben vorgeschlagen, dass du für die Nacht zu ihnen kommst, meine Kleine. Ablenkung wird dir guttun und unser Wirbelwind wird diese Aufgabe nur mit Freude übernehmen.“

Niemand wollte, dass sie den Streit ihrer Eltern mithörte. Nicht jetzt und nicht schon wieder. Tristan schien darüber noch nicht einmal überrascht, weil sie ahnte, dass er sie so oder so mitgenommen hätte, zu Not auch durch das Fenster.

Ihr Vater sah mit einem Lächeln auf sie hinab. Kleine Fältchen lagen um seine Augen und Mundwinkel und er sah müde aus. Er hatte viel zu tun in seiner Werkstatt, waren in letzter Zeit einige große Aufträge hereingekommen, die es zu bearbeiten galt. Wenn es so weiter ging, konnte schon bald die Ladenerweiterung durchgeführt werden, etwas worauf schon lange hingearbeitet wurde.

„Gleich gibt es noch das Abendmahl.“ fuhr er fort. „Außerdem wurde ein Brief für dich abgegeben.“ Sie hatte den Brief in seiner Hand nicht bemerkt, den er ihr überreichte, wobei Brief eine kleine Übertreibung war, denn er bestand nur aus einem Stück Papier, das zwei Mal gefaltet war.

„Von wem?“ fragte sie erstaunt und verwirrt, denn ihr fiel niemand ein, der ihr schreiben könnte. Sie hatte erst vor einigen Tage ihre eigenen Briefe verschickt und bis sie an ihre Zielorte waren, dauerte es noch mindestens eine Woche.

„Ein Junge, der mir nicht sein Name verraten wollte, stand vor einigen Minuten vor der Tür.“ erwiderte ihr Vater. „Ein seltsamer Bursche. Er bat mich dir den Brief zu geben und dir zu sagen, dass du ihn aufsuchen darfst. Aber ohne weitere Tote, er hätte auch so genug zu tun.“

Sie wusste nicht, ob sie darüber lachen sollte oder wollte.

„Das kann nur Ray gewesen sein.“

„Wer und woher kennst du ihn?“ Ihr Vater schien es ähnlich zu gehen wie ihr, denn anscheinend wusste er auch nicht, was er davon halte, sollte, wobei seine väterliche Skepsis zu Tage kam.

„Sein Name ist Ray Falham und er gehört den Katakomben an.“ antwortete sie. „Ich habe ihn dort gestern getroffen, als ich zusammen mit Arthur dagewesen bin.“

„Und ich dachte, die verlassen den Friedhof niemals und mögen keine Kontakte zu lebenden Personen.“ Bei diesem Kommentar musste sie lachen und auch Tristan schmunzelte, hatte er auch schon das Vergnügen gehabt den Jungen aus den Katakomben kennen zu lernen.

„Ich glaube das Letzte stimmt.“ sagte ihr Cousin. „Aber anscheinend werden sie auch in der Heilung ausgebildet, denn theoretisch ist die Gilde der Toten ein Teil der der Heiler. Ich habe Ray heute dort getroffen und ihn kennen gelernt.“ Waren seine erklärenden Worte. Kaylas Vater nickte verstehend und gleichzeitig irritiert, bevor er sich über den Bart strich.

„Trotzdem war das ein seltsamer Bursche. Er hat es vermieden mir in die Augen zu sehen und hat etwas gemurmelt von 'daher kommt ihr Licht'. Zumindest klang es so.“ Sie verkniff es sich, etwas über die besonderen Fähigkeiten zu sagen, auch weil ihr Vater sich verabschiedete und sie viel zu neugierig war, was ihr geschrieben wurde. Eilig faltete sie den Brief auseinander. Die Schrift, die zum Vorschein kam, war fein säuberlich und unheimlich akkurat, jedoch so klein, das sie beim Lesen die Augen leicht zusammenkneifen musste. Es war kein langer Text, aber er schaffte es schon in den ersten Zeilen ihre Verärgerung zu wecken. Ray hatte dafür ein interessantes Talent, sie wusste aber nicht ob es seine Ehrlichkeit war oder er andere gerne dazu brachte wütend zu werden.

Du bist Schuld.
Übrigens findet es Meister Arbos immer noch nicht gut, wenn du seine Katze auch nur mit dem Schwert anpickst. Tiffa auch nicht.
Ich bin aber so nett und übersehe das. Eine Antwort ist das Bluttal. Alle drei Tote (die du nicht vergessen                kannst als ihr tödliches Unglück) kamen in den letzten Monaten von der Grenze zurück.
Viel Vergnügen im Matsch. Bring nicht noch Weitere um.

Der Brief war nicht unterschrieben, doch Rays Art lag in jedem Wort. Sie reichte das Stück Papier an ihren Cousin weiter, damit er es auch lesen konnte.

„Schwert? Katze? Ich versteh ehrlich gesagt nicht alles.“ gab er zu, als er fertig war und sie nachdenklich ansah. Sie hingegen begann ihre Gedanken auszusprechen, denn ihr wurde ein scheinbar wichtiges Detail verraten.

„Die Verbindung ist also das Bluttal. Alle waren dort stationiert gewesen, also könnte dort etwas liegen.“

„Du wirst nicht dorthin gehen!“ Er klang so entschieden, dass sie einen Moment blinzelte und kurz die Augenbrauen in Überraschung hob, nicht nur weil er sie unterbrochen, sondern auch weil sie diesen kleinen Ausbruch nicht erwartet hatte.

„Hatte ich auch nicht vorgehabt.“ murmelte sie schon fast, denn das war ihr wirklich nicht in den Sinn gekommen. Sie wollte schließlich erst einmal alles ordnen, bevor sie Entscheidungen überhaupt treffen konnte. Außerdem waren die Informationen wichtig und wenn sie helfen konnte, dann wollte sie das auf jeden Fall tun. Tristan nickte zufrieden, während sie fortfuhr. „Außerdem, um das deutlich zu machen. Ich habe und wollte der Katze nichts antun, sie hat mich einfach erschreckt als sie wie aus dem Nichts aufgetaucht ist.“

Sein leises Lachen überging sie, so wie es auch unterging in die Rufe von unten. Das Abendmahl war aufgedeckt und wenn sie sich nicht beeilten, würde alles weg sein, zumindest war Tristans kleiner Bruder Giden der Meinung er könnte alles allein aufessen. Und den Hut stehlen. Letzteres was wirkungsvoller, denn der Wirbelwind und Nesthäkchen der Familie hatte ebenso eine Zuneigung zu den Kopfbedeckungen wie auch Kaylas Tante Tilla Rutherford. Kayla folgte ihrem Cousin nicht sofort, als dieser eilig den Raum verließ. Sie steckte den Brief in einer ihren Kästchen, die ein Schloss besaßen, damit ihre Mutter diesen nicht fand. Kaylas Blick fiel allerdings auf das Kleid, das sich mit seiner Farbe von der hellen Decke abhob und fehl am Platz wirkte. Die Farbe war dunkelgrün und der Rock besaß großzügige Stickereien, die zusammen eine große Seerose bildeten. Es erinnerte sie an den Wald in der Nähe ihres Heimatdorfes am Morgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen über die Baumgipfel gekrochen waren. Hier versank er hinter den großen Bauwerken der Stadt. Doch ihre letzten Gedanken galten nicht dem Kleid, sondern dem Ort, an dem die schrecklichste Schlacht des letzten Krieges stattgefunden hatte: dem Bluttal.

Doch was war an dieser Grenze geschehen, dass drei Menschen Wochen später scheinbar urplötzlich starben? Oder gab es einen anderen Grund und das Moor hatte keine Bedeutung?

Sie wusste es nicht und gerade wollte sie es nicht herausfinden, denn sie hoffte nur, dass sie nicht Schuld war an diesen Toten.

Alles, was sie sich wünschte war, das kein tödliches Unglück an ihr haftete.

Keine Schuld.

 

• • • •

 

Mit gierigen Fingern griff das Moor nach der Mauer, im Versuch die Steine mit sich zu ziehen in die feuchte Umarmung des Todes. Nevestika Arbos beobachtete es dabei aus sicherer Entfernung. Unzufrieden, denn ihre stummen Aufforderungen nach Antworten wurden nicht Folge geleistet und das ließ ihren Blick nur noch finsterer werden. Würden die Wachen in ihrer Nähe sie nicht kennen, hätten diese sie wahrscheinlich zur Rede gestellt, um so mögliche Pläne zu vereiteln. Aber sie war bekannt und auch ihre Anwesenheit auf der zweiten Mauer der Feste war nicht ungewöhnlich. Sie kam immer hier hin, wenn sie nachdenken musste. Dann beobachtete sie die Arbeiter, die zur Abendstunde zwischen den Bäumen auftauchten wie Geister, während der aufkommende Nebel alles in sein Reich zog. Lautlos, wie die Gefahr die aus der Dunkelheit gekrochen kam und alles unter seiner weißen Decke erstickte. Dabei verschluckte es Geräusche und Gestalten, tauchte alles in die Farblosigkeit, die nur von den blonden Locken ihres Cousins gebrochen wurde, als dieser ohne ein Geräusch zu ihr trat. Sie sah ihn und doch fühlte es sich an, als würde neben ihr niemand stehen. Wie immer umgab ihn eine Aura des Nichts und genau diese fehlende Präsenz spürte sie in den magischen Spuren um sie herum. Es war als würde ihr jemand die Augen und Ohren zu halten und nur einen Spalt der Welt hineinlassen, damit sie sich orientieren konnte.

„Hat dir das Moor heute verraten, was es verbirgt?“ Seine Stimme war leise und ging fast unter in den Geräuschen, die vom Hof vor ihnen emporgetragen wurden. Zwischen der ersten und zweiten Mauer zum Moor hin lagen die Übungsplätze für die Königliche Armee und Stadtwache. Obwohl der Tag sich deutlich dem Ende neigte, war die Trainingseinheit für manche Rekruten noch im Gange. Pfeile, Schwerter und andere Klingen schwirrten durch die Luft wie ein Schwarm wütender Wespen, die bereit waren sich auf ihre Beute zu stürzen.

„Würdest du deine Arbeit machen, würde ich meine Antworten bekommen.“ erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre helle Haut hob sich fast leuchtend von dem Schwarz der Kleidung ab, während ihr dunkles Haar fast damit verschmolz. Die einzigen Farben, die sie an sich trug war das Rot ihrer Lippen und das blaue Leuchten der Kristalle an den Schlüsselbund, die so klar und sanft klimperte wie das Lachen ihres Cousins. Das und seine großen braunen Augen in dem jugendlichen Gesicht hatten ihm schon einige tierische Bezeichnungen eingebracht, denn er fiel aus der Vorstellung des idealen Mannes seines Alters. Doch Jason Callum war weder ein Hase noch ein Reh, sondern gehörte mit zu den mutigsten Persönlichkeiten, die sie kannte. Und zu den verrückten, denn niemand ging öfter ins Moor als er.

„Würdest du mich begleiten, würde ich dir alles zeigen, was du wissen willst.“ Er lächelte mit den Augen, neckend, aber auch zugleich entschuldigend.

„Ich hasse das Moor.“ schnaubte sie und es gab einen Grund, warum sie keinen Fuß zwischen die Bäume setzte: Sie hatte Angst. Dabei war es keine spezifische Furcht, sondern eine Kombination aus allen Aspekten. Selbst die Luft schnürte ihr die Kehle zu im Versuch sie zu erwürgen. Sie vergnügte sich daher aus der Ferne alles zu beobachten und andere in einen möglichen Tod zu schicken, allen voran ihre Familie. Das galt nicht nur für Jason, sondern auch für Graham, wenn dieser sie mit seiner Anwesenheit beehrte.

Das Tor der ersten Mauer schloss sich, nachdem auch die letzten Arbeiter dieses durchschritten hatten. Begleitet wurden sie dabei von einem jungen Mädchen, das zwischen den Erwachsenen herausstach wie eine Seerose in der Wüste. Allein ihre Anwesenheit brachte Menschen dazu zu Lächeln und wenn das schmale Wesen auch noch begann zu hüpfen, summen und zu grüßen, war es um die meisten geschehen. Zumindest um diejenigen, die vom Moor noch nicht verdorben wurden waren und noch etwas wie naive Lebensfreude besaßen. Nevestika folgte dem Mädchen mit den Augen, das den Platz überquerte, als wäre sie auf einer Blumenwiese. So durchschritt sie auch das Moor, ungeachtet der zahlreichen Gefahren, die unter der Illusion von festem Boden lauerten. Die Moorblume wurde sie genannt und im Grunde passte diese Beschreibung, denn sie gehörte zu denjenigen, die aus einer der nahen Dörfer und Stämme kamen.

Erst das vertraute rattern der Ketten, die das Falltor hinabließen, brachten Nevestika zurück aus ihren Beobachtungen und hinein in das Gefühl von Sicherheit. Allein deswegen mochte sie den Abend, denn mit dem Schließen der Tore wurde das Moor zumindest für eine Weile draußen gehalten. Dazu kam, dass sich die Anzahl der Wachen noch einmal deutlich erhöhte. Soldaten, Paladine und Aufklärer, es war immer jemand aus jeder Einheit vertreten, um für den höchsten Schutz zu sorgen. Vor allen jetzt, nach den Ereignissen der letzten Wochen.

War der Weg ins Moor schon keiner, der Freiwillige geradezu herauslockte hatte, war es mittlerweile so schlimm geworden, dass es für manche zu einer Art Strafe geworden war. Niemand wollte dem unheilvollen Angreifer begegnen, der noch immer so ungreifbar war, dass man ihn fast für ein schaurige Erzählung halte, konnte. Wären da nicht die Toten, Verletzten und Vermissten. Doch so wie in allen Bereichen gab es auch Ausnahmen und die Größte stand neben ihr.

Jason gehörte zu dem sogenannten Aufklärer, eine Einheit innerhalb der Königlichen Armee deren Aufgabegebiete mit den Worten Mädchen für Alles zusammengefasst werden konnte. Viele Mitglieder kamen aus anderen Gilden, jedoch besaß jeder von ihnen eine Persönlichkeit mit Ecken und Kanten. Die Aufklärer waren erst vor einigen Jahren neugegründet wurden, obwohl es sie laut den Aufzeichnungen schon seit mehreren Zeitaltern gab. Es war Prinzessin Rilana Calvert, eher bekannt unter dem Namen Lady Mondblüte, gewesen, die die alten Aufzeichnungen studiert und dazu beigetragen hatte die Geschichten wieder zum Leben zu erwecken. Was sie damit bezwecken wollte, war öffentlich nicht bekannt, jedoch war die Investition erfolgreich. Soldaten in Rüstungen konnten nun mal keine Schlachten in einem Moor führen, andere jedoch schon, vor allen, wenn sie freie Hand hatten und die Improvisation beherrschten. Doch auch diese Verrückten waren schon Opfer der Angriffe geworden, sogar die Ersten. Zu Beginn hatte man gedacht, dass sie diese sogar ausgelöst hatten, doch mittlerweile war bekannt, dass sie sich wahllos ereigneten. Zufällig. Jeder Gang ins Moor war ein Risikospiel, wie auch Heute.

Drei Tote, ein Vermisster und vier verstörte Verletzte waren mehr oder weniger zurückgekommen und hatten Nevestika in ihrer alltäglichen Arbeit gestört. Ihr wurden dabei mehr Fragen gebracht als Antworten, weswegen sie wieder hier war, um darüber nachzudenken. Denn anders, wie ihr Vater mochte sie es nicht sich endlos in Rätsel zu stürzen, sondern sie wollte klare Aussagen und am Ende des Tages mit guten Gewissen die Leiche zur Verbrennung freigeben. Allerdings wurde ihr dieser Gefallen viel zu wenig getan. 

Zwei der Toten, ein Arbeiter und eine Wache, wurden aufgerissen wie ein Braten im Versuch diesen zu befüllen, nur das Innereien entfernt wurden waren. Einzeln wurden die Herzen mitgebracht, wie auch die magischen Kerne, die zum Glück nicht ausgeprägt waren. Das letzte Opfer, ebenfalls ein Arbeiter, hingegen wies die meisten Unstimmigkeiten auf. Mittlerweile war die Annahme so weit, dass es sich bei dem Angreifer um ein Wesen mit Klauen und tierischen Zügen handelte, jedoch um kein Tier. Wölfe jagten in Rudeln und ließen in der Regel Gruppen von mehreren Personen in Ruhen, Schnapper waren Aasfresser und Sumpfkriecher fraßen alles von ihrer Beute, nagten sie bis auf die Knochen hinab, um an das Markt zu bekommen. Die Toten wurden bei jedem Angriff zurückgelassen, also war die Intention des Angreifers keine Nahrungsbeschaffung, außerdem gab es Nichts. Keine Hinweise, kein Muster, keine Informationen.

Sie schnaubte allein beim Gedanken daran, dass in ihren Katakomben eine Leiche lag, die viel zu friedlich wirkte für jemand, der getötet wurden war. Jason sah sie kurz an und zuckte leicht mit den Schultern. Er wusste, woran sie dachte, denn sie sprach ihren Gedanken aus. Allerdings kannte er auch keine Antworten, obwohl seine Einheit die Toten geborgen und somit den Tatort gesehen hatten.

„Der zweite Arbeiter weist weniger Verletzungen auf als die anderen, hauptsächlich Kratzer. Laut den ersten Berichten wurde er von dem Angreifer einige Meter verschleppt und dort haben wir ihn auch gefunden. Erstickt an seinem eigenen Blut, das durch eine gezielte Stichwunde in seine Lunge gelangt ist.“ erklärte er. „Niemand kann sagen, was genau passiert ist und warum er so gesondert behandelt wurde. Sein friedlicher Ausdruck kommt davon, dass er während seines Todes nicht beim Bewusstsein war.“

Sie verzog das Gesicht. Das wusste sie schon alles von seinen Berichten, aber auch von den ersten Untersuchungen, die sie gemacht hatte. Dabei war ihr etwas aufgefallen.

„Er weist keine Einwirkungen von magischen Spuren auf.“ Jason nickte bei dieser Aussage.

„Sie könnten schon verschwunden sein oder sie sind zu schwach, um sie zu spüren.“ Seine Mutmaßungen klangen nachvollziehbar, auch wenn ihr die indirekte Unterstellung nicht feinfühlig genug zu sein missfiel.

„Oder du warst zu lange in der Nähe.“ kommentierte sie und brachte einen entschuldigenden Ausdruck auf das Gesicht ihres Cousins. Es ließ ihn fast wirken wie ein Welpe.

„Ich habe tatsächlich beim Fund nicht mein Amulett getragen. Normalerweise nehme ich es im Moor ab, um mich so besser fortzubewegen.“ Oder um es mit anderen Worten zu sagen, um so unerkannt durch den Nebel streifen zu können. Sie warf ihm einen Blick zu, doch das musste sie nicht um etwas festzustellen.

„Du trägst es auch jetzt nicht.“ Zum Hundeblick kam Schuldbewusstsein, denn er hatte Graham angelogen. Mehrfach. „Unser werter Herr Cousin wird dir die Ohren langziehen mit einem Vortrag über Verantwortung und Ehrlichkeit, wenn dieser davon erfährt.“ konnte sie es sich nicht verkneifen. „Und dich unter seiner absoluten Kontrolle zwingen.“

Jason zog die Schultern hoch.

„Ich wollte ihn nicht mit dem Auffüllen der Energie belästigen. Er hat als General der Armee schon genug zu tun, außerdem sah er müde aus.“

„Er sieht immer müde aus. So funktioniert das nicht, Kleiner, und das weiß du ganz genau.“ entgegnete sie diesen Begründungen und konnte nur wieder einmal den Kopf schütteln über so viel Selbstlosigkeit, die hier fehl am Platz war. „Diesmal werde ich dich nicht vor ihm beschützen.“ fügte sie hinzu, wobei sie beide wussten das sie es doch tun würde. Das tat sie immer, was ihr schon oft den Vorwurf eingebracht hatte, parteiisch zu sein. Jason war aber das Nesthäkchen und schien auch nicht das jugendliche Aussehen zu verlieren, was Fluch und Sehen zugleich war. Sie hatten Glück, das er es nicht wusste, wie er es zu seinem Vorteil nutzen konnte. „Ich werde Graham nicht von mir aus davon erzählen, wenn er allerdings fragt, werde ich nicht lügen.“ Mehr konnte sie nicht anbieten, wobei hier auch schon feststand das der General es herausfand. Das tat dieser immer, immerhin hatte er den Ehrgeiz und die Sturheit innerhalb der Familie gepachtet.

„Danke“

Einen Moment schwiegen sie beiden und beobachteten das Treiben um sie herum mit verschiedenen Interessen. Während sie das schwindende Moor betrachtete und froh war keinen Fuß in diese Kälte setzen zu müssen, lag Jasons Blick auf die Rekruten. Er war immer auf der Suche nach neuen Mitgliedern für seine Einheit, braucht er spezifische Talente und Fähigkeiten, doch wer sein Interesse diesmal geweckt hatte, würde er ihr nicht verraten. Da war er stur und schweigsam, aber das war sie schließlich auch bei manchen Themen.

Das Training auf dem Übungsplatz wurde mit den letzten gerufenen Befehlen beendet, doch Ruhe kehrte nicht, wie sie es hoffte, ein. Manche der jungen Menschen fingen sofort an aufzuräumen oder sich erschöpft auszuruhen, andere nutzten die Möglichkeit den aufgestauten Wortschwall auszukotzen. Mehrere Jungen waren dabei besonders prägnant und das nicht auf positiver Art und Weise. Immer wieder gab es laute Ausrufe, Gelächter und die Burschen stießen sich an wie junge Ziegenböcke. Dass die perversen, zweideutige Gestiken an die weiblichen Rekruten gerichtet waren, war nicht zu übersehen und es machte Nevestika wütend. Doch nicht nur sie. Es waren zwei Personen, die sich der Situation auf unterschiedlichen Weisen annahmen.

Ein Mädchen stampfte auf die Gruppe zu. Ihre Schritte waren dabei so fest und voller Zorn, dass sie mit ein bisschen Magie sicher kleine Erdbeben ausgelöst hätten. Mit geballten Fäusten stellte sie ihre Kameraden zur reden, dabei schwangen ihre geflochtenen Zöpfe hin und her, was diese wirken ließ wie lebendige Schlangen. Schlangen, die man auch im Moor finden konnte, aus der das Mädchen zweifellos stammte. Obwohl die Farbe langsam verblasste, schienen die weißen Zeichen auf ihrer dunklen Haut regelrecht zu glühen. Allen in allen hatte sie ein wirkungsvolles Auftreten voller Selbstbewusstsein, jedoch nahmen ihre Kameraden sie nicht ernst. Sie lachten sogar nur noch lauter, allerdings nur so lange bis den Burschen bewusst wurde das es eine zweite Person gab, die dazu getreten war. Jemand der den Bogen gespannt hielt und von dem Nevestika, aber auch die anderen Rekruten wussten, dass es sich bei diesen um einen erfahrenen Schützen handelte. Weder sie noch ihr Cousin konnten die Worte verstehen, die gesprochen wurden, standen sie zu weit weg, jedoch verfehlten diese anscheinend nicht die Wirkung.

„Falls es unglücklicherweise zu einem bedauerlichen Unfall kommt, bin ich Zeugin und kann aussagen, dass es aus Dummheit der Opfer passiert ist. Niemand anderes wäre schuld.“

Jason lachte bei ihrer Aussage.

„Ich wusste, dass du es sagen würdest.“ War sein Kommentar, während sein Blick noch kurz auf die Gruppe ruhte. Personen, die in den Stämmen außerhalb der Feste Sonnensteige lebten, waren immer von Interesse, denn diese kannten das Moor. Das Wissen in diesem zu Leben war wertvoll für jeden, der es beschritt. „Ich kann deine Zeugenaussage dann nur unterstützen.“ fügte er hinzu und langsam löste sich auch die letzten Gruppen auf. Der Übungsplatz leerte sich und die Ruhe war wohltuend, aber nur von kurzer Dauer. Schnelle Schritte gepaart mit einer Stimme, die sich bei anderen entschuldigten kam näher. Jemand sprang regelrecht die Treppe zur Mauer empor und nur wenige Augenblicke später erschien das vertraute Kopftuch von Nevestikas Lehrling Anubia. Das Mädchen schnaubte vor Anstrengung und ihre Wangen waren so rot wie reife Äpfel, doch das hielt sie nicht davon abzusprechen, als sie bei ihnen angekommen war.

„Die Leiche.“ stieß sie aus, während ihre Hände sich in die Seite pressten. „Der Arbeiter aus dem Moor...Ich soll Sie holen kommen...dringend.“ Wieder ein Schnauben und vorsorglich griff Nevestika nach den Schultern ihrer Schülerin, weil diese schwankte. Sie sollte sich nochmal Gedanken über den Vorschlag machen, auch die Mitglieder der Katakomben zum körperlichen Training zu zwingen. Der Weg zwischen den Arbeitsräumen und der zweiten Mauer war weder weit noch beschwerlich, daher war sie schon ein bisschen über die schlechte Ausdauer verwundert.

„Was ist mit der Leiche?“ forderte sie auf. Zum Glück war Anubia ihren harschen Tonfall gewöhnt und sie zuckte auch nicht mehr zusammen.

„Sie erwacht, aber…aber anders. Ihr magischer Kern pulsiert und es wirkt als wolle er explodieren.“ Unterstrichen wurde das letzte Wort mit einer eindeutigen, aber ausladenden Handbewegung und Nevestika fluchte. Ohne auf einen der beiden anderen zu warten, stürmte sie los, sie missachtete sogar die Wachen, die aber so freundlich waren, ihr aus dem Weg zu gehen. Nicht nur, dass ein Erwachen des Toten viel zu früh war, waren magische Kerne, die sich selbst auf- und entluden in einem schnellen, unnatürlichen Wechsel gefährlich. Eine Explosion konnte wörtlich erschütternd sein. Sie hörte Jasons Schritte hinter ihr und das war gut, denn er konnte durch seine Fähigkeiten zumindest die Wucht etwas eindämmen. Allerdings hoffte sie, dass es nicht soweit kam.

Nur wenige Momente später erfuhr sie, wie falsch sie lag.

Es erschallte nur ein „Achtung!“, bevor ein lauter Knall durch die Gänge aus Stein nach draußen drang. Durch die offene Tür kam nicht nur aufgewirbelter Staub, sondern auch Leichenteile. Rotes Blut und Fetzen von Fleisch breiteten sich auf den Boden aus wie ein abstrakter Teppich aus Blütenblättern, über den sie stieg, ungeachtet welches Bild sie im Inneren begrüßte. Die Katakomben erstreckten sich zum Teil tief in den Berg hinein, hatten aber auch Räume nahe an der Oberfläche mit einem direkten Zugang zu dem Platz zwischen der zweiten und dritten Mauer der insgesamt fünf. Das hier war einer dieser Orte, was zum einen gut und auf der anderen Seite schlecht war. Positiv war, das er nicht zu den tragenden gehörte und somit einstürzen konnte, ohne viel mit sich zu reißen. Negativ hingegen war, dass die Aufmerksam zu vieler nun auf der Tür lag, durch der sie ging.

„Jemand verletzt?“ rief sie, als sie ein Husten hörte. Aus der Wolke tauchten zwei Blumenkinder auf, an denen Staub und die Überreste eines Menschen hingen, wie Schmuck.

„Nur durchgeschüttelt und nun...verschönert.“ kam zugleich die Erwiderung von ihrem zweiten Lehrling Fynos. Der Junge schüttelte leicht die Hände und verzog das Gesicht, aber es war gut, dass er lebte und es war noch besser das Delmare in der Nähe gewesen war. Der alte Mann hatte eine ähnliche Fähigkeit wie Graham, auch wenn sich die Manipulation nur auf das Formen von einfachen, kurzen Schilden beschränkte. Es reichte aber, um zwei Personen vor einer Explosion von magischer Energie zu schützen.

„Was ist überhaupt passiert?“ Nevestika schritt nach einem kurzen Blick zu den beiden anderen tiefer in den Raum. Jason war schon an ihr vorbei gegangen und sah sich aufmerksam um, dabei wirkte es, als wäre er ein Geist. Delmare blinzelte, bevor er Fynos rausschickte, um die neugierigen Menschen abzuhalten näher zu kommen. Das Husten begleitete den Jungen hinaus.

„Die Leiche hat plötzlich begonnen unkontrolliert zu zucken.“ begann der alte Mann. Er deutete mit seiner knochigen Hand auf den Tisch oder eher was von diesem noch übriggeblieben war. Die Wucht der Explosion hatte diesen in der Mitte geteilt und überall lagen Stücke aus Holz. „Ich habe versucht den magischen Kern zu entfernen, um ein Erwachen zu vermeiden, allerdings ging es viel zu schnell. Kurz nachdem Anubia losgelaufen ist war schon zu spät und ich konnte uns nur noch schützen.“

Sie nickte unzufrieden, nicht mit ihren Mitarbeiterm, sondern wegen der Situation, in der sie sich jetzt befanden. Eigentlich war ihr Plan gewesen, sich nach ihrer Denkzeit mit neuen Erkenntnissen wieder um die Leiche zu kümmern und den Kern zu entfernen, bevor sie den Tag für beendet erklärt hätte. Bei der ersten Untersuchung hatte sie nichts Ungewöhnliches festgestellt und daher möglichen Gefahren keine Bedeutung zu geschrieben. Es war ein Fehler gewesen, ein sehr großer Fehler mit weitreichenden Folgen, weil es jetzt nur noch schwerer war Hinweise auf die Angriffe zu schließen. Wenn es nicht jetzt sogar unmöglich war. Die Leiche war, trotz den Ungereimtheiten, eine Chance gewesen mehr zu erfahren, doch diese war zersprungen und auch Jason schüttelte den Kopf. Er fand auch nichts. Am liebsten hätte sie über ihre Fahrlässigkeit geschrien, stattdessen sah sie Delmare an.

„Nimm dir Fynos und geht zu den Heilern. Ich will das ihr euch auf Verletzungen untersuchen lasst. Schickt mir dann jemanden zum Aufräumen hierhin.“ befahl sie, bevor sie Anubia ins Visier nahm, als diese im Türrahmen auftauchte. „Du hältst mir die Schaulustigen fern und lässt nur Hauptmann Firenze durch.“

Beide Mitglieder der Katakomben machten sich, ohne zu zögern auf dem Weg, dabei die Schülerin wesentlich schneller als der alte Mann, der sich auf seinen Gehstock stütze. Zurück blieben ihr Cousin und sie in einem kurzen Moment des Schweigens, das etwas unnatürlich wirkte nach der lauten Explosion.

„Was für eine Scheiße.“ stieß sich zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Vorsichtig stieg sie über die Leichenteile, um sich genauer umzusehen. Zum Glück konnte sie schnell feststellen, dass die Wucht sich nur schlimmer angehört hatte, als das sie gewesen war. Die Wände aus dem glatten Stein wiesen kaum Beschädigungen auf, waren aber nun verziert mit Blut und einem Gemisch aus Öl und Kräuter. Letzteres hatte sich in Schalen und Gefäßen befunden, die zerbrochen im ganzen Raum verteilt lagen. Der Geruch verfeinerte nur alles, den er trug nicht nur das metallene in sich, sondern auch die leichte Süße von verbranntem Fleisch. „Was für eine absolute Scheiße.“ War trotzdem ihr Fazit, als sie begann die Stücke des magischen Kerns aufzusammeln. Er würde sich zwar nicht mehr für das Verbrennen in den ewigen Flammen eignen, allerdings hoffte sie aus diesem trotzdem einen Nutzen ziehen zu können.

Das Auflesen erwies sich jedoch als umständlich, da sich Holz und Ton dem Fleisch ähnelten. Man nannte das zusätzliche Organ, in dem sich die magische Energie entwickelte, zwar Kern, jedoch war es so weich wie vieles am und im menschlichen Körper. Zum Glück halfen ihr die Kristalle an ihrem Schlüsselbund, die begannen zu pulsieren, wenn sie diese in der Nähe von offenem magischem Spuren führte. Jason brauchte diese Art von Hilfsmittel nicht, war seine Anwesenheit schon Werkzeug genug. Zielsicher griff er nach den Überresten des Kerns und legte sie alle in ein Tucg, dessen weiße Farbe fehl am Platz wirkte.

„Irgendwelche Vorschläge oder Anmerkungen?“ fragte sie ihn. Ihr Cousin ließ sich Zeit zu antworten und seinen Blick durch den Raum wandern. Normalerweise mochte sie das nicht an ihm oder Graham, weil sie eine ungeduldige Person war, aber jetzt wartete sie auf irgendwas, das ihr helfen konnte.

„Es kann schon einmal vorkommen, dass ein magischer Kern explodiert.“

„Das ist in der Lehre bei meinem Vater schon einmal passiert, aber dieser war schon beschädigt gewesen.“ entgegnete sie. Das Organ, was sie jedoch aufhoben, war völlig intakt gewesen. Jason fuhr fort, so als hätte sie ihn nicht unterbrochen.

„Auf den ersten Blick fällt mir auch nicht ungewöhnliches auf. Keine vorherigen Beschädigungen oder Fremdeinwirkungen, was aber nicht bedeutete, dass er keine geben hat.“

Sie verstand, was er ihr sagen wollte.

„Jemand könnte den magischen Kern so manipuliert haben, dass er nach einer Zeit kollabiert und sich zerstört.“ Doch warum? War es Zufall oder lag eine gezielte Absicht dahinter?

Es war noch mehr Fragen aufgetaucht, als Antworten und sie verzog den Mund. Pläne und Tagesabläufe begann sie in Gedanken schon einmal völlig umzuwerfen, denn die Leichen aus dem Moor würden oberste Priorität durch die vollwertigen Mitglieder der Katakomben bekommen. So etwas sollte nicht erneut unter ihrer Verantwortung passieren, nicht nur weil ihr so Hinweise durch die Finger glitt, sondern auch um Stimmen gegenüber ihrer Führung klein zu halten. Sie war erst seit knapp einem Jahr die Leiterin der Katakomben hier an der Grenze und wollte die Position so schnell nicht auch wieder verlieren.

„Wenn das bei den Toten passiert, dann...“ begann Jason, doch seine Stimme kam nicht ganz so bei ihr an, wie sein Verhalten, als er plötzlich aufsprang. Überrascht sah sie ihn an, doch seine sorgenvolle Miene versprach nichts Gutes und seine nächsten Worte ließen ihr eins Bewusst werden:

Sie waren ihre beiden Eltern ähnlicher als gedacht. Sie dachte an die Toten, er an die Lebenden.

„Die Heiler müssen gewarnt werden, falls auch die Verletzten von diesem Phänomen betroffen sind.“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da war er schon aus dem Raum verschwunden. Sie konnte ihm nur hinterher sehen und eine Zeit lang den Stimmen von draußen lauschen. Anubia konnte laut und kraftvoll sprechen, wenn sie wollte. Wie auch jetzt, denn es betrat niemand anderes den Raum außer Hauptmann Firenze Braose.

Er setzte seine Schritte mit Bedacht, um auf keine Gegenstände zu treten, dabei klapperte leise seine Rüstung. Aufmerksam sah er sich um, doch unter der Müdigkeit, die in seinem Gesicht lag, konnte sie deutliche Sorge erkennen. Er musste nichts sagen, denn sie konnte es an ihm lesen und die Erkenntnis schmeckte so bitter, dass sie für einen Moment den Kopf senkte.

„Wann?“

„Vor wenigen Minuten.“ antwortete er auf ihre leise Frage. „Die Wucht hat einen weiteren Patienten getötet und zwei Heiler wurden schwer verletzt. Deinen Leuten und Jason geht es gut.“ Sie biss sich auf die Lippe und schmeckte die süße Creme, die sie sich regelmäßig auftrug und schuld war an der starken roten Färbung. Eher unbewusst fuhr sie fort die restlichen Stücke des magischen Kerns aufzusammeln, dabei spürte sie seinen Blick auf sich.

„Wie können wir solche Vorfälle verhindern?“ war seine nächste Frage. Sie wusste das die einfache, aber beste Lösung wäre die Angriffe zu stoppen, doch bis es soweit war, mussten sie sich Schützen. Irgendwie. Doch das war ein Problem, denn keiner hatte diese plötzlichen Veränderungen und Gefahren erkannt oder gespürt. Jason hatte Recht gehabt, das sie vermutlich nicht feinfühlig genug war.

„Wir brauchen jemanden.“ begann sie, während ihre Gedanken sich drehten. „Jemand der erkennen kann, wenn sich etwas verändert und gezielt vorwarnt. Egal ob diese Person es spürt, hört oder sieht.“ Aber diese Fähigkeiten waren in den letzten Generationen seltener geworden und auf der schnelle fiel ihr niemanden ein, der ihr helfen konnte. Firenze trat neben ihr, als sie sich erhob. Den Stoff wickelte sie dabei fest zusammen und verknotete die Enden.

„Das wäre ein Ansatz.“ Sie nickte auf seine Worte. „Ich denke ich weiß, woher wir so jemanden bekommen. Aber als erstes wird die erste Maßnahme sein die Toten und Verletzten aus dem Moor immer zur ersten Priorität zu machen.“

„Wer ist diese Person?“ Er schenkte ihr ein kleines freudloses Lächeln, bevor er nur kurz antwortete.

„Entfernter Verwandter. Außerdem bin ich mir nicht gerade sicher, ob er schon alt genug ist.“ Und damit war alles gesagt, was sie wissen musste. Hauptmann Firenze trug zwar den Nachnamen Braose, jedoch war das Thema Familie für ihn schwer. In letzter Zeit sogar noch mehr. Seine sanfte Berührung an ihrer Schulter erwiderte sie, indem sie ihre Hand auf seine legte. Der strenge Blick in seinen Augen war gewichen und wieder fiel ihr auf, das unter seinen Augen tiefe Schatten lagen. Sie musste ihn dazu bringen, sich zwischen seinen Diensten mehr auszuruhen und weniger seinen Schutzbefohlenen zu hüten, als wären sie seine Kinder.

„Dir geht es gut, Nevestika?“

„Ja. Ich war nicht hier, als der Kern explodierte, sondern draußen.“

Ihn konnten diese Worte kaum beruhigen, denn zwischen den Zeilen lag die Gewissheit, dass es beim nächsten Mal anders sein konnte. Delmare war der Einzige von ihren Mitarbeitern, der Schilde erzeugen konnte, daher war es eine gute Investition, wenn sie weitere mit diesen Gaben heranzog. Allerdings nahm niemand gerne eine Tätigkeit zwischen den Toten an.

„Wenn du etwas brauchst, frag mich ruhig. Dein Cousin würde dir auch jegliche Hilfe zusichern.“ Normalerweise würde sie so eine Aussage ärgern, da sie eine unabhängige Frau war, die niemand brauchte, der ihr Händchen hielt, vor allen bei ihrer Berufung. Aber sie nahm Unterstützung an, wenn diese ihr geboten wurde, denn hier ging es nicht um sie oder ihren Stolz, sondern um die Sicherheit ihrer Kollegen. Allerdings konnte sie jetzt Jasons Gefühle etwas nachvollziehen. Graham hatte als General jetzt schon genug Sorgen und Aufgaben zu erfüllen, sie wollte ihm ungern noch weitere geben.

„Sir, ich habe die Bitte niemanden in diesen Raum zu lassen“ Anubias Stimme war Warnung genug und durchbrach die aufgekommenen Stille.

„Geh mir aus dem Weg, Mädchen.“ war eine harsche Erwiderung.

Firenze ließ wie automatisch seine Hand sinken, trat von ihr zurück und nahm seine gerade Haltung an, die geradezu nach Soldaten schrie. Keinen Augenblick später trat der Neuankömmling den Raum ungeachtet des Zustandes. Er ließ Nevestika auch nicht zu Wort kommen, dabei lag ihr eine Rüge auf der Zunge. Niemand sprach so mit ihrer Schülerin, selbst der Hauptmann der Stadtwache nicht.

„Wer ist schuld an dieser Katastrophe?“ spuckte Teagan Braose aus. „Und warum wurde ich nicht augenblicklich informiert?“ Seine laute Stimme wurden von den Wänden zurückgeworfen, während er sie von Kopf bis Fuß musterte im wortlosen Versuch sie kleiner zu machen. Sie war jedoch eine Frau, deren Stand sie schon viel zu oft solchen Verhalten ihr gegenüber ausgesetzt hatte, weswegen sie sich aufrichtete. Durch ihre Absätze war sie nicht nur größer, sondern wirkte auch erhabener, doch der Vorteil war, das sie ihm mit einem gezielten Kopfstoß die Nase brechen konnte. Laut Beschreibungen ihrer Geschwister und anderen Verwandte hatte sie da einen Dickschädel, den zeigte sie in dem sie sich zur Ruhe zwang.

„Guten Abend, Hauptmann.“ grüßte sie gelassen, obwohl sie diese eigentlich nicht hatte. Innerlich war sie unzufrieden und wütend. Ihr Vater hatte ihr jedoch schon immer beigebracht das sie mit diesen beiden Dingen nicht zum Ziel kam. Eine Ruhe und Gelassenheit waren da bessere Werkzeuge, auch um überlegend zu wirken. „Warum Ihr Bote Sie nicht früher informiert hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Die Schuldfrage jedoch liegt hier in meiner Hand.“ Sie hob das Tuch hoch, das sie zum Säckchen geformt hatte. Blut hatte den hellen Stoff schon an einer Stelle durchtränkt und eine Blume daraus gezaubert. „Eine unkontrollierte Entladung hat eine Explosion verursacht. Es gab keine Warnung.“

Er schnaubte.

„Ohne Warnung also.“ bemerkte er und klang fast spöttisch. Sie zählte in Gedanken bis drei, denn sein unausgesprochener Vorwurf war nicht zu überhören. Ihr Nicken tat im Nacken weh.

„Ja, das habe ich gerade erklärt. Doch das ist nicht der einzige Vorfall dieser Art.“

Firenze machte sich bemerkbar, indem er das Wort ergriff und in nüchterner Weise sprach.

„Fast zu selben Zeit geschah eine solche Entladung bei den Heilern. Die Situation ist unter Kontrolle.“ Er ließ den anderen Soldaten nicht zu Wort kommen. „Wenn ich richtig in der Annahme liegen waren deine Männer dort im Dienst.“ Der Hauptmann der Königlichen Armee täuschte sich nicht und auch Teagan bemerkte er, dass er mit seinem Verhalten bei dieser Diskussion in einer schlechteren Position stand. Ihm fiel aber nicht auf, worauf genau er stand. „Du stehst auf ein Stück Darm, Bruder.“

Während Firenze keine Miene verzog, als er das sagte, konnte Nevestika sich ein Grinsen nicht verkneifen. Zu ihrer Schadensfreude trat der andere Soldat in noch mehr Leichenteile im Versuch sich angewidert davon zu befreien. Den Blick ihres Verlobten erhaschte sie trotzdem und in diesem lag Bedauern, aber auch eine Entschuldigung, die auch sie ihm gegenüber empfand. Sie wussten beide, dass der heutige Tag sich noch Stunden ziehen würde. Jeder Plan, den sie für heute gemacht hatte mussten verschoben werden auf unbestimmter Zeit, denn ein ruhiger Abend tauchte nicht so oft auf, wie sie es sich wünschte. Ärgerlich war nur das Melisandre ihr extra eine Flasche Wein aus Seerosenblätter geschickt hatte, exklusiv aus dem königlichen Garten und über Jahre gezüchtet. Es war ein Geschenk gewesen, um damit über die verlegte Hochzeit hinweg zu trösten.

Firenze wusste noch nicht von diesem edlen Tropfen und sie spürte die Wehmut in ihrer Brust, wie sie leicht auf ihr Herz drückte. Alles, was ihr bedeutete scheiterte auf der einen oder anderen Art, sie hatte nur Glück, das sie dabei nicht alles verlor.

Nicht so wie Graham, denn ihm war nur eins geblieben:

Die Seerosen.

Kapitel 4: Stumme Worte und lautes Schweigen

Wenn du weiter so schaust, könnte man fast annehmen, dass der Tod deines Onkels dich wirklich erschüttert hat.“

Ray hob bei diesen Worten, die an ihn gerichtet waren, den Blick und hörte für einen Moment auf mit der brennenden Kerze in seinen Händen zu spielen. Er hatte begonnen Dellen in das weiche Wachs nahe der Flamme zu drücken, nur um diese dann wieder glatt zu streichen. Sheila hingegen erfüllte ihre Aufgabe und entzündete die letzten Kerzen, die auf polierte Ständer überall an den Wänden hingen. Die Halterungen gaben leichte Geräusche von sich, wenn man diese berührte und klangen wie, das schmerzerfüllte Stöhnen eines Sterbenden. Durch die vielen kleinen Feuer wurde der Raum, zusätzlich zum Großen an der hohen Decke, in einem sanften und tanzenden Licht getaucht, das erfolgreich das Grau von draußen vertrieb. Passend, wie aus einer Geschichte, war der Himmel heute verhangen von dicken, schweren Wolken. Aus einen der vielen Nebenzimmer erklang ein Geigenspiel, das theoretisch zur warmen Atmosphäre beitrug. Bern ging noch einmal die gewünschten Musikstücke für die Trauerfeier von Berrat Falham durch, die bald begann, obwohl es nicht nötig war. Beides. Der ältere Lehrling besaß für die Musik ein Händchen der Perfektion und Ray bevorzugte Stille bei solchen Angelegenheiten, weil das einiges verkürzte. Kein Fremder wollte gerne den Toten lauschen, wenn sie einen Verstorbenen verabschiedeten, egal in welchen staubigen Zustand sich dieser auch befand.

Sheila und Ray waren die einzigen in dem großen Saal, der immer für Feierlichkeiten genutzt wurde. Selbst Tiffa war verschwunden, nachdem Louisan Arbos sie aus der Feuerschale verscheucht hatte. Dabei war eine scheinbar brennende Katze, doch eine interessante Dekoration und würde so manchen Trauernden in Panik versetzten. Es war schließlich nicht gut sich tief in seinen Gefühlen zu verheddern und darin zu ertrinken.

Er verzog das Gesicht, ungesehen von der anderen Schülerin, da er sich bemühte immer abgewandt zu ihr zu stehen.

„Ich trauere. Spürst du nicht meinen tiefen Schmerz?“ Sheila schüttelte den Kopf und die Perlen, die sie in ihren Haaren geflochten hatte, klimperten leise gegeneinander, was ihn an ein Skelett erinnerte. Eins das zu Boden fiel und in Kleinigkeiten zersprang, da die Knochen so hohl waren wie sein Sarkasmus. Er gab sich noch nicht einmal die Mühe auch nur so zu tun als wäre er ergriffen, während Desinteresse und Langeweile seine Stimme einen eindeutigen Unterton gaben. Ray wollte nicht hier sein und auch später nicht.

„Du wirkst eher, als hättest du Beschwerden mit der Verdauung.“ kommentierte sie und nahm ihm die Kerze ab, weil er unbewusst damit begonnen hatte diese zu verbiegen, vielleicht auch zu zerbrechen. Dabei berührten sich ihre Hände nicht, trotzdem kam sie ihm viel zu nah. „Und ich könnte es sogar nachvollziehen, immerhin bist du für die schlechte Laune von Meister Arbos verantwortlich. Ist der Unterricht bei der Magiergilde wirklich so schlimm?“ fuhr sie fort. Ihre Stiefel hinterließen leise Geräusche auf dem Steinboden, während sie weiter die Kerzen entzündete. Eine nach der anderen und er überlegte sich, diese wieder zu löschen. Daher antwortete er erst nach mehreren Augenblicken.

„Es ist sogar noch schlimmer.“ Sein Blick huschte durch den Saal auf der Suche nach einer Beschäftigung, denn er spürte das wachsende Unbehagen, welches er zum Glück bis jetzt niederringen konnte. Doch schon bald würde es ihn erwürgen und allein an die Gilde der Magier zu denken, förderte es.

Seit knapp zwei Wochen wurde er regelmäßig gezwungen in das Silberviertel zu gehen, die viel zu pompösen Gebäude der Hochnäsigen zu betreten und sich von zwei Fremden belästigen zu lassen. Alles unter der Tarnung von Lehrstunden, die mehr als sinnlos waren. So wie er auch die Namen seiner Lehrer aus Prinzip nicht als wichtig genug erachtete, um sie sich zu merken. Daher nannte er sie in Gedanken, und auch ab und zu laut, nach ihren Attributen: Madam Arrogant und Lord Unfähig. Die beiden wollten auch nach mehrere Stunden Ray nicht verstehen, sondern versuchten ihn in ihr System zu pressen, ohne zuzuhören. Die einzige Reaktion, die von ihm daher nur kommen konnte, war eine Präsentation von Unlust und Unwille, gewürzt mit Sturheit. Ein Fortschritt gab es nicht, aber seine Motivation war nach der letzten Stunde geweckt. Madam Arrogant hatte behauptet, dass die Gilde an noch keiner einzigen Person gescheitert war. Jetzt war es an Ray diese Aussage fachmännisch, wenn nicht sogar wissenschaftlich zu widerlegen.

„Nimm zwei Personen die ihre Stimme viel zu gerne hören und über Dinge sprechen, von denen sie keine Ahnung aber viel zu viel Meinung haben.“ War seine Zusammenfassung und wieder hörte er die Perlen leise klimpern. Manche waren aus Holz, andere aus Glas und eine ähnelte ein kaputtes Glöckchen. Sie gaben Sheila mehr Aufmerksamkeit, denn sonst war sie eine unauffällige Person und das machte sie gefährlich, für jeden der nicht fähig war richtig hinzusehen. Durch seine Augen war sie Interessant, weil ihr magischer Kern und seine Bahnen so ausgeprägt waren, das sie sich nur über den Hals bis zu ihrem Mund zogen. Es sah aus, als hätte sie großzügig mit Traubensaft gekleckert, denn in einer ähnlichen dunkelroten Farbe sah er das Licht.

„Hast du es deinen Lehrer es so gesagt?“ Eigentlich musste er nicht auf diese Frage antworten, denn diese stand klar und deutlich im Raum. Ja, das hatte er, mehrfach und in verschiedenen Varianten. Sheila seufzte. „Dann ist es nicht verwunderlich, das unser Meister nicht begeistert ist. Trotz seiner Abneigung zur Magiergilde.“

Das stimmte. Meister Arbos sah das alles anders als Ray und war wenig erfreut gewesen über die Berichte, die ihn gestern Abend erreicht hatten. Selbst über die Bemerkung, das nicht für jede Unterrichtseinheit eine Beschwerde beilag, gab es noch nicht einmal ein Schmunzeln. Stattdessen hatte der alte Mann nur über seine Brille geschaut und einen Vortrag über Kooperation und Pflicht begonnen. Zum Glück war das Auftauchen eines Boten vom Obersten Rates eine gute Unterbrechung gewesen, denn sonst wäre es irgendwann laut und somit viel zu ernst geworden. Auf beiden Seiten. Ray hatte diese Chance genutzt um zu flüchten und hatte über die schlechte Laune seines Vorgesetzten nur gehört, denn alle vollwertigen Mitglieder der Katakomben waren seit den Morgenstunden in eine Besprechung. Die gab es von Zeit zur Zeit und er hielt sich nicht für wichtig genug ein Gesprächsthema zu sein.

„Der alte Mann hat sich nachher wieder beruhigt.“ erklärte er daher und war sich sogar sicher, das es außer einen weiteren Vortrag keine Konsequenzen für ihn geben würde. Sheila hingegen schien es anders zu sehen, denn sie summte mitfühlend. Das tat sie auch, weil er sie nicht ansah. Jemand der ihn ein Stück weit kannte, wusste das es Zeiten gab in denen er durch seine Fähigkeiten keine Gesichter wahrnehmen und erst recht nicht lesen konnte. Der darauf Rücksicht nahm, drückte sich und seine möglichen Gefühle mit Worten oder Geräuschen aus.

„Muss du noch länger zu den Magiern?“ War ihre Frage, als die letzte Kerze brannte. Der leichte Duft nach Rosen hing im Raum, doch es standen nirgendwo Blumen im Gebetshaus. Er zuckte mit den Schultern, denn niemand hatte bis jetzt wirklich mit ihm über seine neue Situation gesprochen gehabt. Alles was er wusste war, das er zur Gilde musste, um Kontrolle über seine Begebenheiten zu bekommen. Ein Aspekt der ihn misstrauisch machte, denn Meister Arbos war selber eine Magier und kannte Ray, wie auch seine Eigenschaften. Es würde das Ganze wesentlich einfacher machen wenn dieser den Unterricht übernahm und vor allen Zeit sparen, denn dem alten Mann hörte er ab und zu tatsächlich zu.

„Wenn ich mich bemühe, dann nicht.“ Da war er sich sogar sicher, denn eine lupenreine Statistik zu zerstören machte ihm ungewöhnlich viel Freude. Außerdem zeigte es, das er zielstrebig sein konnte.

„Ich glaube nicht, das du diesmal so da raus kommst.“

„Du bist doch auch mit deiner Kräuteraktion davon gekommen und da waren andere Menschen beteiligt gewesen.“

Sheila drehte sich zu ihm um, während er die Wand ansah, an denen jemand zwischen den Kerzen Gemälde gehängt hatte. Sie zeigten viele Szenen aus dem Glauben und waren dementsprechend stetig bestückt mit Flammensymbolen und Lichtern.

„Der Unterschied ist.“ begann sie. „Das ich mir bewusst bin, was ich genau tue und dementsprechend alles planen kann, wie unter anderem glaubwürdige Ausreden und Entschuldigungen. Etwas was man von dir nicht behaupten kann.“

„Ich weiß sehr wohl was ich tu!“ entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust. Immerhin ging er nicht ohne Gedanken durch die Weltgeschichte, sondern hatte sich einen Plan gemacht:

Er vermied die Menschen aktiv, nicht nur passiv und das ging erstaunlich gut. Und wenn er um eine Kommunikation nicht herum kam, dann sah er seinen Gesprächspartner einfach nicht an. Wie auch Sheila, zu der er sich heute kein Mal zugewandt hatte und auf keine Probleme gestoßen war. Die einzigen die daraus Schwierigkeiten machten waren Meister Arbos und Madam Callum, dabei hatte er nicht um diese Situation gebeten. Doch seine Beschwerden traf auf taube Ohren und das es nicht gut war, seine Vorgesetzten zu sagen, das ab einem bestimmten Alter die Hörkraft rapide abnahm, wusste er jetzt auch. Er stand hier im Gebetshaus mit seiner Alltagskleidung und nicht mit seiner Arbeitsuniform, obwohl sich beide farblich nicht viel nahmen. Nur die Wappen an seiner Brust fehlten, denn er war gezwungen der Trauerfeier als Gast beizuwohnen, anstatt sich in den Tiefen des Steins und Schatten verstecken zu können.

„Und woher willst du es eigentlich so genau wissen was mir bewusst ist und nicht?“ fügte er hinzu.

Sheila huschte plötzlich vor ihm und nahm eine herausfordernde Haltung ein. Ihr Gesicht war ein Gemisch aus Farben und war verschwommen, so als würde er durch beschlagenen Glasscheibe blicken die Sprünge hatte. Nur zwei blaue Flecken verrieten wo ihre Augen waren, während ihr Licht dominant ihr Kinn und Hals umschlossen wie eine Hand. Es könnte auch Kirschen sein und keine Trauben, dachte er und zuckte zusammen, als kalte Finger seine kurz umschlossen. So schnell wie sie vor ihm erschienen war trat sie auch wieder aus seinem Blickfeld, nachdem sie ihn losgelassen hatte. Ihr wissendes Summen machte ihn aber nicht so wütend, wie sein eigenes Verhalten. Keine drei Augenblicke hatte es gedauert, da hatte er es schon wieder getan und es kaum wahrgenommen. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handinnenflächen als er die Fäuste ballte und grob in die Jackentaschen stopfte, doch überdecken das er die Hand nach ihr ausgestreckt hatte konnte er nicht mehr.

„Dir ist es nicht bewusst und das macht es so gefährlich. Für dich, aber auch für andere.“ Erklärte sie, während ihre Perlen munter eine Melodie von sich gaben, dabei folgten sie nur einem Dirigenten und das war ihr schwingendes Haar. „Außerdem ist es zwischen dem Stein nicht zu überhören, vor allen wenn man vor einer Holztür steht.“ Also wusste Bern vermutlich auch schon Bescheid, denn wenn es um Geheimnisse ging waren der ältere Schüler und Sheila ein Herz und eine Seele.

„Ich habe mich nur vor dein Antlitz erschreckt.“ Ray wäre nicht er, wenn er nicht widersprechen würde. Noch war er nicht bereit irgendwas zuzugeben oder irgendwen zuzustimmen. „Außerdem, seid wann interessiert du dich für andere?“

„Neue Experimente. Ich habe gelesen, das du anders auf bestimmte Kräuter reagieren könntest.“

„Niemals werde ich dir irgendwas erlauben und als Versuchshase bereit stehen.“

„Ich weiß.“ erklärte sie und er beschloss sein Essen und Trinken in den nächsten Wochen und Monaten keinen Augenblick aus den Augen zu lassen. Außerdem würde er alles ablehnen, was sie ihm anbieten würde. Er kannte sie immerhin soweit, das er wusste das sie vor kaum etwas zurückschreckte, aber sie war ihm lieber, als andere Menschen in seiner Umgebung. Allen voran seiner Familie. Diese hatte es sich jedoch zur Aufgabe gemacht ihn zu belästigen, indem sie ihm zu viel Aufmerksamkeit gab, auch außerhalb den Familienessen, die sich häuften. Das er seine Mutter bei den Heilern traf, war nicht ungewöhnlich wegen ihrer langjährigen Krankheit. Das sie begleitet wurde von einem anderen Verwandten und sie Ray zwang mehr als nur einsilbige Antworten bei ihren Begegnungen heraus zu bringen, allerdings schon. Es war ihm unangenehm und er wusste vor allen nicht wie er damit umgehen sollte. Die Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter war schon immer schwieriger gewesen, noch bevor er in die Katakomben gekommen war. Als kleiner Junge hatte er nicht nach dem Grund gefragt, weil er es nicht verstanden hatte, das sie ihn anders behandelte und jetzt war es ihm einfach egal. Er nahm es hin und so war es auch gut, weil er sich nicht damit beschäftigen musste. Es gab einfach Unterschiede, in allen Bereichen.

Das Geigenspiel verklang dramatisch im Nebenraum, Sheila hingegen begann zu summen, als sie ein letztes Mal den Saal durchquerte um alles zu kontrollieren. Er wusste nicht ob dahinter Ernsthaftigkeit lag oder sie nur einen Grund suchte hier zu verweilen. Er hingegen stand mitten im Raum und hatte nichts zu tun, denn ihm war angewiesen hier zu warten. Warum, konnte er nur spekulieren, aber alles in allem stimmte ihn jede mögliche Begründung unzufrieden. So unzufrieden, das er versuchte in Gedanken Tiffa zu beschwören, um sie als Beschäftigung und auch Entschuldigung zu gebrauchen. Eine Katze jemanden vor die Nase zu halten war, das wusste er aus Erfahrung, nicht nur eine gute Ablenkung, sondern auch ein interessantes Argument das viele Interpretationsmöglichkeiten besaß. Leider funktionierte seine Beschwörung nicht. Er hatte in so kurzer Zeit neue Fähigkeiten bekommen, das er jetzt ehrlich enttäuscht war das ihm so etwas verwehrt blieb. Wäre er der Held irgendeiner Geschichte, wäre jetzt ein guter Augenblick, um noch mehr Besonderheiten zu präsentieren, die ihn so individuell machten, das er den Schriftzug 'Zentrum der Welt' auf die Stirn geschrieben bekam. Ekelhaft und absolut langweilig. Die Welt konnte jemand anderes retten, der so dumm war sich auf diesen Unsinn einzulassen. Ray würde dabei nur teilnahmslos zusehen und sich am anderen Tag wie gewohnt in seine Katakomben zurückzuziehen, um dem allen aus dem Weg zu gehen.

„Irgendwie habe ich Mitleid mit dir, Ray.“

„Weil ich von deiner Anwesenheit belästigt werde?“

„Nein.“ bemerkte Sheila. Sie war wieder näher gekommen und mittlerweile war er mehr als skeptisch, denn sie verhielt sich in seinen Augen untypisch. Was wollte sie von ihm und was machte sie überhaupt noch hier? Jedes Mitglied aus den Katakomben pflegte eine interessante Zuneigung zum schwarzen Stein, in das sie alle Tag für Tag für Stunden verschwanden. Es wurde ihnen nicht in die Wiege gelegt oder ruhte in ihrem Blut, sondern sie lernten die Ruhe und Geborgenheit einfach schon in jungen Jahren zu schätzen. Ebenso, das sie ihre Gedanken ungehindert entfalten konnten. Bern dachte an Musik, Sheila an ihre Experimente und er selber an...andere Dinge.

„Du wolltest mir noch mitteile, warum du Mitleid hast.“

„Ich dachte du wolltest weiter raten.“ Doch die andere Schülerin fuhr fort, denn anscheinend bemerkte sie das er absolut keine Lust hatte sich auf ihre Spielchen einzulassen. Sie waren auch meistens langweilig, wenn man mehr im Kopf hatte als nur heiße Luft. „Du bist all die Jahre bemüht niemanden in deine Nähe zu lassen und jetzt sucht ein Teil von dir genau das. Muss sich ja schrecklich anführen Sklave seiner eigenen Begabung zu sein.“

„Eher muss ich dich bemitleiden.“ stieß er aus, was ihr ein Lachen entlockte. Es war hell und passte eher zu einem braven Mädchen, als zu Sheila. Ihre Experimente hatte noch niemanden getötet. Bis jetzt. „Immerhin muss du dein ganzes Leben mit deiner eigenen Person auskommen.“

„Armer Ray. Du bist nicht so gerissen und wortgewandt wie du denkst.“ Diese Worte flötete sie, doch er nahm trotzdem ihre Schritte wahr. So konnte er den Abstand zwischen ihnen vergrößern, den sie verkleinerte. Ab einen Punkt ging sie so weit, andere ihre körperliche Nähe aufzuzwingen ohne zu berühren. Alles was sie dazu brauchte war die Perlen in ihrem Haar und ihre Stimme. „Und du bist ein großer Feigling.“ fügte sie hinzu, denn sie jagte ihn ein bisschen durch den Saal. Hin und her. Da war er ein wenig dankbar, als sich eine Tür öffnete und jemand sprach. Es war allerdings nicht Bern, wie erwartet.

„Sheila, es reicht.“ Sowohl die Angesprochene, als auch Ray blieben stehen wo sie waren bei diesem Ton, denn Louisan Arbos nutzte. Die ältere Frau hatte viele Kinder großgezogen, sowohl eigene, als auch sämtliche Lehrlinge, die ganz jung in die Katakomben gekommen waren, daher brauchte sie nur einen Herzschlag um Situationen zu erfassen und Streits zu unterbrechen. Mahnungen und Androhungen konnte sie so gezielt aussprechen, das man ihnen automatisch folge leistete. Ob man wollte oder nicht. „Geh doch bitte nach draußen und kontrolliere die Wege, bevor die Gäste eintreffen.“

„Ja, Ma'am.“ Schnelle Schritte entfernten sich und aus dem Nebenraum erklang wieder die Geige. Bern wagte es also nicht zu lauschen.

„Komm mit, Ray.“ wurde er aufgefordert. Ruhiger und liebevoller, also stand ihm etwas bevor, was ihm nicht gefallen würde. Das konnte vieles sein, denn seine Liste der Dinge die er nicht mochte war sehr lang und wuchs von Tag zu Tag. Er hasste Lebkuchen, Menschenversammlungen, Schnee, Marktschreier, Warterei, Stadtfeste, Vogelgesang, inhaltslose Konversation aus falscher Höflichkeit...

„Sofort“

„Ich war noch nicht fertig mit meiner gedanklichen Aufzählung.“ murrte er eher zu sich selber, folgte jedoch der Ehefrau von Meister Arbos durch die schmale Tür, die in einen der kleineren Räume führte. Dabei war sein Blick fest auf den Boden gerichtet und beim gehen zählte er die Fliesen und Fugen, die alle gleich aussahen. Abwechslung gab es hier nicht und das war gut so, denn diese brauchte niemand vor allen nicht beim Bodenbelag. Louisan Schritte verstummte und sie setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle vor einem Tisch, die im Raum standen. Holzfüße schabten leicht über den Boden. Er ließ sich einfach auf den zweiten neben ihr Fallen und zog fast augenblicklich ein Bein an. Das tat er häufiger, so wie er auch die mahnenden Blicke seines Meisters ignorierte, die er noch nicht einmal sehen musste um sie auf sich zu spüren. Stattdessen sah er sich um, so als würde er alles zum ersten Mal in seine Leben sehen.

Am großen Saal des Gebetshauses hingen weitere Zimmer mit unterschiedlichen Funktionen und Einrichtungen. Farblich gehörten sie jedoch zueinander, um das symmetrische Bild der Einheitlichkeit nicht zu stören. Dieser Raum war einer der Leseräume, in denen sowohl unterrichtet wurde, als auch gemeinsame Abende verbracht. Vor dem Kamin ohne Feuer standen zwei gemütliche Sessel, während die Wände mit hohen Regalen umsäumt war, die jeden durch ihre alleine Anwesenheit erdrückten. In der Mitte jedoch verweilte ein großer Schreibtisch, der überfüllt war mit Bücher und Bücher, weil sich niemand die Mühe machte diese wegzuräumen. Und hinter genau diesen saß der alte Mann. Das sie nur zu dritt hier waren, war nicht verwunderlich, denn es führten drei Türen in andere Zimmer und Räumlichkeiten. Die Versammlung war also beendet wurden und jeder ging wieder seinem Tageswerk nach, außer Ray. Er wäre jetzt wirklich lieber unten bei den Toten, um diese für die letzte Reise vorzubereiten, anstatt zu warten was sich anfühlte wie sein Urteil, egal was kommen würde.

„Du weiß, das ich enttäuscht bin von dir.“ begann Meister Arbos und durchbrach die Stille. „Ich habe nicht erwartet das du Freudensprünge machst und Ehrgeiz entwickelst, aber dein Verhalten ist unnötig.“

Ray stützte sein Kinn auf das Knie und drehte den Kopf in Richtung Schreibtisch, doch er sah seinen Lehrer nicht an, sondern an ihm vorbei. Im Regal das dort stand, waren Bücher über die Regionen vom Königreich Eldur und seine Fauna und Flora einsortiert. Weder nach Größe, noch nach einer ersichtlichen Reihenfolge geordnet, denn der Band 1 über die Weißklauenödnis stand neben dem siebten Band des Bluttals, dazwischen hatte sich ein Buch über Weine verirrt.

„Ich verlange nicht viel von dir, aber ein wenig Kooperation muss du zeigen. Das hier ist eine ernste Angelegenheit, die wir nicht einfach unter dem Teppich kehren können.“

„Ist sie das?“ Unterbrach er die Predigt, die genau da aufgehört hatte wo sie gestern unterbrochen wurden war. Ray hörte das leise Seufzen, in dem eine Spur Genervtheit schwang.

„Natürlich ist sie das. Ich habe es dir schon erklärt und du bist schlau genug, um es auch zu erkennen. Warum schüttelst du jetzt den Kopf?“

Er wagt bei dieser Frage einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu Meister Arbos, der ihn über die schmale Brille hinweg fixierte. Skeptisch, aber auch leicht verwundert über diese deutliche Reaktion seines Schülers.

„Weil sie mir nicht erklärt haben warum ich zu den Magiern muss. Zu Personen die noch nicht einmal sich die Mühe machen mir zu zuhören.“ Ray wusste das er trotzig klang, doch es war auch sein gutes Recht. „Und jetzt sagen Sie nicht wegen “Kontrolle über meine Fähigkeiten“. Sie sind immerhin auch ein Magier und es würde alle leichter machen, wenn Sie mich unterrichten.“

„So einfach ist das nicht, Ray.“ ergriff Louisan das Wort, während ihr Ehemann keine Anstalt machte zu antworten, sondern die Brille abnahm, um die Gläser am Ärmel zu putzen.

„Doch eigentlich schon.“

Die Hand der älteren Frau legte sich, ohne ihn zu berühren, auf Rays Schulter. Er spürte ihre Wärme durch den Stoff seiner Jacke, die ihm etwas zu groß war. Madam Callum hatte sie ihm letztes Jahr gegeben, weil ihr Sohn herausgewachsen war und sie aussortiert hatte. Sie war schwarz wie alle seine Kleidungsstücke, besaß eine Kapuze und große Taschen, in denen er alle Dinge stecken konnte die er braucht. Seine Handschuhe zum Beispiel.

„Wir können dich und deine Fähigkeiten nicht ausbilden, nicht so wie es von Nöten ist.“ Louisan fuhr fort, so als hätte er sie nicht unterbrochen. Das tat er häufiger und mittlerweile war er zu alt und zu stur, um es ihm noch umzuerziehen. Versuche wurden trotzdem unternommen, allen voran von seiner Großmutter. „Die Magiergilde hat ihre Programme erweitert und ist in der Lage individuell auf Personen mit besonderen Begabungen einzugehen. Auf Personen wie dir.“

Das machte die Gilde der Hochnäsigen jedoch nicht besonders gut, wenn sie es noch nicht einmal schafften sein Interesse und seiner Kooperation zu wecken. Ray verschränkte die Arme vor der Brust, denn diese Erklärung wollte er so nicht akzeptieren. Immerhin hatte Meister Arbos ihn schon ausgebildet, auch wenn man bei passiven Fähigkeiten beigebracht bekam diese auszuhalten, anstatt die zu kontrollieren.

„Aber es ist schon klar, das es nicht funktioniert.“ Er begann mit seinem Ärmel zu spielen. „Madam Arrogant und Lord Unfähig können mir nichts beibringen. Also ist es sinnlos mich zu zwingen.“

„Und daran liegt das Problem. An dir um genau zu sein.“

Ray sah auf, bei diesen strengen Worten vom alten Mann. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, das dessen Ehefrau die Stirn runzelte. Da herrschte wohl Uneinigkeit im Paradies.

„Hör auf dich aufzuführen, als würde man dich in eine Folterkammer führen und versuche wenigstens nur Ansatzweise dich auf den Unterricht einzulassen.“

Er schnaubte bei diesen Worten als Erwiderung, doch er ahnte, das sein Meister es diesmal ernst meinte. So ernst das er Ray tatsächlich in eine Folterkammer schleifen würde, sollte er es mit der Weigerung auf die Spitze treiben. Doch in diesem Spiel gab es drei Parteien und die Fehler lagen nicht bei ihm, sondern bei allen anderen. Und ein bisschen Schadensfreude empfand er schon, denn genau genommen war es ja die Schuld von Meister Arbos, das er jetzt ein Problem in seinem Schüler sah wo keins war. Es war Louisan die sprach und versuchte die Bogen zu glätten, die wie am vorherigen Abend wieder aufkamen.

„Wir werden einen Kompromiss finden.“ erklärte sie. „Die Magiergilde wird dich weiter ausbilden, Ray, aber wir werden das Gespräch suchen und diesen Unterricht mit gestalten. Immerhin kennen wir dich und deinen Eigenheiten.“ Sie klang diplomatisch, doch hinter ihren Worten lagen geschickte Drohungen, das sich jeder angesprochen fühlte. Auch er. Es war aber zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung und er würde sich, je nachdem wie dieser Kompromiss griff, vielleicht bereiterklären nicht ganz so abweisend zu reagieren. Und sein Ziel die lupenreine Statistik zu zerstören etwas zurück zu stellen. „Außerdem ist der eigentliche Grund, warum wir mit dir sprechen wollten ein anderer.“

Ein anderer Grund klang ganz nach einem Unheil und für einen Moment überlegte er, ob er etwas getan hatte, das eine weiterer Predigt wert war. Sein Meister konnte nicht wissen, das Ray sich die Unterlagen über den Tod seines Onkels durchgesehen hatte und auch über die anderen beiden Leichen. Zwar waren alle drei Körper und ihre magischen Kerne schon verbrannt, jedoch war Meister Arbos sehr ausführlich in seine Berichte, das man den Verstorbenen nicht sehen musste, um ihn vor Augen zu haben. Jegliche Besonderheit wie Narben und Verletzungen konnte man sich dadurch bildlich am Körper vorstellen oder in diesem Fall das fehlen von diesen.

„Und der Grund wäre?“ fragte er und unterschrieb gefühlt sein Urteil.

„Deine Ausbildungen, sowohl bei der Magier- und Heilergilde, wie auch in den Katakomben werden ab nächste Woche nicht mehr hier in Königsfeuer stattfinden.“

Ray blinzelte. Einmal. Zweimal. Normalerweise brauchte er nicht lange um Informationen zu verarbeiten, egal ob gesprochene oder geschriebene Worte. Außerdem hielt er sich für jemanden, dem kaum etwas die Sprache verschlagen konnte. Doch jetzt brauchte er zwei Herzschläge, um zu reagieren.

Mit einem Kopfschütteln und einem Wort.

„Was?“

Normalerweise folgte eine Belehrung das es „Wie bitte?“ hieß, doch diese blieb aus. Stattdessen ließ Lousian ihre Hand sinken und er spürte ihren Blick auf sich. Mitfühlend, denn sie fühlte sich für andere verantwortlich, vor allen für diejenigen die sie aufgezogen hatte.

„Es ist beschlossen, aber ich versichere dir, das...“

„Das ist doch völliger Mist.“ fuhr er ihr harsch dazwischen, so wie er den Fuß mit mehr Kraft als notwendig wieder auf den Boden stellte. Sie wollten ihn wegschicken, das war der einzige Satz den er aus den Worten der Frau verstand, die für ihn nur annähernd wie eine Großmutter gewesen war. Sie wollten ihn wegschicken! „Nichts ist beschlossen.“

„Ray, bitte...“

„Nichts bitte.“ Sein Blick glitt zwischen sein Meister und Louisan hin und her, ohne das er etwas greifen konnte oder wollte, während er zur gleichen Zeit nicht wusste was er genau fühlte. Gefühle und er waren sich nur an einem Punkt einig und zwar an dem, wo er entschied was er fühlen wollte. Jetzt gerade war er überrumpelt von dem was er spürte. Es war keine Wut, kein Zorn, keine Enttäuschung? Er schüttelte den Kopf. „Ihr schickt mich fort. Einfach so.“

„Ja.“ war es Meister Arbos der das Wort ergriff. „Das tun wir und wenn ich dein Verhalten ansehe, dann denke ich das es die richtige Entscheidung ist.“

„Sie sind jetzt völlig senil.“ Es war keine richtige Entscheidung, es war überhaupt keine, weil niemand ihn gefragt hat. Niemals wurde sich auch nur einmal erkundigt was er wollte oder was ihm wichtig war. Er hatte zuvor keine Probleme gehabt eine Abgabe zu sein, doch jetzt war es nur der Anfang einer langen Reihe von Dingen gewesen, wo ihm die Kontrolle entrissen wurde. Wie auch jetzt. „Mein Verhalten ist völlig normal, oder haben Sie erwartet das ich Ihnen vor Freude um den Hals falle aus Dankbarkeit?“ Ray schnaubte. „Oh danke, das Sie mich wegschicken und das ohne ein Wort der Warnung. Ich fühle mich völlig von Ihnen verstanden und wertgeschätzt, wie der Staub auf diesem Regalbrett.“ Er warf nach dieser sarkastischen Imitation die Hände in die Luft.

„Es reicht jetzt.“

„Nein, tut es nicht. Sie können mich nicht wegschicken und wenn das ihr Kompromiss ist, dann ist er beschissen.“ Er steigerte sich, immer und immer mehr ohne das er auch nur die Chance hatte sich aufzuhalten. Louisans Berührung war da sowohl ein Halt, als auch eine Bestätigung mehr das sie ihn nicht wollten.

„Der oberste Rat hat diesen Befehl ins Leben gerufen und du bist durch deine Fähigkeiten ein Teil der Pflichtkandidaten die an die Grenze gehen. Du und deine Gabe wirst dort gebraucht. Wir haben diesen Entschluss nicht freiwillig gefasst, noch haben wir eine Wahl.“

„Ihr seit aber auch nicht dagegen.“ Er entzog sich ihrer Hand und blickte hinab auf seine Finger. Sie waren trocken durch das ganze Waschen, denn es war notwendig sich häufig den Tod von den Händen zu entfernen. Und er wünschte sich jetzt nichts sehnlicher als in den Katakomben zu sein und sich die Gefühle fortzuschrubben. Sie wollten ihn wegschicken und keiner ihrer Ausreden würde es ändern oder sein Gemüt beruhigen. Daher tat er das einzige was er machen konnte. Ray flüchtete aus dem Raum. Das er dabei Sheila und Bern die Tür vor die Nase stieß war ihm so egal, wie die Rufe. Er solle zurück kommen und warten, es gäbe noch vieles zu erklären und er würde es missverstehen. Doch er blieb nicht stehen, sondern stürmte aus dem Gebetshaus, über den Friedhof und geradewegs zu dem Ort, den er immer aufsuchte, wenn er alleine sein wollte und seine Gedanken gefüllt waren mit einer Mantra.

Ihr könnt mich mal. Ihr und eure verdammten Entscheidungen.

Niemand war ihm gefolgt, wie auch, wenn sein Meister ein alter Mann war und die beiden anderen Lehrlingen vermutlich damit beschäftigt Entschuldigungen für das Lauschen vorzubringen. Es folgte ihm nie jemand, zumindest keine Person, aber Tiffa.

Die Katze tauchte wie aus dem Nichts im Schatten zwischen den Mauern auf und tapste lautlos auf ihn zu. Sein Rückzugsort war gerade so groß, das sich eine Person rein zwängen konnte und geschützt war vor neugierigen Blicken. Rechts neben ihm ruhte ein anonymer Soldat aus dem letzten Krieg und links eine Frau, dessen Geburts- und Todestag viel zu nah zusammen lagen. Es waren keine Körper, die dort lagen, sondern nur ihre Namen waren verewigt wurden auf verwitterten Steinen, die an der Stadtmauer lehnten. Verschiedene Gedenktafeln wurden aus unterschiedlichen Gründen von ihrem Platz genommen oder gar nicht erst dort aufgestellt, denn innerhalb des Friedhofes und auch den Katakomben war der Platz begrenzt. Zu alte und unbesuchte Trauerorte mussten denjenigen weichen, dessen Hinterbliebenen bereit waren auf die eine oder andere Weise zu gedenken. Manchmal einfach mit Geld. Außerdem mochten es einige Personen einfach nicht, wenn die Namen der bedeutenden toten Verwandten, neben ebenfalls tote Unbekannte standen. Den Verstorbenen interessierte es nicht, was nach dem Tot mit ihnen geschah, es waren immer die Lebenden die Probleme hervor gruben, wo es keine gab.

Tiffa maunzte und kletterte ungeschickt auf seine Beine, mit dem Ziel ihm ihren Kopf gegen seinen Bauch zu rammen, als niedliche Aufforderung sie zu streicheln. Er folgte diesem Befehl natürlich nicht, sie war immer noch eine Katzen, dafür hob er sie einfach auf die Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Fell. Dabei drückte er seine Nase an die einzige weiche Stelle in ihrem Nacken. Sie ließ es sich gefallen, denn seine Finger kraulten ihren Bauch und bald schon füllte ihr Schnurren die Spalte zwischen dem Stein.

Es tat mehr gut, als das er es jemals zugeben würde, auch wenn die ungeordneten Gefühle blieben.

„Es ist alles Scheiße.“ murmelte er mit geschlossenen Augen. Anders war seine Situation nicht zu beschreiben, nicht nur jetzt, sondern alles was in den letzten Wochen vorgefallen war. Er wollte das alles nicht, aber er wurde nicht gefragt, sondern immer und immer wieder übergangen. Da war es kein Wunder, das er so reagierte wie er es tat, es gab auch keine andere Möglichkeit. Doch er wusste auch im selben Atemzug, das er keine Wahl hatte als sich zu fügen, denn was sollte er auch anders tun. Und wo sollte er auch hin? Seine Familie war ein Begriff auf Papier, ein leeres Wort das sich zwischen ihm und seine Eltern spannte, während die Katakomben schon immer mehr gewesen waren, als der Ort seiner Lehre. Doch auch dieser war mehr Schein als Sein und Schuld hatten alle anderen, die versprochen hatten auf ihn aufzupassen.

„Ich bin noch nicht einmal wütend.“ fuhr er fort mit einem Tier zu sprechen, das außer seinen Grundbedürfnissen nicht viel im Sinn hatte. Das sie überhaupt bei ihm war, war auch nichts weiter als ein Zufall. „Oder enttäuscht. Ich entscheide mich einfach noch wie ich mich fühle.“

Tiffa maunzte und er nickte zustimmend.

„Natürlich ist Meister Arbos Schuld daran. Der alte Mann sitzt immerhin schon lange im obersten Rat. Er kann auch mal mehr tun, anstatt zu Schlafen oder Däumchen zu drehen.“ Helle Katzenaugen sahen ihn an und er erwiderte den Blick, auch wenn sich Tiffa anscheinend gerade das Genick brach. „Wenn er schon diesen Titel eines Meisters trägt, wird er wohl mehr Stimmen haben zwischen den ganzen anderen, die denken sie könnten einfach so Entscheidungen treffen.“

Ein erneutes Miauen. Zustimmend natürlich.

„Genau. Sie haben alle absolut keine Ahnung.“ Da waren sich Tiffa und er einer Meinung und sie waren Kompetent, um es zu wissen. Immerhin kannte niemand Ray besser als er sich selber. Denn niemand anders konnte durch seine Augen das Licht sehen, durch seine Ohren das Leben hören und mit seinem Körper das Verlangen nachvollziehen, das ihn antrieb andere zu berühren. Es klang nicht nur ekelhaft, es war es auch und das machte seine Situation nur noch schlimmer.

Doch er musste diese Worte aussprechen, damit andere auch nur davon erfuhren, denn sie waren blind und taub für alles was für ihn von Bedeutung war.

Wie sein Leben, das nur einer Richtung gefolgt und jetzt aufgebrochen wurden war, wie ein alter Schädel der zu Boden fiel.

Stück für Stück und das mit stummen Worten.

 

• • • •

 

Die Trauerfeier wurde mit Glockenklang beendet, so wie sie begonnen hatte. Ray war nicht zu ihr gegangen, sondern hatte beschlossen die Stunden zwischen dem Soldat und der jungen Frau in Gesellschaft von einer schlafenden Katze zu verbringen. In Ruhe und unentdeckt, doch sein Versteck war nicht völlig unbekannt, auch wenn nur wenige davon wussten und noch weniger außerhalb der Katakomben.

Das Zeichen der Stadtwache war das Erste, was er erkannte, als eine Person vor der Öffnung erschien und somit das graue Licht des Himmels verdeckte. Er erkannte sie, da musste der Neuankömmling sich noch nicht einmal hinabbeugen, um durch den Spalt zu schauen. Sein Cousin hatte ebenso dunkle Augen wie Ray, sahen sie sich im allgemeinen ähnlicher als zu anderen, näheren Familienmitglieder. Sowohl Meria, wie auch Payel und Amethyne kamen alle eher nach der Mutter, während bei ihm selber die charakteristischen Falham-Merkmale zu Tage gekommen waren. Es war Fluch und Segen zu gleich, in vielen Bereichen.

„Schlechter Tag?“ Eskil schenkte ihm ein kleines Lächeln, das schon immer auf ihn falsch gewirkt hatte, aber das war Ray gerade egal, denn sein Cousin besaß keinen ausgeprägten Kern. Das Licht, das dieser in der Brust trug war schwach und sang nicht so sehr, das er es leichter ignorieren konnte. „Du hast auf jeden Fall nichts auf der Trauerfeier verpasst.“ fuhr der andere fort, als keine Antwort oder Erwiderung kam. Dafür machte er Platz, als Ray aus seinem Rückzugsort herausgekrochen kam. Die schlafende Tiffa hatte er sich kurzerhand über die Schulter gelegt, bis sie fast von alleine in seine Kapuze rutschte. Ihr Gewicht zog den Stoff etwas nach hinten, so das sich der Kragen seiner Jacke um seinen Hals spannte. Doch auch das war ihm egal, als er sich neben Eskil aufrichtete. Dieser beobachtete ihn nicht dabei, sondern ließ seinen Blick über den Friedhof gleiten. Beim Gebetshaus standen noch einige Personen und selbst aus dieser Entfernung konnte Ray Kaylas rotes Haar erkennen, das zwischen all dem Grau gerade zu am leuchten war. Also erwiesen die Rekruten seinem Onkel die letzte Ehre, nur dumm das sich dieser davon nichts mehr kaufen konnte.

„Trauerfeier sind so wieso nie interessant, sondern überflüssig.“ sprach er eher zu sich, als zu seinem Cousin, der wortlos nickte. Das mochte er an Eskil. Dieser versuchte nie ihm seine Meinung durch sinnlose Worte abzustreiten und vor allen nicht zu übergehen. Es war ein Akzeptieren und weil es ihm entgegen gebracht wurde, gab er es auch zurück. Manchmal.

„Großmutter hat nach deiner Anwesenheit verlangt und angedroht dich auch mit Gewalt zu holen.“ Das erklärte alles und Ray wusste, das er sich auch hier wieder fügen musste. Einmal hatte er es herausgefordert und die Drohungen von Esmaria Falham ignoriert, was dazu geführt hatte das er wie ein Gefangener zu ihr getragen wurden war. Von vier Soldaten, als neunjähriger Junge. Seine Kapuze maunzte, doch Tiffa machte keine Anstalt hervor zu klettern.

„Okay.“ War daher alles was Ray erwiderte, was anderes gab es auch nicht zu sagen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu dem Anwesen ihrer Familie im Militärviertel. Eine Trauerfeier wurde immer in zwei Akten durchgeführt: Einmal der Part der „Beisetzung“ der mehr oder weniger öffentlich war und dann das familiäre Beisammensein, um den Verlust ohne Masken zu betrauern. Das es dabei eine Mahlzeit gab und es Leichenschmaus hieß war das einzig gute daran, weil es einfach Rays Humor war. Der Begriff allein bot viele Möglichkeiten der Interpretation und Kannibalismus war dabei sehr präsent.

Sie schwiegen beide auf den Weg und Ray ließ jeden Moment verstreichen den anderen über dessen Leben auszufragen. Er hatte kein Interesse und wusste auch einfach schon was er wissen musste. Das die Trauerfeier von Berrat Falham erst so spät angesetzt wurden war, lag nicht nur an den Umständen seines Todes, die einer Untersuchung bedurft hatte. Eskil, sein einziger Sohn, musste erst informiert werden, damit dieser überhaupt die Möglichkeit bekam sich zu verabschieden. Sowohl für die Nachricht, als auch die Anreise waren weitere Tage ins Land gezogen. Er war an der Grenze im Süden stationiert, dem Bluttal.

Ray sah den anderen aus dem Augenwinkel kurz an, sagte aber nichts. Eskil war der Zweite aus der Familie, der dorthin geschickte wurden war. Entweder passierte seinem Cousin nichts, oder dieser starb auch in ein paar Wochen oder Monate. Wenn Ray selber viel Unglück hatte, dann wäre er der Dritte, außer er hatte Pech und wurde in den Norden geschickt. Er hasste Kälte, Eis und Schnee.

Eskil bemerkte seinen Blick und fing ihn auf. Im Schatten der Gebäude wirkten seine Augen wie das schwarze Gestein der Katakomben. Dieses gewohnte in dem Gesicht einer Person, die ihm zwar nicht Fremd, aber auch nicht wirklich vertraut war, irritierte Ray.

„Du bist übrigens die einzige Person, die mir kein Beileid oder Mitgefühl ausgedrückt hat.“

„Ich weiß.“ erwiderte er seinem Cousin, was wieder dieses schmale Lächeln heraufbeschwörte. Er sollte so etwas nicht bei anderen können.

„Danke.“

„Das war unnötig.“ Ihm musste nicht für etwas gedankt werden, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Leider verstanden die meisten das Konzept der Trauer nicht und nahmen sich in dieser falschen Annahme das Recht die Stille zu durchbrechen. Niemand konnte mit einem Verlust abschließen, wenn er immer wieder daran erinnert wurde. Viele nutzten ihre leeren Worte sowieso nur dazu, um sich in den Mittelpunkt zu drängen und zu beweisen, das sie noch eine bedeutende Rolle im Konstrukt des Lebenstheater spielten. Andere wollten nur mit ihrer Anwesenheit zeigen, das sie noch lebten. Irgendwie.

„Für dich vielleicht, für andere nicht, wie unter anderem für mich.“

Tiffa maunzte und tauchte auf, dabei gruben sich ihre Krallen in seine Schulter als sie versuchte hervor zu klettern. Ihr Kopf stieß gegen seinen und er hatte kurz das Verlangen ihr Fauchen mit einem ähnlichen Geräusch zu erwidern. Stattdessen griff er ihr in den Nacken und hob sie hervor, nur um sie fallen zu lassen. Pikiert sah sie ihn mit ihren großen, schielenden Augen an, dabei war sie wie immer auf ihren Pfoten gelandet.

„Mir egal.“ erklärte er sowohl an Eskil gewandt, als auch zur Katze. Letzteres huschte in den Schatten der nahen Gebäude und verschwand über eine Mauer. So wie in den letzten Wochen würde er sie spätestens auf seinem Bett wiederfinden, ohne ein Anzeichen, wie sie in sein Zimmer gekommen war.

„Ihr seid seltsam.“

„Tiffa war dabei noch völlig normal.“

„Ich meine damit auch zum Teil dich.“ Ray blieb bei diesen Worten von seinem Cousin für einen Herzschlag  stehen, bevor er wieder zum anderen aufschloss. Es lag nicht am gesprochenen Inhalt, denn er bekam öfters zu hören, das er nicht der Norm entsprach, es war eher der Tonfall der ihn verwirrte.

Seit wann lag unter Misstrauen und Amüsiertheit mehr und warum war dieser Unterton warm? Von all seinen unzähligen, meist unwichtigen Verwandten war Eskil der umgänglichste, aber trotzdem hatte es zwischen ihnen immer eine Distanz gegeben. Warum fehlte diese?

Doch auch mit diesen Fragen beschäftigte sich Ray nicht weiter, so wie er es immer tat. Noch nicht einmal ein gedanklichen Vermerk machte er sich und schob es auf den heutigen Tag. Trauer konnte Menschen verändern, wurde ihm immer wieder gesagt, daher gestattete er es ausnahmsweise, auch weil er eher damit beschäftigt war Menschen auszuweichen, als sie das Militärviertel betraten.

Die Straßen von Königsfeuer waren nicht voll, aber die meisten hatten die Angewohnheit ihn zu übersehen. Eskil fiel zwar mit seiner Uniform zwischen den anderen nicht auf, jedoch war allein die Kleidung und Rüstung Grund respektvoller ihm gegenüber zu sein. Wie selbstverständlich wurde Platz geschaffen und höflich gegrüßt, während genau die selben Personen in Rays Weg traten. Er musste beiseite gehen, um keinen zu berühren oder anzustoßen, dabei wäre es ihm am unangenehmsten. Berührungen mochte er nicht, vor allen nicht von Fremden, daher versuchte er sie zu vermeiden. Es war kein leichtes Unterfangen, denn er musste auf mehreren Ebenen Abstand nehmen. Seit dem Vorfall im Heilerhaus mit dem Jungen aus der Handelsgilde, brannte das Licht der Magie nur noch mehr in seinen Augen. Es stach bis tief in seinen Schädel, nur um dann mehr Platz einzunehmen, als das er hatte. Das Militär, wie auch andere Organisationen, rekrutierte am liebsten Persönlichkeiten mit ausgeprägten Kerne, um ihre Stärke zu halten und zu erweitern. Familien, die eng mit diesen Weg verbunden waren, wurden gehalten. Zwar wurde eine Ausprägung und die damit verbunden Fähigkeiten nicht wirklich vererbt, jedoch konnte man eine Häufung innerhalb der familiären Strukturen beobachten. Esmaria Falham besaß einen ausgeprägten Kern, zwei ihrer vier Kinder und fünf ihrer neun Enkel ebenfalls, also stetig mindestens die Hälfte.

„Keine Wiederworte von deiner Seite aus?“

„Empfinde ich als unnötig etwas zu kommentieren, um damit eine Diskussion zu beginnen, die nur zu einem Ergebnis führen wird.“ Eskil hob bei dieser Aussage die Augenbraue und fragte.

„Welches wäre das?“

„Das ich Recht habe.“ Ray hatte immer Recht und wenn er es ausnahmsweise nicht hatte, dann tat er so, als würde es so eine Situation nicht geben. Sheila warf ihm vor ein schlechter Lügner zu sein, Louisan Arbos schüttelte nur mit einem Schmunzeln den Kopf und Meister Arbos begann stetig eine Lehre darüber zu halten, dass sich Ray nicht die Welt so biegen konnte, wie er es wollte. Doch, behauptete er dann immer, doch heute war ihm gezeigt wurden, das er es nicht konnte. Sie wollten ihn wegschicken, dabei wussten alle beteiligten das es nur schief gehen konnte. Sein Cousin lachte leise über die Worte und leugnete dabei die Ernsthaftigkeit, die er versuchte aufrecht zu halten. Im Grunde wollte Ray wirklich sich seine Umgebung so gestalten, das er sie aushalten konnte. Nicht mehr und auch nicht weniger. So wie er wirklich nicht seiner Großmutter gegenüber treten wollte, auch wenn es Rays Mutter war, die in der offenen Tür stand.

Vivica Falhams helle Augen beobachteten jede Bewegung mit wacher Aufmerksamkeit im Versuch sich bis tief in Rays Kopf zu bohren. Sie hatte mal einen ausgeprägten Kern besessen, doch dieser war durch ihre Krankheit in sich zusammengefallen wie ein fauler Apfel. Die Magie umspülte nur noch zaghaft die Glieder und summte leise ein Lied, das nur von Vergänglichkeit sprach. Eins war seine Mutter die schönste Person gewesen, die er gekannt hatte, doch jetzt sah er nur noch die blassen Lippen und die knochigen Fingern. Heute waren die Schatten unter ihren Augen nicht so dunkel, wie sonst so kurz nach den Anfällen die sie plagten, aber auch keine Trauer oder wirkliche Enttäuschung konnte er feststellen. Sie beobachtete nur wie eine Statue und wartete, bis sie sich gegenüber standen.

„Ich hoffe, du musstest dir keine Umstände machen.“ Waren ihre Worte an Eskil gewandt, gefolgt von einem schmalen Lächeln, als sie die Antwort bekam.

„Natürlich nicht, Tante Vivica. Ehrlich gesagt hat es mir geholfen meine Gedanken zu ordnen Ray zu suchen.“ Der Gesuchte mochte es nicht, wenn man in seiner Anwesenheit über ihn sprach, als wäre er nicht da. Noch weniger mochte er es, wenn ihm Eigenschaften oder Dinge zugeschrieben wurden, die er nicht getan hatte. Das formte ein Bild von ihm, das er nicht kontrollieren konnte, was immer die Folge hatte, das andere falsche Erwartungen ihm gegenüber hegten.

„Das ist gut zu hören.“ Ray kannte seine Mutter soweit, das er zwischen den Zeilen lesen konnte. Es war gut, das seine Abwesenheit zumindest auch etwas positives zu Tage gebracht hatte. Es würde nicht den Zorn abwenden, der ihn erwartete sobald er das Haus betrat, aber etwas lindern. Normalerweise war es die Aufgabe der Eltern ihre Kinder zu belehren, die Mutter bei den Töchtern und der Vater bei den Söhnen, allerdings nicht in der Familie Falham und nicht bei Ray. Das übernahm immer Esmaria Falham, das Oberhaupt der Familie und alle anderen standen drum herum um ihr Zustimmung zu geben. Seine Großmutter war der Schlangenkopf, mit einen großen Hund zu ihren Füßen.

Ray war nach seiner Mutter und seinem Cousin eingetreten und durch den Flur zum Kaminzimmer gefolgt. Die Feuerstelle begrüßte ihn mit tiefer Leere und fehlender Wärme, während das Licht um ihn herum das Verlangen aufpeitschen ließ zu flüchten. Alle lebenden Personen der Familie waren anwesend und füllten den Raum aus wie ein Fächer, dessen Mitte eine alte Frau war, deren Finger fest den Gehstock umklammerten. Und er, er war ein Fremder unter den Trauernden, dabei konnte er noch nicht einmal unterscheiden, welche Leidensmiene echt war oder gespielt.

„Das verlorene Schäfchen ist also aufgetaucht.“ bemerkte jemand zu seiner rechten und er verfluchte seine Tante, die nahe an der Tür stand, die nun geschlossen war. Sie war der Außenrand und diejenige, die ihm im Notfall abfangen würde, wenn nicht sogar einfangen. Gnade kannte sie nicht, vor allem ihm gegenüber, und sie wusste, das er sich ihr nicht stellen konnte. Wiederworte und Kommentare kämen ihm leicht über die Lippen, aber das war auch alles was er zu seiner Verteidigung vorbringen konnte. Wenn er sie ansah, würde er sich augenblicklich fragen, ob ihr Schwert oder ihre schneidende Zunge mehr Menschen getötet hat. „Da können wir froh sein, das Eskil gut ist, im Suchen.“

Sein Cousin hatte ihn nicht gesucht, sondern kannte Ray soweit das er wusste wo er nachschauen musste um ihn zu finden. Damit war er die einzige Person im Raum.

Er erwiderte nichts auf die offensichtliche Stichelei und das war jetzt die zweite Situation in so kurzer Zeit, wo er die Chance verstreichen ließ. Er drehte noch nicht einmal sein Gesicht in die Richtung seiner Tante, als Zeichen das er ihre Worte vernommen hatte. Sein Blick war stur an allen vorbei auf den Kamin gerichtet, auf dessen Sims Blumen standen. Es waren weiße Blüten, die ihn an die aus dem Garten hinterm Haus erinnerten, aber für diese wilden Pflanzen waren die im Topf viel zu geordnet. Außer jemand hatte sich die Mühe gemacht alles in Form zu bringen. Jede Blüte glich der nächsten in Größe und Pracht, Farbe und Länge. Es konnte nur seine Mutter gewesen sein, dachte er, denn niemand sonst hatte ein Händchen für so eine feine, künstliche Schönheit. Jedes Mitglied der Familie, mit Ausnahme von ihm, war ein Soldat und diese hatten keine Zeit für die Anordnung von Blumen. Keine Pause für die Kämpfer der Gerechtigkeit, hieß es doch immer.

„Wo warst du, Junge?“ War es nun seine Großmutter, die das Wort ergriff und klopfte einmal mit dem Stock auf den Boden. Diesmal dämpfte der Teppich nicht das Geräusch und er fragte sich, ob sie versuchen wollte ein Loch rein zuschlagen. Zumindest klang es so für ihn.

„Nicht da.“ erwiderte er, sah aber noch immer keinen an. Er bemerkte nur aus dem Augenwinkel, wie sein Vater näher kam. Sie trennten wenige Schritte und doch konnte er die Präsenz von diesem spüren. Yorrick Falham war die Person, die am ehesten einen Streit schlichtete und zu seiner Verteidigung kam, auch wenn das dem widersprach was Ray von anderen über die Jugend seines Vaters gehört hatte. Von den Söhnen der Familie war immer Yorrick das Wunderkind gewesen und dementsprechend hatte er sich im jugendlichen Selbstbewusstsein verhalten. Das hatte sich jedoch mit der Hochzeit und der Geburt des ersten Kindes geändert und Frieden ins Haus gebracht. Es war ironisch, das Ray der Grund für viele Konflikte war, ohne es zu provozieren. Seine alleinige Anwesenheit reichte, wie auch jetzt.

„Antworte mir gefälligst richtig und nicht in diesen aufmüpfigen Ton.“ Trauer konnte Menschen verändern oder brachte das wahre Inneren zum Vorschein, im Fall von seiner Großmutter traf keins der beiden zu. Sie zügelte sich nicht und ihren Zorn ihm gegenüber. „Wo bist du gewesen und warum warst du nicht bei der Trauerfeier deines Onkels?“

Ray könnte Lügen und sagen, dass er lieber allein sein wollte, weil ihm erst jetzt bewusst geworden war, dass er eine geliebte Person für immer verloren hatte. Er könnte auch einfach behaupten, dass er die Trauerfeier nicht stören wollte, weil er mit seinen Gefühlen nicht klar gekommen war und er keine Schande über die Familie bringen wollte, indem er den Leitspruch brach. Doch stattdessen sagte er einfach die Wahrheit.

„Mir ist es egal gewesen. Der Tod von meinem Onkel, die Trauerfeier und die Gefühle anderer.“ erklärte er einfach. „Das ist nicht wichtig für mich.“

„Egoist.“ fauchte Merida. Er wusste nicht wo sie saß oder stand, aber sie war das Sprechrohr für alle anderen. „Du bist abartig egoistisch.“

„Ich weiß. Aber lieber egoistisch, anstatt anderen etwas vorzumachen und zu lügen. Ich dachte Ehrlichkeit ist ein Charakteristika für diese Familie.“

„Als wärst du ein Teil unserer Familie, du bist...“

„Schweig jetzt, Merida.“ Wurde seine Schwester unterbrochen, denn es war unhöflich dem Oberhaupt der Familie das Recht der Strafen und Predigen zu nehmen. Esmaria Falham mochte es nicht, wenn man sie überging, vor allen nicht von jüngeren, deren einzige Funktion war ihren weisen Worten zu lauschen. Wie Hunde, dachte sich Ray und er sah kurz zum einzigen Tier im Raum. Baritur erwiderten den Blick mit einem lautlosen Knurren und er wusste wieder, warum er Katzen mehr mochte. „Ich regle das.“ wurde wesentlich sanfter hinzugefügt, als das gehorsame Mädchen um Vergebung bat. Das war abartig. „Und jetzt zu dir, Bursche.“

Damit war wieder Ray angesprochen und zum ersten Mal fiel ihm auf, das seine Großmutter ihn nie mit dem Namen ansprach, den ihm seine Eltern bei seiner Geburt gegeben hatten. Generell benannte sie ihn selten direkt mit seinem Rufnamen, sondern umschrieb es mit Bursche oder Junge. Das tat sie nur bei ihm und er wusste nicht warum. Lag es wirklich nur an der Tatsache das er ein Teil der Katakomben war und es sich deshalb nicht verdient hatte anders angesprochen zu werden? Oder war es einfach ein subtiles Zeichen, das sie ihm gegenüber weniger empfand?

Mit Sheila und Bern war er vor Jahren mal gedanklich durchgegangen, wer ihn vermissen würde, würde er plötzlich verschwinden. Seine Liste war kurz gewesen und er hatte es abgetan das es so auch besser war, doch hier und jetzt wurde ihm bewusst das keiner von seiner Familie dabei gewesen war. Weder seine Eltern, noch seine Geschwister, noch seine Großmutter, deren Liebe zu anderen bekannt war und spürbar. Nur nicht ihm gegenüber. Es war in Ordnung so, behauptete er. Es war nicht unerwartet, doch gepaart mit den Worten von seinem Meister hinterließ es in seiner Brust ein seltsames Gefühl. Es war ein drücken, so als würde jemand versuchen nach seinem Herz zu greifen, um es zu umfassen. So wie das Unbehagen wieder in ihm aufstieg und mit jeder Sekunde wuchs, die verstrich.

Er hörte das etwas gesagt wurde, doch die Worte erreichten ihn nicht. Es war wie das Rauschen von Wasser, das über seinen Ohren lag und nur wenige Gedanken durchließ. Er wurde nicht beim vollständigen Namen genannt. Ihm war es zuvor nicht aufgefallen und deshalb nicht wichtig gewesen, ehrlich gesagt war es eigentlich unnötig sich damit zu beschäftigen, doch jetzt in diesem Augenblick brannte es sich tief in seinen Kopf.

„Warum wurde mir der Name Rayven gegeben?“ Es waren seine eigenen Worte, die ihn aus seiner gedanklichen Starre lösten und ihn mitten in den Zorn seiner Großmutter stießen. Er hatte sie unterbrochen und vor allen hatte er ihr nicht zugehört. Er hatte sich das Recht raus genommen sie einfach zu ignorieren, während sie dabei gewesen war ihre Macht zu demonstrieren und ihn zu belehren. Und jetzt ging er sogar weiter, indem er sie überging und sich an seine Mutter wandte. Sie konnte er ansehen, seinen Vater nicht, da dessen Licht heller brannte und hinter seinen Augen jetzt schon die Kopfschmerzen lagen. „Es gibt niemanden in dieser Familie, der so heißt.“ Es war seit Generationen über Generationen Tradition die Kinder nach wichtigen Verwandten und Ahnen zu benennen, um deren Leben zu ehren und Wünsche weiter zu geben. Benannt zu sein nach einer erfolgreichen Persönlichkeit war eine abstrakte Glückwunschkarte für eine Zukunft, die niemand kannte oder kontrollieren konnte. Man konnte nur hoffen und Hoffnung war so falsch wie Mitleidsbekundungen an einen Trauernden.

Seine Mutter sagte kein Ton, sondern presste die Lippen fest zusammen, so das sie in ihrem blassen Gesicht verschwanden. Ihre Hände gruben sich in den Stoff ihres Ärmels. Sie hatte ihm seinen Namen gegeben, zumindest waren es die einzigen Worte voller Zuneigung von ihr gewesen, die er in Erinnerung hatte. Bevor er in die Katakomben gekommen war.

„Das ist jetzt nicht wichtig.“ erklärte sie  und wich seinem Blick aus, weil sie ihn anscheinend nicht ertragen konnte. Doch es war keine Antwort, nicht die die er haben wollte. Es war nicht genug, daher trat er einen Schritt auf sie zu, doch er erreichte sie nicht, weil sich eine Hand schmerzhaft eng um seinen Oberarm schloss. Ray machte den unbewussten Fehler sich losreißen zu wollen, dabei sah er seinen Vater an, der ihn zurückzog in die Mitte des Raums. Sein Licht brannte nicht, es biss und er wusste nicht was mehr schmerzte.

„Es reicht jetzt.“ Leise gebrüllte Worte die ihn versuchten zu erdrücken. Er konnte nur starren und kein einzigen Gedanken formen, während er in die Augen seines Vaters sah. Sie waren nicht dunkelblau wie seine, wurde ihm bewusst, sie waren braun. Und es irritierte ihn so sehr, das er für einen Moment nicht wusste wo er sich befand oder warum er stolperte, als sich der Griff löste. Für einen Außenstehender musste Ray wirken wie eine Marionette, dessen Fäden sich heillos verheddert hatte und diese Beschreibung war noch nicht einmal wirklich unpassend. Er fühlte sich hin und her gerissen, ohne das jemand sichtbar ihn stieß oder an ihm zerrte. Oder waren es doch alle?

Er fing sich, irgendwie, und noch immer stand er an Ort und Stelle, an die er gestanden hatte, um sich anzuhören das er eine Enttäuschung war, das sein Verhalten falsch war, das er... Er blinzelte gegen die plötzliche Dunkelheit die ihn umfing und das Licht der Magie dämpfte, dabei streiften seine Wimpern die Hand, die jemand vor seinen Augen gelegt hatte. Eskils Stimme flüsterte ihm beruhigende Worte zu, die er klarere wahrnahm als die Geräusche um ihn herum. Die Wärme eines anderen Körpers so nah an seinen machte ihn erst bewusst wie kalt es ihm war und wie müde sich seine Glieder anfühlten. Alles war ihm unangenehm. Berührungen, Nähe, Kälte, Wärme, Müdigkeit, einfach alles und doch wusste er, ohne es wirklich zu wissen, das es wieder passiert war. Die Magie an seinen Fingerspitzen kribbelte, noch mehr als er sich befreite und seinen Cousin wegschob. Wie sollte er atmen, wenn keine Luft in seine Lunge kam, um sich auszudehnen? Nun waren es seine eigenen Hände, die er sich vors Gesicht legte und versuchte den Schmerz wieder nach innen zu drücken, während dieser im Versuch war seinen Kopf zum explodieren zu bringen.

Verdammter Mist.

Doch diesmal konnte er nicht flüchten. Hatte er sich zuvor Gedanken gemacht seine Tante würde ihn einfangen, war es sein Vater der ihn festhielt, trotz Eskils Gegenwind.

„Lass ihn los, Onkel. Deine Nähe bringt ihn durcheinander.“

Ray schüttelte den Kopf und versuchte auszuweichen, sich zu befreien und loszureißen. Magie war, obwohl sie ein Teil des Körpers, in ihrem Ursprung wild und ungebändigt. Sie besaß ihren eigenen Willen, die Menschen hatten nur gelernt die Natur gefangen zu nehmen und zu formen. Doch in Augenblicken des Kontrollverlust kam die Energie zum Vorschein und begann alles zu lenken. Wie auch ihn. Sein passiver Kern hatte ihn schon immer gezwungen sich anzupassen, anstatt das er Befehlshaber über sich war. Jetzt kam seine neue Fähigkeit hinzu und er besaß weder die Stärke, noch die Willenskraft dagegen anzukommen. Seine Magie nahm sich, was sie wollte und er spürte es als brennen in seine Fingerspitzen. Ihm wurden die Hände vom Gesicht gerissen, doch er schaffte es im letzten Moment die Augen zu schließen. Das verhinderte nicht, das er die magische Spur um sich herum nicht mehr sah, aber es linderte das Licht. Wenn jemand mit einem ausgeprägten Kern vor ihm stand, konnte er die Magie sehen, wie ein Feuer. Ging sein Gegenüber in einen anderen Raum verblasste es zu einem Flackern, das erst erlosch, wenn der Abstand sich vergrößerte. Selbst im Schlaf nahm Ray seine Umwelt wahr und es weckte ihn aus den Tiefen der Bewusstlosigkeit. Deswegen war er am liebsten alleine und nahm Abstand von den Menschen. Doch hier konnte er es nicht und sein größter Fehler war die Augen zu öffnen.

Sein Vater war wütend und der Zorn hatte sich deutlich sichtbar tief in ihm gegraben. Seine Hände umgriffen dabei schmerzhaft Rays Handgelenke. Also war er es gewesen, der ihm seinen Schutz genommen hatte ohne zu wissen, was er seinen eigenen Sohn antat. Welchen Umständen er diesen aussetzte. Ray wusste und spürte es umso deutlicher.

Er hatte es nicht unter Kontrolle.

„Was passiert hier?“ hörte er jemanden fragen und zu wissen wer es war. „Was ist hier los?“ Doch niemand gab eine Antwort und er fühlte sich seiner Familie noch nie so fern wie jetzt. Seine Mutter hatte Payel und Amethyne hinter sich gezogen, während sie selber geschützt wurde von Merida. Tante Lorenas Schwert fing das Licht der grauen Nachmittagssonne auf, die durch das hohe Fenster fiel. Die Spitze zu Boden gerichtet aber bereit jeden Moment ihren Titel gerecht zu werden. Die einzige Person, die nicht aus der Ruhe gebracht war, war Esmaria. Rays Großmutter beobachtete die ganze unklare Situation mit Adleraugen und hatte ihn im Visier, als wäre er der Hase, auf den sie sich jeden Moment stürzen würde.

„Meister Arbos hat nicht deutlich genug gemacht welche Enttäuschung sein Schüler ist. Trotz seinen Begabungen.“ begann sie zu sprechen und das mit einer Autorität, die die Luft zerschnitt. Jedes Wort spürte er eher, anstatt das er sie hörte. Dafür klang der Herzschlag seine Vaters um so lauter, was Ray dazu brachte zwischen den zwei Quellen seines Unbehagen hin und her zu sehen. Eskil tat ein lächerlichen Versuch die Situation zu entschärfen, aber er war kaum ein Schimmern zwischen den Flammen. Wenn war er nur ein Funke Glut tief zwischen der Asche. „Meinen Segen hat er den Jungen an die Grenze zu schicken. Ich habe die Hoffnung das bei ihm noch nicht alles verloren ist.“

Sie wollten ihn wegschicken und er musste noch nicht einmal sich umsehen, um zu wissen das jeder diesen Gedanken im Gesicht trug. Gesichter die er durch das Licht nicht sehen oder lesen konnte, aber das musste er auch nicht. Sie wollten ihn wegschicken.

Und ihm entkam ein Lachen. Ein einfaches Lachen, das schon fast einem heiseren Kichern glich. Oder doch einem Husten? Er schaffte es sich zu befreien, die Hände abzuschütteln und den Abstand zu nehmen, der so wieso schon herrschte.

Was war das hier nur für ein Theater?

„Du meinst wohl eher, damit ich umgebracht werde.“ Ray sah seine Großmutter direkt an. Sie hatte dunkelblaue Augen, die ihn gerade zu durchbohren wollte. Das erwiderte er, wenn auch weniger erfolgreich. Während sie in seine Seele blickte und begann daran herum zu wütend, kratzte er nur an der Oberfläche. Doch es reichte ihm, denn auch nur Kratzer konnte schmerzen, wenn man nur richtig nachdrückte. Salz in die Wunde streute oder in diesem Fall nur Worte aussprach. „Wie mein Onkel.“ sprach er aus. „Ist es nur Zufall oder wolltest du nur auch ein unliebsames Familienmitglied entfernen, um die verlogene Ehre dieser Heuchlerisch aufrecht zu halten?“ Er log, aber machte die Lüge zur Wahrheit in dem er einfach Zweifel heraufbeschwörte. „Immerhin.“ er atmete aus. „Wird nicht umsonst geflüstert das Esmaria Falham diejenigen aus dem Weg räumt, die ihr nicht passen. Allen voran ihre eigene Familie.“

Die Ohrfeige die er bekam, empfand er nicht als überraschend, dafür aber, das er tatsächlich getroffen hatte. Freude überdeckte für einen Moment den Schmerz, der sich von seiner Wange aus ausbreitete, als er sah wie sehr er seine Großmutter verletzt hatte. Medizin war bitter, Gift brannte, vor allen das eigene. Es fühlte sich großartig an für diese Augenblick in der Kontrolle zu sein, auch wenn dieser Zustand nur ein Herzschlag anhielt. Erinnern würde sich Ray daran, wenn er an die Grenze ging. Er hatte der Frau Schaden zugefügt, die als unverwundbar galt. Sie war ihm gegenüber das Stahl, das jetzt in ihr eigenes Fleisch schnitt.

„Schafft ihn mir aus den Augen.“ War der deutliche Befehl von Esmaria Falham, doch er wich dem Mann aus der sich sein Vater nannte. Jetzt war er eine Nebenfigur in diesem Spiel, nichts weiter als eine Randfigur, obwohl er die Hand gegen seinen Sohn erhoben hatte. Ohne zu zögern. Ray würde nicht von der Bühne gezerrte werden, er trat freiwillig ab, denn all das hier Kotzte ihn an. Er deutete eine Verbeugung an, bevor er sich abwendete und ging. Erst verließ er das Kaminzimmer, dann das Haus und zum Schluss das Viertel. Niemand rief ihn zurück, niemand folgte ihm und niemand beachtete ihn, aber er wurde begrüßt am Tor zum Friedhof, zu dem seine Füße ihn getragen hatten.

Meister Arbos wirkte wie eine Statue, wie er mitten auf der leeren Straße stand zu dem Ort, an dem die Toten ruhten. Keiner von ihnen sprach ein Wort, doch das Schweigen sagte genug. Ray trat an dem alten Mann vorbei, ungeachtete der Regel, das er zu dieser Zeit die Katakomben nicht mehr betreten durfte, wenn kein Notfall vorlag. Doch er wurde nicht aufgehalten, stattdessen von einem Schatten begleitet, der mit einem Miauen wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Er nahm Tiffa hoch, die sich im Versuch sein Kinn ab zu lecken das Genick beinah brach, doch es war sein Lehrmeister, der ihn kurz zum stehen brachte.

„In meinem Büro steht noch ein Teller mit Keksen.“

„Mit Zimt?“

„Und  Äpfel.“ Und es reichte, auch wenn es nicht die Gedanken linderten. Er wurde fortgeschickt und vielleicht, war es auch gut so.

 

• • • •

 

Josephine betrat das Arbeitszimmer von Zacharias und ihr bot sich ein unerwartetes Bild. Der Raum sah aus wie immer, mit seinen hohen Regalen, dem großen Schreibtisch und den vielen kleinen Unruhen aus Büchern und Schriftrollen. Im Kamin prasselte kein Feuer, stattdessen drang durch das geöffnete Fenster etwas kühle Nachtluft. Den ganzen Nachmittag hatte es nach Regen gerochen und jetzt war er angekommen, erbrach sich wie ein Schleier über die Felder des Friedhofes. Ihren Mantel hatte sie im Saal am Eingang zurückgelassen, damit sie nicht den Teppich ruinierte, der das Zimmer zum Großteil ausfüllte. Die Möbel hatten ihre Spuren in diesem hinterlassen, wie auch das Sofa, auf dem das Unerwartete ruhte. Oder fiel mehr schlief.

Ray hatte sich eingerollt wie die Katze, die nahe bei seinem Kopf auf einer der Armstützen schlief, und verschwand fast völlig unter der Decke, die jemand über ihn ausgebreitet hatte. Der Junge durfte eigentlich gar nicht mehr hier sein, war ihr erster Gedanke, es war jedoch ihr zweiter den sie aussprach und das an den Herrn der Toten gewandt.

„Schließe das Fenster, der Junge wird sonst noch krank.“ befahl und mahnte sie, doch von ihrem Freund und Schwager bekam sie ein längeres Schweigen. Das nutzte sie um weiter zu sprechen. „Warum ist er überhaupt hier?“ Immerhin war es den Lehrlingen verboten die Nacht in den Katakomben und dem Viertel zu verbringen, außerdem war heute die Trauerfeier für Berrat Falham gewesen. Ray sollte wenn bei seiner Familie sein oder wenigstens in seinem eigenen Schlafgemach im Wohnblock der Gilden. Erst als sie die wenigen Schritte zum Sofa überquerte kam Regung in Meister Arbos.

„Ich hielt es besser ihn hier zu behalten. Er macht gerade eine schwierige Zeit durch.“ sprach er und sie runzelte die Stirn, auch weil sie sich neben dem Schlafenden auf den Teppich hockte. Obwohl die Decke bis zum Kinn gezogen war, konnte sie einen der Gründe erkennen, warum die verbotene Anwesenheit berechtigt war. Rays Gesicht war so blass wie immer, doch seine rechte Wange war gerötet und zeigte erste Anzeichen, schon bald blaue Flecken zu entwickeln.

„Schwierig im Sinne, das er es nicht gut aufgefasst hat, das er an die Grenze geschickt wird?“ mutmaßte sie.

„Unter anderem.“ Unter anderem brachte viele mögliche Gründe und keiner von diesen gefiel ihr. Sie wollte den Jungen nicht in einer der grauen Gebiete schicken, vor allen nicht in den Süden, aber jeder Protest und Widerstand von Zacharias und ihr war vom König abgewiesen worden. Selbst ihr Neffe Graham war nicht zu überzeugen gewesen, sondern hatte die Entscheidung nur noch bestärkt. Rays Fähigkeiten wurden in Festung Sonnensteige gebraucht, dringender als zuvor und sogar regelrecht erbittet von der Königlichen Armee und den dortigen Katakomben. Irgendwas geschah dort, doch sie hatte noch nicht herausgefunden was.

„Welche noch?“ hackte sie nach und endlich schloss der andere Magier das Fenster, an dem er die ganze Zeit gestanden hatte. Die kühle Abendluft blieb noch und sie richtete die Decke über den Lehrling, um ihren Händen etwas zu tun zu geben. Der alte Mann seufzte.

„Es gab ein Zerwürfnis mit seiner Familie. So sehr das er mir eben gesagt hat das es gut ist, wenn er gehen würde, und das nachdem wir uns vor der Trauerfeier darüber gestritten haben.“

„Das sieht mehr als nur ein Zerwürfnis aus.“ kommentierte sie. Die wichtigen Familien, eine soziale Schicht die nicht zum Adel gehörte, aber einen gewissen Einfluss und Reichtum besaß, bestraften ihre Kinder nicht so, das Außenstehende es sahen. Schläge, wenn diese ausgeführt wurden, gingen nicht ins Gesicht, daher musste der Streit die Emotionen völlig aus der Bahn gebracht haben. Egal was Ray getan oder gesagt haben könnte, es rechtfertigte niemals die Flecken auf seiner Haut. Zum Glück ging diese Verletzung nicht tief, stellte sie fest, nachdem sie sanft mit den Fingern drüber gefahren war. Unter ihrer Magie zuckte der Junge leicht zusammen, aber wachte nicht auf, was ungewöhnlich war. „Du hast ihm ein Schlafmittel gegeben.“

Zacharias nickte.

„Anders wäre er nicht zur Ruhe gekommen.“ Sie verkniff sich ihre Belehrungen, das es kein gutes vorgehen war, vor allen nicht bei einem Heranwachsenden. Stattdessen sah sie zu Tiffa, deren Schweif unruhig hin und her wedelte. Die Katze spürte Magie und reagierte darauf teilweise mehr als Menschen. Josephine hätte nie gedacht, das sie froh sein würde das der Unfall das flauschige Wesen so verändert hat, doch allein die Nähe tat Ray auf einer Weise gut. Trotz seinen ständigen Nörgeleien, aber in dem Fall war das Tier sturer und hartnäckiger.

„Was jetzt?“ fragte sie.

Ihr Schwager setzte sich auf einen der Stühle, rieb sich die Stirn, während seine müden Augen durch den Raum glitten. Die meisten Bücher die hier herumlagen waren über den Tod und magische Fähigkeiten, die Schriftrollen stattdessen handelten über Tränke und Tinkturen. Es herrschte eine Unordnung, wie in ihrem Arbeitszimmer und ihre Schwester behauptete immer im Spaß, das sich Josephine und Zacharias ähnlicher waren als es gut war.

„Morgen bereite ich alles für die Abreise meiner Lehrlinge vor. Sheila muss schon früher in den Norden, als Ray in den Süden. Es liegt noch viel Papierkram vor mir und ich muss noch mit der Magiergilde sprechen. Die waren in den letzten Tagen noch hartnäckiger als sonst.“

„Die Magiergilde ärgert es jetzt noch mehr, dass du das Recht der Abgabe vorher angewandt hast als sie.“ Vor zehn Jahren war es eine Entscheidung zwischen einem Tag gewesen, die den Werdegang eines Kindes bestimmt hatte. Meister Arbos hatte per Zufall während einer Trauerfeier von den besonderen Fähigkeiten von Ray erfahren. Josephine entschloss sich aber bis heute nicht ganz, warum die Gilde der Magier auf den Jungen aufmerksam geworden war. Die Familie Falham war fest mit dem Militär verankert und trotz einiger ausgeprägten Kernen, war keine enge Verbindung bekannt. Es musste etwas anderes dahinter liegen, doch sie war selber kein Teil der Institution und Zacharias behauptete durch seinen Austritt keine Informationen darüber zu bekommen. Er tat es sowieso als nur zufällig ab und freute sich eher, das er unwissend der Gilde einen Sieg abgerungen hatte.

„Und mich freut es.“ erklärte er wieder einmal. „Trotz seinem sturen und unsozialen Charakter ist mein Lehrling sehr gut in dem was er macht. Seine Arbeit erfüllt er und sein Wissen über den Tod erweitert sich mit jedem Tag.“

„Und trotzdem willst du bei ihm warten, bis er volljährig wird, bevor er gelehrt bekommt die magische Kerne zu entfernen.“ Sie stand auf. „Du hättest ihm schon die Grundlagen beibringen können.“ Aber der Herr der Katakomben war da ihr gegenüber ehrlicher und direkter als zu anderen.

„Wir wissen beide, das er empfindlicher auf die magische Energie reagiert als wir beide, selbst mehr als Jason.“ Die Erwähnung von ihrem Sohn versetzte ihr einen kleinen Stich und um den zu überdecken schüttete sie etwas Wein in zwei Becher. Auch wenn es Louisan missfiel stand im Arbeitszimmer immer eine Flasche Wein und mehrere Trinkgefäße. Ab und zu half Alkohol müde oder angespannte Nerven zu beruhigen, auch wenn es nur eine Illusion war. „Ich wollte bei ihm schon immer länger warten, als bei Bern und Sheila, weil Ray mental noch nicht bereit ist. Er ist immer noch zu sehr Kind, als das ich ihn mit dieser Arbeit belasten wollte.“ Dankend nahm ihr Schwager den Becher entgegen. „Und seine Charakterart hat mich noch zu sehr amüsiert, als das ich ihn ändern wollte durch meine Tests und Prüfungen.“

„Natürlich liegt es mit an deiner egoistischen Art.“

„Du kennst mich nicht anders.“ Er schmunzelte über den Rand des Gefäßes, bevor er einen kräftigen Schluck nahm. Sie schnaubte verächtlich, weil er den guten Tropfen trank wie Wasser. Sie hingegen nippte und genoss sichtlich den Wein.

„Und was hattest du dir für Ray überlegt gehabt, um ihn vorzubereiten?“

„Ihn in die Tiefe der alten Katakomben zu schicken und dort das Licht zu finden.“ Bei dieser Antwort entkam ihr ein Seufzen und sie setzte sich auf den anderen Stuhl. Anders wie in ihrem Arbeitszimmer gab es hier weiche Polster, die noch nicht durchgesessen waren. Sie sollte ihrer Schwester mal ihr Leid klagen, denn dann war es sicher, das jemand ihre Sitzgelegenheiten aufbesserte.

„Das ist grausam.“ kommentierte sie. Jeder Lehrling von Meister Arbos musste eine Prüfung absolvieren, bevor er gelehrt bekam die magischen Kerne zu entfernen. Sie sollten denjenigen vorführen was ihn erwartete und gleichzeitig einen Schubser geben sich weiter zu entwickeln. Zacharias freute sich viel zu sehr auf diese Ereignisse und hatte Spaß daran sich immer wieder neue Verfahren auszudenken. Nur die Suche nach dem Licht war nicht neu, er hatte sie bis jetzt nur noch nicht angewandt, weil keiner seiner Lehrlinge dazu gepasst hatte. Ray war sein ganzes Leben lang umgeben von Licht, ihn in völlige Dunkelheit zu schicken wäre für ihn eine ungewohnte Erfahrung, die seinen Blickwinkel ändern würde. In den Tiefen der Katakomben die bis zu 500 Jahre alt waren gab es kein Licht mehr, das gefunden werden konnte, deswegen war es eine Prüfung die zum scheitern war. Aber dafür musste der Junge tatsächlich Reifer werden. „Und deswegen lässt du ihn Zeit mit diesem Obdachlosen verbringen.“ fügte sie skeptisch hinzu.

„Andere Personenkreis, andere Blickwinkel und andere Lebensweisheiten.“ Diesmal leerte der Herr der Toten sein Becher mit einem Zug und sie nahm ihm diesen einfach weg. Da wurde eine gute Tat mit Füßen getreten und nicht wertgeschätzt.

„Wie ich dich kenne liegt mehr hinter diesem Obdachlosen? Borda heißt er oder?“

„Unter anderem.“ gab er zu und auf seinen Lippen erschien ein leichtes Schmunzeln. Ihm gefiel es zu gut in der Position zu sein mehr zu wissen als sie und das ärgerte sie.

„Du wirst mir nicht mehr verraten.“ War die nüchterne Erkenntnis, als er mehrere Momente schwieg und nicht zu einer Erklärung ansetzte. Stattdessen kam Leben in Tiffa die über Ray kletterte, nur um dann unter der Decke zu verschwinden. Sie endete als Beule unter dem Stoff nahe der Brust des Jungen, der instinktiv im tiefen Schlaf die Katze näher zog wie ein Kuscheltier. Die Kinder, die in den Katakomben aufwuchsen teilten sich das Spielzeug, das schon durch viele Kinderhände gegangen war, so auch durch die ihrer Nichten, Neffen und ihrem Sohn. Kuscheltiere die einen nicht eigen waren wurden nicht so häufig als Schlafgefährten erwählt, außer man hatte das Glück einer spendabel und fürsorglichen Familie. Das war die Falham-Familie nicht, wie sie es wieder bewiesen hatte.

„Natürlich nicht, wo bleibt denn sonst der Spaß, wenn ich dir alles erzähle.“ erklärte Zacharias, doch sein Blick lag ebenfalls auf seinen Lehrling. Sorgen zeichneten sich um die Augen des alten Mannes ab und ließen ihn älter wirken, als das er war. „Aber ich gebe dir einen kleinen Tipp: Du kennst ihn.“

Das war kein Hinweis, denn sie kannte viele durch ihre Position als Leiterin der Heilergilde. Zu viele das sie manchmal Probleme hatte die Namen richtig zu zuordnen. Erschwert wurde das, da die Tradition noch beliebt war Kinder nach ihren Verwandten zu benennen. Oder scheinbar nach anderen Persönlichkeiten, die eine gewisse Bedeutung für eine Familie hatten, auch wenn sich ihr nicht ganz entschloss welche. Als Yorrick und Vivica Falham ihren ältesten Sohn zu einer Pflichtuntersuchung kurz nach der Geburt gebracht hatten, war Josephine über den Namen erstaunt gewesen, war er ihr das letzte Mal vor über 35 Jahren im Krieg begegnet. Damals hatte sie es abgetan und sich keine weiteren Gedanken gemacht, bis sie bestätigt hatte, das der kleine Rayven unter das Recht der Abgabe fiel und eine besondere Gabe hatte.

„Manchmal bist du einfach unnatürlich anstrengend.“ gab sie auf, denn es gab weit aus wichtigeres zu besprechen, als die Identität eines einfachen Mannes herauszufinden. Auch wenn sie fast die Stimme ihres Neffen Grahams hören konnte, der zu sagen pflegte, dass „jede Person einen ändern kann, selbst wenn es nur den kleine Umweg ist, den man geht um dieser auszuweichen“. Ein Soldat sollte nicht so philosophisch sein, vor allen nicht ein junger Mann. Zacharias lachte, was eher ein brummen war. Sie warf ihn dafür einen mahnenden Blick zu und trank provokant von ihrem Wein, der noch vorhanden war, weil sie ihn in vollen Zügen genoss.

„Aber um wieder zurück auf deine Lehrlinge zu kommen. Sheila reist nächste Woche in Richtung der Stadt Bärenpass, ein paar Tage später dann Ray nach Festung Sonnensteige. Und Bern?“

„Der wird vorbereitete die Prüfung zu absolvieren, damit er als vollwertiges Mitglied für eine Zeit lang beide ersetzen kann. Und ich mache mich auf der Suche nach neuen Schülern.“ Sie nickte, weil es Sinn machte. Die Katakomben hatte nur sieben Lehrlinge, davon gingen zwei der älteren, einer begann erst die Arbeit und der jüngste war gerade sechs Winter alt. Für einen Moment schwieg sie.

„Ich wiederhole mein Angebot an dieser Stelle nochmal: Ich kann dir einige meiner Schüler schicken, es wird auch ihnen helfen.“ Doch noch bevor sie ausgesprochen hatte schüttelte er den Kopf. Das tat er immer. „Sie müssen nicht direkt die magischen Kerne entfernen, aber können zumindest in der Pflege der Körper helfen.“ fügte sie hinzu, aber sie wusste das erst ein neuer Krieg ausbrechen müsste, bis der Herr der Toten jemand anderes in die Katakomben ließ als seine Mitarbeiter. Manchmal war er viel zu stur, als das es gut war und dann wunderte er sich, das seine Lehrlinge sich an ihm ein Beispiel nahmen.

„Ich komme darauf zurück.“ erwiderte er und das sagte er ihr, seit er den Posten von seinem Vorgänger übernommen hatte. Sie wusste auch warum. Er wollte keine Fremden zwischen dem schwarzen Stein haben, denn die Gilde der Toten war eine Familie deren Zusammenarbeit auf Jahre basierte. Kinder wuchsen dort auf und wurden erwachsen, verließen Königsfeuer, nur um irgendwann wieder zurückzukehren und den Rest des Lebens hier zu verbringen. Bis zu ihrem Tod, der hier weilte wie die Luft zum Atmen.

Wieder schwiegen sie beide, nur die Decke begann zu schnurren und wieder einmal stand die Frage im Raum, ob Tiffa damals den Unfall überhaupt überlebt hat. Sie klang ungesund, um es zu beschreiben, aber laut Ray hatte es einen eigenen Charme von trockenem Kuchen und viel zu viel Rauch. Sie wusste nicht wie dieser Junge immer auf solche unpassende Vergleiche kam. Mehrere Minuten saßen sie in der Stille und Josephine leerte langsam ihren Becher, während sie überlegte welches Thema sie noch ansprechen konnte. Doch dieses Vorhaben wurde durch Schritte unterbrochen, Schritte und zwei Stimmen, die sich unterhielten. Eine war ihnen bekannt, gehörte sie Louisan, die andere jedoch war ihr nur durch den Ratssitzungen vertraut. Sie warf einen Blick zu Zacharias um herauszufinden was er getan haben könnte, um zu der Abendstunde noch hohen Besuch zu bekommen und das von einem Mitglied der Magiergilde, doch er zuckte nur mit den Schultern als Zeichen das er keine Ahnung hatte. Die Frage war nur, ob sie es ihm so abkaufen konnte, wenn sie an all den Dingen dachte, die er schon vollbracht und es niemanden erzählt hatte.

Da die beiden Frauen näher kamen konnte sie auch Teile des Gesprächs lauschen.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Lady Thynne. Sie stören weder die Arbeit, noch die Nachtruhe.“ erklärte die ältere der beiden.

„Trotzdem entschuldige ich mich vielmals, auch da ich mein Kommen nicht angekündigt habe. Mir wurde unglücklicherweise erst so spät mitgeteilt, das sich Rayven Falham nicht bei seiner Familie aufhält.“

Ein Satz und Ärger erschien in den Zügen des alten Mannes neben ihr und auch sie empfand sofort eine Art Beschützerinstinkt. Faye Thynne, Vertreterin im hohen Rat und Mitglied der mächtigsten Magier des Königreichs Eldur war zwar eine angenehmere Persönlichkeit, als ihr Kollege und Cousin Godric Redvers, aber ihre unangekündigte Anwesenheit machte Josephine misstrauisch. In den letzten Jahren war der Einfluss der Gilde gestiegen und sie hielt sich nicht mehr bedeckt. Offen mischte sie sich in die Angelegenheiten anderer Organisationen ein und begann mehr als zu Zeiten des Krieges talentierte Personen in die Ausbildung zu bringen. Magier durften sich nur Menschen mit ausgeprägten Kernen nennen, die ein Studium unter der Leitung der Magiergilde absolviert hatten, dabei verpflichteten sie sich, teilweise trotz anderen Zugehörigkeiten, dieser zu einem gewissen Teil zu dienen. Das konnte im Form von Forschung sein oder aber auch als Bote. Spione waren das laut dem Herr der Toten, dabei ließ er unter dem Tisch fallen, das er selber ein Magier war. So wie sie.

„Heute ist es nur eine Ausnahme.“ Louisan klopfte kurz, bevor sie die Tür einfach öffnete und sie beide sofort mit Blicken straften wie zwei ungehorsame Kinder. Während sich Josephine sich auf ihre Erziehung besann und aufstand, blieb ihr Schwager stur sitzen. Faye Thynne hingegen neigte leicht als Dank den Kopf, ihre dunklen Augen huschten kurz durch den Raum, bevor sie höflich lächelte.

„Guten Abend, Meister Arbos. Guten Abend, Madam Callum.“ grüßte sie und alleine ihre Anwesenheit bildete einen Kontrast zu der Unordnung im Raum, denn sie repräsentierte nicht nur die Gilde. Sie trug Kleidung aus hochwertigen Stoffen und kräftigen Farben, welche ihre schlanke, hochgewachsene Figur geschickt betonten, aber bedeckten. Die Oberschicht zeigte nur wenig Haut, denn nur wer einen gewissen Stand hatte und Reichtum besaß, konnte es sich leisten geschlossene Kleidung zu tragen und Reize auf andere Art und Weise zur Schau zu stellen. Schönheit war mehr als nur der Körper, wurde immer gepriesen, doch am Ende des Tages war es zumindest bei den Frauen wichtig, ob die Rundungen Männer verführen und Becken starke Kinder gebären konnten.

„Guten Abend, Lady Thynne.“ erwiderte sie und tauschte einen Blick mit ihrer Schwester, die mit das Arbeitszimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Sie bot der ungewohnten Besucherin eine Sitzmöglichkeit an, doch diese lehnte ab. Ab jetzt nahm Louisan nur noch eine beobachtende Rolle ein und beschloss über Ray zu wachen. Da sie ihren Ehemann nicht belehrte war ein Zeichen, das sie von der Anwesenheit des Lehrlings und seine Methoden wusste.

„Was verschafft uns die Ehre Ihres kurzfristigen Besuchs.“ ergriff der Herr der Toten das Wort und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. Die junge Magierin legte leicht den Kopf schief und zupfte ihren Ärmel zurecht. Josephine wusste nicht ob ihre Miene der Entschuldigung und Unbehagen echt war oder nur gespielt. Der Adel schulte da ausgiebig.

„Eine kleine, aber doch dringliche Angelegenheit.“ begann Faye mit ihrer sanften Stimme zu antworten. „Und ich entschuldige mich nochmal für mein unangekündigtes Erscheinen hier, vor allen zu dieser Stunde, daher möchte ich diese Unannehmlichkeit nicht länger als nötig herauszögern.“ Sie ließ ihre Hand sinken. Im Licht schimmerten die Steine an ihre Ringe schwach in einem hellen blau. Es waren wertvolle und magische Schmuckstücke. „Mir wurde erst vor einer Stunde von Madam Bennet und Sir Morley mitgeteilt, das sie die magische Spur von Rayven Falham nicht ordnungsgemäß aufgenommen und vermerkt haben. Ich reise morgen in den frühen Stunden ab und brauche alle nötigen Unterlagen. Es liegt in der Pflicht der Gilde Magie und die Besitzer ungewöhnlicher Fähigkeiten zu dokumentieren, damit wir eine individuelle Lehre zur Verfügung stellen können.“

„Was euch bis jetzt im Fall meines Lehrlings noch nicht gelungen ist.“ Josephine unterdrückte den Drang ihren Schwager zu maßregeln über dieses unhöfliche Verhalten, auch wenn sie die Meinung zum Teil ebenfalls hatte. Louisan warf ihnen beide dafür einen mahnenden Blick zu. Oh, das würde noch etwas Ärger geben, gut das sie in das Universitätsviertel flüchten konnte. „Und seien wir ehrlich, Lady Thynne.“ fuhr Zacharias fort. „Sowohl Madam Bennet und Sir Morley werden es kaum schaffen, diese Fehler der letzten Wochen wieder zu richten. Da der Junge, wie euch mitgeteilt wurde, an die Grenze geht und die dortigen Katakomben selber ausgebildete Magier haben, die sich diesen annehmen können, wird es nicht nötig sein, das Ihr seine magische Essenz untersuchen müsst.“

„Unglücklicherweise war die Wahl der Lehrpersonen und die Art des Unterrichts nicht die passende gewesen, Meister Arbos. Aber Sie müssen bedenken, das seine Ausprägung selten geworden ist in dieser Form und vor allen Stärke. Die letzten Aufzeichnungen sind von den letzten Kriegsjahren und damals wurde noch anders mit solchen Persönlichkeiten verfahren. Ich muss Ihnen daher widersprechen. Wir, die Magiergilde sehen es von Nöten ihm weiter unsere Schulung zukommen zu lassen. Alle Vorbereitungen sind abgeschlossen, um dies zu ermöglichen.“ Lady Thynne nahm jetzt doch das Angebot eines Sitzplatzes an, während ihre Worte in der Luft hingen und einen seltsamen Beigeschmack hinterließen.

Sie wollten Ray haben oder eher seine Fähigkeiten, in welcher Form jedoch war noch unklar. Dies schien auch dem Herrn der Katakomben bewusst, aber er wusste auch in welcher Position er sich befand. Die Magiergilde war zu einflussreich und die Jahre unter Königin Berenike Calvert hat dieser Rechte zugesprochen. Wenn die Gilde der Meinung war, das ihr Eingreifen von hoher Priorität war, gab es nur wenige, die dagegen sprechen konnte. Die Katakomben stand dagegen in einer niedrigeren Position, die Heilergilde jedoch nicht.

Es war Josephine, die sich räusperte und aktiv einschaltete.

„Das Recht der Abgabe für die Katakomben ist eng verknüpft mit den Pflichten und Rechten der Heilergilde. Und in diesem Moment ist es mir von Ihrer Seite aus nicht ganz ersichtlich, welche Intentionen Sie genau hegen.“

Die junge Frau hatte anscheinend gedacht diese Angelegenheit ohne große Diskussion abzuwickeln und eigentlich war es auch nicht ganz gerecht ihr gegenüber. Trotz ihres Einflusses und Erfolge war Faye Thynne dem zweiten Leiter der Organisation, Godric Redvers, untergeordnet. Ihm gebührte eigentlich der Widerstand, den sowohl Zacharias, als auch sie vorbrachten. Ganz nach vorgegebenen Verfahren wurde Rays neue Bildung in die Hände der Magiergilde gegeben, diese war jedoch mit Zweifel zu betrachten, weswegen sie als Leiterin und Lehrmeisterin das ganze theoretisch stoppen konnte. Scheinbar unbewusst begann die Magierin mit dem Ring an ihrem linken Zeigefinger zu spielen, ihre Haltung blieb jedoch gerade und ihr Blick standhaft.

„Uns geht es darum Rayven Falham zu schulen, um ihm so ein vereinfachtes Leben zu ermöglichen, neue Aussichten zu bieten und“, sie machte einen kurze Pause. „Um so eine Gefahrenquelle für ihn, aber auch für die Allgemeinheit zu verringern. Das sollte nicht vergessen werden oder liege ich mit dieser Annahme falsch, Madam Callum?“

Nein, lag sie nicht. Ihre Annahme war nur eine Anspielung auf die Ereignisse im letzten Krieg und sie wusste auch, von welchen Personen die Rede war auf die sich die Aufzeichnungen bezogen. Das gefiel ihr nicht. Die Frau vor ihr war zu jung um im Krieg zwischen den Nationen gekämpft zu haben, anders wie sie drei der älteren Generation.

„Sie sprachen von Vorbereitungen und haben Zugestanden, das Ihre Wahl nicht passend gewesen ist. Welche Veränderungen haben Sie im Sinn, Lady Thynne?“

„Einige, um Ihnen gegenüber ehrlich zu sein. Sei Ihnen aber versichert, Sie werden von mir ein ausführliches Dokument bekommen, in dem mein Vorhaben so Detailreich wie möglich verfasst ist. Immerhin bin ich auf Sie beide angewiesen, da Sie den Jungen besser kennen als ich und er immer noch ein Teil der Katakomben bleibt. Ich will ihn nicht da herausreißen.“ Faye hörte auf mit ihrem Ring zu spielen und im Stein auf dem glatten Metall wirbelte das Licht wie ein kleiner Sturm. Josephine wusste das die Magierin diese Artefakte nicht brauchte und sie hauptsächlich als Schmuck dienten, aber es lies andere auf den ersten Moment verleiten, das die magische Schwingungen von diesen Kristallen kam. Doch die nächsten Worte ließen jeden Gedanken um schmückendes Beiwerk und Illusion verblassen. „Als Erstes werde ich mich persönlich um ihn kümmern und anweisen. Zwar unterscheiden sich unsere Ausprägungen, jedoch sind auch meine Fähigkeiten verbunden mit der erforderlichen Disziplin und Willensstärke.“

„Sie gehen mit an die Grenze zum Bluttal?“ Lady Thynne nickte bei dieser Frage von Meister Arbos.

„Für mehrere Zeiträume ja. Die Berichte aus dem Süden sind zu beunruhigend um sie zu ignorieren und die magische Phänomene fallen in mein Forschungsgebiet. Wo wir wieder bei einer meiner Gründe sind, warum die Gilde und ich gerne mit Eurem Lehrling arbeiten wollen. Er und seine Beobachtungsgaben werden hilfreich sein sein ein neue Blickwinkel zu entdecken.“

„Erwartet keine Wunder oder nennenswerte Fortschritte.“ warnte er. „Das gebe ich als allgemeinen Rat. Sobald Ray mitbekommt, das von ihm etwas erwartet wird und er keine Lust hat, dann wird er kaum dazu zu bewegen sein Anweisungen folge zu leisten.“

„Sie klingen fast, als wäre Ihre Meinung von Rayven negativ behaftet.“ bemerkte die Magierin. Ihre schmalen Augenbrauen zogen sich leicht zusammen in einen kritischen Blick.

„Er ist eigensinnig, stur, egozentrisch und besitzt einen seltsamen Humor, geschweige denn neigt er zu einem ungewöhnlichen Verhalten. Wie ein Poltergeist.“ Auf den Lippen des Herrn der Toten erschien ein kleines Lächeln, das im Gegensatz zu seinen Worten paradox wirkte. „Ich halte viel von meinem Jungen.“

Überraschung spiegelte sich kurz im Gesicht wieder und machten es eine Spur jünger. Josephine hingegen schüttelte leicht den Kopf, zum einen weil ihr wieder bewusst wurde das die Besucherin keine 23 Winter jung war und zum anderen weil sie ahnte das ihre nächsten Worte noch mehr Verwirrung stiften würde. Sie ließ sich den Spaß aber nicht nehmen.

„Ich sehe darüber hinweg, dass du dich selber beschrieben hast, alter Mann.“ wandte sie sich an ihren Schwager. „Und um es deutlich zu machen: Ray ist wenn unser Junge. Du wirst schon sehen. In ein bis zwei Jahre wird er mehr auf mich kommen und Spaß an der Arbeit mit Menschen haben.“

„Hat er jetzt schon, er bevorzugt sie am liebsten Tot.“

Ungesehen von Lady Thynne schaltete sich Louisan ein, in dem sie auf sich zeigte und ein stummes „Keine Chance. Er ist mein Kleiner.“ mit den Lippen formte. Oh ja, das würde später zu Diskussionen führen, auch wenn Josephine zu geben musste, das ihre Schwester eine sehr gute Position hatte. Sie brachte die Kinder ins Bett, versorgte sie mit Nahrung und so viel Liebe, wie sie entbehren konnte. Sie selber war zwar die Leiterin der Heilergilde, hatte es aber noch nicht einmal geschafft ein Kind ohne Sorgen und Fehler großzuziehen. Die kleinen Diskussion wurde jedoch von einem Maunzen unterbrochen und Tiffa tauchte unter der Decke auf. Ihre gelben Augen wirkten fast, als wollte sie sich beschweren das es zu laut war, um in Ruhe zu schlafen.

Meister Arbos seufzte nach einen Moment, während die junge Magierin wesentlich länger noch das flauschige Wesen betrachtete. Zum einen vermutlich wegen dem plötzlichen Auftauchen und zum anderen, weil die Katze diesmal wirklich niedlich wirkte, trotz dem schielenden Blick.

„Also gut.“ begann der alte Mann und scheinbar hatte er eine Entscheidung getroffen. „Sie können den Unterricht fortführen und sich für jetzt eine Probe der magischen Spur nehmen. Aber ich habe drei Bedingungen:“ er stand auf. „Erstens möchte ich einen Bericht über alles was sie Ray lehren, aber auch welche Erkenntnis Sie über ihn gewinnen. Immerhin wird es auch uns helfen ihn besser zu verstehen. Zweitens werde ich die Zusammenarbeit beenden, sollte mir mitgeteilt werden, dass keine Veränderungen erfolgt ist und mein Lehrling keine Fortschritte erzielt. Die Katakomben werden dann völlig diesen Part übernehmen und ihn ausbilden.“ Da er einen längere Pause einlegte hackte Faye Thynne nach. Sie hatte noch nicht viel mit dem Meister der Toten zu tun gehabt und wusste nicht, das dieser zu unnötigen, dramatischen Unterbrechungen neigte.

„Und die dritte Bedingung?“

„Lassen sie ihm Tiffa. Außerdem zwingen Sie Ray nicht Marzipan, Lebkuchen oder Rosinen zu essen. Das sind einige der wenigen Dinge, die er nicht mag.“ Das war eine dreiste Lüge. Der Junge hatte eine ganze Liste an die Dinge die er nicht mochte oder sogar hasste und diese war mehrere Seiten lang. Es wäre einfacher aufzuzählen was Ray passte und als annehmbar bezeichnet wurde. Doch das sagte Josephine nicht und ließ ihrem Schwager den Spaß.

„Werde ich schon nicht, ich muss gestehen, ich teile diese Abneigungen. Ich nehme ihre Bedingungen an.“ gab die junge Frau zu, bevor sie ebenfalls sich erhob und auf ihren Lippen erschien ein kleines, aber ehrliches Lächeln. Josephine war aber nicht ganz davon überzeugt und sie fragte sich, was der Grund war, warum ihr Schwager dann doch so schnell beigegeben hatte. Mit wenigen Schritten war die junge Frau bei dem Sofa und wurde mit einem leichten Fauchen begrüßt. Ihre Magie war zu stark für Tiffas Geschmack, vertrieben ließ sich die Katze jedoch nicht.

Angehende Magier bekamen in den letzten Zügen der Lehre gezeigt, wie sie magische Spuren von anderen Personen sammeln und dokumentieren konnte, um diese zu analysieren. Als bildlicher Vergleich konnte das Verfahren mit dem Schreiben mit Tinte und einer Feder beschrieben werden. Sanft strich Lady Thynne mit ihren Fingerspitzen über die Stirn vom schlafenden Ray und ließ ihre Magie der Spur folgen. Wie ein Schreibgerät nahm sie sich ein Hauch als Tinte und ließ es auf ein Stück Stoff gleiten, dass sie aus ihrer Tasche zog. Gierig saugten die Faser alles auf und umschlossen die Essenz, bis man beides wieder mit Magie trennte. Zurück blieb ein Tuch, das so sauber war wie zuvor und nur im Licht leicht dunkelblau schimmerte. Es war das einzige Anzeichen das mehr darin lag. Ein leises, unverständliches Murmeln begann die Stille zu durchdringen und die junge Frau wich etwas überrascht zurück. Louisan, die das ganze aus der Nähe beobachtet hatte, beugte sich jedoch vor.

„Schlaf ruhig weiter, Ray. Wir werden dich nachher zu Bett bringen.“ erklärte sie liebevoll und noch im Halbschlaf drehte der Junge seinen Kopf leicht. Anscheinend hatte er ein Stück die Augen geöffnet. „Es ist nichts passiert, schließe wieder die Augen. Du bist müde.“

„Bin ich nicht. Zu hell.“ War die schlaftrunkende Erwiderung, bevor er sich wieder abwendete. „Zu helles Licht. Wie das ewige Feuer. Mag ich nicht.“

„Das du immer das letzte Wort haben muss.“

„Gar nicht wahr.“ Doch da war er schon wieder eingeschlafen unter den Auswirkungen des Schlafsmittel. Entweder hatte Zacharias eine zu schwache Mischung angereichert, oder sein Lehrling bekam einen erhöhten Widerstand dagegen. Die dritte Variante war, das Ray einfach heute in einem empfindlicheren Zustand war und eigentlich nicht Ruhen konnte, weil seine Gedanken sich viel zu schnell drehten. 

Faye lachte leise und erhob sich.

„Das habe ich jetzt nicht erwartet.“ gab sie ehrlich zu und sie sah noch einmal auf Ray hinab, der sich wieder unter der Decke versteckte. Tiffa folgte ihm flink und suchte sich wieder ihren Platz. Das nahm Josephine als Stichwort und erhob sich. Sie hatte noch einen kleinen Weg ins Universitätsviertel vor sich und da Lady Thynne bekommen hatte, weswegen sie hier war, würde sie die junge Magierin mit hinaus begleiten. Wobei sie eher vermutete, das vor den Türen des Gebetshauses Leibwachen standen, um die Adelige zu begleiten. Die Familie Thynne gehörte zum Hochadel und zu einer der Fürstenhäuser, die einen festen Sitz im Obersten Rat hatten. Es wäre ungewöhnlich, würden sie ein so hohes Mitglied alleine durch die Stadt wandern lassen. Faye war nicht verheiratet, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie dem selben Schicksal folgen würde, wie alle anderen Frauen der Familie. Einen ausgeprägten Kern und mächtige Magie hin oder her. Einiges in der Gesellschaft war im Wandel, doch für die Oberschicht schien die Zeit eingefroren zu sein unter hundertjährigem Eis.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg.“ verkündete und wandte sie sich zu der Besucherin, die nickte und leicht lächelte.

„Ich werde Sie begleiten. Danke für Ihre Gastfreundschaft. Ich werde schon bald wieder mit Ihnen in Kontakt treten.“ Diesmal verabschiedete sich auch der Herr der Katakomben, er schien mit dem Ausgang des Gesprächs dann doch zufriedener, als erwartet. Der alte Mann plante etwas und Josephine würde es schon noch herausfinden was. Doch heute nicht mehr, dafür kam die nächste unerwartete Begegnung.

Sie hatte sich kaum zur Tür gewandt, da stemmte sie schon die Hände in die Hüfte in einer Geste, die ihre Mutter immer gemacht hatte und bei der sich Josephine geschworen hatte sie nie selber zu machen. Viele Jahre später war sie der Frau ähnlicher als gedacht. Aber das war auch kein Wunder, bei dieser Familie.

„Du hast schon wieder nicht geschrieben, Graham.“ bemerkte sie streng und ihr Neffe schaffte es sogar für einen Moment schuldbewusst drein zu schauen.

„Ich habe daran gedacht. Theoretisch.“ erklärte der Neuankömmling, der im Türrahmen stand, sogar und zog aus der Tasche einen zerknitterten Umschlag, was den Herrn der Katakomben zum Lachen brachte. Und sie fiel vom Glauben ab, weil sie ernsthaft in Erwägung zog dem General der Königlichen Armee zu erklären, das man Briefe verschickte und nicht selber vorbei brachte. Für einen Moment wollte sie es sogar hier und jetzt machen, doch er wendete sich an die einzige Person im Raum, die keine direkte Verbindung zu den Namen Callum und Arbos hatte. Wenn Graham überrascht war, zeigte er es nicht.

„Guten Abend, Lady Thynne.“

„Guten Abend, General.“ War die höfliche Erwiderung, bevor die junge Frau den Kopf leicht neigte als Verabschiedung. „Vielen Dank nochmal und Ihnen alle noch eine angenehme Nachtruhe.“ fügte sie noch hinzu, bevor sie den Raum verließ. Sie eilte nicht oder machte schnelle Schritte, trotzdem wurde sie für einen Herzschlag langsamer, als sie durch die Tür ging und somit direkt auf der Höhe von Graham war. Blicke trafen sich, bevor der Atem verstrich und alles wieder zu seiner gewohnten Normalität zurück kehrte. Die junge Magierin verließ das Gebetshaus.

„Ist denn heute Tag der offenen Tür, das alle vorbei schauen.“ beschwerte sich Meister Arbos, während er sich ein neuen Becher Wein ein schüttete. Louisan sah ihn mahnend an, bevor sie ihre liebevolle Bitte äußerte.

„Kannst du uns helfen und Ray nachher ins Bett tragen, Graham. Dein Onkel wird ihn vermutlich Fallen lassen.“ Der Angesprochene nickte nur, doch sein Blick lag auf Josephine. Oder viel mehr lag ihrer auf ihn. Nicht anklagend, sondern eher Überrascht? Besorgt?

Denn sie hatte etwas entdeckt auf den Brief, den er in den Händen hielt.

Dort stand ihr Name, doch die Schrift war nicht die von ihrem Neffen, sondern um einiges filigraner und schwungvoller geschrieben.

Sie war von Jason, ihrem Sohn, mit dem sie seit zwei Jahren nur eins ausgetauscht hatte:

Stumme Worte und lautes Schweigen.

Kapitel 5: Festung Sonnensteige

Die Dunkelheit erhielt nie vollständig die Macht über die Nacht, wenn man in einer der großen Städte lebte. Orte, die geschützt wurden durch ewige Flammen der Magie, deren Flackern selbst den düstersten Himmel erhellten. In Festung Sonnensteige waren es zwei dieser riesigen Feuer, die in schwindelerregender Höhe thronten und Arden seit seiner Ankunft schon manchen Morgen versaut hatten. Wie auch diesen.

Er war aus einem Albtraum geschreckt und hatte fälschlicherweise das rote Glühen durch die Vorhänge für den Sonnenaufgang gehalten. Nur wenige Minuten später war ihm aufgefallen, dass die einzigen Fenster im Schlafsaal der Rekruten zur Felswand lagen und er den Himmel nicht sehen konnte. Nur noch länger hatte er gebraucht um nicht vorhandene Glocken der Warnung als Hirngespinst zu erkennen, die seine Ohren täuschten. Wach war er trotzdem und mit dieser innerlichen Wut auf seiner Situation saß er auf der Bettkante, bereit in den Tag zu starten, der noch in der Ferne lag. Er wusste noch nicht einmal, wie spät oder wie früh es war, nur das er nicht allein sein Schicksal teilte. Verschlafene Augen in einem müden Gesicht blinzelten ihn an, bevor sich der Rest des Körpers aus der dünnen Decke schälte. Viele kleine Zöpfe fielen wie Schlange über Schulter und Rücken, dessen Ende alle verziert waren mit weißen Bändern.

„Guten Morgen.“ Wurde er leise gegrüßt, so wie immer, wenn sie beide die einzigen waren, die der Dummheit erlagen und nicht mehr einschlafen konnten. Arden vermisste da seine Zeit in den Dörfern, in denen er aufgewachsen war. Da war die Nacht noch ein Inbegriff der Dunkelheit gewesen und kein schummriges Licht, das durch Stoff zu ihnen drang. Hätte er damals lieber nicht das Bett nahe dem Fenster genommen und es anderen überlassen.

„Danke für deine gut gelaunten Grüße. Heute bist du wieder sehr überschwänglich.“ fuhr seine Bettnachbarin fort, wobei ihre sarkastischen Worte in einem zischen, untergingen, als sie ihre Füße auf den kalten Steinboden aufstellte. Er sagte nichts, doch das musste er nicht. Sie sprach gerade für ihn mit und sagte alles, was er niemals von sich geben würde. Zumindest nicht um diese Tageszeit. „Wieder ein Albtraum?“ fragte sie stattdessen, nachdem sie scheinbar beschlossen hatte sich im Bett die Hose anzuziehen, statt aufzustehen. Irgendwann würde er ihr beibringen, das man sich auf seine Schuhe stellen oder wenn man etwas Mühe auf sich nahm, man auch die Decke als Schutz nutzen konnte. Aber nicht heute.

„Wie immer.“ entgegnete er. Seine Stimme war heiser, rau noch von dem Schlaf der ihm geraubt wurden war. Sie beide waren leise aus Solidarität für diejenigen, die Glück hatten noch ruhen zu können. Verdient hatten es die wenigsten nach den letzten Tagen auf dem Übungsplatz. Und diesen Personen würde er irgendwann sein Leben anvertrauen, wären das von ihnen in seinen Händen liegen würde. Ungeachtet persönlicher Differenzen. Das war das Los der Soldaten, wobei nicht jeder der Königlichen Armee angehörte wie Arellia oder er. Anubia und Fynos waren Teil der Katakomben, Jake hatte sich der Stadtwache verschrieben und Thea folgte ganz den Lehren in der Magiergilde. Sie waren hier ein bunter Haufen aus Ecken und Kanten und laut Gerüchte, sollten sie heute noch mehr werden. Neue Maßnahmen brachten Frischlinge an die Grenze und machten diejenigen, die schon ein Jahr hier waren zu verfaultem Fleisch. In den Augen einiger Hochgestellte waren sie auch nicht mehr als eine sinnlose Maßnahme um die steigende Kriminalität zu vertuschen. Mehr als die Hälfte die friedliche Schlummerten oder es nicht mehr taten hatten Dreck am Stecken und hatten sich für das größere Übel entschieden. Wie Arden auch.

„Da nichts in Flammen aufgegangen ist, gehe ich davon aus, dass du nach dem Frühstück wieder bei besserer Laune bist.“ Arellia war fertig sich anzuziehen und schlüpfte in ihren Stiefeln, bevor sie die Zöpfe mit einem breiten Band zu einem dicken flocht. Er knurrte.

„Du wirst mir das noch Monate vorhalten?“

„Ja, bis ich die Antwort gefunden habe, die mich zufrieden stellt.“ Sie sprach von einem Vorfall mit Arden, der sich in den ersten Wochen an der Grenze ereignet hatte. Er war aus einem Albtraum aufgeschreckt und plötzlich hatte seine Decke angefangen zu brennen. Es wurde als gemeiner Streich von einem anderen Rekruten abgetan, weil keine andere Erklärung gefunden wurde, war für die Entzündung. Arellia jedoch war der Meinung, dass etwas anderes passiert war und Arden der Verursacher davon. Nicht mit Absicht natürlich, aber alles was sie sich bis jetzt ausgedacht hatte klang an den Haaren herbeigezogen.

Er hatte keinen ausgeprägten Kern und zeigte auch keine Zuneigung zum Feuer.

„Die wirst du nicht finden.“ seufzte er, doch als Antwort bekam er ein leichtes Lächeln, was für ihn eher wie flechten der Zähne wirkte. Es war ihre Art etwas zu verdeutlichen und das Versprechen zu erneuern, das sie nicht lockerlassen würde. Er befürchtete, dass sie da sturere war wie er. Ohne weiter darauf einzugehen, stand er auf und verließ auf leisen Sohlen den Schlafsaal, mit ihr als seine Verfolgerin. Schon in der ersten Zeit hatte sie es sich angewöhnt gemeinsame Streifzüge zu machen, wenn sie zu früh wach geworden waren. Meist erklommen sie die zahlreichen Balkone, die aus den Felswänden des Gebirges gearbeitete wurden, waren und überblickten die Feste.

Festung Sonnensteige war eine Medaille mit zwei Seiten. Zum Landesinneren erstreckte sich eine lebendige Stadt, die sich ihren Wohlstand durch ihre Lage am Fluss sicherte, während die andere Seite zum Bluttal sich völlig dem Militär verschrieben hatte. Hohe Mauern, starke Befestigungen und der Geruch von Kampfbereitschaft in der Luft. Auf den Übungsfeldern zwischen der ersten und zweiten Mauer vom Moor gesehen, verbrachte er seine meiste Zeit mit den anderen Rekruten, unter den wachsamen ewigen Flammen. Das Zentrum der Festung war das Schloss, ein Gebäudekomplex das nicht wirklich der Bezeichnung gerecht wurde, denn im Grunde waren es willkürlich zusammengebaute Konstrukte, die den Platz zwischen der dritten und vierten Mauer ausfüllten. Flankiert wurde das Zentrum durch die beiden Türme, die auf den Ausläufern des Gebirges gebaut wurden waren. Und zu diesen sah er auf und fragte sich nicht zum ersten Mal wie viele magische Kerne täglich verbrannt werden mussten, um diese Feuer und die damit verbundenen Schutzmagie aufrecht zu halten. Arellia beobachtete hingegen ihn und ihr wissendes Lächeln störte ihn vor der frühen Mahlzeit.

„Ich habe nur nachgeschaut ob der Tag beginnt.“ rechtfertigte er sich fälschlicherweise, was sie direkt zum Anlass nahm ihn wieder zu belagern.

„Natürlich hast du das und deswegen schaust du auch zu dem Feuer, das den Himmel rot färbt. Dich abzuwenden und an anderer Stelle zu vergewissern wäre ja zu einfach.“

Er seufzte bei diesem Kommentar erneut. Es war zu früh dafür, auch weil seine Gedanken ihn immer wieder in Richtung Traum zupften oder eher zu den Bildern, an die er sich noch erinnern konnte. Er hatte eine Person gesehen, ohne zu erkennen wer sie war, dafür war das Licht in ihren Händen zu hell gewesen und hatte nur in die Nacht hinein ihre Umrisse gezeichnet. Worte waren gefallen, doch an die konnte sich Arden nicht mehr erinnern, sondern sie verblassten immer mehr zu einem stimmlosen Flüstern. Dafür hörte er die Schreie in der Dunkelheit umso deutlicher, die durchdrungen waren durch Schmerz und Schrecken und erst verstummten, bis ihm auffiel das seine Hände von Blut bedeckt waren.

Diesen Traum hatte er seit seiner Ankunft hier an der Grenze, doch niemand wusste davon. Immer wenn Arellia danach fragte schwieg er, obwohl sie beide so etwas wie eine Freundschaft verband. Jedoch war er nicht mehr bereit sich jemanden zu öffnen. Das hatte er einmal getan und es hatte ihn hier hingeführt, weil er die Entscheidung getroffen hatte ein Teil vom gammligen Fleisch zu sein. Seine Gefährtin für die frühen Stunden bohrte nicht nach, was er begrüßte. Eine Erklärung würde er auch ihr nicht geben. Nicht heute und auch nicht in Zukunft, denn ihre Zeit hier war begrenzt und ihre Wege würden sich unweigerlich trennen. Sie waren beide Soldaten der Königlichen Armee und wurden dorthin geschickt, wo sie gebraucht wurden. Voraussetzung war nur, dass sie überlebten, was in letzter Zeit ein Spiel mit Risiko geworden war.

Arden wendete sich von den Türmen ab und blickte zur zweiten Mauer, mit dem Wissen, das hinter Stein das Moor lag. Bis jetzt hatte er es schon ein paar Mal betreten, sogar teilweise soweit das die Feste vollständige zwischen den Bäumen verschwunden war. Andere hassten diese Ausflüge, Arellia empfand Vertrautheit und fast Zuneigung dazu und er wusste noch nicht, was er davon halten sollte. Er erkannte und kannte die zahlreichen Gefahren, die dort lauerten unter einem Boden, der unter den Füßen versinken konnte in einen kalten Tod. Er konnte auch die Faszination nachvollziehen, blühten an manchen Orten zwischen den Wurzeln wunderschöne Blumen und das Lied der Vögel sprach von Harmonie. Das Einzige was er empfand war eine Wärme zwischen dem Nebel, der sich an manchen Stellen um einen zog wie eine Decke. Auch das konnte er sich nicht erklären, doch schwieg. Wie so oft. Für andere sprach er, nur nicht für sich selbst, weil er gelernt hatte das es gefährlich war sich jemand zu öffnen. Zugang zu dem Inneren zu geben und dadurch emotional abhängig zu werden. Das konnte nie gut enden und das Moor war ein symbolischer Beweis, das unter der Oberfläche mehr lauerte als Wasser, in dem man ertrinken konnte.

„Du bist heute wieder sehr nachdenklich.“

„Nicht wirklich.“ entgegnete er der Feststellung. „Es ist einfach noch viel zu früh.“ fügte er hinzu, doch ihrem kritischen Blick konnte er mit diesen Worten nicht mildern. Sie kannten sich nicht gut genug, um den Ausdruck in ihren Augen als Sorge um ihn zu interpretieren. Solange er seine Aufgaben erfüllte, konnte es ihr egal sein was er war oder nicht. Doch er gab ihr keine harschen Erwiderungen, einfach weil es unnötig war. Er ließ sie nur nicht nah an sich heran, nicht so wie sie es bei ihm tat. Er wusste vieles über sie, wo sie herkam, wie ihre Familie aussah und welche Ziele sie verfolgte. Sie hatte ihm von ihrem Leben im Moor erzählt und das sie mit vielen Traditionen brach, in dem sie hier war. Dass sie ihren eigenen Weg ging war bewundernswert, aber er beneidete sie um einen Punkt. Sie kannte ihre Herkunft, er rätselte noch wo er am längsten geblieben war und wer ihm beigebracht hatte zu laufen.

„Ich meine es ernst, Arden.“ begann sie und trat vor ihm. Arellia war einen Kopf kleiner als er, aber er hatte nicht den Fehler gemacht und sie unterschätzt. Die weißen Zeichen auf ihrer Haut, die geflochtenen Haare und ihre Größe verleiteten andere dazu und bezahlten schnell den Preis dafür. Kein Wunder, das die Armee sie haben wollte, nachdem die Stadtwache sie abgewiesen hatte.

„Ich weiß. Du nimmst vieles ernst. Aber mir geht es gut.“ Sie hatte nicht direkt nach seinem Zustand gefragte, aber es so gemeint. Denn in all den Monaten hatte sie von ihm nicht viel erfahren, aber beobachtet. Eine Fähigkeit, die sehr nützlich war und half zu überleben. Sie war aber nicht unerwartet, wenn man im Moor aufwuchs und alles schon früh von den Ältesten des Dorfes gelehrt bekam. Zum Glück gab Arellia ihr Wissen weiter und verschwieg es nicht, so wie andere Stämme. Und ein Mitglied war ganz in der Nähe und Ardens persönlicher Fluch.

Nisha hockte im Schatten der Mauer und konnte leicht übersehen werden, aber nicht überhört. Sie summte ein Lied, das immer mal wieder unterbrochen wurde durch Gesang, den sie anstimmte, während sie etwas in ihrer Nähe mit Faszination beobachtete. Er wusste nie was sie genau sah, das tat niemand, aber es schien sie so sehr zu fesseln, dass sie Arellia und ihn erst nach mehreren Momenten wahrnahm. Ihre großen braunen Augen fixierten ihn und auf ihrem kindlichen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das Grübchen in ihre Wangen zauberte. Sie winkte ihnen zu, bevor sie aufstand und auf sie zu kam. Leicht waren die Schritte, die keine Geräusche hinterließen, obwohl sie hüpfte wie ein junges Reh.

„Du bist wieder da.“ grüße sie, als sie vor ihm war. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt wippte sie vor und zurück. Sie wirkte dadurch jünger, kindlicher und unschuldiger als sowieso schon. Arden wusste nicht warum, aber Nisha hatte schon seit ihrem ersten Treffen eine Zuneigung zu ihm entwickelt und ihn im zweiten Atemzug zu ihrem Bruder erklärt. Es hatte ihn damals verunsichert und auch jetzt spürte er, wie allein ihr erwartungsvoller Blick ein Knoten in seiner Brust bildete. Trotz Arellias Ratschlägen wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.

„War ich die ganze Zeit.“ entgegnete er, doch sie schüttelte den Kopf, bevor sie mit einem Finger gegen seine Brust tippte. Dabei traf sie wie immer den Anhänger seiner Kette, den er unter dem Hemd trug und er bildete sich ein, dass dieser leicht vibrierte. Es war nur ein Hirngespinst, denn im Grund war es nur ein kleiner, flache Stein, der an einem Lederband hing und eine faszinierende Färbung besaß. Über das grau zogen sich rote Linien, die durchquert wurden durch goldene Wirbel. Es schien, als würde der Stein von innen heraus glühen, doch mehr als eine oberflächliche Laune der Natur war es nicht. Einmal hatte er den Stein schätzen lassen, in der Hoffnung er wäre was Wert, doch dass er ihn immer noch hatte, zeigte das es nicht der Fall war. Arden brachte es aber auch nicht über sich ihn einfach wegzugeben, denn mittlerweile hatte er die Kette schon seit Jahren und sie war ein Geschenk von seiner Mutter gewesen.

„Nein. Du bist jetzt da, gestern nicht.“ Nisha legte leicht den Kopf schief. Im schwachen Licht des nahenden Tagesanbruchs wirkte sie wie ein Geist mit ihrem hellen, zerzausten Haar. Ohne viel darüber nachzudenken, hob er die Hände und ordnete ihre Strähnen, bevor er diese in einen Zopf band. Sie kicherte unter dieser Zuneigung, während Arellia ihm ein Band reichte, damit seine Arbeit auch hielt. Er wusste nicht, warum er es jedes Mal tat, wenn sie sich sahen, doch gerade wollte er nicht darüber nachdenken.

„Warum war ich gestern nicht da?“ hackte er stattdessen nach und betrachtete sein Werk. Jetzt sah sie nicht mehr aus, wie frisch aus dem Moor entsprungen, auch wenn ihre nackten Füße verdreckt waren und die weißen Zeichen auf ihrer Haut sich abhoben. Jeder aus den Stämmen des Moores trug sich eine Farbe in Mustern auf, die schwer wieder abzuwaschen war und nur langsam wieder verblasste. Es waren Symbole der Zugehörigkeit, doch niemand hatte ihm bis jetzt genau erklärt was sie wirklich bedeutend.

„Gestern war dein Licht nicht da. Jetzt schon.“ Er seufzte und spürte, wie die Wut den Knoten begann zu lösen. Doch diesmal sah er davon ab sie zu belehren, dass er keinen ausgeprägten Kern besaß. Nur eine Handvoll Personen in seiner Truppe waren damit gesegnet, er aber nicht und im Grunde war er auch glücklich darüber. Einen magischen Kern zu besitzen war verbunden mit vielen Nachteilen und Empfindlichkeiten gegenüber Einflüssen, außerdem brachte es zu viel Aufmerksamkeit und zwang einen in ein Leben ohne Kontrolle. Er war lieber frei und entschied sich aus freien Stücken, als gebunden zu sein auf fremden Wegen. Paradox, wenn man bedachte das er kriminell geworden war, um zu überleben und sich für die Königliche Armee entschieden hatte, weil er kriminell gewesen und erwischt wurden war.

„Was machst du überhaupt hier, Nisha?“ War es Arellia die das Wort ergriff und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Nisha und sie kannten sich um einige Ecken und er wusste das sich Arellia zwischen den Diensten und Trainingseinheiten um das andere Mädchen sorgte und kümmerte.

„Ich beobachte Blumen.“ Der Finger, der noch immer an Ardens Brust lag, löste sich und zeigte auf die Stelle, an der sie eben gehockt hatte. Er musste einen Moment suchen, bis er erkannte das dort wirklich Blumen wuchsen, die sich zwischen den Stein hervor gekämpft hatten. Sie waren klein und von einer gelben Farbe, dass sie ihn unweigerlich an Sumpfdotterblumen erinnerten. Die Form der Blätter passte zu seinen Gedanken, jedoch nicht der Ort. Die Feste war aus dem Stein des Luminos-Gebirges erbaut und Pflanzen gab es nur auf der anderen Seite der vierten Mauer in der Stadt. Dort aber nur wenn sich jemand die Mühe machte die wenigen grünen Flecken zu pflegen. Arden war nicht oft in den Viertel unterwegs und das aus verschiedenen Gründen. Zum einen, weil er keine Zeit hatte, da ihn das Training und der Dienst einspannten und zum anderen, weil er nicht an bestimmte Personen erinnert werden wollte. Es bestand immer die Möglichkeit das er genau auf diese traf, wenn er unachtsam war und unaufmerksam, denn eine plötzliche Anwesenheit war nicht abwegig. Bewegung mit dem Strom des Handels war der Leitfaden für gute Geschäfte, sowohl über wie auch unter der Ladentheke. Oder einfach wenn man wusste das die Taschen am Tag des Marktes besonders voll waren und flinke Finger belohnt wurden. „Sind die nicht hübsch?“

„Das sind Sonnenblumen.“ Arellia trat näher an diese unschuldigen Blumen, die im Schatten blühten. Erstaunen lag in ihrem Gesicht und Nisha nickte eifrig. Ihr Blick lag jedoch auf ihn und mit einer stummen Erlaubnis griff sie nach seinem Ärmel, um ihn ebenfalls näher zu ziehen. Er kannte sich mit der Fauna und Flora einiger maßen aus, hatte er ein paar Jahre als Jägerlehrling verbracht, doch Sonnenblumen waren nur ein Phänomen der Grenzen. Es waren kleine Blüten mit zahlreichen Blättern, die sich auffächerten wie ein Buch. Die Pollen schimmerten bei jedem Licht heller und golden, was der Grund für ihren Namen war. Laut vielen Erzählungen wuchsen sie an Orte von großer Bedeutung, wie die Schlachtfelder, die tiefer im Moor lagen oder den Lichtungen der Entscheidungen. Er hielt nicht viel davon, denn Pflanzen interessierten sich nicht für menschliche Ereignisse, sondern wuchsen dort, wo sie am besten überleben konnten. Hier wirkten die Sonnenblumen so fehl am Platz, wie der Name der Festung. Festung Sonnensteige und die gleichnamige Stadt waren weder sonnig und die einzige Steigung waren die Gebäude, die das Gebirge erklommen. Nur wenn die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte, schaffte sie es auch die verwinkelten Gassen zu beleuchten, doch ihre Wärme kam selbst im Sommer nicht an. Denn zwischen dem nahen Moor und den hohen Stein musste schon das Feuer nahe bei den Menschen sein, um ihnen auch nur ansatzweise ein fröhliches Gemüt zu geben. Zum Beispiel in dem man ein Scheiterhaufen errichtete. „Das ist ein ungewöhnlicher Ort, an dem sie wachsen.“

Nisha nickte, aber lächelte noch immer.

„Sie mögen es hier. Ich mag es auch hier.“ erklärte sie. Noch immer hielt sie Ardens Ärmel umklammert und ihre Finger gruben sich unerwartet fest in den Stoff. Dabei fiel ihm auf, dass sich ihre Hautfarben mehr voneinander unterschieden als gedacht. Sie besaß einen kühlen Unterton, als hätte jemand Asche eingerieben. Seine hatte ihn schon immer spöttische Spitznamen gegeben, darunter auch Goldjunge, denn er war von der Sonne gebräunt. Wärme, das verband er damit und es führte wieder in ein Paradoxon.

„Magst du die Sonnenblumen nicht?“

Zwei Blicke lagen auf ihn und die kindliche Frage war an ihn gerichtet, jedoch schwieg er. Er war nicht der Typ, der Blumen mochte oder gar eine Lieblingsblume hatte. Pflanzen waren für ihn nur für zwei Dinge wichtig: Nahrung und Heilung. Ästhetik war uninteressant.

„Nimm es nicht zu Herzen, Nisha. Arden ist noch müde und hatte noch keine Mahlzeit. Da ist er immer so nachdenklich und mürrisch“

„Soll ich was zu Essen holen?“

„Nein, nein. Aber das ist lieb von dir. Wir bekommen nachher schon welches“ Es war gut, dass Arellia das andere Mädchen davon abbrachte sie zu bemuttern, denn die Grenzen von Eigentum waren nicht immer bekannt. Wenn Nisha es sich zur Aufgabe gemacht hatte andere die sie mochte zu versorgen, dann hielt sie kaum jemand davon ab. Arden hatte schon mehr als einmal plötzlich Gebäck in seine Taschen gefunden und ein glückliches Wesen in seiner Nähe.

„Muss du nicht eigentlich bei deinen Eltern sein?“ fragte Arellia stattdessen und der Griff an seinem Arm wurde einen Moment fester, bevor er sich löste.

„Sie schlafen noch, ich wollte nach den Blumen schauen.“

„Dann solltest du schnell zu ihnen eilen, bevor sie aufwachen und sehen das du nicht da bist. Sie würden sich große Sorgen machen.“ Würden sie nicht, aber Nisha sah in solchen Momenten nicht die düstere Realität und empfand große Zuneigung zu ihrer Familie, obwohl diese sie öfters vergaß und vernachlässigte. Vermutlich würde es niemand auffallen, wenn ihre eigene Tochter verschwand, hatten sie genug Kinder zu Hause, um einen Verlust überhaupt zu bemerken. Das machte Arden wütend. Zornig auf Nishas Eltern und deren Ignoranz, zornig auf Arellia die zu Stolz war einzusehen das der Lebensstil der Stämme nicht perfekt war und zornig auf Nisha, die den Schmerz auf der Art des Vergessens verdrängte. Und ihn selbst schloss er auch ein, denn er tat nichts dagegen.

„Sehen wir uns wieder?“ Das Mädchen neben ihm sah ihn hoffnungsvoll an und strahlte wie die Sonne als er nickte.

„Das tun wir doch immer.“ Es reichte für diesen Moment, aber das Gefühl, das es falsch war blieb, als sie davon huschte bis sie zwischen den Gebäuden verschwand. In der Nähe waren die Schlafgemächer der Soldaten, Rekruten und vollwertige gleichermaßen. Dahinter zu dem Tor der dritten Mauer kamen schon die Schmiede und Handwerker. Nisha hatte einen weiten Weg zurück gelegt, um Blumen zu betrachten, die hier eigentlich nicht wachsen durften.

Arellia bemerkte natürlich Ardens Wut, trug er sie offen im Gesicht.

„Ich schicke sie lieber nach Hause.“ begann sie sich zu rechtfertigen. „Anstatt das sie hier alleine durch die Straßen zieht. Es wird immer behauptet das alle innerhalb der Mauer in Sicherheit sind, aber wir wissen beide das es nicht stimmt.“ Es war eine logische und nachvollziehbare Erklärung, die er verstand, aber es brachte ihn in eine verzwickte Situation. Er wollte das niemand ihm näher kam, aber jetzt wollte er die Blume aus dem Moor am liebsten in eine Decke packen und sie vor der grausamen Welt verstecken. Behüten. Verdammt, sie machte ihn hier wirklich zu einem Bruder.

Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und machte sich wieder auf den Weg. Erst nach einigen Momente hörte er, wie sie ihm folgte und dann aufschloss. Doch es verging mehrere Minuten bevor er etwas sagte.

„Du hast Recht. Mir gefällt es nicht.“

„Mir doch auch nicht.“ entgegnete Arellia und er zog seine Augenbrauen finster zusammen.

„Also gibst du zu, dass du unrecht hast, wenn du behauptest, das große Familienstrukturen perfekt sind.“

„Arschloch.“ Und er wusste was sie dachte. Sie hatte acht Geschwister, ältere und jüngere, und schwört das es das Beste war zwischen der Familie aufzuwachsen in einem Dorf, wo jeder einander kannte. Mitgefühl stand immer in ihrem Gesicht, wenn andere Gemeinschaften von diesem Konstrukt abwichen, so wie seine oder eher die nicht vorhandene. Sein Vater hatte er nie kennen gelernt, seine Mutter war aus seinem Leben verschwunden und falls er jemals Geschwister gehabt hatte, waren sie ebenso verschollen und spielten keine Bedeutung für ihn. In Arellias Augen war er einsam aufgewachsen, er war der Meinung das allein zu sein nichts Schlechtes sein musste. Ihm hatte es gelehrt zu wachsen und auf sich selbst aufzupassen, wachsam zu sein und ein gesundes Misstrauen zu pflegen. Und seine Erfahrungen, die ihn hier hingeführt hatten, haben seine Ansichten nur bestätigt.

Schweigend machten sie sich wieder auf den Weg, der sie zur ersten Mauer führte. Hier in der Festung wurde die Zählung vom Moor aus begonnen, so dass man vom Landesinneren erst die Fünfte durchquerte um die Stadt zu betreten. Die wichtigste und mit am meisten bewachte war die Verteidigung zu einem Ort, der gewachsen war aus den letzten, blutigen Tagen des Krieges. Früher war das Tal zwischen den Ausläufern des Gebirges, das dieses einschloss, eine schöne Landschaft gewesen mit alten dichten Wäldern und fruchtbaren Boden. Die ältere Generation betonte immer wieder, dass das Königreich einen Schatz verloren hatten und die Schönheit unter dem Tod nur darauf wartete wieder befreit zu werden. Für ihn klangen diese Erzählungen immer, wie eine billige Kopie von der Legende um Luminos, denn in beiden spielten sein Feuer eine entscheidende Rolle. Nicht umsonst wurde in fast allen Ländern des Kontinents das Feuer verehrt.

Schweigend erklommen sie die Stufen der Mauer und wurden oben von einer Soldatin begrüßt. Sie gehörte zu den Aufklärern, eine Gruppierung innerhalb der Königlichen Armee, und war eine finster-dreinblickende, sehr kleine Frau mit hellem Haar. Sie betrachtete Arden und Arellia einen Moment, bevor sie sich abwendete, so als wären sie beide keine weitere Aufmerksamkeit würdig. Für ihn war es gut, denn je weniger Augen auf einen lagen, desto weniger Zeugen konnten einen bei gewissen Tätigkeiten beobachten. Er wusste nicht, wie seine Begleitung es empfand, zum einen stellte er es sich vor, das man zwischen vielen Geschwister unterging, auf der anderen Seite war sie vom Aussehen auffällig zwischen den anderen Rekruten des Militärs. Individualität verschwand unter der Uniform, die Hunderte andere trugen. Arellia jedoch wurde gesehen, während Blicke über Arden glitten, obwohl sie beide die Rüstung der Rekruten hatten. Und diese brauchten sie auch, denn der heutige Morgen war kühl, obwohl der Herbst gerade erst begonnen hatte. In der Nähe des Moors schien aber alles anders zu sein. Farbloser, kühler, unwirklicher, stiller?

Für einen Moment versuchte er Tiergeräusche zu erhaschen, die zwischen den kahlen, weißen Bäumen zu ihnen drangen. Er vernahm jedoch keine und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie nur unter den Schritten der Wachen untergingen, die auf der Mauer ihre Wege folgten. Tatsächlich vermisste er tatsächlich etwas von einem Ort, den er einmal Heimat genannt hatte. Bevor er durch das Reich gezogen war, um zu überleben, war er ein Lehrling bei einem Jäger der Handwerksgilde gewesen und hatte mit diesem einen der großen, alten Wälder regelmäßig durchquert. Die Vogelstimmen waren ihm so vertraut geworden, dass er bis heute ihr Pfeifen nachahmen konnte. Eine dumme Eigenschaft die er unbewusst tat.

„Du tust es schon wieder?“ bemerkte Arellia und sah ihn kurz an, bevor sie ihn freundschaftlich mit ihrer Schulter anstieß. Eine Eigenart, die sie erst in den letzten Wochen begonnen hatte, seit er sie unterstützt hatte gegen eine Gruppe anderer Rekruten vorzugehen, die zwar körperlich dieselbe Reife erlangt hatten, aber mental bei sieben Winter stehen geblieben waren. Arellia hatte gesprochen, Arden hatte ein gutes Argument in Form eines gespannten Bogens vorgebracht. Er war mit der Besten aus der Gruppe verfaulten Fleisch, der mit dieser Waffe umgehen konnte und geschult wurde, zu verdanken hatte er es seiner ruhigen Hand, die man brauchte, wenn man in Taschen griff, die einem nicht eigen waren. Wäre er doch nur beim Diebstahl geblieben. „Und bis heute hast du mir nicht gesagt welchen Vogel du nachahmst.“

„Woher soll ich das wissen? Ich bekomme es nicht mit, wenn ich vor mich hin pfeife.“ Es war eine Lüge, die ihm viel zu schnell und leicht über die Lippen kam, das er eher darüber nachdenken musste die Wahrheit zu sagen. Etwas, worüber er sich tatsächlich mit Arellia stritt, wenn sie es nicht mehr aushielt. Ehrlichkeit war ein großes Gut in der Kultur der Moorstämme und wurde geachtet. Jemand der log nährte damit nur die schwarzen Wurzeln, die bildlich sich um den Hals schlangen und am Ende den Knoten festzogen. Laut dieser Beschreibung musste er schon seit mehreren Jahren tot sein, aber es erklärte auf jeden Fall die Abneigung, die ihre Familie gegen ihn hatte. Zumindest war ihm diese von zwei ihren Brüdern bekannt, die er schon getroffen hatte und die regelmäßig in der Festung waren. Der eine als Jäger des Dorfes, der andere als Händler im Marktbezirk.

„Pah.“ seine Begleitung verschränkte die Arme vor der Brust, bevor sie seufzte und ihn erneut anstieß. „Sag doch einfach, dass du es nicht sagen willst. Erleichtert einiges und verhindert, dass du dich nicht in deinen eigenen Worten verhedderst.“

„Hier geht es nur um eine blöde Angewohnheit, nicht um wertvolles, wichtiges Wissen, das irgendwas verändert.“ schnaubte er. Er wusste nicht, warum sie es unbedingt wissen wollte. Die Vogelart war hier an der Grenze nicht beheimatet und daher nicht wichtig, wenn man das Gebiet betrat.

„Wenn es so banal ist, warum sagst du es mir nicht einfach?“ hackte sie nach und er stellte fest, dass er schon wieder in einer ihrer Fallen gelaufen war. Das machte er in letzter Zeit viel zu oft. Sie sprach ein Thema an und biss sich in diesem so fest, dass er aus Stolz nicht zurückweichen wollte, weil es in seinen Augen eine Niederlage war. Jeder Satz, der nicht ihre Frage wahrheitsgemäß beantwortete, jede Ablenkung vom Thema oder selbst das Schweigen wurden zu kläglichen Versuchen sich aus dieser Schlinge zu winden. Und das bekam er jetzt an diesem frühen Morgen zu spüren. Sein Mund fühlte sich beim Sprechen trocken kann, denn er wusste, warum er log. Es war ein Unterschied an die Jahre zurückzudenken, als diese auszusprechen. Gesprochene Worten gaben den Erinnerungen eine Form, mit der er noch nicht umgehen konnte.

„Es ist ein Blauseiden-Schnabel.“ Die Worte presste er zwischen den Zähnen hervor und wappnete sich mit für den kleinen Stich, der kam. Blauseide war nicht nur eine Bezeichnung für ein Vogel, sondern eine Person hatte eins von ihm diesen Rufnamen bekommen, erst spöttisch und dann mit einer Zuneigung. Die Wahrheit zu sagen war da eher erwürgend als irgendwelche Symbolik von Wurzeln für das Lügen. Und Arellias auffordernder Blick drückte ihm zusätzlich gegen die Brust. Er wandte sich ab, zumindest körperlich, anders konnte er es nicht. „Es ist ein kleines Tier. Passt in der Hand und wie der Name schon sagt sind sowohl Gefieder als auch der Schnabel blau. Seine Federn sind so weich wie Seide.“

„Und woran lag jetzt das Problem?“

„Weil du mich zwingst über Dinge nachzudenken, über die ich nicht nachdenken will!“ er blickte hinaus auf das Moor und versuchte in den noch langen Schatten der Bäume irgendwas zu entdecken. „Außerdem ist es doch für dich nicht wichtig was ich Pfeife, ist es für mich auch nicht.“ Er hörte, wie sie einen Schritt nähertrat und spürte im nächsten Moment ihre Hand auf seine Schulter, die unter ihren Finger so angespannt war wie die Sehne eines Bogens.

„Tut mir leid.“

„Tut es nicht.“ bemerkte er harsch. Vielleicht konnte sie nichts dafür und es war nur eine Eigenart, die man automatisch annahm, wenn man zwischen vielen anderen eng aufwuchs. Aber sie störte ihn, auch weil sich die Situation immer wieder so abspielte. Sie wollte etwas von ihm wissen, er wollte sich aber nicht ihr gegenüber öffnen und wegen dem gerieten sie einander, weil sie beide jedoch von dieser Art Kameradschaft profitierten.

„Doch.“ Ihr Griff wurde fester und es entlockte ihm ein Seufzen. Ein Seufzen, das weniger genervt klang, als dass er es wollte. Denn wenn er eins gelernt hatte, war es schnell über Dinge hinweg zu kommen, denn nur so konnte man sich anpassen und anpassen hieß überleben zu können in einer Welt, in der nichts so blieb wie am Tag zuvor. „Und ich entschuldige mich dafür, dass es schon wieder passiert ist. Ich bemühe mich wirklich, aber...“

„Du kannst auch nicht aus deiner Haut raus.“

Sie nickte, als er sich ihr wieder zuwendete. Ihr Lächeln war ehrlich.

„Du auch nicht, daher sind wir schon zu zweit.“ bemerkte sie und er stieß zwischen seinen Lippen das leise Pfeifen des Blauseiden-Schnabel aus.

„Es wird gesagt, dass dieser seine Farbe hat, weil ihn jemand so angemalt hat. Da der Vogel sich bei Regen tief in seine Nester versteckt, hat er seine ursprüngliche Gestalt noch nicht zurückerlangt, weil sie noch nicht abgewaschen wurde.“

„Irgendwie eine niedliche Geschichte.“

„Habe ich mir nicht ausgedacht und eigentlich ergibt es keinen Sinn.“ erklärte er und es brachte Arellia zum Lachen, die ihre Hand zurückzog und zu der zweiten Mauer zeigte.

„Wollen wir langsam los und uns was zu beißen holen. Bald ertönt die Glocke.“ wechselte sie zum Glück auch das Thema und übertönte damit auch das Knurren von ihrem Bauch. Für heute verkniff er sich einen Kommentar, dass es sich anhörte, als würde er neben einem Bären stehen, denn ihm erging es nicht besser. Doch jeglicher ihrer Pläne wurde keinen Moment später zunichte gemacht, als jemand mit großen Schritten zielgerichtet auf sie zu kam. Es war die Aufklärerin von eben, deren langer Zopf hinter ihr herschwang wie eine Schlange.

„Ihr beide!“ schnauzte sie. „Mitkommen. Ihr wurdet gerade einem Aufklärungstrupp zugeordnet. Ihr habt zehn Minuten, um kampffertig am Tor zu sein. Hört auf zu Trödeln!“ Arden und Arellia tauschten nur einen Blick, als die Frau ihnen einen finsteren Blick schenkte und mit einer deutlichen Handbewegung nach unten zeigte, so als wären sie Hunde. „Wird es bald, ihr bekommt keine schriftliche Einladung, Frischlinge!“

„Ich hole was zum Essen.“ waren Arellias Worte, während er ein „Ich hole unsere Ausrüstung.“ dazwischenwarf, aber während sie noch sprachen, waren sie schon losgerannt und halb die Treppe runtergesprungen. Gut, dass sie schnell waren und ihm fiel auf, dass ihre seltsame Art von Freundschaft etwas Gutes hatte. Mit festen Anweisungen und geteilten Aufgaben würden sie pünktlich ausgerüstet an Ort und Stelle sein und nicht hungrig ins Moor gehen. Es musste nicht noch gefährlicher werden, als es schon war.

 

• • •

 

Tiffa maunzte und stimmte Ray damit zu, dass es ihnen hier nicht gefiel. Festung Sonnensteige war alles, nur nicht das was ihm beschrieben wurde war. Für ihn hatte der ganze Ort schon aus der Ferne wie ein Skelett eines Tiers gewirkt, das eingeklemmt zwischen Stein verendet war. Meister Arbos Erzählungen waren voll gewesen von Orten zum Entdecken, während Madam Callum nur geraten hatte keine nassen Socken zu tragen und sich immer warm einzukleiden. Sheila Hinweise führten nur zu blutigen Geschichten, die sie vor ihrer Abreise in den Süden in vielen kleinen Details erzählt hatte. Seine Erwartungen, die er nicht gehabt hatte, wurden enttäuscht, da konnte selbst die Gedanken an seine Familie ihn nicht für diesen Ort positiv stimmen. Alles war besser, als in deren Nähe zu sein, hatte er sich gesagt und vielleicht machte es genau das alles schlimmer. Er hatte nämlich genau das Gebiet gefunden, was schlimmer war. Eine Stadt voller lautem und buntem Licht, das sich durch schmale, unebene Straßen zwängte im Form von Menschen in allen möglichen Formen und eine Festung mit hohen Mauern, die zu seinem Leidwesen nicht den Gestank des Moores abhielten. Wofür waren diese denn sonst da? Zum Glück ließ ihn das Wetter nicht im Stich und eine Katze, die sich in seiner Tasche geschlichen hatte. Er hatte Tiffa nicht willentlich mitgeschleppt, hatte er sogar versuchte diese mit einem Boten wieder nach Königsfeuer zu schicken, als er das Wesen zwischen seiner Kleidung entdeckt hatte. Doch sie hing an ihm, wie ein Gehängter an seinem Galgen und hatte beschlossen ihn bis zu seinem Lebensende mit ihrer Anwesenheit zu quälen. Jetzt lag sie auf seiner Schulter, mit dem Hintern in seiner Kapuze und ihr Schweif wedelte ihm dabei um die Ohren. Als wäre das nicht genug beobachtete sie ihn, also nicht Tiffa, sondern Kayla, die ebenfalls in seiner Nähe zu finden war. Die Rekrutin hatte sich die Reise von der Hauptstadt bis hier hin neben ihn auf die harte Bank der Kutsche gesetzt und immer mal wieder ein Versuch gewagt eine Konversation mit ihm zu betreiben. Er hatte sie abgewiesen, denn er musste nicht wissen ob sie, wie er gezwungen wurden war in den Süden zu reisen, oder so dämlich gewesen war sich freiwillig zu melden. Aber zu seinem Leidwesen waren sie über keine hohe Brücke gekommen, über die er sich hätte stürzen können, sondern hatte die Tage in der Gesellschaft von Menschen verbracht, die er nicht kannte und kennen wollte. Er hatte sich gewünscht taub und blind zu sein, für alle seine Sinnesorgane, denn er war dem ganzen ausgesetzt gewesen. Hilflos und in voller Grausamkeit, denn es war eine Unverschämtheit und völlig Rücksichtlos in seiner Nähe Gespräche zu führen, die er nicht hören wollte. Er schnaubte und Kayla hob überrascht die Augenbrauen, als könnte sie es sich nicht erklären, wie man keinen Spaß hatte an dieser ach so schönen Heldenreise zum äußersten Zipfel des Reiches. Vielleicht fragte sie sich auch, ob er die Schriftrolle mit der Prophezeiung nicht bekommen hatte, um den Auserwählten in seiner dringlichen Aufgabe die Welt zu retten zu unterstützen. Nein, hatte er nicht und wenn hätte er diese verbrannt, denn er fror in seinem Mantel und es war tatsächlich Tiffa mit ihrer Körperwärme zu verdanken, dass er nicht starb. Ob das gut oder schlecht war, wusste er noch nicht. Doch diesmal war es nicht die Rekrutin, die das Wort ergriff, sondern der stämmige Junge, der ihm gegenübersaß und dessen Gestalt fast die seines Nebenmanns verschluckte.

„Wir sind bald da.“ sprach er leise und schenkte Ray ein Lächeln, das vermutlich aufmunternd wirken sollte. „Und ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm wird, wie es auf den ersten Blick scheint.“ Optimismus war wie Alkohol, die Menschen verteilten ihn, um das Leben anderer zu zerstören oder um es wenigstens zu versuchen.

„In den meisten Fälle zerreißen Erwachte ihre Opfer. Sie lassen wortwörtlich die Fetzen fliegen.“ entgegnete er einfach und aus dem Blick voller Gutmütigkeit wurde ein volles Entsetzen. Und ihm tat es nicht leid, er verteidigte sich und sein Schnauben nur.

„Wie bitte...Was?“

„Um es möglich bildlich zu beschreiben: Die Erwachten graben ihre Finger in das weiche Fleisch und...“

Kayla schaltete sich ein, denn der Schrecken vermischte sich mit deutlichem Ekel in den blassen Gesichtern. Selbst Moya, ein Mitglied aus der Heilergilde, die neben dieser saß, schien es Unangenehm zu sein zu lauschen. Dabei gab Ray die wertvollen Ratschläge und keine leeren Worte. Niemand konnte sagen, ob es nicht so schlimm wurde, wie es gerade erschien, was aber sicher war, war die Begegnung mit einer Leiche, die die Fähigkeit wieder erlangt hatte sich zu bewegen. Und Tote trachteten nun einmal nach dem Licht der Lebenden.

„Das muss nicht sein, also hör auf.“ sprach Kayla und bekam die stumme Dankbarkeit geschenkt die Ray gebührte, er aber nicht haben wollte. „Es ist unnötig dich so gegenüber jemanden zu verhalten, der die helfen wollte.“

„Nennt man Ignoranz.“ entgegnete er. „Ignoranz davon auszugehen das andere Hilfe benötigen, obwohl darum nicht gebeten wurde.“ Jetzt war es sie die schnaubte, doch für ihn war das Gespräch auch wieder beendet und er drehte den Kopf weg, um aus den Wagen zu schauen. Sie saßen zu acht in der Kutsche, die eigentlich nur aus Holz und einer Plane bestand, die kaum vor der Außenwelt schützte. Er saß außen und hatte diesen Platz freiwillig gewählt, weil ihm die Aussicht nach begrenzter Freiheit verlockender erschienen war, als eingeklemmt in der Falle zu sitzen. Es war eine Entscheidung zwischen zwei Unheilen gewesen, er konnte sich aber noch nicht entscheiden zu welcher Seite es mehr tendierte: Kernbeulenfieber oder Kernfäulnis. Und taub war er immer noch nicht.

„Tut mir leid, Jacob, wegen seinem Verhalten.“ Es gab nichts zu entschuldigen und wenn sollte es bei ihm getan werden, doch Ray sagte nichts.

„Schon gut. Ist nicht schlimm.“ wurde erwidert und Tiffa maunzte, bevor sie beschloss genug von dieser Welt gesehen zu haben. Sie rutschte nun vollständig in seine Kapuze und er wollte ihr es gleichtun, denn er spürte einen Blick auf sich. Aus dem Augenwinkel konnte er es allerdings nicht erkennen, wer ihn so interessant fand. Entweder war es Jacob oder dessen Nebenmann, ein blasser, dürrer Junge mit feinen Gesichtszügen und einer Narbe, die sich über eine Stupsnase zog. Egal wer es war, es störte Ray, doch zum Glück wurde sämtliche Aufmerksamkeit auf etwas anderes gezogen.

„Macht euch bereit, wir sind in wenigen Minuten da.“ rief einer der Kutscher, als sie ein Tor durchfuhren. Ray wusste nicht welche Mauer es war, denn Festung Sonnensteige hatte zu viele und doch zu wenige. Meister Arbos hatte ihn angehalten sich über seine neue Bleibe zu informieren, er hatte es jedoch als wichtiger empfunden in Kräuterbücher zu wälzen, um zu wissen welche Pflanzen er nutzen konnte, um diese Schlaftränke zu brauen. Er hatte, zu seinem Leidwesen und Albtraum, erfahren, dass er sich hier ein Raum mit mehreren Personen teilen musste. Dabei war nicht die Rede von eins oder zwei, sondern von einer ganzen Gruppe, die mit ihm Dienst an der Grenze absolvieren musste. Manche waren schon ein Zeitraum hier und auch die Gründe waren nicht dieselben, aber ihm war es egal. Er wusste nur, dass er keinen Schlaf finden würde, außer er griff zu anderen Methoden, die abwichen von Primitivität und Barbarei. Sein leichter Schlaf war durch die Entwicklung seiner Fähigkeiten noch eine Spur störbarer geworden und es war nicht seine Schuld, dass er seine Umgebung noch weniger aushalten konnte, wenn er müde war. Vielleicht konnte Ray hier die Leiterin der Katakomben überreden zwischen den Toten zu bleiben, um seine verdiente Ruhe zu bekommen. Das wäre vom Vorteil, denn es gab wenige Dinge, die er brauchte und eins davon war Abstand. Viel Abstand. Sehr viel Abstand zu Menschen und deren Lichter und deren Gehirnfunktionen.

Ray hatte nichts falsch gemacht, eben nicht, wie auch zu Hause.

Die Kutsche blieb mit einem Ruck stehen und er prallte leicht mit dem Ellenbogen gegen Kayla. Sie trug nicht ihre Rüstung, trotzdem schien alles an ihre härter zu sein. In ihrem Arm hatte sich die feinen Adern der magischen Energie um die Knochen geschlungen, wie der Stoff ihres Ärmels. Ihr Licht hob sich dabei nicht so deutlich ab, wie das von Moya. Zum Glück hatte Jacob keinen ausgeprägten Kern, daher hatte er Rays Blick oft auf sich spüren gehabt. Selbst das Schimmern war schwächer, als bei anderen Unbegabten und es war eine Wohltat für die Augen diesen anzusehen. Wenn er den anderen noch nur beibrachte ihm nicht jeden Tag und bei jeder Möglichkeit, die sich ergab Hilfe anzubieten, hätte Ray eine Gesellschaft, die er ertragen konnte. Nicht um eine Freundschaft zu schließen, auch nicht, weil er auf der Suche war nach Verbündeten oder bessere Bekannte war, sondern einfach um diesen für seine Zwecke zu verwenden. Als Punkt zum Fixieren zum Beispiel, wenn alles zu viel wurde und er nicht flüchten konnte. Da Ray zu denjenigen gehörte, die an die Grenze beordert wurden waren, wurde auch beschlossen ihn ins Training zu schicken. Er sollte lernen sich zu verteidigen, falls man ihn mit ins Moor nahm. Wobei die Wahrscheinlichkeit größer war, dass er sich gegenüber einem Erwachten innerhalb der Festung wehren musste, der darauf begehrte ihn in Stücke zu reißen. Obwohl hier die Katakomben größer waren als in Königsfeuer und mehr Mitarbeiter besaßen, mussten sich hier die Gilde der Toten neben dem alltäglichen Sterben, auch um die geborgenen Leichen aus dem Moor kümmern. Gefallene Soldaten aus einem Krieg der 35 Jahre zurücklag und sich über einige Jahre und viele Schlachten gezogen hatte. Das noch immer so viele Tote in der kalten Umarmung von Schlamm und Erde verweilten lag unter anderem daran, dass die Bergung schwierig war. War es im Norden Schnee und Eis, war es hier die Magie selbst. Immerhin war sie schuld daran, dass sich das Moor so unnatürlich schnell ausgebreitet hatte und es war auch ihr Atem, der durch die Bäume strich und nach allem griff, was ihr nicht entkommen konnte.

So wie er nicht entkommen konnte. Er kletterte von der Kutsche, während Kayla die Stufen leichtfertig hinabsprang und ihn mit schnellen Schritten überholte. Gefolgt wurde sie von den anderen, die mehr oder weniger Ray aus dem Weg gingen. Oder tat er es eher bei ihnen?

Auf jeden Fall war er der Letzte, der sich der Gruppe anschloss, als sie sich sammelten, um auf weitere Anweisungen zu warten. Laut dem Berichten des Kutschers würden sie von jemanden in Empfang genommen, der sie begrüßen würde und dann schon morgen früh würde alles beginnen. Von jeder Gilde war jemand anwesend, so dass die Ordnung scheinbar nur aus Ausnahmen bestehen konnten. Anders konnte er sich nicht erklären, wie diese Ansammlung an Menschen Sinn ergab oder ergeben konnte. Kayla kam aus der Stadtwache, Moya aus der Heilergilde, Jacob war ein Schmiedelehrling und der Namenlose Junge hatte bis jetzt so gesprochen, als wäre alles ein schlechtes Theaterstück gewesen. Hochgestochen und so nervig, wie der anklagende Blick in Rays Richtung. Er hatte nichts gemacht und wenn lag das Recht der Anklage zweifellos bei ihm. Immerhin war er hier der Hauptleittragende und fand sich inmitten von Heuchler und heuchlerische Gutmenschen wieder in einer Feste, die weder von Sonnenschein erfüllt war noch eine Steigerung vorweisen konnte. Genau das Gegenteil war der Fall und er fror in seinem Mantel. Es war kalt und feucht und es stank bis zum grauen Himmel. Alles war Grau, außer das Licht der Magie, das mal mehr oder weniger stark in den Körpern ruhte. Er versuchte nicht zu sehr auf das Schimmer und die Farben zu achten, spürte er hinter seinen Augen der aufkommende Schmerz. Sein Blick fand daher wieder Jacobs Rücken. Der Junge überragte die meisten in seiner Umgebung und seine Schultern waren so breit, dass sich Ray zwei Mal dahinter verstecken konnte. Eine Tatsache, die er sich merken sollte, denn diese konnte er nutzen, um ungewollte Aufmerksamkeit auf seine Person zu umgehen. Wie jetzt, denn er spürte schon wieder einen Blick auf sich, ohne sagen zu können vorher dieser kam. Unangenehm war er auf jeden Fall und vor allen bedrängte es ihn ungemein. Jemand hegte eine Art Interesse an ihm, das es mehr als störte musste er weder gedanklich noch verbal von sich geben. Es war eine unumstößliche Tatsache, daher trat er einen Schritt näher an Jacob. Der schien davon kaum etwas zu bemerken, sah er sich mit einer Art Staunen um und wendete den Kopf hin und her. Dabei gab es hier nichts Interessantes zu sehen. Alles war aus Stein, alles sah gleich aus und alles versprach nur eins: Eintönigkeit. Etwas was Ray durch aus als angenehm empfinden konnte, aber es gab für ihn nur ein Leben und das war in Königsfeuer, genauer in den Katakomben. Also weit, weit weg und tief, tief unter der Erde. Umgeben vom schwarzen Gestein fühlte er sich sicher, hier hatte er die Befürchtung, dass die Ausläufer des Gebirges ihn erschlagen konnten. Hoch über ihnen auf dessen Stein thronten zwei Türme, die wie Geschwüre aus diesem gewachsen waren und in dessen Spitzen das ewige Feuer ruhte. Oder eher brannte und mit ihm die Farben der Magie, die sich über alles ergossen wie ein Schleier. Wenn Ray daher behauptete, dass der Himmel grau war, log er, denn unter den Schutzzauber war alles eingehüllt von der Magie, die in jedem Menschen mal mehr oder weniger schlummerte. Oder flackerte. Oder schimmerte. Oder ruhte. Oder...

„Ist alles in Ordnung?“ Ein freundliches Gesicht sah ihn an, helle Augen dazu noch besorgt und Ray wendete sofort seinen Blick ab. Augenkontakt war noch immer unheimlich und weniger ein Akt der Höflichkeit. Genau genommen war es ein Zwang, den die Gesellschaft schon früh den Kindern aufdrängte unter falschen, leeren Etiketten. Einander in die Augen zu sehen, verhinderte nicht das Messer hinter dem Rücken, man sah er dazu auch noch viel zu spät, wenn der Gegenüber es einen in den Bauch rammte.

„Nein.“ Und damit war das Gespräch auch beendet, denn Jacob hatte keinen Grund sich für Rays Befinden zu interessieren, außer dieser zog einen persönlichen Vorteil daraus. Aber dafür war der Schmiedegeselle zu ehrlich und ihn umgab die Aura von Gutgläubigkeit und Naivität. Dessen Eltern musste ihn mit Höflichkeiten in Massen gefüttert haben, denn anders konnte Ray es sich nicht erklären warum immer und immer wieder dieselben Fragen kamen. Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung? Kann ich dir helfen?

Nein! Nein! Und Nein! So einfach war es.

Doch genau wie Kaylas anklagender Blick, wurde er auch nicht Jacob los, der den Schritt erstaunlich geschickt machte, um genau neben Ray zu stehen. Und dieser war nicht nur groß, sondern dessen Körper strahlte eine Wärme aus, die Tiffa in seinem Nacken bei weiten übertraf. Ihre Schultern berührten sich nicht, aber es gab eine Nähe zwischen ihnen die ebenso unangenehm war wie alles andere. Doch er konnte dieser nicht ausweichen, weil er unweigerlich anderen nah kommen würde. Außerdem war es nur reine Selbsterhaltung stehen zu bleiben, denn mit jedem Moment, der verstrich schien es Kälter und kälter zu werden. Es war ein Abschätzen von Vor- und Nachteilen. Nicht mehr und nicht weniger. Und zu seinem Glück schien Jacob für jetzt gemerkt zu haben, dass seine Worte nicht weiter erwidert wurden und es sinnlos war Diskussionen zu führen, deren Ergebnis schon von Anfang an feststanden. Also schwiegen sie beide, während andere redeten und sich über Belanglose Dinge austauschten. Insgesamt waren sie 15 Menschen in ähnlicher Altersklasse. Er wusste, dass noch mehr zu den Grenzen geschickt wurden, waren, wie unter anderem Carl Mountbatten, aber sie waren entweder schon früher angereist oder würden nach und nach ankommen. Ray war es Recht gewesen, zum einen, weil er so einem weiteren kritischen Blick entgangen war und zum anderen bedeuteten mehr Menschen auch mehr Gehirnaktivitäten. Außerdem war es schon eine Anmaßung gewesen auf so engen Raum mit anderen zu verbringen. Diese Reise hatte mehrere Tage gedauert, nur unterbrochen von kurzen Pausen. Selbst die Nächte waren sie durchgefahren und dementsprechend hatte Ray so gut wie keinen Schlaf gefunden. Natürlich war danach nichts in Ordnung bei ihm! Und die Blicke waren geblieben.

Doch diesmal entdeckte er die Person und war ehrlich gesagt verwundert. In der Nähe, halb verborgen von Schatten und einem Holzfass, hockte ein junges Mädchen. Sie zuckte zusammen, als er leicht den Kopf drehte und sie direkt ansah, doch außer weiße Zeichen auf aschiger Haut konnte er sich nichts von ihrem Erscheinungsbild merken, denn sie verschwand innerhalb eines Blinzelns. Sie hatte sich nicht in Luft aufgelöst, aber sich vollständig hinter dem Fass versteckt. Vielleicht um sich zurückzuziehen, jetzt wo er sie entdeckt hatte, oder um auf einen späteren Zeitpunkt zu warten, um ihre Beobachtungen fortzuführen. Wäre er jemand anderes, würde er diesen Vorfall als unbedeutend abtun, aber er besaß eine gesunde Paranoia und die sagte ihm, dass er aufmerksam sein sollte. Was für ein Mist. Jacob lag völlig falsch mit seinen Worten, es wurde nicht besser, sondern immer schlimmer. Und die Personen die durch das Tor auf sie zu geschritten kamen, machte es nicht besser. Es waren insgesamt vier, drei Männer und eine Frau, wobei letzteres Anscheinend versucht ihre Absätze in den Stein zu rammen, so wie diese stampfte. Vielleicht war es auch der Grund, warum die Menschen auf sie aufmerksam wurden, denn sie war klein. Ihr heller Schopf erreichte kaum die Schultern ihrer Begleiter, aber ihr Kreuz war dafür umso kräftiger. Ihr Blick bohrte sich Augenblicklich in die der Neuankömmlinge und Ray musste unweigerlich an den Hund seiner Großmutter denken. Zwischen Tier und Frau war dabei wohl der einzige Unterschied die Farbe von Haar und Fell. Bellen taten sie aber gleich.

„Platz da, Frischlinge!“

Die meisten aus der Gruppe folgten diesem Befehl, wollten sie auch anscheinend nicht in Grund und Boden gestampft werden. Ray blieb stehen und im Nachhinein betrachtet war es ein absoluter Akt des Narrentums, aber ihm fiel auf, dass keiner von den Neuankömmlingen einen ausgeprägten Kern besaßen. Er war andauernd von anderen Begabten umgeben, so das er manchmal vergaß das es mehr Menschen ohne ein starkes Licht gab als mit. Ein persönlicher Vorteil für ihn, aber auch wenn er es niemals offen zugeben würde, spürte er eine Art vermissen darin. War das dieses bekannte Heimweh? Absurder Gedanke und auch völlig lächerlich, so wie sein Verhalten zu spät auszuweichen. Die Schulter der Frau traf ihn am Oberarm, diese Kraft stieß ihn beiseite und er taumelte, verlor den Halt ohne zu Fallen. Es war zu erwarten, war er körperlich zwar größer, aber schlanker und kraftloser, was ihn jedoch verwundert war die Bewegung seiner Hand. Wollte er sich nur fangen, nach etwas greifen, um doch nicht zu stürzen? Warum griff er dann nach vorne und nicht nach hinten? Wieso ertasteten seine Fingerspitzen Kälte, anstatt die Wärme eines anderen Körpers zu erfühlen? Die Hundefrau blieb stehen und seine Hand blieb für einen Herzschlag zwischen ihren Schulterblättern liegen, bevor sie hinabfiel und an seiner Seite zu ruhen kam, so wie die Welt um ihn herum.

Stille. Es war still und das war es nie um ihn herum, selbst wenn der Tod sein Begleiter war und der schwarze Stein der Katakomben ihn verschlang. Dabei konnte es vor allen hier nicht so leise sein, so dass er selbst seinen Herzschlag nicht wahrnahm. Schlug es noch? Er konnte es nicht fühlen unter seiner Hand, so wie er auch nicht den Stoff seiner Jacke spürte, als er die Finger tief darin vergrub. Wie konnte er atmen? Brauchte er es? Wo war er? Wo war sein Körper? Wo war sein ich? Wo war...?

Jetzt war es jemand anderes der ihn im Rücken berührte. Statt Kälte war es glühende Hitze, die ihn durchdrang und alles vor seinen Augen zerbrechen ließ. Er wünschte sich fast zurück, denn die Farben, die Worte, der kalte Wind durchdrangen ihn, dass er erneut taumelte. Doch auch wieder stürzte er nicht, denn er wurde festgehalten und in seinem Blickfeld schob sich ein Gesicht. Es war nicht die Hundefrau, sondern einer ihrer Begleiter, der ihm vertraut vorkam wie ein Buch, das er vor einiger Zeit gelesen hatte. Ein vertrauter Buchrücken, doch an Titel oder Inhalt konnte er sich nur wage erinnern, ohne sie wirklich fassen zu können.

„Wieder bei uns?“ fragte eine Stimme, während er überlegte, ob die Person vor ihm wirklich da war, oder nur eine Illusion, denn ihre ganze Existenz schien sich nur auf eins zu konzentrieren: Ein Kettenanhänger der offen auf der Brust lag. Über ein Herz, aber kein Licht.

„Da kommt Freude auf. Jetzt sind hier sogar schon Geister.“ stieß Ray aus und ein Schauer durchfuhr ihm, als ihm bewusstwurde, das die ganze Aufmerksamkeit auf ihn lag und seine Stimme unnatürlich laut klang. Wie eine Glocke erklang sie über den Platz und durchschnitt die Ruhe, die nur einen Moment später erfüllt war durch Flüstern und unverständliche Worte.

„Geister?“ 

Die Person vor ihm, ein Mann mit zeitlosem Gesicht und tiefen, leeren Augen hinter einer besorgten Miene, umgriff seine Schulter fester. Er hatte Ray festgehalten, als dieser wieder ein Opfer seiner eigenen Magie geworden war. Ray hasste es, denn es war wieder passiert. Einen Moment der Unachtsamkeit hatte gereicht, um plötzlich und völlig in eine bodenlose Tiefe zu fallen, aus seinem Körper herausgerissen zu werden und nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein. Kontrolle war etwas, was er nicht besaß und es nervte ihn. Es war keine Wut, kein Zorn, sondern er wusste das er begann zu hassen.

„Ich meine Sie.“ entkam es seine Lippen und die Worte schmeckten wie die Kräuter des Schlaftrunks, den Meister Arbos ihn gegeben hatte. Bitter und mit einem leichten brennen auf trockener Haut. „Ihre ganze Existenz ist falsch. Wer oder was Sie sind, Sie gehören nicht hier hin.“

Doch während dieser Aussage das Summen um ihn herum verstummen ließ in völligem Erstaunen und vielleicht auch Schock, wurde er nur angesehen, bevor sich der Mann abwendete. Der Mann der Ray aus seiner willenlosen Trance mit einer Berührung befreit hatte. Die Hand auf seiner Schulter blieb.

„Schmetterling, geht es dir gut?“

Die Hundefrau deren Namen wahrscheinlich nicht Schmetterling war schnaubte und Ray war etwas enttäuscht: Er hatte ein Bellen erwartet.

„Was ist los mit diesem Frischling, Jason? Noch ein Problemkind?“ spuckte sie stattdessen aus, ohne auf die Frage einzugehen. Sie starrte ihren Gefährten an, ohne zu blinzeln, aber ihre Hand war zur Faust geballt und ein Zittern durchfuhr ihr Körper der gespannt war wie ein Bogen. „Als hätten wir nicht schon genug durch diese lächerliche Maßnahme.“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf und begann seinen Griff zu lösen. Langsam, so als wollte er Ray Zeit geben sich zu fangen. Es war unnötig und er schob die Hand grob beiseite. Einmal mehr war er froh Handschuhe zu tragen, um so direkten Kontakt zu vermeiden. In diesem Moment war die Vorstellung Haut unter seinen Fingern zu spüren fast ekelerregend, denn unter Schicht um Schicht floss Blut durch das Adern. Oder auch nicht, denn er war sich nicht sicher, ob es sich auch auf die Person vor ihm bezog. Alles wirkte falsch an ihm, so unwirklich, dass es nur ein Blinzeln brauchte und dieser verschwand, so als hätte es ihn nie gegeben.

„Nicht ein Problemkind, sondern das Problemkind.“

„Arschloch.“ Jason lachte leise bei dieser Beleidigung, die lauter Rays Lippen entwichen war als gewollt. Ein unglückliches Zeichen, das er noch mehr verloren hatte als die Kontrolle über seinen magischen Kern. Aus dem Augenwinkel sah er wie Jacob nähertrat, er hatte nicht gemerkt das der andere Junge sich entfernt hatte, wie auch der Rest der Gruppe. Kaylas Haar leuchtete auf der anderen Seite des Kreises, der sich um sie herum gebildet hatte. Neugierde war ein ekelhafter Charakterzug der Menschen mit Gehirnfunktion, zumindest bei anderen und jetzt.

„Seid ihr bald fertig? Ich will noch heute fertig werden.“ schaltete sich jemand anderes ins Gespräch ein. Eine Stimme von Autorität, die unterstrichen wurde von einer Rüstung der Stadtwache. Während die Farbe der Königliche Armee rot war, war die der Stadtwache grün wie die Nadeln einer Tanne. Ray hatte sich als Kind vorgestellt einen Wald aus diesen Bäumen, um die Katakomben zu pflanzen, um alle Besucher den Zutritt zu verwehren. Nadeln durchstachen die Haut und hinterließen kleine Verletzungen, doch wenn man genauer hinschaute und das Leben verstand, wusste man, dass ein kleines Loch gefährlicher sein konnte als eine große Wunde. Kleines sah man nicht und doch reichte manchmal nur ein Riss im magischen Kern, um das ganze Konstrukt zum Fall zu bringen. Laut und leise, tödlich waren beide Arten.

„Entschuldigen Sie, Hauptmann Braose.“ Jason neigte leicht den Kopf, während die Hundefrau unzufrieden die Arme vor der Brust verschränkte. Auch sie trug eine Art Rüstung, nur ihre war so grau und unauffällig wie der Himmel. Sie war farbloser als ihr Gefährte, aber dafür umso greifbarerer. „Ich wollte nur sicher gehen, dass die Leichen nur in den Katakomben zu finden sind.“ fuhr der Geist fort. Selbst das leichte Summen, während er sprach, klang falsch. Unecht. Es war so, als wollte man einen Stummen beim Singen zuhören, während er umgeben war von anderen Sängern und Instrumenten. Das Auge täuschte einen die Existenz vor und ließ das Ohr Töne hören, die es nicht gab. „Und dass hier niemand in naher Zukunft stirbt.“

Der Hauptmann runzelte misstrauisch die Stirn und Schmetterling sah ihren Nebenmann erstaunt an, bevor sie unbewusst die Hand hob, um sich abzutasten. Es wirkte fast, als wollte sie sich an den Hals greifen, um sicher zu gehen, dass sie noch genug Luft zum Atmen hatte. Jason reagierte in den ersten Herzschlägen nicht, sondern schien nur zu beobachten, wie die Stimmung sich anspannte. Es schmerzte fast die kalte, feuchte Luft einzuatmen und doch war es nichts im Vergleich zu dem Moment, wo sich ein durch dringlichen Blick auf Ray richtete.

„Ich frage mich, wie viele Menschen du schon unwissend umgebracht hast?“

 

• • •

 

„Ich frage mich, wie viele Menschen du schon unwissend umgebracht hast?“ Dieser Satz hing in der Luft und erfüllte alle mit einem Schweigen, während Blicke auf den Jungen aus den Katakomben ruhten. Ray fiel vom Äußeren nicht auf in der Gruppe, da er in vielen Bereichen durchschnittlich wirkte, dass jedoch änderte sich, wenn dieser den Mund aufmachte und vor allen, wenn seine Fingerspitzen vor Magie leuchteten. Ungebändigte Magie, die in dem Moment des Ausbrechens die Kontrolle verschlang und sich auf der Suche machte andere zu berühren. Es passierte so plötzlich, dass ein Wimpernschlag reichte, um Zeuge einer solchen Situation zu werden. Aber konnte Ray wirklich jemanden mit so eine Berührung töten? Unwissend, als nur ein weiteres Opfer einer magischen Macht? Kayla wusste und vor allen hoffte es nicht, denn das bedeutete das es Kräfte gab, die viel zu einflussreich waren und das in einer kleinen Gestik. Allein der Gedanke daran ließ sie innerlich schaudern, auch weil ihr Nebenmann mit leisen Worten ihre Sorgen in einer bestimmten Richtung lenkte.

„Wenn eine unkontrollierte Berührung unwissend einen Menschen töten kann, will ich nicht erfahren, was mit Kontrolle über diese Kraft angestellt werde kann.“ Ein lautes Flüstern in der Stille und mehr Köpfe drehten sich in die Richtung des schmalen Jungen, der auf der Hinfahrt in ihrer Kutsche mitgefahren war. Als Fion hatte er sich mit einer ungewöhnlich hohen Stimme vorgestellt, die auch jetzt Worte bedacht betonten und etwas melodisches an sich hatte. Neben Kayla wirkte er dazu kleiner und zierlicher als das er war. Etwas Weiches umgab ihn, während Ray, wenn seine Magie ausbrach, aus harten Kanten bestehen zu schien. Gerade Linien mit einer unerwarteten Zielgenauigkeit und einem klaren Blick in den dunklen Augen. Es wirkte, als hätte er die Kontrolle, doch das hatte er nicht. Kayla hatte es bis jetzt nur zwei Mal gesehen, doch immer hatte er danach völlig schockiert und fassungslos gewirkt, so als hätte ihn jemand ins kalte Wasser gestoßen oder aus einem Traum gewaltsam gerissen.

„Das ist doch Schwachsinn.“ widersprach der Junge aus den Katakomben. Er sah auf seine Hände und dann durch die Gegend, ohne seinen Blick zu lange irgendwo ruhen zu lassen. Dabei vermied er es vor allen den jungen Mann anzusehen, der das ganze ins Rollen gebracht hatte. Jason, so wurde dieser von seiner Kollegin genannt, schien der einzige zu sein, der völlig entspannt schien.

„Eigentlich nicht.“ begann er und zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich, doch er wandte sich an Hauptmann Braose. „Führen wir mit der Einweisung fort. Mit Eurem Verlaub würde ich dann Rayven Falham danach direkt in die Katakomben bringen.“ Der Angesprochene verzog so das Gesicht, wie der Genannte und Kayla musste ihr kleines Schmunzeln in ihrem Kragen verstecken: Beide wirkten, als hätten sie auf ein Pfefferkorn gebissen. Aber zumindest konnte sie bei Ray mit diesem Gesichtsausdruck mehr verbinden als unter Einfluss seiner Magie. Es war seltsam wie vertraut ihr schon manche Sachen an dem Jungen war, obwohl sie sich noch nicht lange kannten und noch weniger direkt miteinander gesprochen hatten.

„Noch ein Falhalm also. Nun, gut. Ich gestatte es, damit dieses unnötige Chaos unterbunden wird.“ Jason nickte mit einem Lächeln, während die Frau in der Rüstung ein 'Zu gütig' schnaubte. Ray hingegen murmelte leise anscheinend Beleidigungen und Flüche, weil Jacob neben ihm ihn empört ansah. Der Schmiedegeselle hatte sich mit am schnellsten wieder gefangen und war nähergekommen. Kayla mochte ihn, weil Jacob schon auf ihren Weg gezeigt hatte, dass er ein einfühlsamer und hilfsbereiter Mensch war, der sich um andere sorgte. Dabei besaß er anscheinend eine gewisse Sturheit, weil er trotz Rays Ablehnung versuchte ihn in der Runde aufzunehmen. Scheinbar ein unmögliches Unterfangen, aber irgendwie war sie schon immer optimistisch. „Dann fahren wir nach dieser Unterbrechung fort.“ Hauptmann Braose trat vor die Gruppe und versuchte mit seinem Blick gefühlt jedem in die Seele zu schauen. Bei manchen wurde der Mund verzogen, andere bekamen einen neutralen Ausdruck geschenkt. Kayla bekam den Letzteren, was sie darauf schob, weil sie ebenfalls der Stadtwache angehörte. „Ihr wurdet auserwählt oder habt euch freiwillig gemeldet, um hier an der Grenze als Unterstützung zu dienen. Das bedeutet ihr werdet ausgebildet, geschult und ausgestattet, um irgendwie nützlich zu sein und niemanden im Weg zu stehen. Neben eurer normalen Arbeit in den Gilden selbstverständlich. Das hier ist kein Volkswandertag, sondern hier wird gearbeitet und gekämpft. Es heißt Leben oder für andere zu sterben.“ Bei den letzten Worten sah der Hauptmann ins Ray Richtung, doch dieser zeigte eine besondere Art der Unhöflichkeit. Desinteresse und eine Katze, die er aus der Kapuze gefischt hatte. Kayla wusste nicht, ob sie den Jungen für sein Selbstbewusstsein loben oder das Verhalten als Dummheit halten sollte. Der Blick vom Soldaten verfinsterte sich deutlich. „Ich bin Hauptmann Teagan Braose und ihr steht unter meinen Befehlen. Zuständig für Eure Belange sind Mirabella Teran aus der Einheit der Aufklärer.“ Die Frau nickte und verschränkte kampflustig die Arme vor der Brust. Kayla nahm sich vor es sich nicht mit ihr zu Verscherzen, denn sie schien eine Person zu sein, die nicht nur bellte sondern auch biss. „Und Eskil Falham von der Stadtwache.“

Noch ein Falhalm, das waren die Worte vom Hauptmann gewesen. Kayla hatte sich bei diesen nichts weiter dabei gedacht. Der Letzte im Bunde hatte geschwiegen und war deswegen im vorherigen Chaos untergegangen. Sie hatte ihn schlichtweg nicht beachtet, was ihr jetzt im Nachhinein dumm vorkam. Nicht nur gab es eine deutliche äußerliche Ähnlichkeit zu Ray, sondern war er der Dritte ihr bekannte, der denselben Namen trug und an der Grenze zum Moortal war. Sie fragte sich, ob Berrat Falhalm ebenfalls ein Onkel für den jungen Mann gewesen war oder wenn nicht sogar der Vater. Auf jeden Fall hatte er ihr Mitgefühl. In den letzten Wochen hatte sie sich viel zu oft Gedanken um den Tod gemacht und sich gefragt, ob sie es verkraften, würde ihren Vater zu verlieren. Es hatte sie in einer düsteren Richtung getrieben, daher hatte sie jede freie Minute in der Werkstatt verbracht und die Gesellschaft ihres Vaters genossen. Sie würde ihn jetzt für ein ganzes Jahr nicht sehen und sie vermisste ihn schrecklich. Ebenso wie Tristan, ihre Brüder und andere Mitglieder aus der Familie. Unbewusst griff sie nach ihrem Zopf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne richtete.

„Jason Callum, ebenfalls von den Aufklärern, wird euch und euren Werdegang beobachten und bewerten.“ fuhr Hauptmann Braose fort und deutete auf den jungen Mann, den eine seltsame Aura umgab. Dabei fiel ihr auf, dass er einen größeren Abstand hielt und es wirkte, als wollte er jeden Moment davon gehen. „Ihr erhaltet jetzt eine kurze Führung zu den wichtigsten Punkten hier in der Feste, danach werdet ihr zu eurer Unterkunft gebracht. Morgen früh beginnt euer neuer Alltag hier. Bereitet keine Probleme und ihr werdet keine haben.“ Und mit diesen aufmunternden Worten wendete sich der Hauptmann der Stadtwache weg und überließ den anderen das Feld, oder eher Mirabella Teran und Eskil Falham.

„Ich werde später wieder zu euch stoßen, Schmetterling.“ erklärte Jason, der jedoch Eskil ansah, nachdem die Aufklärerin mit einem Schnauben geantwortet hatte. „Keine Sorge, es wird niemand sterben, Falham.“

„Darum war ich nicht besorgt.“

„Es schadet trotzdem nicht es zu betonen.“ Kayla wusste nicht, ob sie diesen Austausch als freundschaftlich einordnen sollte, aber sie hatte das Gefühl etwas lag in Jasons Stimme. Er sprach...anders, aber sie konnte dieses anders nicht genauer erklären. Zurück blieben die beiden Zuständigen und Eskil machte eine höfliche Handbewegung als Zeichen, das Schmetterling den Vortritt hatte. Schmetterling war ein schrecklich unpassender Spitzname für diese Frau, der viel zu offen verwendet wurde. Allerdings war das vielleicht so unter den Aufklärern. Diese Einheit der Königlichen Armee war keine, die präsent in die Öffentlichkeit oder in den Vordergrund trat und überwiegend in den Grauen Gebieten agierte. Kayla hatte noch nie zuvor einen von ihnen getroffen, daher waren ihr die farblose Rüstung und das Erkennungszeichen fremd.

Es war ein Schlüssel über ein halbgeöffnetes Auge. Passend und gleichzeitig verwirrend in der Symbolik. Die Aufklärer waren eine militärische Einheit, aber keine mit hoher Priorität. Das bedeutete das die Mitglieder aus anderen Gilden stammten und nur begrenzt zur Einheit gehörten, um ihren Dienst zu verrichten. Ob Jason Callum zu den Heiler- oder doch zur Magiergilde gehörte? War Mirabella Teran eigentlich hauptsächlich ein Teil eines anderen Bereichs? Kayla wollte am liebsten nachfragen, doch das verkniff sie sich und verschob es auf später. Manche Antworten, so hatte sie stetig von Tristan gehört, bekam man wie von selbst, indem man geduldig war und wartete. Eine Eigenschaft mit der sie sich jetzt nicht selbst beschreiben würde.

„Nun gut, ihr Frischlinge.“ begann Mirabella Teran mit ihrer kräftigen Stimme, die einige zusammenzucken ließ. Die Frau reichte ihren Nebenmann gerade mal zur Schulter, aber ihre waren genauso breit. Sie könnte auch zum Handwerk gehören. Eine Angestellte in der Werkstatt ihres Vaters hatte durch die schwere Arbeit auch ein bemerkenswertes Kreuz und Kaylas Mutter rümpfte darüber immer die Nase. Frauen sollten weich sein, rund und sanft, etwas, was Kayla auch nicht war, weil sie da auf die Williams-Seite kam. Früher hatte es sie gestört, doch jetzt war sie eher stolz, weil sie Tristan im Armdrücken schlagen konnte. „Sperrt eure Ohren auf und hört genau zu. Ich werde es euch nur einmal erklären und Fragen ignorieren.“

„Dann ist wohl meine Funktion hier schon geklärt.“

„Du bist viel zu weich, Eskil. Und du hast dein eigenes Grab geschaufelt, weil sie dir jetzt in den Ohren liegen werden.“

„Wer sagt, dass ich sie nicht für jede Frage mit Strafdienst quälen werde.“ Mirabella lachte. Es war kurz und in diesem lag ein Knurren, bevor sie den Kopf schüttelte, dann wendete sie sich wieder zur Gruppe. Diese schien neugierig, ungeduldig und zum Teil auch verschreckt zu sein, doch niemand schien ein offensichtlicher Freiwilliger zu sein. Kayla wurde hier hinbeordert, ebenso wie Jacob wie sie es im Gespräch mitbekommen hatte. Das Ray überall anders sein wollte als hier stand ihm im Gesicht geschrieben.

„Folgt mir.“ Und das taten sie. Leise tuschelnd gingen sie hinter der Frau her, die davon stampfte. In Kaylas Nähe hielten sich Fion auf und die Heilerlehrling Moya. Letzteres huschte bei der nächsten Gelegenheit sogar an ihre Seite und besah sich die Umgebung kritisch.

„Wäre alles nicht so grau, wäre es hier sogar recht hübsch.“ erklärte sie. Fion der die leise Worte vernommen hatte rümpfte die Nase.

„Der Gestank ist viel schlimmer. Wenn ich nicht wüsste, dass sich im nahen Moor Jahrzehntealte Leichen befinden würden, würde ich fragen was hier gestorben ist.“ Beide hatten Recht. Hier war es farblos und der Geruch biss in der Nase, aber anscheinend war irgendwas am Himmel so faszinierend, dass Ray immer wieder hinaufblickte. Alles, was über ihnen thronte waren schwere Wolken, die Ausläufer des Luminos-Gebirges und die beiden ewigen Feuer auf ihren Türmen. Vielleicht sah es hier im Frühling viel anders aus oder im Sonnenschein, zumindest hoffte sie es.

„Zwei oder drei Monate hier und du wirst dich an den Gestank gewöhnt haben.“ Moya lächelte aufmunternd. Sie musste es ja zum Teil wissen, weil sie kranke Menschen pflegte und mit Extremente zu tun hatte. Fion runzelte misstrauisch die Stirn.

„Hoffe ich.“ murmelte er, doch seine Worte gingen unter. Sie überquerten den großen Platz, entfernten sich von der Mauer, nur um sich einem riesigen Gebäude zu nähern. Es bestand wie alles hier aus Stein und schien geradewegs aus dem Boden zu wachsen. Festung Sonnensteige, so hieß es aus den Überlieferungen, wurde direkt in die schmalste Stelle des Gebirges geschlagen und alles war mit diesem verbunden. Um es bildlich zu fassen, musste Kayla an ein Kinderspielzeug aus Holz denken. Ein Kästchen mit eingelassenen Formen, die, wenn man das Spielzeug umdrehte, herauskamen. Richtete man das Holz wieder auf, so verschwanden diese Stücke allerdings wieder in ihren Fassungen und nur wenn man genau hinschaute, konnte man sie erkennen. Und ähnliche Formen fand man auch am Gebäude. Rechtecke, Dreiecke und Halbkreise waren verbunden zu einer Einheit, die allerdings keine Symmetrie aufwies. So konnte nur anhand der Banner an der Außenseite erahnt werden, welcher Flügel zu welchem organisatorischen Bereich gehörte. Dabei war eins mit seiner Größe prägnant: Ein silberner Turm auf rotem und grünem Grund. Das Wappen des Königsreichs Eldurs.

„Wir befinden uns hier zwischen der dritten und vierten Mauer. Die dritte Mauer ist die am Gebäude, das das Zentrum der Feste ist. Wir nennen sie die Goldwacht und sie ist der Sitz der Verwaltung. Hier befindet sich auch die Bibliothek, die Magiergilde, die Glaubensstätte und der Gerichtssaal.“ Also alles für den Kopf, würde Kaylas Vater sagen, doch diesen Gedanken sprach sie nicht aus. „Rechts von uns im Gebirge befindet sich die Katakomben, deren Zugänge aber sich zwischen anderen Mauern befinden. Links als Gegenstück ist die Krankenstation.“ Der Unterschied zwischen beiden Seiten war gravierend. Während das Gebäude der Heilung aus dem Felsen herausgeschlagen wurden war, wirkte die rechte und nähere Seite wie völlig nackt. Außer schmale Fenster, die im Schatten kaum zu sehen waren, waren hier keine Anzeichen von Gebäude oder Räumlichkeiten. Dieser Eindruck wurde von einem Podest verstärkt, das genau davorstand und einer zusätzlichen Aussage von Mirabelle Teran. „Bei den Katakomben, die von Nevestika Arbos geleitet werden, befindet sich auch das Gefängnis.“ Wieder ein bekannter Name. Kayla wusste das manche Familien aus der oberen Gesellschaftsschicht einer Berufung folgten und in dieser überall zu finden waren, ihr war aber nicht bewusst wie sehr. Braose war auch der Nachname der Kommandantin der Stadtwache, Arbos diente als Inbegriff der Katakomben und Falham gehörte zu dem militärischen Bereich, wie das ewige Feuer auf den Türmen.

„Die Gefangenen direkt am Ort der Hinrichtung und noch näher an der letzten Ruhestätte.“ Wieder runzelte Fion die Stirn. Moya nickte zustimmend.

„Kurze Wege sparen Zeit.“ war es jedoch eine Stimme hinter ihnen die sprach und sie alle drei zusammenzucken ließ. Keiner von ihnen hatte Ray bemerkt, der anscheinend schon eine Weile hinter ihnen gegangen war. Jacob ebenfalls, aber er war so höflich, um entschuldigend auszusehen. „Gefangene sind gute Übungsobjekte. Niemand schreit nach Moral und Gerechtigkeit, außer es lebt noch jemand.“ Hatte Kayla jemals gedacht, sie würde mit Ray zu Recht kommen, bewies er ihr gerade wieder das Gegenteil. Sie hoffte, dass wirklich nur Tote in die Katakomben kamen und niemand, der noch atmete. Allein die Vorstellung das jemand sich auf den Tisch wand, während der magische Kern entfernt wurde, ließ sie offen Schaudern. Fion blinzelte ungläubig, nur Moya schien diesmal weniger schockiert zu sein.

„Der Tot wird immer erst bestätigt, bevor die Vorbereitung für die Verbrennung beginnen.“ Ray sah Moya genau auf die Stirn, bevor er sich abwendete und was murmelte das verdächtig nach 'Was immer die Menschen auch ruhig schlafen lässt' anhörte.

Sie folgten der Gruppe durch das Tor der dritten Mauer und fanden sich in einem belebteren Bereich wieder. Hier gab es keinen großen Platz, sondern Straßen und unterschiedliche Gebäude in allen Größen und Formen. Menschen gingen hier ihr Tagesgeschäft nach und in der Ferne konnte sie das Hämmern von Metall hören. Hier befand sich das Viertel der Handwerker.

„Wir befinden uns zwischen der zweiten und dritten Mauer.“ War es Eskil, der das Wort ergriff. Seine Stimme war leiser, aber trotzdem wurde er gut gehört über die Geräusche um sie herum. Menschen schenkte ihrer Gruppe einen kurzen Blick, doch dann wurden sie wieder ignoriert, weil sie nicht interessant genug waren. Festung Sonnensteige war geschäftiger als gedacht. „Wie euch sicher aufgefallen ist, hat die Handelsgilde ihren Sitz in der Stadt. Die Handwerksgilde hingegen teilt sich auf in zwei Bereiche, einer ebenfalls in der Nähe zum Landesinneren und der andere hier neben dem militärischen Bezirk.“ Man wollte das alltägliche, einfache Leben nicht hier haben, wo Kampf und Schutz im Vordergrund standen. Hier wurden Waffen und Rüstungen hergestellt und keine Alltagsgegenstände. Eskil sah in die Runde. Ihr war aufgefallen, dass er Ray keine auffallende Beachtung schenkte, was vermutlich besser war. Tiffa war ein Blickfang genug, die auf den Armen des Jungen lag, maunzte und den Kopf neugierig in alle Richtungen drehte. Sie machte aber keine Anstalt davon zu laufen, sondern ließ sich lieber tragen. War das ein normales Verhalten einer Katze? Kayla wusste es nicht, aber da das flauschige Wesen mit der ungewöhnlichen Niedlichkeit auch ein Teil der Katakomben war, schien auch für sie interessante Charakterzüge zu gelten. Wie auch im Mauerbereich zuvor waren die Räumlichkeiten der Katakomben zu übersehen, denn es war ein einfaches Tor in ihrer Nähe, das zwischen zwei Säulen im Felsen eingelassen war. Es stand offen, doch jeder schien ein Bogen darum zu machen. Durch die Gebäude konnte man die andere Seite des Gebirges nicht sehen, weil hier die Fläche wesentlich größer war. „Ein Teil der Unterkünfte befinden sich auch hier, ebenso bestimmte Bildungsstätte. Sich hier zurecht zu finden, wird schwer, daher beachtet bitte die Straßenschilder. Ihr könnt euch folgendes zur Orientierung merken: Rechts und Links sind Wohnblöcke, in der Mitte das Handwerk.“ Kayla sah diese Ordnung noch nicht, aber so wie sie es früher in Königsfeuer gemacht hatte, würde sie hier aus Erkundungstour gehen. Vielleicht schlossen sich Moya, Jacob und Fion sich ihr an. Oder sie suchte sich jemand von der Stadtwache, sie war nicht das einzige Mitglied, aber keiner der anderen kannte sie. Noch nicht einmal die Namen, denn in sie hatten in unterschiedliche Kutschen die Reise verbracht. Kayla hatte sich zu Beginn in ihrer fehl am Platz gefühlt, aber zumindest Moya, Fion und Jacob hatten sie begrüßt. Sie waren eine bunte Mischung gewesen, vor allen, wenn sie Ray dazu zählten. Doch jetzt ging die kleine Rundreise durch die Festung weiter und es wurde für Kayla interessant, denn sie betraten den militärischen Bezirk. Die Übungsplätze und Kasernen befanden sich zwischen der ersten und zweiten Mauer, ein Bereich, den sie durch ein großes Tor betraten. Befehle wurden gerufen, Pfeile schwirrten durch die Luft und Kampfübungen wurden an vielen Stellen durchgeführt. Da fühlte sie sich sofort wohl, denn es war vertraut, trotz der Gewissheit das hinter der Mauer das Moor lag mit all seinen Gefahren. Ihre und die Aufmerksamkeit vieler wurde zu einer Art Arena gezogen, die sich links von ihnen befand. Es war ein abgegrenzter Bereich, der etwas tiefer lag als der Rest und umgeben von Tribünen. Zwischen diesen konnte man einen Kampf beobachten, der viel Interesse geweckt hatte. Zwei Personen standen sich gegenüber: Ein Kämpfer, ausgerüstet mit Schwert und Schild, bewegte sich in einem Halbkreis um seinen Gegner, der schwere Ketten als Waffen benutzte. Dieser schien jedoch nicht die Erfahrung zu haben damit zu kämpfen, den er taumelte und zerrte an ihnen. Es wirkte etwas unbeholfen und dieses schien ihn wütend zu machen, aber er gab nicht auf. Immer und Immer wieder versuchte er seinen Kampfpartner anzugreifen und grunzte vor Anstrengung. Zumindest dachte Kayla das, bis sie Eskils Worte vernahm.

„Seit wann übt diese Einheit mit Erwachten und das noch mit einer dieser Stufe?“ fragte er Mirabella, die finster das Ganze beobachtet hatte. Die Ketten waren keine Waffen, fiel es Kayla wie Schuppen von den Augen. Diese waren dafür da, um den Erwachten zu kontrollieren. Sie waren eine Sicherheitsvorkehrung.

„Sonderantrag der Magier für einen großen Vorstoß ins Moor.“ spuckte die Aufklärerin aus und sie deutete auf Männer, die am Rande der Arena standen. Sie trugen keine Rüstungen und waren auch viel mehr damit beschäftigt zu diskutieren, während der Kämpfer zum Angriff überging. Schnell überbrückte er den Abstand zum Erwachten und begann seinen Angriff mit dem Schwert. Kayla kannte die Abfolge der Schritte zumindest in der Theorie, doch es kam nicht zum Schlag. Statt Waffe wurde das Schild gehoben, um sich vor der magischen Energie zu schützen. Ray schnaubte.

„Magier.“ erklärte er leicht abfällig. Diesmal zuckte sie nicht zusammen, weil sie viel zu fasziniert und schockiert war, von dem was sich vor ihren Augen abspielte. Sie wusste nicht, das Erwachte Magie wirken konnten, auch über den Tod hinaus. Das war unheimlich und furchtbar schrecklich. Im Moor lagen Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Tote, ausgebildete Soldaten und Magier, die eins in einem Krieg gekämpft hatten. Plötzlich kam ihr hier die Sicherheit, die die Mauern ihr versprachen, viel zu wenig vor und sie wünschte sich eine Waffe am Gürtel zu tragen. Zum ersten Mal legte sich Eskils Blick auf Ray und er wandte sich direkt an diesen.

„Erkläre der Gruppe kurz, wie es dazu kommen kann, dass der Erwachte hier ist und Magie nutzen kann.“ Bei dem Jungen aus den Katakomben schien eine andere Forderung angekommen zu sein, so wie dieser den Mund wieder verzog, aber diesmal kam kein Widerstand oder Widerspruch.

„Der magische Kern ist ausgeprägt und hat sich nach einem Zeitraum entladen. Dadurch stehen Leichen wieder auf. Ein toter Körper merkt sich Abläufe, die sich die Person im Leben verinnerlicht hat und die magische Spur unterstützt es.“ Ray legte leicht den Kopf schief und schwieg einen Moment. „Magie sucht Magie, daher folgen die Erwachten die Lebenden und gieren nach dem magischen Kern.“ Die meisten Erwachten zerreißen ihre Opfer, das hatte er in der Kutsche zu Jacob gesagt und Kayla hatte es als eine Gemeinheit abgetan, um andere zu verschrecken. Vielleicht auch, weil es ihm Freude bereitete, andere zu Schockieren und Angst einzujagen. Doch es war einfach die Beschreibung einer wahren Tatsache gewesen.

„Das ein Erwachter in der Lage ist diese Art von Fähigkeiten zu nutzen kommt nicht so häufig vor.“ begann Eskil als zusätzliche Erklärung in die Stille der Gruppe hinein. Seine Worte hatte aber anscheinend nicht die gewünschte Wirkung, auch weil Mirabella begann vergnügt über den Schrecken der Neuankömmlinge zu sein. „Wir klassifizieren Erwachte und wenn ihr gelernt habt euch zu verteidigen, kommen sie euch nicht mehr so furchterregend vor.“

„Heißt das, wir müssen gegen...Erwachte kämpfen?“ wagte es Fion zu fragen. Sein Gesicht war nicht das einzige, das blass war. Seine Stimme zitterte zusätzlich und stieg eine Oktave höher.

„Natürlich.“ verkündete die Aufklärerin, doch ihre Freude wurde ihr genommen und es kam von ihr ein 'Spielverderber'.

„Nein. Nicht alle von euch. Aber es schadet nie zu lernen sich zu verteidigen. Es hilft in allen Lebenslagen.“ Eskil lächelte kurz, bevor er einen letzten Blick zur Arena warf. Wieder legte Ray kurz den Kopf schief und Kayla fragte sich, ob es eine Angewohnheit war, wenn dieser über etwas nachdachte oder wenn ihm was aufgefallen war. Der Kampf nahm wieder seine Ursprungssituation ein und das war auch das Letzte, was sie von diesem vernahmen. Sie wurden über den Übungsplatz zurück zum Tor geführt und Kayla war ein bisschen froh drum. Sie versuchte sich mit anderen Dingen abzulenken, doch außer Gesprächsfetzen nahm sie nichts wahr, was das Bild vertrieb. Ein Erwachter der aktiven Magie nutzte. Wer war dieser zu Lebzeiten gewesen, hatte er im letzten Krieg gekämpft und lange in der eisigen Umarmung des Moores geruht? Oder war er zwischen Bäume hindurch gewandelt auf der Suche nach den Lebenden? Was war mit anderen Menschen, die in Schlachten ihr Leben gelassen hatten? Helden aus den Geschichten und Erzählungen mit mächtigen Gaben und ausgezeichneten Fähigkeiten – hatten sie dann überhaupt eine Chance, wenn sie einen von ihnen begegnen würden? Sie wusste es nicht und diese Ungewissheit machte ihr Angst.

„Unheimlich.“ stimmte auch Jacob ihre Gedanken offen zu. „Ich dachte immer die Erwachten sehen nicht so menschlich aus. Kommt man sich nicht vor wie ein Mörder, wenn man gegen diese kämpft?“

„Das setzt voraus, das man überlebt und nicht in Stücke gerissen wird.“ Ray wieder und diesmal traf er bei Kayla einen Nerv.

„Du bist nicht hilfreich, wenn du so etwas in den unpassendsten Situationen sagst.“ bemerkte sie scharf, doch er zuckte nur mit den Schultern.

„War auch nicht meine Intention. Fürs Kopf tätscheln und Leuten das falsche Gefühl von Sicherheit geben ist nicht meine Aufgabe.“ Sie schluckte ihre Wut runter, auch wenn es ihr schwerfiel. Sie wollte jetzt keinen Aufstand machen, aber trotzdem nicht klein beigeben.

„Für jemand der Menschen nicht mag, mischt du dich ziemlich oft in Gespräche ein.“ Sie traf einen wunden Punkt, das merkte sie und auch Tiffa, die zu Boden sprang und davonhuschte. Ray wirkte etwas verloren ohne die Katze und schien für einen Moment nicht zu wissen wohin mit seinen Händen. Er trug Handschuhe, fiel ihr auf.

„Ich verstehe euch und eure Gehirnfunktionen nicht.“ erklärte er mit einer ungewöhnlichen Offenheit und Ehrlichkeit? Sie zweifelte daran etwas und wartete auf seinen verbalen Angriff. „Ihr seid schockiert über Tatsachen, die schon seit vielen Jahren existieren und Teil des Lebens sind. Ist eure Überraschung also Blindheit oder Ignoranz? Dummheit oder Egoismus?“ Er sah sie mit dunklen Augen an. „Ich gebe euch einen Rat: Jammert nicht und findet euch damit ab. Ab einem Punkt werdet ihr keine Gehirnfunktionen haben und trotzdem belästigend durch die Welt wandeln.“ Er ging, folgte der Gruppe die weitergegangen war. Kayla hatte nicht gemerkt, dass sie und die anderen stehen geblieben waren. Jetzt konnte sie nur den Mund schließen, den sie zum Sprechen geöffnet hatte und dem Jungen aus der Katakombe hinterherschauen.

„Ich mag ihn nicht.“ gestand Fion ehrlich nach einigen Augenblicken und jetzt nickte sie zustimmend, als dieser fortfuhr. „Das war unnötig zu sagen. Nicht jeder hat tagtäglich mit Toten zu tun. Ich wette mit euch, dass es Bereiche gibt, über die er sich auch keine Gedanken macht und machen will.“ Moya schwieg und Jacob schien hin und her gerissen zu sein, doch keiner der beiden bezog eine deutliche Position.

„Wollen wir weiter gehen, bevor wir den Anschluss verpassen?“ versuchte es der Schmiedelehrling ausweichend und diplomatisch. Und sie folgten den Vorschlag gemeinschaftlich, auch weil sie keine Wahl hatten. Der auffordernde Blick von Mirabella ließ sogar die Schritte schneller werden, während Eskil sie vorbeiließ. Er wurde zum Schluss der Gruppe, die nun langsam das Erlebnis auf den Übungsplatz überwanden. Irgendwie, denn für viele war es das erste Mal gewesen einen Erwachten zu sehen und noch mehr war es deutlich geworden, dass von ihnen eine reale Gefahr ausging. Schauergeschichten bekamen eine unangenehme, greifbare Form. Sie hatte ein solches Erlebnis in den Katakomben gehabt, wo eine alte Dame in ihrem Sarg nach Minnibert gerufen hatte. Es zu sehen oder nur zu hören, war, wie sie feststellte, allerdings ein großer Unterschied. Ihr Blick glitt zurück zur zweiten und ersten Mauer, während sie auf dem Weg zu ihrem Wohnblock waren. Dort hinten lag das Moor und in diesem ruhten die Verstorbenen aus dem letzten Krieg. Nur Stein und die ewigen Feuer schützten sie vor den Erwachten, hielten diese auf sicheren Abstand, doch das Gefühl von Sicherheit und einen ruhigen Schlaf würde sie eine Weile nicht haben. Als sie sich wieder nach vorne wendete, bemerkte sie, das Eskil sie beobachtete. Wenn er anderen, in dem Fall der Aufklärerin, das Sprechen überließ, war er wirklich unauffällig und man konnte ihn schnell übersehen. Dazu wirkte er auf Kayla verschlossen, doch anders wie Jason Callum war, er umso greifbarer, wenn man ihn bemerkte. Unter der Ruhe, die ihn umgab, schien etwas zu liegen, was ihr unbekannt war.

„Keine Sorge.“ sprach er leise, nach einem Moment, wo weder er noch sie den Blick abgewendet hatten. Er hielt Blickkontakt, anders als Ray. „Es wird einige Wochen dauern, aber danach wird die Alltäglichkeit eingesetzt haben. Gewohnheiten sind eine Interessante Sache in ihrer Auswirkung.“ Diesmal lächelte er nicht, sondern war der Erste, der wegsah. Er musste nicht mit den Augen lange suchen, um Ray zu finden, der sich von der Gruppe entfernt hatte. Nicht so sehr, das Mirabella auf ihn aufmerksam wurde, doch der Abstand zu den anderen war groß. Der Junge stand dort mit verschränkten Armen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt und das finstere Gesicht Richtung Himmel gestreckt. Eskil schüttelte leicht den Kopf und ihm entkam ein Seufzen. „Es ist für jeden eine Umstellung. Nehmt es einander nicht all zu übel. Hier sind zudem die Schutzzauber stärker als in Königsfeuer.“ Kayla nickte, auch wenn sie im ersten Moment nichts mit den Worten anfangen konnte. Er wartete auch nicht auf eine Erwiderung, sondern ging wieder nach vorne zu Mirabella und ließ sie zurück mit ihren Gedanken.

Es war logisch, dass hier die Schutzzauber, die von den ewigen Feuern erzeugt wurden, stärker waren. Die Bedrohung war nah und allgegenwärtig, während die Hauptstadt im Landesinneren lag und sich nicht vor Erwachte und andere Gefahren aus der Dunkelheit verteidigen musste. Ray sah also in den grauen Himmel, weil es für ihn ein weiteres Farbenspiel sein musste, das unter den grauen Wolken hing. Ein kräftigeres Licht das über ihnen thronte. Doch Kayla beschloss, dass diese erneute Belastung keine allheil Entschuldigung für seine Worte war. Aber ein wenig umsichtiger würde sie trotzdem sein. Sie wusste nicht, ob Eskil ihr das genau damit sagen wollte, aber sie stellte fest, dass er sich auf der einen oder anderen Art um seinen Verwandten kümmerte. Unbemerkt für diesen, denn Ray schien einem Kater ähnlich zu sein. Vermutlich war das auch ein Grund, warum Tiffa in seiner Nähe zu finden war. Auch jetzt schlich sich das fellige Wesen aus dem Schatten und näher heran, bis sie miauend die Aufmerksamkeit einforderte, die ihr in den wenigen Augenblicken verwehrt gewesen war. Ray hob Tiffa wie ein Sack Gemüse hoch und schien nicht mehr als zu verloren zu wirken.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /