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Kapitel 1

 

 

 

Leuchtender Stern

 

 

Der Mond stand hoch am Himmel. Sanft und beruhigend schien er auf den Mithil Naigr, den Steinernen Berg und erhellte den heiligen Platz mit einem Licht, das in keiner anderen Nacht so stark war wie in dieser.

Die Blätter und Äste der Weiden wiegten sich im Takt mit dem Gesang der Frauen und Mädchen, deren Stimmen klangen wie das Raschen des Meeres, das Flüstern des Windes und das Züngeln der Flammen im Wind. Stimmen, die von Jahrhunderten sangen, die erzählten von den alten Geschichten, die von den Leuten außerhalb ihres Landes schon längst vergessen waren, von Legenden und Sagen und von der Unveränderlichkeit der Seele und der Unsterblichkeit. Es waren Stimmen, die Jahrtausende überdauerten und noch immer klangen, wie das erste Lachen im Leben eines Neugeborenen.

Es waren die Stimmen der Ayhir, der Unsterblichen, die von den Schlachten der Elfen erzählten, lange bevor die Menschen das Licht der Welt erblickten.

Ihre Gewänder waren aus dem Leuchten der Sterne gemacht, die heute Nacht heller schienen als in sonstigen Nächten, ihre Körper hatten die Gestalt von Menschen angenommen, dann waren sie Elfen und wenige Sekunden später waren sie zu den Dunklen, den Geschöpfen der Nacht, geworden. Sie wechselten ständig ihre Gestalt, denn sie selbst waren körperlos, nur ihre Geister existierten in einer Welt, die anderen Wesen verborgen blieb.

Jedes Jahr, wenn der Mond am höchsten Punkt stand, versammelten sich die Ayhir und tanzten in jenen Nächten auf dem Mithil Naigr und erfüllten mit ihren zauberhaften Stimmen Luft, Erde und alle Geschöpfe, die auf ihr lebten.

Und in jenen Nächten versammelten sich Druiden und Priesterinnen, um den Weisheiten der Ayhir zu lauschen und in den Sternen die Zukunft ihres Volkes zu lesen. Jedoch war es nur einigen gestattet, die Ayhir zu erblicken, denn nicht jeder ertrug ihren Anblick, den Augenblick vollkommenen Glücks und viele hatten sich im Lauf der Zeit ihr Leben genommen, mit der Erkenntnis, dass nichts mehr je Freude und Erfüllung bringen konnte, solange es sich nicht um die Ayhir handelte. Viele hatten sich als würdig empfunden und waren gescheitert und so hatte der Rat beschlossen, dieses Jahr nur die Ältesten am Tanz teilnehmen zu lassen, um die Zukunft aus den Sternen zu lesen. Heute würde ein besonderes Jahr anbrechen und man konnte sich keine Fehler erlauben, wenn es um die Zukunft ging.

Einer von ihnen war Rafalgar, Oberster der Druiden und Silbermantel aus dem Land in den Bergen. Sein Körper hatte schon viele Jahrhunderte gesehen, sein Urgroßvater war ein Alt-Elf gewesen, einer der Ältesten Elfen auf dieser Welt. Und obwohl sein Körper Spuren der Zeit aufwies, so waren seine Augen doch hellwach und ein junger und gesunder Geist regte sich in ihnen, begierig und immer durstig nach Wissen.

Er wandte sich an Djerna, die Hohepriesterin aus Calem, die wie er einen weiten Weg zurückgelegt hatte, um dem Tanz der Ayhir gespannt beizuwohnen. Wie er war auch sie eine Person in hohem Rang, doch sie hielt ebenso wenig davon, wie Rafalgar, ihre Religion bezog sich nicht auf weltlichen Ruhm, auch wenn der Rest des Landes daran festhielt und darauf ihre Herrschaft aufbaute. Djerna war einige Jahre jünger als er, wenn es nicht sogar Jahrzehnte waren, die sie trennten. Doch an Weisheit und Erfahrung stand sie ihm in nichts nach, ebenso wenig wie im Umgang mit der Macht, die ihnen allen inne wohnte. Einige nutzten sie, die anderen nicht. Manche, so wie Djerna und er, setzten sie im Auftrag der Götter ein, um das Volk zu beschützen, wenn Gefahr drohte oder einfach nur, um das Gleichgewicht der Natur zu erhalten, das in letzter Zeit immer mehr erschüttert wurde.

„Was verraten die Sterne, Schwester?“

Djerna deutete mit ihrer rechten Hand nach Osten.

„Jalka steht in ungünstiger Position, er zieht zu nah an Solphos heran.“

Beide betrachteten stumm die beiden Sterne, die sich so nahe waren, wie ein Zwillingsstern. Schließlich brach Rafalgar das Schweigen. „Verzweiflung gepaart mit Zuversicht. In der Tat so ungewöhnlich?“

„Was mag das bedeuten? Eine solche Konstellation ist mir noch nie begegnet.“

Rafalgar antwortete nicht darauf.

„Rafalgar?“ Djerna kannte Rafalgar schon fast ihr ganzes Leben und doch gab es noch so viel, dass sie noch nicht voneinander wussten. Ein Gefühl sagte ihr, das auch dies eines dieser Dinge war, die sie nicht von ihm wusste.

„Habt ihr so etwas etwa...?“

„Schon einmal gesehen, ja.“

Rafalgar warf sich seine Kapuze über den Kopf, als suche er in der Schwärze des Schattens nach Erinnerungen, die in jahrzehntelanger Entfernung lagen und ruhten.

Wie ein Flüstern traten seine Worte an ihr Ohr heran. „Damals. Ja damals. Es ist so lange her und doch war es erst gestern, dass ich hier saß und in die Sterne blickte, zum ersten Mal in meinem Leben. Mein Vater saß bei mir und lehrte mir, den Kopf nicht in den Himmel zu stecken und mich in den Sternen zu verlieren, sondern den Blick in die Ferne zu richten, wo die Ayhir tanzten und sangen. Sangen vom großen Leid in den vergangenen Jahren und vom Leid in den Jahren, die noch kommen. Leid gibt es inzwischen überall in der Welt.“

Djerna lauschte seinen Worten, als wäre es die Göttin persönlich, die zu ihr sprach. Die Ayhir waren in weite Ferne gerückt und auch die Sterne waren in ihren Augen wie immer geworden. Den Blick in die Gegenwart gerichtet, lauschte sie seinen Worten, als gäbe es danach nichts mehr.

„Mein Vater hatte sie schon so oft tanzen sehen, doch in dieser Nacht war es anders. Er muss gespürt haben, dass dieser Tanz der letzte war, den er sehen würde. Die Zukunft war somit für ihn nicht mehr wichtig und die Sterne hatten für ihn ihre Bedeutung als Weiser der Zukunft verloren.“

Rafalgar sah sich um. Neben ihm und Djerna waren Gesandte aus allen Teilen des Landes gekommen. Sie hatten ebenfalls ein Lager aufgebaut, wo sie die Nacht verbringen würden, sobald der Tanz vorüber war.

„Sieh sie dir an, Djerna. Alle so begierig darauf, die Zukunft zu erfahren, dass sie dabei vergessen, auch an die Gegenwart zu denken. Und obwohl wir aus der Vergangenheit viel mehr lernen könnten, so klammern wir uns doch immer an die Zukunft! Glaubst du nicht auch, dass wir nur die Sklaven unserer eigenen Angst sind? Der Angst davor, falsch zu handeln und Fehler zu machen?“

„Der Fehler, der begangen wird, ist nur ein Fehler, wenn wir ihn als solchen betrachten. Ein Fehler jetzt mag sich später als ein Glücksfall erweisen. Und manchmal nehmen Dinge, die wir jetzt noch als gut empfinden, in Zukunft eine negative Gestalt an. Ich glaube wir haben keine Angst davor, falsch zu handeln. Ich glaube, dass es dieses Gefühl in uns ist, das uns nicht still sitzen lässt, während wir darauf warten, dass jede Möglichkeit zu handeln unwiederbringlich dahin ist.“

Rafalgar atmete tief ein. „Wohl war. Erinnerungen. Ja, Erinnerungen sollen es sein, an die wir uns klammern. Denn Erinnerungen können uns nicht mehr genommen werden, die Zukunft hingegen...“

Die Zeit war weit vorangeschritten, so wie sie es in dieser Nacht immer tat, wenn die Ayhir auf Erden weilten. Noch immer tanzten sie auf dem Hügel, ein Anblick, der sich Rafalgar nun zum letzten Mal bieten würde. Schon vor Jahren hatte er seinen Tod gesehen, damals als er in den Orden aufgenommen wurde. Während der Zeremonie hatte er es gesehen, er wusste, was geschehen würde, in dieser Nacht, in der Nacht der Ayhir.

Rafalgar blieb nicht mehr viel Zeit, er wusste es und auch Djerna schien es zu spüren. Seine Aura wurde immer schwächer, auch wenn es seine Kraft noch nicht schwächte.

„Kein Sorge, liebe Schwester! Die Sterne geben mir Hoffnung und Vertrauen. Noch ist die Zukunft nicht entschieden.“

„Ihr habt Recht!“ Djerna atmete tief durch und blickte zum Horizont, der in der aufgehenden Sonne in allen Tönen leuchtete und dessen Glanz die ganze Insel umspannte.

Der Reigen der Ayhir war zum Stillstand gekommen und sie machten sich bereit, zum Himmel und zu den Sternen zurück zu kehren. Kleinste weiße Flocken regneten auf den Hügel der Ayhir herab und bedeckten den Hügel mit einem weißen Teppich. Die Ayhir sangen ihren letzten Ton und vermischten sich mit dem Glitzern des Lichtes aller jener, die vor ihnen waren. Ein glitzernder Wirbel aus Licht bildete sich, der sich dem Himmel entgegen streckte. Dann waren sie verschwunden.

Die Sonne brach nun völlig hinter dem Horizont hervor und ließ den Hügel in den Farben tausender zersplitterter Diamanten funkeln.

Dieser Augenblick war es gewesen, der Rafalgar am Leben erhalten hatte. Nun konnte er in Frieden gehen.

„Eins gibt es noch zu tun, Djerna. Die Sterne wurden gelesen und ihre Botschaft muss übermittelt werden.“

 

Kapitel 2

 

 

Tod

 

Ein Schrei durchdrang die Stille, der Schrei neuen Lebens.

Warm und hell schienen die Sonnenstrahlen durch das Fenster und kündeten von einem neuen Tag und von neuem Leben.

„Ein Mädchen!“ Die Priesterin legte das kleine rosa Bündel in die Arme der Mutter, die erschöpft aber glücklich die Arme nach ihrer Tochter ausstreckte.

Hai´re blickte auf in die unergründlichen smaragdgrünen Augen ihrer Tochter und kam zu der Erkenntnis dass dies nicht ihr erstes Leben auf dieser Welt war.

„Welchen Namen soll sie tragen?“

Die Priesterin stand bereit, mit der Zeremonie zu beginnen und wartete nur noch auf den vorläufigen Namen des Mädchens, bis es den Weg ihres Schicksals beschreiten würde. Der Name des Kindes war gleichzeitig der Name, den sie in der Öffentlichkeit tragen würde. Doch der Name der `Nefer`, den es als Frau erhalten würde, war der Name der Götter. Sie würde ihn niemals aussprechen, es sei denn im Auftrag der Götter selbst.

„Was sagen die Sterne?“

Die Priesterin antwortete nur zögernd. Sie hatte schon befürchtet, das Kind würde in der Ayhir-Nacht geboren werden. Alle Kinder, die in dieser Nacht geboren wurden, erbten das Gesicht der Götter, eine Gabe der Ayhir.  Sie erhielten zwar die Fähigkeit des Wahrsagens, aber die äußere Welt blieb ihnen verschlossen und sie mussten blind ihren Weg durch das Leben finden.

Zaáli hatte gefürchtet, es würde Hai´re in tiefe Verzweiflung stürzen, falls ihr einziges Kind blind wäre. Doch Hai´re hatte die Nacht überstanden und die Geburt konnte bis in die Morgenstunden hinausgezögert werden.

„Du weißt, dass gestern...“

„Ich weiß was gestern für eine Nacht war!“, wurde Zaáli von ihrer Schwester unterbrochen. „Dennoch war es die Nacht vor ihrer Geburt. Diese Sterne haben ihr den Weg in das Leben gezeigt.“ Hai´re strich ihrer Tochter sanft über die Stirn.

„Ich träumte.“

„Was?“, geschockt hielt sich Zaáli die Hand vor die Brust und umklammerte das Siegel, das Symbol ihren Orden so fest, dass es zu zerspringen drohte. „Warum hast du das nicht früher gesagt? Wann hast du geträumt?“

„Kurz bevor die Wehen einsetzten.“

„Bei Kitalpha! Zaáli musste sich setzen. Das durfte nicht sein! Nicht Hai´re! Nicht ihre einzige Schwester!

Hai´re entging der entsetzte Gesichtsausdruck ihrer Schwester nicht. „Hab keine Angst, Zaáli! Siehst du denn nicht, wie wunderhübsch sie ist? Schau doch, ihre Augen! In ihr wohnt eine Seele, die schon viele Leben gesehen hat, und dieses wird nicht ihr letztes sein. Ich weiß, dass sie eine Bestimmung hat, meine Träume lügen nie.“

„Das weiß ich! Und es macht mir Angst! Hai´re, wenn du nicht sterben willst, dann darfst du diesem Kind keinen Namen geben! Verstehst du? Wenn du ihm einen Namen gibst, dann gibst du ihm die Erlaubnis zu existieren! Das wäre dein Tod!“

„Willst du es denn nicht sehen, Zaáli? Sie ist doch mein Schicksal. Sie ist der Mensch, für den ich sterben werde! Ich habe es gesehen!“

„Hai´re!“, warnte Zaáli in einem scharfen Ton, „reduziere den Wert deines Lebens nicht auf ein Kind!“

Zaáli öffnete ein Fenster und frischer Wind strömte herein. „Die Winde verlangen nach dir. Sie sind dein Schicksal.“

Hai´re setzte sich vorsichtig auf und streckte ihre Hand in den Wind, der spielerisch ihre Finger umfloss und die Blätter aus den Birkenbäumen darum tanzen ließ. Sie atmete tief ein und aus und mit ihrer Atmung bewegte sie die Fließrichtung des Windes, der mit ihrem Atem langsamer und schneller ging. Schließlich öffnete sie die Augen und zog ihre Hand wieder zurück. Der Wind bauschte noch einmal kurz durch die Bäume und erstarb.

„Du hast recht“, sagte sie leise. Weniger zu Zaáli als mehr zu ihrer inneren Stimme, die sie schon seit längerem drängte. „Ich werde zu ihnen zurückkehren, aber nicht heute Nacht.“  Während sie sprach, legte sie das schlafende Kind sanft auf das Bett und sanft behutsam auf.

„Hai´re...“, wollte sie Zaáli zurückhalten. Doch Hai´re schüttelte den Kopf und ging auf eine hölzerne Truhe zu, die am Bettende stand.

Sie zog mit ihrer Hand ein Zeichen in der Luft und spürte den Lufthauch, der durch die Truhe strömte und diese öffnete.

Der Inhalt der Truhe bestand hauptsächlich aus Zeremonienkleidern und Schmuck, doch das wichtigste war der Atame, um den sich die Schlangen des Caduceus gewunden hatten und so die Klinge verschlossen.

Hai´re nahm ihn heraus und sofort fingen die Schlangen an, sich zu bewegen. Erst ganz langsam, so als mussten sie sich ihrer Herrin erst wieder erinnern. Dann folgte eine schnelle, gleichmäßige Bewegung, mit der sich die Schlangen voneinander lösten und sich jede straff auf eine Seite der Schneide legte.

„Hai´re...“, bat Zaáli. „Bitte.“

„Nein, Zaáli!“ Hai´re blickte auf das Ankh, das Zaáli vor ihrer Brust hängen hatte, das Zeichen ihres Glaubens.

„Wenn ich zu den Unsterblichen zurückkehre, wirst du die Einzige sein, die sie in dieser Welt noch hat. Das wird mein Vermächtnis sein!“

Hai´re stand langsam auf. Obwohl sie noch sehr wackelig auf den Beinen war, machte Zaáli keine Anstalten, ihr zu helfen. Das war etwas, das sie allein tun musste.

„Gib sie mir!“, bat Hai´re ihre Schwester, als sie die Arme nach ihr ausstreckte.

Zaáli ging zu dem namenlosen Geschöpf und nahm es gefühllos in die Arme. Es war fast gewichtslos und lag beinahe wie eine Feder in ihren Armen. Das zeigte, wer ihre Mutter war, die Himmelsfee. Hai´re war eine jener Himmelsfeen, die in den Ersten Tagen nach Asaia, der Sterblichen Welt kamen und durch ihre Wünsche und wunderbaren Gedanken jeder den Teil der Welt, in der er lebte, einzigartig machte.

Und all das wollte sie nun an dieses Kind übergeben?

Sie gab Hai´re das Kind in die Arme, die es, anders als ihre Schwester, behutsam und vorsichtig hielt. Dann setze sie sich in den Lotussitz und legte das Kind in ihren Schoß. Zuletzt nahm sie den Atame sicher in die linke Hand.

„Du willst es wirklich tun?“

„Ja“, sagte sie bestimmt, „für sie lebe ich. Für sie habe ich mein ganzes sterbliches Dasein damit verbracht, dieses Land zu erschaffen. Es soll ihr gehören.“ Mit diesen Worten zog sie mit der noch immer scharfen Klinge über ihren Zeigefinger und malte schließlich mit dem Blut, das an der Klinge haftete, vorsichtig ein Zeichen auf die innere Seite des kindlichen Armes, kurz unter dem Handgelenk. Sobald sie das getan hatte, schloss sie kurz die Augen und die Schlangen lösten sich und verschlossen die Klinge erneut.

Hai´re nahm das Baby in die Arme und stand auf. Sie konnte die Veränderung bereits spüren, wie die Kraft ihres Körpers in das Mal überging. Sie verlor bereits den Bezug zu dieser Welt, konnte fühlen, wie der Boden unter ihren Füßen weich wurde, zerfloss, wie sich ihr Körper um sie herum löste.

Sie übergab das Kind Zaáli und legte sich ins Bett. Das Bild begann bereits vor ihren Augen zu verblassen, der Geruch der Hütte wurde immer dünner, bis er schließlich ganz verschwand und das Gefühl in ihren Händen ließ immer deutlicher nach.

Zaáli hatte sich neben ihre sterbende Schwester ans Bett gesetzt, das Baby war inzwischen aufgewacht und streckte die Arme nach ihrer Mutter aus.

„Zaáli versprich mir, dass du sie aufziehen wirst. Gib ihr ein Zuhause. Erzähl ihr, wer ihre Mutter war, wenn du glaubst, dass sie so weit ist. Sie soll hier leben, in ihrem Land und sie-“ Hai´res Stimme schwand bereits und es kostete sie sehr viel Kraft, diesen Zustand noch länger aufrecht zu erhalten. Sie atmete kurz tief ein, ehe sie weiter sprach. „Und sie soll Wissen. Versprich es mir, Zaáli!“ Dann strich sie ihrer Tochter noch ein letztes mal über die rosigen Bäckchen, auch wenn sie sie bereits nicht mehr spüren konnte.

„Leb wohl, Leá!“

Mit diesen Worten verließ ihr Geist Asaia und kehrte in die Unsterbliche Welt ein. Ihre Hand fiel leblos auf das Bett, bevor ihr Körper in tausende, winzigkleine glitzernde Flocken zerfiel, die ein letztes mal sanft die kleine Leá umwirbelten und sich dann ihren Weg durch das Fenster hinaus in die Freiheit bahnten.

„Cala cest, Hai´re. A banath”, flüsterte Zaáli unter Tränen. „Cala cest.“

Lebe wohl, Hai´re. In Ewigkeit. Leb wohl.

Kapitel 3

 

 

Schlange

 

 

Das Wasser des Ayhiri – Sees glitzerte im dünnen Schein der Sonne, die gerade dabei war, aufzugehen und bunte Wölkchen an den Himmel malte. Die Vögel erwachten, streckten ihre Köpfe unter den Flügeln hervor und flogen einer nach dem anderen über die Baumkronen. Der Duft der frühen Morgenstunde lockte die Tiere des Waldes aus ihren Verstecken, doch nicht nur die Tiere. Leise wogen sich die saftig grünen Blätter der Bäume in der Morgenbrise und gaben den Rücken eines Wakani-Hirsches unter dem grünen Laub frei, der von einem Geräusch aufgeschreckt, lauschend seine Ohren in die Höhe streckte.

Leise schlichen zwei Füße, die mit den Zehenspitzen kaum das Gras berührten, an ihn heran. Angespannt hob er den Kopf und blickte um sich, während sich eine schmale Hand fester um den Griff eines Messers legte. Nervös scharrte er mit einem Huf auf der Stelle und versuchte, den fremden Duft mit seiner Nase zu erhaschen.

Die Person, die sich in einem Gebüsch genau hinter ihm versteckte, beobachtete jede seiner Bewegungen genau, wie sich sein Brustkorb immer schneller hob und senkte, wie der Hirsch kleine weiße Wölkchen durch seine Nase in die kühle Novemberluft ausstieß, und sie Bewegung seiner Ohren, die immer wieder in eine andere Richtung zuckten, sobald sich die Person nur ein wenig rührte. Sie wagte kaum, sich zu bewegen, also blieb sie in der Hocke im Gebüsch sitzen und wartete, bis der Hirsch sich beruhigte.

Noch immer blickte der Hirsch um sich und wackelte ab und zu noch mit den Ohren, doch sein Atem ging wieder ruhig. Er hatte sich an die Umgebung gewöhnt, zu der nun auch die Person im Hintergrund gehörte, die noch immer regungslos dasaß, die Hand fest um den Messergriff geschlossen, und wartete.

Sie konnte lange warten, so lange, bis sich der Hirsch in Sicherheit wiegte, dann würde sie zuschlagen. Sie hatte lange geübt, bis sie es geschafft hatte, ihre Gefühle zu kontrollieren, ihre Ungeduld zurück zu halten und auf den richtigen Moment zu warten. Der Moment war entscheidend, der Überraschungseffekt, das plötzliche Auftauchen aus dem Nichts.

Bei der Jagd musste man wie ein Geist sein, ein Schatten der Beute selbst. Man wurde Eins mit der Umgebung, verschmolz mit den Bäumen und wurde somit zu einem Teil des Ganzen, für andere Lebewesen von den Bäumen, den Flüssen, der Erde nicht mehr zu unterscheiden. Und man blieb dennoch man selbst, selbst wenn man seine Gedanken und Empfindungen mit den Geistern der Natur teilte. Dieser Zustand war es, in dem sich die Person befand, sie war Eins mit der Natur geworden.

Es war genau dieser Moment, auf den sie gewartet hatte, als sich der Wakani-Hirsch in Bewegung setzte. Mit einer Schnelligkeit, die der Hirsch nicht erfassen konnte, war sie wie eine Katze aus dem Gebüsch gesprungen und hatte sich auf ihn gestürzt. Es sollte nur ein kurzer Kampf werden, doch der Hirsch war der Stärkste seiner Herde und er wusste sein Leben zu verteidigen. Sie hatte das Messer genau an seine Kehle gesetzt, doch eine unerwartete Bewegung des Hirsches ließ sie abrutschen und sie durchtrennte stattdessen den rechten Beinmuskel. Der Schrei des Hirsches durchdrang die Stille, es blieb ihr nun nicht mehr viel Zeit, das wusste sie. Bald würden die anderen Hirsche auftauchen und sie musste unverrichteter Dinge verschwinden.

Der Hirsch setzte zum Lauf an, doch sein verletztes Bein machte ihm zu schaffen. Er verlor immer wieder das Gleichgewicht, doch die Person auf seinem Rücken dachte nicht daran, loszulassen und hielt sich so gut es ging, im Fell des aufbäumenden Tieres fest. Sein Blut klebte noch an ihrer Hand und der Geruch setzte sich an ihrem ganzen Körper fest. Je intensiver der Gestank wurde, um so mehr glaubte sie, sie müsse ersticken. Sie konnte fühlen, wie der Geruch des Todes bereits in der Luft lag und das sie das Tier erlegen würde. Der Hirsch versuchte immer noch, sie abzuwerfen, er humpelte so schnell er konnte durch das Dickicht, die Zweige zerschnitten ihre Arme wie scharfe Klingen, zerrten an ihren Haaren und wickelten sich im ihre Beine. Er konnte sie verletzen so viel er auch wollte, sie war hier, um ihn zu töten und so würde es auch sein, selbst wenn sie danach selbst so verletzt war wie er. Plötzlich änderte sich etwas. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber sie spürte die Veränderung der gesamten Natur, der Gaia.

Und noch ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, stürzte der Hirsch. Mit einer geschickten Handbewegung stieß sie sich vom Rücken des Hirsches ab, überschlug sich in der Luft und landete genau neben ihm im Gras, das Messer bereit für den letzten Schlag.

Ihr Arm schmerzte und es fiel ihr schwer, das Messer sicher zu halten. Dennoch hatte sie ihren Blick fest auf den Hirsch gerichtet, der bewegungslos am Boden lag. Sie sah, dass er noch atmete und sie spürte das Pulsieren seines Geistes, wie er nun um das Leben kämpfte. Er war wahrhaftig der Wakani, der König der Hirsche. Sie stellte sie genau über ihn, er hob langsam den Kopf und sah sie an. Er hatte die goldenen Augen des Wakani, die sich nur zur Stunde seines Todes zeigten.

„Ich opfere dich Avriel, der Schutzgöttin des Feuers. Möge die lodernde Flamme deines Geistes bei ihr einkehren und mögest du als Diener Gaias in diese Welt zurückkehren.“

Dann malte sie ihm mit ihrem eigenen Blut das Segenszeichen auf die Stirn und zog das Messer über seine Kehle. Sie spürte wie der Geist des Wakani-Hirsches seinen Körper verließ und Eins mit den Elementen wurde. Erst jetzt trat sie zurück und steckte das Messer in die Tasche zurück. Als sie auf den toten  Hirsch blickte, dessen Blut das Gras und die Zweige unter ihm rot färbten, dachte sie darüber nach, dass sie diejenige gewesen war, die ihm das Leben genommen hatte. Sie hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, dass die Herde nun ohne Führer war und sie sich wahrscheinlich harte Kämpfe um die Nachfolge liefern würden.

Sie hatte ein Leben beendet, es vernichtet, unwiederbringlich zerstört. Welcher Zweck rechtfertigte das schon? Nichts konnte mit dem Leben eines Lebewesens aufgewogen werden.

Durch sein Opfer würde neues Leben entstehen. Eine Geste der Dankbarkeit war das Mindeste, was sie ihm schuldete. Sie kniete vor ihm, die rechte Hand auf dem Herzen, Zeige- und Mittelfinger der Linken auf der Mitte seiner Stirn ruhend. „So spricht Leá, Tochter der Hai´re. Cala cest, a banath.“

Sie lud den Hirsch auf ihre Schultern und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf.

 

 

 

 

Im Dorf herrschte bereits reges Treiben. Die Frauen waren auf der Straße, trieben das Vieh auf die Weide oder waren auf dem Weg in den Waschraum. Fröhlich liefen entweder Jungen oder Mädchen mit ihnen mit, bereit für die täglich wartende Arbeit.

Leá strich der feine Geruch des Honigbrotes um die Nase, das jeden Morgen frisch hergestellt wurde. Der Duft wurde intensiver, je näher sie dem Tempel kam und der Gedanke an den süßen Geschmack des Brotes ließ ihr Herz schneller schlagen. Das süße Brot war den Göttern geweiht und jenen, die ihnen dienten, den Priesterinnen und Druiden. Aber an einem Tag im Jahr war es jedem erlaubt, Kicha, Honigbrot, zu essen. Ob er nun der Führer eines Volkes oder einfacher Bauer war. An diesem Tag weihten die Götter ihr Volk, jeder in seiner Weise und sie dankten es ihnen mit dem Großen Fest. Jedes Volk hatte seine eigenen Götter, das wusste Leá. Über ihrem Dorf hatte Avriel ihre Hand gebreitet, die große Göttin des Feuers. Ihr war das Große Fest geweiht, das heute gefeiert wurde und ihr wurde auch der Wakani - Hirsch geopfert, den Leá erlegt hatte.

Der Wakani war das Symbol der unbändigen Kraft, in ihm wohnte ein Geist, dessen Flamme so loderte wie das Ewige Feuer der Avriel, das in den Tempeln dieses Landes brannte. Zum Zeitpunkt seines Todes, so glaubten sie, wählte Avriel einen Menschen, in dessen Brust dasselbe Feuer brannte. Dieser Mensch trug ein unverwechselbares Merkmal, die goldenen Augen des Wakani, die sich nur in dieser einen Nacht zeigten. Heute war es soweit. Die Feuerzeit war gekommen, die Tage wurden länger, Avriels Feuer spannte sich über das ganze Land und brachte dem Land Wärme und Fruchtbarkeit.

Diese Nacht war es, auf die Leá ihr ganzes bisheriges Leben gewartet hatte, denn heute wurde sie zur Frau. Sie würde zusammen mit den anderen Mädchen um das große Feuer tanzen und sich einen Partner aussuchen. Einen jener jungen Männer, die das Zeichen des Hirsches auf der Brust trugen, ein jedes Mädchen würde so Eins mit dem großen Wakani. Es heißt, unter ihnen sei der wahre, der Einzige, der von Avriel erwählte Mann, nur einer von ihnen, der seinen großen Geist bändigen  konnte und seine goldenen Augen trug.

Wurde er ausgewählt, so konnte er seine wahre Gestalt annehmen oder nicht, abhängig davon, ob er seine Partnerin als weltliche Vertreterin der Avriel annahm. War ihr Geist stark genug, die Bürde seines Samens zu tragen, so schenkten sie sich beide diese eine Nacht.

Leá wusste, dass jedes Jahr mindestens ein Kind in dieser Nacht gezeugt wurde, und jede Mutter war davon überzeugt gewesen, mit dem Wakani diese eine Nacht verbracht zu haben. Doch im Nachhinein stellte Leá fest, dass deren Kinder keine Anzeichen dieser Nacht trugen, keines von ihnen hatte die goldenen Augen, so wie es in der alten Schrift beschrieben wurde.

Ihre Kehra hatte Leá alles über diese Nacht erzählt, sie hatte ihr den Tanz beigebracht und ihr gezeigt, wie sie den Wakani erkennen könne.

Je mehr sie darüber nachdachte, umso aufgeregter wurde sie. Das Gewicht des Hirsches, den sie sich mit einem Sack über die Schulter geworfen hatte, erinnerte sie ständig daran.

Sobald sie die Hütte erreicht hätte, würde sie von ihrer Kehra, die ihre Lehrerin und gleichzeitig auch ihre Tante war, die Zeremonienriten empfangen. Ihre Kleidung, nicht viel mehr als ein Stück beinahe durchsichtiger Seide, die um den Körper gewickelt wurde und die Bemalung. Die Bemalung war ein Ereignis, so einzigartig wie die Frauwerdung. Jedes Mädchen hatte eine individuelle Bemalung, die auf die Haut gemalt und durch einen Zauber darauf gehalten wurde, ein Leben lang. Leá machte sich bereits seit Jahren Gedanken darüber, was sie sich wohl aussuchen sollte. Oft hatte sie geglaubt, sich endlich entschieden zu haben, bis sie am Ende doch alles wieder verwarf. Sie hatte noch immer keine klare Vorstellung gehabt, bis heute. Denn heute Nacht hatte sie geträumt.

 

 

 

Der Rhythmus der Bujaja-Trammeln drang tief in Leás Herz ein und durchdrang ihren Körper, brachte ihr Blut zum Kochen und erweckte in ihr die Leidenschaft, zu tanzen. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihre Zehen zum Rhythmus bewegte und ihrer Tante damit fast den Verstand raubte, die gerade versuchte, den Stoff so eng wie möglich ihrem schmalen, gebräunten Körper anzupassen.

Es war bereits spät am Abend und alle Vorbereitungen waren getroffen worden. An diesem Tag versammelte sich die ganze Familie, von der Familienmutter  bis hin zum jüngsten Enkelkind. Leás Familie war nicht sehr groß. Ihre Tante war die einzige Nahverwandte, die sie noch hatte, neben ihrem Vater, der irgendwo in den Fernen Landen lebte, auf der anderen Seite des Ojiri, des Großen Wassers. Über ihre Mutter wusste sie nicht viel, nur dass sie kurz nach Leás Geburt dahin zurückgekehrt war, woher sie am Anfang der Zeiten gekommen war. Die Leute im Dorf dachten, dass Haíre, die Schwester der Zaáli, gestorben sei. Aber in ihrem Herzen wusste Leá, dass ihre Mutter noch immer existierte. Sie fühlte, dass ihre Mutter noch immer  da war, in allen Dingen, in allen Wundern, die diese Welt hervorbrachte. Sie fühlte diese Verbindung, die zwischen ihr und ihrer Mutter bestand.

So wie heute.

Sie konnte die Anwesenheit ihrer Mutter so deutlich spüren wie noch nie und sie fühlte, dass es etwas zu bedeuten hatte.

Leá stand auf einem Schemel, während ihre Tante vor ihr auf dem Boden saß und den weichen Stoff mit schimmernden, dünnen Bändern befestigte, die besonders das Mondlicht reflektierten.

Hinter Leá befand sich der Kamin, der um diese Jahreszeit dunkel lag und vor dem Elias, Zaális kleiner Sohn, saß und spielte. Elias erlebte seinen vierten Sommer, er war ein Kind der Einen Nacht, der Sohn eines Mannes, den seither niemand mehr gesehen hatte. Dem kleinen Elias wurde gesagt, dass sein Vater ein Mann aus Dorinde sei, eine große Stadt an den Ufern des Ojiri. Und eines Tages, das hatte er Leá in einer kalten Winternacht erzählt, als sie zusammen unter  Leás Decke lagen, würde er sich auf den Weg nach Dorinde machen, um ihn zu suchen.

Leá liebte Elias wie einen Bruder und es schmerzte sie, diese Lüge aufrechterhalten zu müssen.

Momentan beschäftigte er sich mit einem Holzpferd, das auf eine kleine Holzstadt zulief, die Leá zusammen mit Ilias für ihn gebastelt hatte.

Leá hätte ihn gern beim Spielen beobachtet, so wie sie es oft tat, denn sein Anblick war erfreuend und besänftigend und Leá fühlte sich dann einfach glücklich.

Sie musste sich zwingen, nicht umzusehen und wartete voller Ungeduld darauf, endlich fertig geschnürt und verpackt zu sein. Sie kam sich wie ein Geschenk vor, das in wenigen Momenten einem völlig Fremden überreicht würde.

Ilias, Zaális erster Sohn, war im gleichen Alter wie Leá, bereit ein Mann zu werden. Er befand sich bei den anderen Jungen, die zusammen im Tempel des Nelos auf diesen wichtigen Schritt vorbereitet wurden, während das bei den Frauen die weiblichen Verwandten taten. Ilias spielte immer mit Elias, wenn Zaáli oder Leá nicht zu Hause waren. Da wurde der Wohnraum zu einer riesigen Abenteuerwelt, voller Elari, Iznad oder Balir, mit großen Festungen und weiten Landen.

„Macht euch bereit, Bürger von Dorinde!“, hörte sie Elias im Hintergrund rufen.

„Spielst du schon wieder den Untergang von Dorinde, Elias?“, fragte Zaáli gereizt. „Spiel doch etwas anderes.“

Elias sagte nichts, er nickte unmerklich, ließ das Pferd fallen und kam zu Leá, um ihr tief in die Augen zu blicken.

„Wieso gehst du?“, fragte er dann.

„Heute ist eine wichtige Nacht, Elias.“

Als hätte ihm diese Antwort eine Ohrfeige versetzt, senkte er plötzlich den Blick und flüsterte so leise, dass sie ihn kaum verstand: „Du wirst nicht zurück kommen.“ 

„Wie meinst du das? Natürlich komme ich wieder zurück.“ Etwas in Elias´ Augen verriet ihr, dass es nicht mehr Elias selbst war, der mit ihr sprach. Auch Zaáli schien es zu merken.

Sie riss Elias zu sich herum und sah ihm eindringlich in die Augen. „Hast du heute Nacht geträumt, Elias?“

Elias sah sie nur an. Dann sagte er: „Du brauchst keine Angst zu haben, Mama. Ich hab dich lieb. Und Leá. Mein Traum wird keinem Schaden zufügen.“

Zaáli traten Tränen in die Augen und auch Leá konnte ihre Tränen nur mühsam unterdrücken. Wenn ein Elari träumte, noch dazu wenn er  der Sohn der höchsten Priesterin war, bedeutete das, zur Stimme der Götter auserwählt worden zu sein. Solche Auserwählten sahen in ihren Träumen das von der Erdmutter auferlegte Schicksal, als wäre es bereits Realität. Viele zerbrachen an der Verzweiflung, das Gesehene nicht abwenden oder zumindest abschwächen zu können und wenn es dann eintraf, stürzten sich sogar einige in den Tod, weil das, was sie sahen so schrecklich war und Schuldgefühle an ihnen nagten.

Leá hoffte nur, dass Elias stark genug war, dies alles zu ertragen.

Denn niemand durfte das Schicksal eines anderen kennen. Wenn er versuchen würde, derjenigen Person etwas über ihr Schicksal zu verraten, würde das seinen Tod bedeuten.

Zaáli nahm ihren kleinen Sohn nun fest in die Arme und ließ ihren Tränen freien Lauf. „Mein armer Junge!“, schluchzte sie. „Mein armer, kleiner Junge!“

Leá war verwundert. Diese Seite ihrer Tante kannte sie gar nicht. Zu sehen, wie ihre Tante, die sie immer so streng behandelt hatte, nun aus vollstem Herzen weinte, machte sie ein wenig unsicher. Wie gut kannte sie diese Frau eigentlich?

Elias löste sich aus ihrer Umarmung und Zaáli stand auf.

„Leá, du weißt, was zu tun ist.“

Statt einer Antwort nickte sie nur und sah Elias traurig an. Sie versuchte sich zu einem Lächeln durch zu ringen, ihn ein wenig aufzumuntern, aber sie schaffte es nicht.

Zaáli nahm Elias auf den Arm und wandte sich zur Tür. Elias drehte sich noch einmal zu Leá um. „Unsterblich!“, rief er. „Nicht alle sind unsterblich!“

Zaáli gebot ihm zu schweigen und Elias drehte sich nicht noch einmal um. Als ihre Tante den Raum verließ, wusste Leá in ihrem Herzen, dass sie Elias nicht mehr geben konnte, als den Segen der Göttin, die jetzt über sein Schicksal entscheiden würde. Und sie hatte das Gefühl, als wäre ein großer Teil ihres Herzens mit ihm gegangen.

Kapitel 4

 

 

Die Schlange erwacht

 

 

 

Das Licht des Feuers zeichnete geheimnisvolle Schatten auf die Körper der beiden Schlangen, die sich ineinander gewickelt hatten und ihre Köpfe, voneinander abgewandt, zwischen Leás Schulterblätter ruhen ließen. Die eine, die ihren Kopf zu Leás rechter Schulter hin richtete, war so hell wie der Tag, und golden wie die Sonne. Die andere war silber wie der Mond und bildete den Gegensatz zum Tag. Sie war die Nacht, verräterisch und gefährlich, aber auch Schutz bietend und ein Verbündeter der Hilfe suchenden. Ein Traum hatte sie Leá gezeigt. Beide Schlangen, die aus Sonne und Mond geboren wurden, würden nun über Leás Schicksal wachen. Sie waren das Symbol ihrer unsterblichen Seele, sie selbst war die große Schlange, die sich schützend um die Welt legt und wie ihr Ei beschützt. Die Göttin war zu ihr gekommen in dieser Nacht und hatte sie zur großen Schlange gemacht, dem Racheengel der Göttin. Ihr Schicksal wurde mit der heutigen Nacht besiegelt werden, auch wenn Leá nicht wusste, wie und durch wen.

Leá stand mit den anderen Anwärterinnen in einem Kreis und hatte dem Feuer den Rücken zugewandt. Sobald sie eine Dienerin Avriels war, würde sie dem Feuer, der unauslöschbaren Kraft Avriels, entgegentreten und musste ihre Probe bestehen. Sie hatte dem Mädchen neben sich die Hände gereicht, es waren Avra und Zoé, die sie aus dem Dorf kannte. Avra hatte sich den Slepnyr, die schwarze Raubkatze, auf Nacken und Oberarm zeichnen lassen, das Symbol für verborgene Stärke und Schnelligkeit. Zoé, ein zierliches blondes Mädchen mit heller Haut, hatte, so fand Leá, ein für sie wirklich zutreffendes Tier als Schutzgeist ausgewählt: den Landiel, den König der Falken. Sie hatte ihn sich über die linke Brust zeichnen lassen, damit er ihr Herz schützen konnte, während er seinen Flügel über Zoés Brustkorb bis hin zu ihrem Hals gestreckt hatte. Der Landiel gehörte zu jenen Tieren, die zu Beginn ihres Lebens schwach und nicht besonders hübsch waren, doch nach wenigen Monaten legten sie ihr Gefieder ab und das darunter liegende schneeweiße Gefieder kam zum Vorschein. Wenn das Mondlicht darauf fiel, leuchtete es bläulich und das gab ihnen auch ihren Namen. Landiel, Perle des Himmels.

Wenn Leá Zoé im Schein des Feuers betrachtete, sah sie vor sich, wie Zoé bereits zu dieser Schönheit wurde und alles Schlechte und Hässliche hinter sich ließ. Und sie selbst? Leá fragte sich, ob auch sie sich verändern würde. Doch bis jetzt spürte sie nichts. Nur die Wärme des Feuers hinter ihr. Die Priesterinnen hatten einen weiteren, weitaus größeren, Kreis um die Mädchen gebildet, die Hände in Richtung Feuer ausgestreckt und begannen mit ihrem Gesang:

 

Oh große Mutter, die alles Leben schenkt

Du nie vergehende Flamme

Feuer, das in unserem Herzen brennt

Schenkst uns Wärme und Schutz

Gibst uns Licht und Leben

 

Wir bitten Dich

Nimm diese Frauen bei dir auf

Gib auch ihnen Wärme und Schutz

Gewähre ihnen Licht und Leben

 

Die Mädchen erwiderten:

 

Oh, große Mutter, die uns das Leben schenkte,

gewähre uns deinen Segen

führe uns aus der Dunkelheit

unserer Menschlichkeit

und weise uns das Schicksal

das du für uns bestimmt hast

 

Leá und die anderen Mädchen drehten sich nun zum Feuer um und blickten mutig in die Flammen, das Gesicht der Göttin.

 

Dir gehören wir

Und dir dienen wir

Wir folgen deinem Ruf!

 

Bereits während sie den letzten Satz aussprach, wirbelte das Feuer in einer Säule in den Himmel. Es drehte sich im sich selbst, es verschlang und gebar sich selbst, würde größer und breiter und kam auf die Mädchen zu. Einzelne bekamen Angst und liefen davon. Sie drängten sich durch die Priesterinnen und rannten durch den Ring der Steine den Hügel hinunter ins Dorf. Doch die meisten blieben, darunter Leá, Zoé und Avra. Das Feuer erfasste sie und wirbelte durch ihre Kleider, in ihren Körper bis in ihren Geist. Leá hatte geglaubt, dass es heiß sein müsse, schließlich blieb Feuer immer Feuer, auch bei einer heiligen Zeremonie. Aber dieses Feuer war nie wirklich Feuer gewesen, sondern die Göttin selbst und sie war es, die wie ein frischer Wind ihren Körper durchstreifte und ihren Geist und ihre Seele erforschte. Dann war sie plötzlich wieder ein ungebändigtes Feuer, das wie ein Sturm in ihrem Kopf wütete und dennoch verstand sie jedes ihrer Worte. Als sie sprach, war es wie ein Donner, der in ihrem Kopf widerhallte, wie das Rauchen des Meeres, das ihren Kopf füllte, wie Sturm und Erdbeben zugleich:

 

„Leuchtender Stern! Du bist stärker

als jedes meiner Kinder in dieser Welt

Bist du bereit, das von mir erwählte Schicksal

anzunehmen?“

 

Leá kostete es viel Kraft, zu antworten, doch sie akzeptierte das Los, das sie ziehen würde. Wie immer es aussah. War sie denn nicht deshalb hier?

 

„So wird es geschehen! Dies ist dein Schicksal!“

 

Ein langer Schrei entstieg ihrer Kehle, als sich die Göttin von ihr löste und sie zu Boden fiel. Benommen blieb sie liegen und blickte in den Himmel, ohne dass sie ihn wirklich gesehen hätte.

Plötzlich versperrte ihr ein Gesicht die Sicht in den Himmel und sie erkannte, dass sich eine Priesterin über sie gebeugt hatte und sie wie ein kleines Kind in den Armen hielt. Sie sprach bestimmt und bekräftigend auf sie ein. „Es ist gut mein Kind. So geht es den anderen auch, wenn die Göttin bei ihnen war. Bald wirst du dich besser fühlen. Hat sie zu dir gesprochen?“

Leá nickte kaum merklich, doch die Priesterin verstand. „Dann komm. Das Bad wartet bereits.“

Die Priesterin half ihr auf die Beine und als ginge ein Ruck durch ihren Körper, fühlte sie sich mit einem mal besser und irgendwie erfrischt. Sie sah sich um und bemerkte, dass noch einige, wie selbst Leá noch vor kurzem, am Boden lagen und zitterten. Das Feuer brannte noch immer bis in den Himmel hinauf und sie fragte sich, ob es verschwinden würde, sobald die Göttin auch die anderen Mädchen verlassen hatte. Sie wurde den Hügel hinunter geführt. Es gab zwei Wege, den Hügel zu besteigen. Eine große Treppe aus Marmor, die spiralig den kleinen Berg hinauf führte und einen schmalen, geheimen Pfad, der gerade verlief und direkt zu den heiligen Quellen führte. Auf dem anderen Weg gekommen, verließ sie den Avrielron, den Berg der Avriel, nun auf dem Pfad, der sie zu den Bädern brachte. Es war ein steiniger Weg, schwer zu beschreiten und selbst für Geübte war er ein Hindernis. Jedoch nicht für die Priesterinnen der Avriel. Auch wenn Leá keine Priesterin war, so stand sie dennoch unter dem Schutz der Avriel und der Weg bereitete ihr nur so lange Schwierigkeiten, bis sie wusste, wohin sie ihre Füße setzen konnte. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Quellen, wo bereits Avra, Zoé und vier andere Mädchen warteten und ihr zuwinkten, als sie Leá entdeckten. Sie wurde entkleidet und in die Quelle geführt. Bereits einige hundert Jahre vor Leás Geburt waren Stufen in und um die Quellen gebaut worden und so setzte sich Leá neben Avra.

„Wie war es für dich, Leá? Was hat die Göttin zu dir gesagt?“ Avra war noch immer ganz aufgeregt und Leá konnte nicht sagen, ob sie deshalb oder wegen des Bades so rote Wangen hatte.

„Sie hat mir meinen Namen unter den Unsterblichen gegeben.“

„Oh, ich möchte ihn wissen. Er ist bestimmt so stark und schön wie du!“, schwärmte Zoé.

„Na na!“, beschwichtigte Leá. „Jeder erhält den Namen, den er bereits in seinem ersten Leben von der Göttin erhalten hat. Deshalb ist unsere Seele auch unsterblich. Unser Name wird die Zeit überdauern.“

„Hört, hört!“, entgegnete Avra. „Leá, die Weise. Oh, wie ich dich bewundere, meine Schwester! Überschütte mich bitte mit deinem Wissen, mich dürstet so danach!“ In der Art, wie Avra ihre Hände flehend zusammengeschlossen und Leá mit ihren langen Wimpern angeklimpert hatte, wussten sie alle, dass sie es nicht ernst meinte.

„Pass auf, was du dir wünschst!“, ermahnte Leá sie lächelnd, „wenn du Pech hast, mache ich es wahr und erzähle dir stündlich eine meiner Weisheiten!“

„Bitte nicht!“, flehte Zoé lachend und hob abwehrend die Hände.

Bei dieser Geste mussten alle lachen und Leá war so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Avriel hatte zu ihr gesprochen und ihr gezeigt, wer ihr Mann in dieser einen Nacht sein würde. Nicht sein Gesicht war es, was sie ihr gezeigt hatte, sondern etwas weit wertvolleres: seine Tätowierung, das heilige Zeichen der Pferdegöttin.

Das Bad diente nicht nur der Reinigung vor dem eigentlichen Fest, sie war auch eine willkommene Entspannungsmöglichkeit nach dem Zusammentreffen mit Avriel.

Als sie aus dem Bad stieg, fühlte sich Leá so stark und mächtig, wie nie und als sie den anderen in die Augen sah, bemerkte sie auch in ihnen das Feuer. Die Mädchen wurden angekleidet und zur großen Wiese gebracht, wo bereits ein großes Feuer von den Hüterinnen des Feuers entzündet worden war. Die Männer waren bereits eingetroffen, sie trugen ein kurzes braunes Tuch, das sie um die Hüfte geschlungen hatten. Außerdem hatten sie alle dunkelbraun angemalte Gesichter, die ihre Identität verhüllen sollten. Sie alle waren ungefähr in Leás Alter, bereit zum Mann zu werden. Unter ihnen ist auch Ilias, kam es Leá plötzlich in den Sinn. Was, wenn sie sich zu ihrem Vetter legte? Sie liebte Ilias, aber nicht auf diese Weise. Aber kam es hier überhaupt auf Liebe an? Früher hatte Leá die Frauen mit Abscheu betrachtet, wenn sie sich auf den Weg zum Hügel der Avriel machten. Sie hatte sich gefragt, wie Frauen sich so bereitwillig zu fremden Männern legen konnten und ob sie überhaupt keine Scheu empfanden, wenn sie es taten. Geschweige denn von den Kindern. Dachten sie denn nicht an sie? Leá war selbst eines jener Kinder und auch wenn sie ihrer Mutter keine Vorwürfe machte, fragte sie sich doch, warum ihre Mutter das getan hatte. Sie würde ihren Vater nie kennen lernen und Leá hatte Angst, dass deshalb nur eine Seite in ihr aufwuchs und mit dem Alter reifte. Während der andere Teil wartete, darauf dass ihm von seinem Vater gelehrt wurde, auf die Dinge, die ein Vater seiner Tochter mitgeben konnte, wenn er sie in die Welt hinausschickte. Doch so etwas würde Leá niemals haben und sie hatte sich inzwischen damit abgefunden. Schließlich kannten sie sich ja nicht. Oder doch? War er vielleicht doch jemand aus dem Dorf?

Niemand würde den anderen erkennen. Aber wenn doch? Leás Gedanken wurden unterbrochen, als der Hohepriester vortrat und die Männer anwies, einen Kreis um das Feuer zu bilden. Dann sagte er:

 

„Dir, oh große Mutter

gehören wir.

Schicke deinen Segen für diese Nacht

auf das der König aller Könige komme!“

 

„Er ist bereits hier“, dachte Leá und fragte sich im selben Augenblick, woher sie das wusste.

 

„Hohe Mutter, Avriel

Herrin des Feuers und des Lichtes

erhöre unser Gebet

und nimm unseren Dank an.“

 

Das war das Zeichen für die Mädchen, an den Männern vorbei an das Feuer zu treten. Dann setzten erneut die Trommeln ein und Leá begann fast wie von selbst, sich zu bewegen. Seit sie denken konnte, hatte sie jeden Sommer zusammen mit den anderen diesen Tanz geübt. Sie konnte ihn perfekt, ohne sich sonderlich Gedanken zu machen, er war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Wie das tägliche Aufstehen und Anziehen, wie reden, hören und sehen, war es selbstverständlich und einfach da. Sie hob die Arme in die Höhe, drehte sich um sich selbst, machte einen Schritt nach vorn, einen Schritt zurück. Ihr Gewand flatterte im Wind mit ihren Bewegungen mit und sie hatte das Gefühl, als wäre sie ein Vogel, der mit jedem Schritt leichter wurde und schließlich abhob. Sie war leicht wie der Wind und bewegte sich mit der gleichen Anmut, mit der Blätter im Wind tanzten, wenn der Wind sie aufbauscht. Ein Seitschritt…eine Drehung…wieder ein Seitschritt…

„Ich komme ihm immer näher“, dachte Leá und ihr Herz schlug heftiger. Die Bänder ihres Gewandes leuchteten wie tausend Sterne und Leá war selbst ein leuchtender Stern. Sie verstand nun, was es war, dass die Frauen den Hügel der Avriel bestiegen ließ. Jede hatte denjenigen bereits schon einmal getroffen, in einem anderen Leben. Sie waren keine Fremden, sie waren vertraut und bekannt und Leá verstand nun, dass auch ihre Mutter ihren Vater vorher gekannt und geliebt hatte.

 

Leuchtender Stern,

bist du bereit, das von mir erwählte

Schicksal anzunehmen?

 

„Ja, das bin ich!“, hatte Leá geantwortet und im Geiste wiederholte sie jetzt ihre Antwort. „Ich bin bereit, für ihn, den ich liebe, zu sterben!“

 

Die Trommeln wurden schneller, lauter, fordernder. Und auch Leá und die Mädchen tanzten schneller und leidenschaftlicher.

„Bring ihn zu mir, meine Göttin. Ich sehne mich schon länger als ein Leben nach ihm!“

Die Trommeln schwiegen auf einen Schlag und Leá und die anderen beendeten den Tanz im selben Augenblick. Sie beugten sich aus einer schwungvollen Drehung heraus nieder, streckten den linken Fuß und den linken Fuß aus, der auf denjenigen zeigen würden, den sie erwählt hatte. Leá hatte wie die anderen den Kopf gesenkt. Es lag nun an ihm, ob er sie erwählte oder nicht. Leá wusste, dass goldene Augen auf sie herabsahen, als er schließlich ihre Hand nahm und sie zu sich hochzog. Dann sah sie zum ersten Mal seine Augen. Nein, nicht zum ersten Mal, sie kannte sie bereits aus einem anderen Leben. Auch er schien sie zu kennen, denn er drückte sie fest an sich und flüsterte. „Leuchtender Stern.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung und nahm seine Hand. „Komm.“

Sie führte ihn heraus aus der Menge sich umschlingender Männer und Frauen, sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Ilias ihr nachsah, und ging mit ihm zum Avrielron.

Leá führte ihn den geheimen Pfad hinauf, sie sprachen kein Wort miteinander, denn das war verboten. Viele taten es dennoch, denn niemand wollte im Ungewissen bleiben, bei wem man die Nacht verbracht hatte. Sie folgten der Tradition der unbekannten Auswahl, denn die wurde durch Avriel getroffen und niemand konnte sich ihr entziehen.

Sie hielten sich noch immer bei der Hand und Leá konnte seine Wärme spüren. Der Wakani…der wahrhaftige….ob Zoé und Avra das ebenfalls von ihren Partnern dachten?

Auf dem Gipfel angekommen, durchquerten sie den Ring der Steine und traten in die Mitte. Das Feuer brannte noch immer und verbreitete die Macht der Göttin. Sobald am nächsten Tag die ersten Strahlen der Sonne den Hügel berührten, würde das Feuer erlöschen.

Jetzt standen sie sich zum ersten Mal gegenüber und sahen sich nur an. Sie blickte in seine goldenen Augen und er erwiderte ihren Blick. Sie sah ihn und doch sah sie ihn nicht. Die braune Farbe in seinem Gesicht verwirrte sie. Leá berührte sanft seine Wange und fuhr ihm über die Wangenknochen hinunter zum Kinn. Ihre Fingerspitzen wanderten seinen Hals hinunter, sie konnte spüren, wie das Blut schneller floss und als sie über seine muskulöse Brust strich, fühlte sie, wie sein Herz schneller und heftiger schlug.

Er legte seine Hand auf die ihre und führte sie wieder nach oben, über seine Schulter und nach hinten zum Halswirbel. Sie konnte noch die Umrisse der frischen Einstiche spüren und ihrem Geist bildete sich das Pferd eines Pferdes. Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Blitz, sie erinnerte sich, ihm heute nicht zum ersten Mal so über seine Tätowierung gestrichen zu haben.

Voller Leidenschaft zog er sie an sich und hielt sie fest in seinen starken Armen. Leá wünschte sich, er würde sie für immer so halten und beide wussten, dass das alles nichts mehr mit dem Fest zu tun hatte. Zwei unsterbliche Seelen hatten sich unter Avriels Hand nach einer Ewigkeit wieder gefunden. Sie würden nicht wie Tiere übereinander herfallen, sie würden ihre Liebe und Leidenschaft körperlich bezeugen und das Versprechen erneuern, dass sie sich bereits in einem vorherigen Leben gegeben hatten.

Leá löste sich aus seinen Armen und zog ihn mit sich auf den Boden. Das Gras war warm und weich und die Sterne über ihr schienen so hell, wie es Leá noch nie gesehen hatte. Sie spürte ihn auf ihr, seine Hände, die leidenschaftlich die Bänder ihres Gewandes öffneten und über ihren Körper wanderten. Die Wärme, die von ihm ausging, dieses lodernde Feuer, das sich auch in ihr ausbreitete, als sie schließlich Eins mit ihm wurde. Seine Küsse waren wie Feuer, ohne dass es schmerzte. Leá wollte jede Faser seines Körpers kennen lernen und ließ ihren Händen freien Lauf. Sie hatte das Gefühl, in einer Woge ihrer Leidenschaft zu ertrinken und schnappte unwillkürlich nach Luft. Ihr Körper hob und senkte sich im Rhythmus mit dem seinen und Leá wünschte, die Nacht würde eine Ewigkeit dauern. Und Leá hatte das Gefühl, als würde in ihrem Innern die Schlange erwachen.

 

Kapitel 5

 

 

Wut

 

 

Ein Schrei zerriss das Gefühl der Geborgenheit, in der sie sich befand. Leá wusste nicht, ob sie es nur geträumt oder ob sie es wirklich gehört hatte. Benommen öffnete sie die Augen und sah auf ihren Gegenüber. Er hatte sie fest in die Arme geschlossen und sein blondes Haar kitzelte ihre Brust. Sie löste sich vorsichtig von ihm und stand auf. Hatte er denn nichts gehört? Sie wickelte sich das Tuch um und band es über der Brust und am Bauch mit einem Band fest. Dann sah sie den Hügel hinab. Unter ihr lag das Dorf still und friedlich, in manchen Ecken brannte eine Fackel und verbreitete angenehmes Licht. Alles war ruhig, sie hörte das Knistern des Feuers und das Zirpen der Grillen im hohen Gras. Der Mond schien friedlich auf sie herab, dann verdunkelte plötzlich ein Schatten sein Licht. Er war so flüchtig gewesen, dass Leá sich fragte, ob sie ihn wirklich gesehen hatte.

„Ein Dragoner“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich und spürte kurze Zeit später seine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich zu ihm um. Er blickte starr in den Himmel, als könne er den Schatten noch immer in der Dunkelheit sehen. Leá bekam ein ungutes Gefühl und ihr Magen krampfte sich zusammen. Was tat ein Dragoner hier? Sie lebten weit in den südlichen Gebirgen und kamen so gut wie nie ins Tal. Sie blickte hinunter ins Dorf. Es lag noch immer friedlich in der Dunkelheit, doch die Sonne stieg bereits langsam herauf und zog unheilvolle Schatten über die Stadt. Hinter sich konnte Leá das Feuer hören, das wie durch einen Windhauch ausgeblasen, mit einem mal erstarb.

„Er wird das Dorf angreifen!“, entfuhr es ihr plötzlich.

Schwur oder nicht, sie konnte sich nicht zurückhalten. „Wir müssen sie warnen!“

Leá wandte sich zu ihm um und bemerkte erleichtert, dass er sich gerade ankleidete. Als er fertig war, sagte er: „Geh voran.“

Leá lief so schnell sie konnte den Hügel hinunter. Da sie den geheimen Pfad bereits einmal hinab geschritten war, wusste sie, wo seine Tücken lagen. Sie führte ihn sicher hinunter, so wie es die Priesterin bei ihr getan hatte, bis sie wieder diesen Schrei hörte.

„Hast du das auch gehört?“, fragte sie leise. „Das war nicht der Schrei eines Menschen!“

Plötzlich wurde sie am Arm gepackt und gegen den Berghang geworfen. Er drückte sich fest an sie und presste sie so gut es ging ins Gras. „Keinen Ton“, flüsterte er ihr ins Ohr und Leá nickte unmerklich. Er war ihr jetzt so nah, dass sie sein Atem im Nacken kitzelte und sie spürte das Heben und Senken seines Brustkorbes. Konnte man einem Menschen nach dieser kurzen Zeit bereits so verfallen sein, dass man sich wünschte, seinen Körper in jeder Minute, jeder Sekunde seines Lebens auf sich zu spüren?

Es kam ein leichter Wind auf, der von dem Geräusch flatternder Flügel begleitet wurde, kurz bevor sich ein riesiger Drache ins Blickfeld schwang und sich über ihren Köpfen hinweg hob. Seine Schuppen glänzten silbern im Mondlicht und Leá wurde kurz von dem reflektierenden Licht geblendet. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie, wie er geradewegs auf das Dorf zuflog.

Er öffnete sein Maul, als wolle er einen Schrei loslassen, doch stattdessen kam ein leuchtender Feuerstrahl aus seinem Maul geschossen und setzte einen großen Teil des Dorfes in Brand.

Leás Augen brannten, die Hitze kam selbst bis hierher. Das meiste wurde durch seinen Körper abgefangen, doch sie spürte den heißen Wind auf ihrer Haut und das bereits verkohlende Holz stach in ihrer Nase und trieb ihr Tränen in die Augen. Er sah sich um, machte aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Er schien auf etwas zu warten. Sein Blick verfolgte den Drachen ruhig und abschätzend. Doch Léa war alles andere als ruhig. Die Menschen, ihre Freunde und Familie, waren in Gefahr. Sie wollte sich ihm entwinden, doch seine Arme waren wie Stein. Ihre Bewegung schien ihn an sie zu erinnern. Wie aus einem Traum erwacht sah er sie an. Diese leuchtenden, bernsteinfarbenen Augen. Léa hörte sich wie aus weiter Ferne selbst sprechen, so war sie in ihnen verloren.

„ Wenn du lieber gehen möchtest, dann tu es. Nichts bindet dich an dieses Dorf. Aber ich muss helfen!“

„Ich bleibe“, entgegnete er entschlossen. „Schließlich ist es dein Dorf. Ich habe gesehen, wohin er geflogen ist, ich tue was ich kann!“

Als er sich von ihr löste, erfasste sie plötzlich die Kälte des nahenden Morgens und schon bereute sie, etwas gesagt zu haben. Sein Blick schien tausend Worte zu sagen, doch keines verließ seinen Mund. Vielleicht war er sich bewusst geworden, den Eid gebrochen zu haben. Vielleicht gab es einfach nichts mehr zu sagen. In Léa sprudelten so viele Worte in ihrem Kopf, doch sie brachte kein einziges heraus. Sie würden sich hier und jetzt zum letzten Mal sehen, sofern die Göttin nichts anderes vorherbestimmt hatte.

Mit einem letzten Blick trennten sie sich und er rannte zur anderen Seite des Dorfes. Léa lief in die entgegen gesetzte Richtung, dem Feuer und Rauch entgegen, dem Weinen der Kinder und dem Schreien. Panische Frauen kamen ihr entgegen und hätten sie beinahe umgerannt, sie rettete sich mit einer schnellen Seitwärtsbewegung an eine Hauswand. Keuchend versuchte sie, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Viele der Frauen hatten ihre Säuglinge im Arm und rannten einfach panisch hinaus aus dem Dorf.

„Lauft zum Strand!“, schrie sie ihnen zu, „Dort seid ihr in Sicherheit!“ Während sie noch eine der Frauen am Arm in Richtung Strand schubste, entdeckte sie über die Schulter der Frau, wie Zoé erschöpft an einer Wand lehnte.

Leá gab der Frau noch einen energischen Schubs. „Zum Strand!“, schärfte sie ihr ein. Dann schnappte sie sich den nächsten Fetzen Stoff, den sie erwischen konnte. Wie sich herausstellte, war es die alte Decke eines Esels, der sich bereits auf und davon gemacht hatte. Sie bedeckte Zoés nackten Körper und entdeckte die Verletzung an ihrem Arm. Zoé bemerkte ihren Blick und meinte nur: „Das Dach ist eingestürzt.“ Leá half ihr auf die Beine und packte die nächste Frau, die ihren Weg kreuzte. Zu ihrer Erleichterung war es eine Priesterin, die gerade die kleinen Kinder aus dem Haus der Mutter in Sicherheit brachte. „Nimm sie mit dir, sie ist schwer verletzt!“ Leá übergab Zoé der Priesterin und sah ihr noch kurz nach, bevor sie so schnell sie konnte in die Mitte des Dorfes rannte. Zoé sah ihr ängstlich nach, war jedoch zu erschöpft, um noch irgendeinen Einwand zu erheben. Leá war eine Tochter des Feuers, Avriel würde sie beschützen, dessen war sich Zoé sicher.

Häuser rauschten an Leá vorbei, wie Wasser einen Wasserfall hinunter stürzte und ehe sie sich versah, stand sie vor dem Haus ihrer Mutter. Es brannte lichterloh, wie die Sonne an einem späten Abend, das Licht erhellte alles um sie herum und die Funken flogen wie ein wirrer Haufen Glühwürmchen durch die Nacht. Was hatte sie hierher geführt? Es stand seit ihrer Geburt leer, sie hatte seit jeher bei ihrer Tante gelebt und das Haus kein einziges Mal betreten. Zu viele Erinnerungen, die dort drinnen auf sie warteten, zu viele Gefühle. Warum war sie hier? Und nicht bei ihrer Tante, um die sie sich viel mehr Sorgen machen sollte?

Von einer unsichtbaren Hand geführt, betrat sie das Haus. Obwohl es um sie herum überall brannte und verräterisch knarrte und knisterte, hatte Leá keine Angst. Sie spürte, wusste, dass dieses Haus bald einstürzen würde, dennoch durchquerte sie ruhig den Raum und fand sich schließlich im Schlafzimmer wieder. Und dort stand sie, so selbstverständlich wie die Sterne am Himmel standen: Die Truhe ihrer Mutter. Sie war noch hier, dass einzige, was Zaáli nicht in ihren Haushalt übernommen oder verkauft hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Hatte sie sie hier versteckt? Aber die eigentliche Frage war: Vor ihr oder für sie? Sollte sie vorher nicht gefunden und geöffnet werden?

Leá ging zur Truhe, machte eine knappe Handbewegung über das Schloss der Truhe und sie sprang auf. Aber was wollte sie eigentlich? Krachend stürzte der Türrahmen der Haupttür in sich zusammen und schüttete eine Hitzewelle über Leá aus. Die Funken waren überall und die Hitze drückte schwer auf Leás Lungen. Das Atmen fiel ihr immer schwerer und noch immer kniete sie am Boden und starrte ratlos in die Truhe. Sie schob Stoffe und Kleider hin und her, erst sorgfältig, dann hektischer und energischer. Zeremonienkleider, feine Stoffe in Elfenbein und Silber. Schmuck. Eine Bürste. Ein Spiegel, in dem Leá sich und die Flammen um sich herum sah. Ihr Gesicht war dreckig und voller Ruß, ihre Haare waren offen und fielen ihr ungebändigt ins Gesicht. Durch das Flimmern der erhitzten Luft, erschien Leá ihr Gesicht erst verschwommen, doch dann glätteten sich die Züge und sie erkannte jemand anderen darin. Und doch war es sie selbst. Diese Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. „Mutter“, flüsterte sie und brach damit die Magie des Augenblicks. Das Gesicht lächelte und wurde wieder zu ihrem eigenen. Als Leá den Spiegel in die Hand nahm, kam darunter ein weißes Leinenbündel zum Vorschein. „War es das, Mutter?“

Als Antwort löste sich ein Dachbalken und krachte auf den Boden, wo er zerbrach und erneut eine Hitzewelle auslöste. Leá steckte den kleinen Spiegel und das Leinenbündel in die Leinentasche und verließ das Haus so schnell es ihr erschöpfter Körper zuließ, ohne sich noch einmal umzusehen.

 

 

Zaáli befand sich im Tempel, sie war die höchste Priesterin des Dorfes und selbst wenn, oder gerade weil Gefahr drohte, würde sie ihn nicht verlassen. Er stand auf dem höchsten Punkt der Stadt, auf einem Hügel, höher als der Avrielron. Da der Tempel im Gegensatz zu den Häusern nicht aus Holz sondern aus wertvollem Stein gebaut war, brannte er bisher nur an einigen Stellen und Leá hoffte, dass ihre Tante wohlauf war oder, was sie noch mehr hoffte, den Tempel bereits mit Elias verlassen hatte.

Ihre Hoffnung wurde jäh zerstört, als sie die Treppen zum Tempel hoch gelaufen war und in der großen Halle Ilias vorfand. Er beugte sich über einen Körper und murmelte leise Worte. Als Léa näher kam, erkannte sie die Frau auf seinem Schoß. Leá lief schneller und kniete sich neben ihm auf den warmen Boden. Zaáli lebte noch, aber ihr Atem ging unregelmäßig und sie hatte eine tiefe Wunde im Rücken, aus der sich das Blut über den Boden ergoss. Ilias´ Tränen hatten die braune Farbe in seinem Gesicht verwischt und strafte somit alles, was sie damit verband. Die Freude des Festes, ihre Vorfreude auf den rituellen Tanz und die Vorbereitung, die das letzte war, was sie mit ihrer Tante zusammen getan hatte. All das wurde durch Ilias´ verschmiertes Gesicht jäh zerstört und sie fragte sich, ob nicht ihr ganzes bisheriges Leben so unwirklich und vergänglich wie diese braune Farbe war, die in kleinen Bächen sein Gesicht hinab strömte.

„Leá“, flüsterte Zaáli und holte tief Luft.

„Tante!“, schluchzte sie und nahm behutsam ihre Hand.

„Hör mir…jetzt…gut zu!“ Zaáli wandte den Kopf von ihr ab und spie Blut auf den Boden. Ilias zuckte unmerklich zusammen und auch Leá wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Zaáli versuchte, ihre Augen so fest wie möglich an Leá zu heften, doch sie spürte, dass sich ihr Geist bereits von ihrem Körper trennte.

„Der Atame…“, begann sie.

Leá holte das Leinenbündel hervor. „Ich habe ihn bei mir.“

Zaáli schien erleichtert. „Gut.“ Dann fuhr sie fort: „ Ich habe ihr…versprochen…dir alles zu erzählen…“ Zaáli hustete auf und dunkelrotes Blut lief ungehindert aus ihren Mundwinkeln. „Ich konnte mein Versprechen…nicht halten!“ Sie atmete schwer und ihre Hand wurde immer kälter. Leá wünschte, sie könnte ihr von ihrer Kraft geben, doch so sehr sie die Hand ihrer Tante auch hielt, sie konnte nichts gegen diese unermessliche Kälte tun… Zaális Augen verloren immer mehr von ihrem übernatürlichem Glanz, der in jeder Priesterin wohnte und Leá konnte fühlen, wie ihr Geist dem Körper immer mehr entwich.

„Mutter!“, schluchzte Ilias verzweifelt und drückte sie fester an sich. In diesem Moment hörte Leá das Schlagen von Flügeln in der Luft, dieses unverwechselbare Geräusch wenn etwas die Luft durchschnitt.

„Er kommt!“, entfuhr es ihr plötzlich. Der Atame in ihrer Hand schien zu glühen. „Er kommt hierher!“

Leá kniete noch neben ihrer Tante, aber ihre Augen waren jetzt um einiges wachsamer als vorhin.

„Leá“; flüsterte Zaáli in ihre Gedanken. Sie drückte ihre Hand so fest sie konnte und selbst das war nur der Hauch einer Berührung. Leá bemerkte, dass Zaális Augen ganz trüb waren und sich ihr Geist nur noch bruchstückhaft in ihrem Körper befand.

„Zwei…Schlangen“, keuchte sie. Das Sprechen viel ihr sehr schwer und sie musste dazu immer wieder Luft holen. „Zwei…Kinder. Es sind zwei. Die Schlangen…durch Blut verbunden…finde sie…das Dunkle Kind…“ Ihre Augen verloren ihren Glanz und waren nur noch leere Gefäße, ausdruckslos und leer.

Zaális Hand lag leblos und kalt in Leás Händen, während Ilias neben ihr nur noch weinte und den Körper seiner Mutter in seinen Armen wiegte.

Zaáli, Leás letzte Verbindung zu ihrer Mutter und Hohepriesterin der Avriel, war tot.

Ilias murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Wahrscheinlich ein Gebet, dass seine Mutter sicher in die Heimat führen sollte, dachte Leá.

Doch ihre Aufmerksamkeit galt jetzt etwas anderem. Dem Drachen. Und ein unbeschreibliches Gefühl von Zorn und Rache überkam sie. Der Atame lag fest in ihrer Hand, sie konnte die ungeheure Macht durch das Leinen spüren, die von ihm ausging und in ihr wuchs der Wunsch, nein, die Pflicht, diesem Ungeheuer so tief in das Fleisch zu schneiden, wie es die Klinge zuließ. Leá stand langsam auf, fast so, als könnte der Drachen sie jetzt bereits sehen und ging vorsichtig auf den Ausgang zu. Als Leá nach draußen ging, lief sie gegen eine Hitzemauer. Sie musste erst einen Schritt zurücktreten und sich an der Mauer festhalten, um überhaupt begreifen zu können, was sie gerade sah. Ihr ganzes Dorf stand in Flammen, Haus, Stall und Felder brannten und verwandelten alles in ein riesiges Flammenmeer.

„Avriel, warum nimmst du dieses Feuer nicht  von uns?“, flehte sie, während ihr Blick über ihre ehemalige Heimat wanderte und sie sich fragte, wie viele Menschen darin bereits ihr Leben verloren hatten.

Ein alles durchdringender Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Dann noch ein Schrei, doch diesmal war er nicht menschlich.

Leá spürte, wie sich eine Hand fest um ihr Herz legte, so fest, dass sie aufschrie. Was war das für ein Gefühl, dass sie plötzlich erfasste? Es kam ihr vor, als würde sie nicht mehr auf festem Boden stehen, viel mehr fühlte sie sich schwerelos und hatte das Gefühl, weit über ihrem Dorf zu schweben. Sie fühlte die Luft, die sie umwirbelte, roch den Rauch, der zu ihr emporstieg und sah die Flammen, die sich immer weiter unter ihr ausbreiteten. Und dann entdeckte sie plötzlich etwas anderes. Eine helle Reflektion des Mondes in der Ebene hinter dem Wald.

Ein heftiger Ruck holte sie wieder auf den Boden. Leá war verwirrt, so etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie sah sich um und erkannte, dass sie die ganze Zeit über hier gestanden hatte, aber sie war auch gleichzeitig in der Luft gewesen. Aber wie war so etwas möglich? Benommen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und stieg ins Dorf hinab. Ilisas und Zaàli ließ sie hinter sich zurück, so wie sie auch ihr altes Leben zurück ließ. Mit jeder Stufe, mit der sie sich von ihnen entfernte, entfernte sich auch ein Teil von ihr und sie wusste, dass nun nichts mehr so wie früher sein würde. Als sie wieder einigermaßen bei sich war, lief sie los, in Richtung der Ebene, die sie kurz vorher gesehen hatte. Die Hitze der Flammen war beinahe übermächtig, dennoch machte sie einen kleinen Umweg zu den Koppeln, die außerhalb des Dorfes lagen.

Die Flammen waren nicht bis hierher durchgedrungen, dennoch waren die Pferde nervös, legte die Ohren zurück und scharrten mit den Hufen auf den Boden.

Leá lief so schnell sie konnte zur Koppel, riss das Gatter auf und pfiff einmal kurz. Sofort löste sich ein schneeweißer Schimmel aus der Menge und kam auf Leá zu. Er blieb kurz vor ihr stehen und senkte ruhig den Kopf, damit sie in streicheln konnte. Leá stieß sich vom Boden ab und saß nach einer fließenden schwungvollen Bewegung auf Selkys Rücken. Sie schnalzte kurz mit der Zunge und sie fielen in einen raschen Galopp.

Sie ritt mit Selkys direkt in den Wald, dorthin, wo sie an diesem Morgen den Wakani erlegt hatte. Äste und Blätter peitschten ihr ins Gesicht und rissen tiefe Wunden in ihre dunkle Haut. Leá spürte den Schmerz, fühlte wie ihr Blut an Wange und Arm hinunterfloss, doch sie konnte nicht stehen bleiben. Ihre Augen bewegten sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit durch die Bäume. Dort ein Eichhörnchen, dass sich in einen Baum rettete, eine Feldmaus, die sich unter ein Gebüsch vergrub, Hasenspuren einer Häsin, die sich und ihre Jungen in Sicherheit brachte. Wo war er? Wo? Wo? Leás Gedanken waren ganz auf den Drachen fixiert. Sie würde ihn in seiner eigenen Flamme brennen lassen, er würde langsam sterben, ja, so war es gerecht. Ihre Wut und ihre Rache waren im Moment alles, woran sie denken konnte. Sie würde den Drachen töten und er sollte leiden. So wie all die Menschen, die durch sein Feuer getötet wurden.

Die Bäume huschten an ihr vorbei, das Licht des Mondes tanzte über ihr in den Baumkronen und erweckte den Anschein, als würden die Alven vor ihr tanzen. Helle Punkte, Schemen, die sich vor ihr hin und her bewegten. Leá verlangsamte den Galopp, sie spürte, dass sie dem Drachen nun ganz nah war. Ihr Arm brannte, der Schnitt war doch tiefer, als sie anfangs gedacht hatte und er schmerzte mit jeder Minute schlimmer. Das Licht nahm zu und die Bäume wurden lichter. Leá näherte sich dem Ende des Waldes und fand sich plötzlich auf einer Lichtung wieder. Der Dunkle Mond stand am Himmel und warf ein unheimliches Licht auf Leá und die beiden anderen Wesen vor sich. Graziös und selbstbewusst hatte sich der Drache in seiner vollen Größe aufgebaut, jede seiner Schuppen reflektierte das Mondlicht und er erweckte den Anschein, als würde er leuchten. Seine Flügel hatte er weit von sich gestreckt und warf einen dunklen Schatten auf die Person, die regungslos vor ihm lag. Léa musste nicht näher kommen, sie spürte, dass "er" es war. Und gleichzeitig fühlte sie, dass er am Leben war. Der Drache blickte Leá direkt in die Augen, sie hatte fast das Gefühl, als könne er ihr in die Seele schauen. Sie waren so schwarz wie der Dunkle Mond und so tief wie die Abgründe des Meeres. Leá näherte sich ihm langsam und versuchte furchtlos zu wirken, doch die Größe und die Präsenz, die er ausstrahlte, hatten sie stark verunsichert. Wie hatte sie glauben können, so einfach mit ihm fertig zu werden? Hatte sie tatsächlich geglaubt, sie würde ihn einfach so niederstrecken können? Einen echten, ausgewachsenen Drachen? Schließlich waren Drachenschuppen härter als jedes Metall. Wenn sie es überhaupt schaffte, in die Nähe seines Herzens zu kommen, wie sollte sie ihn töten? Konnte der Atame diesem Panzer standhalten?

„Sha´ya!“, drang plötzlich eine Stimme in ihren Kopf. Schlangentochter.

Leá hielt an. Hatte der Drache gerade gesprochen?

„Ich habe auf dich gewartet, Schlangentochter.“ Er machte einen eleganten Satz über die Person vor sich und kam mit nach hinten gefalteten Flügeln auf Leá zu. Das Zusammenschlagen der Flügel hinter dem Rücken, ein Geste der Friedlichkeit, überraschte und verwirrte Leá. Sie stieg von Selkys ab, der ruhig stehen blieb, seine Augen jedoch nie von ihr abwandte. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff sie nach dem Atame. Das Licht des Mondes blitzte kurz darin auf und der Drache starrte Leá überrascht an. Leá versuchte, den Mut aufzubringen, den sie noch vor kurzem empfunden hatte, doch ihre zitternde Hand strafte ihr ernstes Gesicht Lügen. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Tante und wie sie qualvoll gestorben war.

„Du hast unser Dorf zerstört! Du hast Menschen, Tiere und Häuser vernichtet!“ Leá griff den Atame fester und sie spürte wie sich seine brennende Wärme auf sie übertrug. „Ich fordere Rache, für jedes einzelne Leben, das du ausgelöscht hast!“ Leá stürmte auf ihn zu, der Atame brannte in ihrer Hand, aber sie ließ ihn nicht los, selbst wenn dadurch ihre Hand verbrennen würde. Der Drache rührte sich nicht, obwohl Leá ihm schon ganz nah war. Sie lief so schnell sie konnte, sie setzte all ihre Kraft in ihren verletzten Arm- und stach zu. Blitzschnell war ihre Hand nach von geschnellt und Leá glaubte schon fast, es geschafft zu haben, als der Atame plötzlich abrutschte und ihrer Hand entglitt. Die Wucht des Aufschlags hätte ihr das Handgelenk gebrochen, wenn sie nicht im letzten Moment den Atame losgelassen und sich mit der anderen Hand abgefangen hätte. Sie rollte sich zur Seite ab und kam in der Hocke zum Stillstand. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich langsam aufrichtete. Ihr Arm pochte und die Blutung hatte zugenommen. Ein roter Fluss zog sich Leás Arm entlang, bis er schließlich an ihrer Hand endete und zu Boden tropfte. Der Atame lag einige Schritte entfernt im Gras, zu weit, um ihn in einer schnellen Bewegung zu erreichen.

Der Drache war aus seiner Erstarrung erwacht und breitete seine Schwingen zu ihrer vollen Größe aus. Sein Schatten fiel über Leá wie eine schwarze Welle und alles was sie sah waren der Mond hinter ihm und seine Augen, die glühend auf sie hinunter blickten. Sie hatte versagt. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag und sie sank auf die Knie. Sie spürte wie die Wucht seines Schattens auf sie nieder drückte, sie konnte seinen Atem auf ihrem Nacken spüren, der immer näher kam. Leá spürte ihren Arm nicht mehr, er hing nutzlos herunter und färbte das Gras um sie herum in einem dunklen Rot. Leá hob den Kopf. Wenn dies das Ende war, dann wollte sie erhobenen Hauptes sterben, in das Gesicht der Göttin blickend. Sie flüsterte eine Entschuldigung an ihre Tante, sie würde ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Nur durch meine Überheblichkeit, dachte sie bei sich. Und meine Überschätzung. Sie hatte tatsächlich geglaubt, einen Drachen besiegen zu können. Tränen der Wut liefen ihr über die Wange und sie musste angesichts ihrer eigenen Dummheit lachen.

Doch plötzlich blieb ihr die Stimme weg, als sie plötzlich einen weißen Blitz in der Dunkelheit sah, direkt hinter dem Drachen.

„Selkys!“, flüsterte sie geschockt. „Nein.“

Selkys hatte zum Sprung angesetzt und traf den Drachen mit den Vorderhufen hart am Rücken. Ein klirrendes Geräusch erklang, als die Hufe auf dem harten Drachenpanzer aufschlugen und Selkys wieherte. Der Drache wandte sich knurrend zu Selkys um.

Leá war wie gelähmt. Sie sah, wie der Drache auf allen vieren langsam auf Selkys zuging, während dieser immer weiter zurück wich. Er stellte sich auf die Hinterhufe und versuchte, ihn mit den Vorderhufen zu erwischen. Doch der Drache spielte nur mit ihm und stach immer wieder kurz mit seinem Schwanz auf Selkys ein. Selkys stieß einen Laut aus, der Leá durch Mark und Bein fuhr und sie aus ihrer Benommenheit riss. Selkys taumelte, doch er hielt sich auf den Beinen. Der Drache machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, eine Sekunde, die Leá nutzte. Sie sprang nach vorn, stützte sich auf ihren gesunden Arm ab und sprang erneut. Doch diesmal stützte sie sich mit dem Atame in der Hand auf dem Boden ab. Wie ein Blitz fuhr der Drache herum, doch Leá ließ ihm keine Zeit. Wie eine Raubkatze stürzte sie sich auf ihn, den Atame diesmal in der linken Hand. Der Drache versuchte auszuweichen, doch sie war bereits auf seinen Rücken gesprungen. Er schlug mit seinen Krallen auf sie ein, doch Leá ließ sich nicht abbringen. Wenn sie jetzt losließ, war sie tot. Und Selkys´ Einsatz wäre umsonst gewesen. Sie hielt sich mit aller Kraft, die sie noch hatte, doch sie würde ihren verletzten Arm brauchen, um ihm den Dolch ins Gesicht zu stoßen. Sie versuchte, sich mit dem rechten Arm festzuhalten, doch er war zu schwach und sie wäre beinahe abgerutscht. Sie schlang ihren linken Arm fester um den Hals des Tieres und nahm den Atame in die rechte Hand. Es war schwer, den Atame nur zu halten und er drohte mit jedem Schlag, den der Drache ausführte, aus ihrer blutigen Hand zu rutschen. Der Drache hieb auf sie ein, als wüsste er, dass sie ihn jetzt tatsächlich töten würde und mit jeder Sekunde, in der er sich nicht befreien konnte, wuchs seine Verzweiflung. Er wirbelte herum und versuchte sie abzuwerfen. Leá presste ihre Beine fest gegen seine schuppige Haut, doch sie war zu glatt, als dass sie festen Halt hätte bieten können. Sie rutschte hin und her und ihr Arm wurde immer schwächer, sie konnte sich nicht mehr lange halten. Sie musste es jetzt versuchen. Sie wusste, sie hatte nur diese eine Möglichkeit, wenn sie es diesmal nicht schaffte, war sie zu kraftlos, um sich noch weiter wehren zu können. Sie festigte ihren Griff und stach zu. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte den Panzer nicht durchdringen. Immer wieder stach sie zu, sie missachtete den pochenden Schmerz ihres Arms, den Drachenschwanz, der immer wieder auf sie einschlug, ihr Blick war ganz auf die Augen des Drachen fixiert. Sie setzte zum letzten Schlag an, als sie etwas Hartes am Arm traf und sie den Atame kraftlos fallen ließ.

Ein verzweifelter Laut entsprang ihrer Kehle, als sie den Atame unter sich im Gras liegen sah. Pure Verzweiflung machte sich ihn ihr breit. Soll etwa alles umsonst gewesen sein? Der Drache schien den Atame nicht bemerkt zu haben, denn er schlug noch immer in Raserei auf sie ein. Leás Arm war taub geworden und auch in ihrem linken Arm hatte sie kein Gefühl mehr. Der nächste Schlag warf sie endgültig ab. Sie landete unsanft auf dem Gras, sie pfiff, als die Luft gewaltvoll aus ihren Lungen gepresst wurde. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Kopf zerspringen und sie nahm die Welt um sich herum nur noch unscharf wahr. Sie spürte etwas unter ihrem Brustkorb und griff umständlich danach. Es kostete sie viel Kraft, ihren rechten Arm zu benutzen und sie schob den Atame mehr, als dass sie ihn gegriffen hätte. Es war tröstend ihn unter ihrer Hand zu spüren, auch wenn sie ihn nie wieder benutzen würde. Der Drache baute sich wild schnaufend über ihr auf. Diesmal würde Selkys ihr nicht mehr helfen können. Diesmal war es endgültig vorbei. 

Kapitel 6

 

  

Rote Sonne

 

 

Die ersten Strahlen der Sonne zeichneten rote und orange Wolken an den Himmel. Das Land wurde langsam mit leuchtenden Farben überflutet und strahlte in rotem Schimmer. Die Landiel durchflogen anmutig ihre Strahlen, die sich in ihren Federn brachen und den Anschein erweckten, als würden sie brennen. Das Gras war feucht vom Morgentau, der in der Sonne glitzerte und die Grashalme wiegten sich leicht im Wind, als würden sie mit ihm tanzen. Die Vögel waren zurückgekehrt und bald durchbrachen ihre Gesänge die Stille. Der Schimmel kam anmutig auf die Person zu, die vor ihm im Gras lag und stupste ihr Gesicht sanft mit seinen Nüstern an. Sie kam langsam zu sich und murmelte einige unverständliche Worte. Der Schimmel ließ sich neben ihr auf den Boden sinken und sie ergriff vorsichtig seine weiße Mähne, um sich an ihm hochzuziehen. Als sie auf seinem Rücken lag, stand der Schimmel auf und bahnte sich seinen Weg in gemächlichem Schritt zurück in das Dorf, von dem nur noch schwarze Ruinen zurück geblieben waren. Hinter ihnen blieb in weiter Ferne der leblose Körper eines Menschen zurück.

Als die Person hinter den Bäumen sah, wie das Pferd das Mädchen in ihr Dorf zurücktrug, seufzte sie erleichtert auf und verschwand in die Tiefen des Waldes.

 

Leá fühlte nichts, ihr ganzer Körper war wie erstarrt. Sie fühlte Selkys Wärme unter sich, spürte wie sich sein Fell mit jedem Schritt gegen ihre Haut rieb und roch den Pferdegeruch, der ihre Nase hinauf kroch. Doch was um sie herum geschah, nahm sie nur durch einen dichten Schleier wahr. Unheimliche Schatten zogen an ihr vorbei, rissen unheimliche Fratzen und sie glaubte, den Geruch des Todes zu riechen. Doch Selkys blieb ruhig und das beruhigte sie. Sie hatte kein Gefühl mehr für Zeit und Raum, sie trieb einfach dahin und ließ es geschehen. Wie viele Tage mochten vergangen sein, seit… Ja, seit wann? Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, es war alles im Nebel verloren, der sich in ihrem Kopf breit gemacht hatte. Sie glaubte Stimmen zu hören, sie waren ganz nah. Leá versuchte den Kopf zu heben, doch nichts geschah. Er fühlte sich so schwer an und als sie es erneut versuchte, tanzten plötzlich Lichter vor ihren Augen. Es war anstrengend, überhaupt die Augen offen zu halten und Leá wäre am liebsten einfach wieder in dieses dumpfe, empfindungslose Nichts zurückgekehrt, aus dem Selkys sie gerissen hatte. Plötzlich huschten Schatten an ihr vorbei, doch Leá konnte ihnen nicht folgen. Sie konnte nur mit den Augen blinzeln, um besser zu sehen, doch auch das half nichts. Kurz darauf gab sie es auf und erholsame Dunkelheit umfing sie.

 

Ilias legte gerade den letzten Holzscheit auf den Scheiterhaufen, auf dem seine Mutter lag. Er hatte ihren Körper so gut es ging von den Spuren der vergangenen Nacht befreit und diesen Scheiterhaufen errichtet, um sie den Flammen Avriels zu übergeben. Von jenen, die das Feuer des Drachen erfasst hatten, war nichts mehr übrig und diejenigen, die an ihren Verletzungen gestorben waren, mussten nun dem heiligen Feuer übergeben werden. Die Feuernacht hatte mit einem Mal eine völlig neue Bedeutung bekommen und viele fragten sich, warum es genau in dieser Nacht hatte geschehen müssen. Ein bitteres Lächeln machte sich in Ilias Gesicht breit.Die Nacht, in der er und sein Volk dem Feuer huldigten, wurde gleichzeitig die Nacht, in der die meisten durch das Feuer umkamen.

Er hörte eilige Schritte hinter sich und kurz darauf legte sich eine Hand auf seine Schulter. Als er sich umsah erkannte er eine junge Frau, die ihn sofort am Arm packte und den Hügel hinunter führte. Er folgte ihr anfangs widerstrebend, doch ihre energische Art ließen ihn nicht zögern und er ließ sich schließlich hinter ihr herziehen. Unten angekommen erkannte er auch den Grund für ihre Eile. Eine kleine Gruppe Menschen hatte sich um ein Pferd versammelt, auf dessen Rücken eine Frau lag. Als Ilias den Rappen erkannte, blieb ihm beinahe das Herz stehen. So schnell er konnte lief er zu Leá und drückte energisch die Menschen beiseite. Gerade als er bei ihr angekommen war schloss sie die Augen und wäre beinahe kraftlos vom Pferd gerutscht. Ilias konnte sie ihm letzten Moment auffangen und wiegte sie in seinen Armen, dankbar, dass sie die Nacht überlebt hatte.

 

Eine reißende Flamme zerriss die Dunkelheit. Sie wirbelte in der Gestalt einer Schlange in den Himmel, kehrte dann zurück und verschwand schließlich unter Leás Handfläche. Leá schrie auf, als der Schmerz ihren Körper durchzuckte, während die Flamme sich ihren Weg in Leás Körper bahnte. Ihr Arm schien zu brennen und holte ihn aus der Taubheit, in die er verfallen war. Der Schmerz hielt nur kurz an und als er verschwunden war, fühlte sich Leá seltsam anders. Und kraftvoll. Sie ballte ihre rechte Hand zur Faust und spürte, wie sie von neuer Kraft durchströmt wurde. Doch dann erkannte sie auch den Grund und ein Schrei des Entsetzens löste sich aus ihrer Kehle. Sie sprang auf und sah in die grimmigen Augen des Drachen, der wusste, dass er nun um seinen Sieg gebracht worden war. Leá betrachtete ihren Arm, um den sich die beiden Schlangen des Atame gewickelt hatten und teilweise mit ihrer Haut verschmolzen waren. Der Kopf der goldenen Schlange lag auf ihrem Handrücken, die silberne lag in der Handinnenfläche, die Klinge war verschwunden. Dennoch stürmte Leá auf ihn zu, die Wut und Rachsucht in ihrem Herzen war neu entbrannt und brachte die Flamme in ihrem Innern immer mehr zum Brennen. Mit der Gewissheit, dass sie nun unbesiegbar war, öffnete sie ihre Hand, und aus dem Maul der silbernen Schlange trat eine Flamme in der Form eines Schwertes. Leá ergriff es und rammte es dem Drachen durch den Panzer direkt ins Herz. Ein Schrei, wie Leá ihn noch nie gehört hatte, durchdrang die Nacht und plötzlich stürmte ein Wirrwarr von Gedanken auf sie ein. Farben und Formen, Gerüche, Empfindungen, Wortfetzen einer Sprache, die sie nicht kannte, Sterne und Planeten. All das überkam sie in dieser einen Sekunde. Leá ließ das Schwert los, das sogleich in ihrer Hand verschwand. Der Drache taumelte und fiel schließlich zu Boden.

„Shaýa. Du bist erwacht!“, flüsterte er schwach in ihre Gedanken. „Dies soll mein Erbe sein.“ Dann sank auch sein Kopf zu Boden und das Feuer in seinen Augen erlosch. Leá fiel auf die Knie, ob aus Erschöpfung oder Bestürztheit, wusste sie nicht. Sie wusste nur eins, sie hatte ihre Tante gerächt.

Mit dieser Erkenntnis umfing sie Dunkelheit und sie fühlte nicht mehr, wie sie auf dem Boden aufschlug.

 

 

Das erste, was sie sah, waren die roten Strahlen der Sonne. Ihr roter Schimmer durchflutete das Zimmer wie ein dichter Nebel, selbst als Leá die Augen noch einmal öffnete, blieb er bestehen. Der Schmerz, den sie vorhin nicht gespürt hatte, kehrte mit plötzlicher Wucht zurück und durchzuckte sie wie ein Blitz. Stöhnend fasste sie sich an den Kopf. Sie hatte das Gefühl, tausend Dinge auf einmal zu denken, alle Gerüche dieser Welt auf einmal zu riechen und alle Empfindungen auf einmal zu spüren. Sie fühlte sich schlapp und kraftlos und ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen.

Es war der Fluch des Drachen, dachte sie bei sich. Sein Tod hatte ihr alle Kraft geraubt. Sie fragte sich, ob sie je wieder aufstehen und auf ein Pferd steigen konnte, ohne wieder kraftlos herunterzufallen. Sie versuchte, noch einmal aufzustehen, als sich plötzlich ein Schatten auf sie warf.

„Ich hatte gehofft, dass du wach bist und ich weiß, du solltest noch liegen bleiben.“ Leá sah auf und blickte in Ilias' von Sorge und Trauer zerrissene Augen. „Aber ich kann nicht länger warten. Die Sonne ist schon fast vollständig untergegangen.“

Ilias Anblick riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah sich erst jetzt richtig um und erkannte den Raum der Hohepriesterin wieder. Leá befand sich in Zaális Zimmer. Als ihr das bewusst wurde, stiegen ihr unbewusst Tränen in die Augen. Ilias bemerkte es und setzte sich neben sie. Er nahm ihre Hand und zwang sie, ihn anzusehen.

„Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist und vielleicht willst du es mir später erzählen. Aber jetzt brauche ich dich!“ Als Leás Blick wieder abzuschweifen begann, hob er ihr Kinn mit der anderen Hand hoch und sah ihr eindringlich in die Augen. Sie entgegnete seinen Blick, der so traurig aber dennoch so voller Zuversicht war, dass ihr erneut Tränen kamen. „Hörst du mir zu? Zaáli ist tot, so wie viele andere auch. Wir haben sie bereits dem Feuer übergeben, jetzt ist nur noch sie übrig. Wir sind jetzt die einzigen, die Abschied von ihr nehmen können. Wirst du bei mir sein, wenn ich es tue?“

Ilias´ Worte drangen wie durch einen dichten Nebel zu ihr, doch sie lauschte jedem seiner Worte, als wären sie ein rettender Anker, der sie vor der Verirrung retten und aus diesem undurchsichtigen Wirrwarr hinausführen konnte. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte und so nickte sie nur. Leá konnte das kurze Aufblitzen eines Lächelns erkennen, bevor sich Ilias zu ihr hinunter bückte und sie auf seine starken Arme hob.

 

 

Die ganze Pracht der Sonne breitete sich über das Tal aus und überflutete den Scheiterhaufen mit ihrem roten Licht. Dieser Anblick gab der gestrigen Nacht auch ihren Namen. Die Feuernacht, die Nacht, bevor das Feuer zu neuem Leben erwachte, wurde immer durch das Auf- und untergehen der blutigen Sonne beendet. Am nächsten Morgen ging die Sonne immer rot auf und der ganze Himmel wurde den Tag über in ihr rotes Licht getaucht. Früher hatte Leá dieser Anblick immer erfreut und ihre Vorfreude auf diese Nacht angefacht, doch heute, da es nun soweit war, empfand sie nichts als Trauer. Leá saß an einen Baum gelehnt nahe dem Scheiterhaufen und beobachtete Ilias, wie er mit einer Fackel Feuer aus dem großen Feuerkessel nahm und langsam aber bestimmt auf seine Mutter zuschritt. Das Feuer war nur ein Lichtpunkt vor der riesigen Sonne, als Ilias die Fackel in den Scheiterhaufen warf. Das getränkte Holz entzündete sich schnell und die Flammen breiteten sich wie ein Lauffeuer aus. Es erinnerte Leá daran, wie das Feuer des Drachen auch von Hütte zu Hütte hüpfte, wie eine riesige Schlange, die sich ihren Weg durch das Dorf bahnte und sie schloss unwillkürlich die Augen.

Ilias nahm in der Sprache der Alten von seiner Mutter Abschied, beteuerte ihr seine Liebe und ewige Verbundenheit und wünschte ihr eine gute Reise zu den Hallen der Ewigkeit. Als Leá ihre Augen wieder öffnete, erkannte sie Ilias nur als eine dunkle Gestalt vor dem Feuer, doch in ihrem Herzen spürte sie, dass er weinte.

 

Kapitel 7

 

 

Der hohe Rat von Sartis

 

 

Grau hingen die Wolken am Himmel und spiegelten die Stimmung der Menschen wider, die in der Stadt darunter wohnten. Die Luft roch nach Regen und ein kühler Wind blies durch die Straßen, er zerrte wild an den Fahnen und Bannern der Abgesandten, die in die Stadt gereist waren, um sich zum Hohen Rat zusammen zu finden. Wie geisterhafte Schemen tanzten die weißen Stoffe im Wind, schmiegten sich an die Schlossmauer und wurden wieder in die Luft gerissen, sie tanzten wild und das Geräusch des flatternden Stoffes hallte durch die verlassenen Gassen entlang.

Krieg lag in der Luft.

Diese Nachricht hatte die Abgesandte des Westens, Lucia, erst vor wenigen Tagen erreicht und sie hatte sie in die anderen drei Teile des Landes gesandt und unverzüglich den Rat einberufen.

Sartis musste handeln, wenn es nicht erneut zu einem großen Krieg zwischen den Völkern Asaias kommen sollte.

Der Wind fegte den Staub durch die Straßen bis vor die Treppen der Burg, wo er ihn kurz liegen ließ, bis ein Paar Stiefel über ihn liefen, bevor er ihn wieder mit sich fort riss. Der Wind entschwand, doch die Person stieg die marmornen Stufen bis zu Burg hinauf, seine Schritte waren langsam, jeder war für ihn eine Herausforderung, schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Schon vor zwanzig Jahren war er bereit gewesen, den letzten Weg zu gehen, doch die Göttin war bis heute nicht gekommen ihn zu holen. Und so lebte er weiter, fühlte wie seine Kräfte schwanden, und wartete.

Er wusste nicht genau, worauf er wartete, die Göttin hatte schon lange nicht mehr zu ihm gesprochen, doch er hatte da so eine Ahnung. Die Bäume hatten ihm die Kunde zugetragen, dass Laszah sich für den Krieg rüstete und der Alte wusste, jetzt war die Zeit des Handelns gekommen.

Seine Schritte hallten über den dunklen Steinboden der großen Halle, die er so schnell es ihm möglich war durchschritt und schließlich die Treppe emporstieg, die ihn zum Ratssaal führen würde. Nur einzelne Wachen waren aufgestellt worden, denn niemand befürchtete einen Angriff auf die Abgesandten der vier Landesreiche. Kurz blieb er stehen und hielt sich am Treppengeländer fest, um wieder zu Atem zu kommen. Er hatte keine Eile, er wusste, dass der Rat bis tief in die Nacht beratschlagen würde und er gönnte sich eine kurze Pause. Einer der Wachen warf ihm einen kurzen Blick zu, doch er Alte winkte nur ab und nahm den Rest der Treppe in Angriff, die spiralig in die Höhe verlief und in den Turm in der Mitte führte. Denn mehr war die Burg nicht, als ein riesiger dunkler Turm, der von mehreren Mauerringen umschlossen war. Der Turm hatte kein Spitzdach, sondern war flach und in der Mitte war ein Bannkreis in den Boden graviert, der den Turm bei einer Bedrohung schützen würde. Der Alte wusste nicht, wie lange dieser Turm hier schon stand, er selbst war tausende von Jahren alt und selbst sein Großvater hatte ihn schon gekannt. Er nahm an, dass er von den Sethú erbaut worden war, denn niemand hatte es bisher geschafft, den Bann zu beschwören. Hohe und mächtige Meistermagier hatten sich daran versucht und waren alle gescheitert, selbst er, wie er zugeben musste. Doch das war lange her und heute erinnerte sich kaum noch jemand an den Bannkreis.

Ein Luftzug erfasste ihn, als er die große Flügeltür zum Ratssaal aufstieß. Er legte seine ganze Imposanz und Selbstsicherheit in seinen Auftritt, denn wie sollte er, der alte Magierelf, sich sonst Gehör verschaffen?

Die vier Köpfe der Ratsmitglieder schossen zu ihm herum und empörte, erschrockene und überraschte Gesichter sahen ihn an.

Lucia stand, sie hatte wohl gerade das Wort, und drehte sich zu ihm um. Allein ihre Ruhe und Gelassenheit waren es, die sie vor den anderen davon abhielt, ausfallend zu werden, angesichts dieser Unverschämtheit.

„Was kann man für euch tun?“, fragte sie höflich, jedoch sah er ihr an, dass sie Höflichkeit mehr spielte als besaß.

„Mein Name ist Rafalgar de Ráhs, Meistermagier aus dem Süden von Sartis. Und mein Anliegen ist von größter Wichtigkeit!“

Er trat an den runden Tisch heran, um den die Vier saßen und stellte sich direkt neben Lucia, die ihn empört ansah.

„Selbst ein Meistermagier hat nicht das Recht, sich einfach Zugang zum hohen Rat zu verschaffen!“

„Aber Lady Lucia,“ versuchte er sie zu beschwichtigen. „Ihr wisst selbst so gut wie ich, dass jemand mit schlechten Absichten gegen diesen Turm hier keinen Einlass erhält. Und so stehe ich hier.“

„Das mag wohl sein!“, gab sie unwillig zu. „Doch auch unser Anliegen ist von äußerster Wichtigkeit und wir können uns dabei keine Störung leisten.“

„Wie ich bereits sagte“, Rafalgar griff in seinen Beutel, den er an seinem Gürtel festgebunden hatte, und zog ein Pergament hervor, „ist auch mein Anliegen äußerst wichtig!“

Er warf das Pergament in die Mitte des Tisches.

„Dies ist die Geschichte, die vor zwanzig Jahren aus den Sternen gelesen wurde. Am Mithil Naigr.“

Stille trat ein und die Ratsmitglieder sahen sich beratend an. Schließlich winkte Lucia Bern zu und dieser erhob sich. Bern war jung, fast zu jung für dieses Amt, er war ungestüm und leicht mit einer Idee zu begeistern. An ihn musste Rafalgar sich halten, wenn es knapp werden würde. Sein blondes Haar stand in allen Richtungen von seinem Kopf und seine blauen Augen strahlten in die Runde.

„Ich habe von diesem Heiligen Berg gehört. Mein Großvater war auch einmal dort und er warnte mich davor, selbst dorthin zu gehen. Sagt, ist es so, wie er behauptet? Dass die Geister der verstorbenen auf dem Hügel tanzen?“

Lucia warf ihm einen bösen Blick zu, doch Bern ignorierte sie. Sein Augenmerk war vollends auf Rafalgar gerichtet.

„Für deinen Großvater mag es wohl so gewesen sein, die Menschen sehen in ihnen immer das, was ihr Herz sehen will. Doch für uns Elfen sind sie die Geister der Welt. Wenn sie sterben, stirbt die Welt.“

„Das ist ja eine nette Geschichte,“ wurde Rafalgar von Gawen, dem Gesandten des Südens, unterbrochen. „Doch was hat das mit Sartis zu tun? Tragt endlich euer Anliegen vor oder geht!“

Rafalgar musterte Gawen mit zusammengekniffenen Augen. Er sah ihm bis in die Seele und was er sah ließ ihn traurig den Kopf schütteln. „Zorn wird euer Leid nicht lindern, Gawen, Sohn des Gareth. Er kann die Toten nicht wieder lebendig machen.“ Gawen sah ihn erst entsetzt, dann mit unverhohlenem Hass an. Sein Gesicht war weiß vor Zorn und er ballte die Fäuste. „Wie könnt ihr es wagen?“

Doch Lucia hob beschwichtigend die Hand. Als Älteste in diesem Raum genoss sie eine gewisse Autorität den anderen gegenüber und sie hörten auf sie. „Tragt vor Rafalgar, was euch am Herzen liegt. Ich kenne euren Namen und weiß, dass ihr einen weiten Weg nicht ohne Grund auf euch genommen habt. Doch dann muss ich euch bitten zu gehen und uns nicht weiter aufzuhalten. Krieg steht vor der Tür.“

Rafalgar nickte zustimmend. „Er liegt näher als ihr denkt! Er droht euch nicht nur von außen.“

Rafalgar hob die Hände und sprach die Formel, die den Bann des Pergaments brechen würde. Kaum hatte er ihn gesprochen, entrollte sie sich und Buchstaben und Bilder tanzten durch die Luft, verbanden sich und bildeten Sätze, zerrissen sich und bildeten neue Sätze. Eine Stimme wie ein Donnergrollen erklang und erzählte die Prophezeiung, die Rafalgar so lange gehütet hatte wie einen Schatz:

 

Und sie werden sein wie Licht und Schatten Einer mit den Schatten der Nacht Der andere eine reißende Flamme Liebe wird es sein die den einen erweckt Doch den anderen wird rufen der Tod Der Himmel entbrennt unter schwarzer Sonne Und der Tag wird weichen Nacht wird kommen und verschlingen Alle die darunter sind Und der Schatten wird sie nehmen Die Schlangen werden sie umwinden Das Feuer verschlingen Und einen Gott gebären Es wird der Tag der Schlange sein Die kommt, das ihre zu fordern Mit Licht und Schatten wird es beginnen Doch mit Zerstörung wird es enden Sieben werden kommen sie sind die Wächter der Welt wenn sie kommen, stirbt die Welt und alles was gewesen ist nichts mehr wird existieren was jetzt existiert und alles wird enden.

 

Die Buchstaben glühten noch einmal rot auf und zerfielen zu Staub. Die Bilder von Drachen, großen Schlachten und sieben Personen verbrannten ebenfalls. Nichts war mehr geblieben von der Prophezeiung, nicht einmal das Pergament. Niemand sagte etwas. Rafalgar blickte nur stumm in die Leere, wo noch vor kurzem die Zukunft dieser Welt gewesen war. „Sehr eindrucksvoll!“ Gawen stand auf und klatschte verächtlich in die Hände. Das Klatschen hallte durch die leere Halle, während die anderen sich unsicher ansahen. „Und deshalb seid ihr hierhergekommen? Wegen dieses Zauberstückes?“

„Das ist keineswegs ein Zauberstück!“, entgegnete Bern. Alle sahen ihn an und selbst Rafalgar war etwas überrascht, ihn so etwas sagen zu hören. Wusste dieser junge Kerl etwas mehr über Zauberei, als Rafalgar angenommen hatte?

„Mein Großvater war ein Magier, nicht so groß wie Lord Rafalgar, doch auch er konnte aus Worten Bilder erstehen lassen und erzählte uns so die Geschichte unserer Vorfahren.“ Bern hoffte, so Gawen von der Echtheit zu überzeugen, doch dieser blickte nur stur geradeaus und schüttelte den Kopf.

„Wie deutet ihr diese Weissagung Rafalgar?“ Lucias Gesicht war ausdruckslos, doch Rafalgar spürte ihre innere Unruhe. Auch sie war von Magie berührt worden, doch das war lange her. Sie glaubt ihm, doch das musste nicht gleichzeitig bedeuten, dass sie ihm helfen würde.

„Wenn ihr noch ein wenig Zeit aufwenden könnt, will ich es euch sehr gern erläutern. Schon seit die Prophezeiung gelesen wurde, befasse ich mich mit ihrer Bedeutung. Und wie man sie bewahrheiten kann.“

„Bewahrheiten?“, brauste Gawen auf. „Seid ihr denn vollends neben euch, Mann?“

Rafalgar war überrascht. „Wenn ihr doch nicht an sie glaubt, kann es euch doch kaum rühren, wenn sie eintrifft? Wo es doch nie geschehen kann, nicht wahr?“

Erst jetzt erkannte Gawen wohl seinen Fehler und suchte nach einer Ausrede. „Wir können keine Mittel für ein solches Unterfangen aufbringen! Und das werden wir auch nicht!“

„Wie könnt ihr das beschließen, wenn wir doch noch gar nicht wissen, was getan werden muss?“ Zum ersten Mal meldete ich Darna zu Wort. Ihr braunes Haar umspielte ihr ruhiges Gesicht und ihre braunen Augen waren auf Gawen fixiert. „Wir sollten uns anhören, was Lord Rafalgar de Ráhs zu berichten weiß.“

Gawen verschränkte gekränkt die Arme. „Ich bin wohl überstimmt.“

„Bitte,“ Lucia winkte Rafalgar zu sich heran und ihm ihren Stuhl an. Dankbar setzte er sich und begann.

Kapitel 8

 

 

Ein neuer Tag

 

 

Kühle Morgenluft umfing Leá, als sie auf die Stallungen zuging. Die Sonne schmiegte sich noch fest an den Horizont und warf nur wenige Strahlen auf den Platz, den Leá gerade überquerte. Der Tag ihrer Abreise war gekommen, sie spürte es in jeder Faser ihres Körpers und ein unbeschreibliches Glücksgefühl überkam sie, wenn sie daran dachte. Leá trug die Reiterkleidung ihres Stammes, dunkelbraunes Leder, das sich perfekt an ihren Körper anpasste, dazu schwarze Stiefel, die sie mit einem Kreuzmuster aus Lederbändern um ihren Unterschenkel gebunden hatte. Die Kleidung für ihren Oberkörper war aus schwarzem Schlangenleder gefertigt worden und wurde vor der Brust mit Lederbändern zusammen gebunden. Die Arme wurden freigelassen, um eine bessere Beweglichkeit zu gewährleisten, schließlich waren die Elari geübte Bogenschützen. Dazu trug sie rechts den Unterarmschoner, der knapp unterhalb des Ellbogens begann und vom Handgelenk trichterförmig bis zu Mittelfinger und Ringfinger reichte, die er ebenfalls umschloss. So rieb sich Leá die Finger nicht wund, wenn sie einen Pfeil spannte. Um ihre Schulter trug sie ihren Bogen, der die Form einer Schlange hatte. Ihr Kopf war leicht gebogen und blickte ihrem Ziel direkt in die Augen.  Den Bogen hatte Zaáli ihr einst geschenkt, als sie wie jeder andere Elari mit den Übungen begann. Damals war Leá vier gewesen, doch sie erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Denn von Zaáli gab es für sie nichts umsonst. Leá hatte sich diesen Bogen hart verdient und er war seitdem ihr wertvollster Besitz. Bis jetzt hatte sie mit ihm noch jedes Ziel getroffen. Das einzige, was Leá jetzt noch vermisste, war der Atame. Seit jener Nacht war er unauffindbar gewesen. Bevor Leá ihren Weg antreten würde, wollte sie noch einmal an die Stelle zurückkehren, wo sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, das große Feld hinter dem Wald des Wakani.

Die Stallungen sahen noch etwas mitgenommen aus, doch wie die meisten Häuser des Dorfes, waren sie notdürftig wieder hergerichtet worden, schließlich waren die Pferde das höchste Handelsgut. Leá erinnerte sich noch an den gestrigen Tag, an dem sie, zusammen mit Ilias und den anderen jungen Männern, die Pferde wieder zusammen getrieben hatten. Einige waren von selbst wieder zurückgekehrt, doch die noch nicht oder ungenügend ausgebildeten Pferde waren in alle Richtungen verstreut gewesen. Eines war besonders schwierig gewesen: Nemesis. Nemesis war das Pferd ihrer Mutter gewesen und hatte seit ihrem Tod niemanden mehr auf sich reiten lassen. Diese Aufgabe war Leá zugefallen, die sich aber gern darum gekümmert hatte. Nemesis hegte auf Leá nicht weniger Zorn wie auf die anderen, doch hatte sie auch noch nie nach ihr geschnappt oder getreten. Damit war sie einigen einen Schritt voraus. Nemesis wusste, dass sie die Tochter ihrer ehemaligen Besitzerin war, dennoch wollte sie Leá einfach nicht als Reiter akzeptieren. Es wäre ja nicht so, dass Leá es noch nie versucht hätte, im Gegenteil. Leá hatte irgendwann aufgehört die Versuche zu zählen. Eine ihrer schlimmsten Wunden zeugte von einem dieser Versuche, eine lange Narbe, knapp unter ihrer rechten Brust. Damals war Nemesis mit ihr durch den Wald gerauscht, ohne Rücksicht auf Verluste. Doch Leá war hartnäckig gewesen und hatte sich beständig auf Nemesis´ Rücken gehalten, egal was sie auch getan hatte. Irgendwann hatte es sie so rasend gemacht, dass sie mit Leá eine Klippe hinunter gesprungen war. Das darunter liegende Gewässer hatte den Aufprall zwar ein wenig abgeschwächt, hatte Leás Sturz auf einen großen Stein jedoch nicht verhindern können. Ilias hatte ihr erzählt, das erste was sie am nächsten Tag gesagt hatte, war: „Ich bin bis zum Ende auf ihrem Rücken gesessen.“ Und darauf war Leá bis heute stolz. Sie war bis zum Aufprall auf dem Wasser auf Nemesis´ Rücken gesessen und mit ihr zusammen ins Wasser eingetaucht. Zaáli hatte gehofft, dass dieser Vorfall Leás Bestreben auf Nemesis zu reiten etwas mindern würde, doch Leá hatte sich geschworen, eines Tages das Pferd ihrer Mutter zu zähmen, und wenn es bis zum letzten Tag ihres Lebens dauern würde. Leá hatte es verwundert, dass sie sich diesmal so leicht einfangen ließ, wahrscheinlich war es ihr im Wald zu langweilig geworden. Als Leá sie erspäht hatte, kam sie ganz von selbst auf sie zu und lief neben ihr zurück zur Koppel. Das Zaumzeug hatte sie sich natürlich nicht umlegen lassen, aber ein Versuch war es Leá dennoch wert gewesen.

Vielleicht war es heute soweit, dachte Leá bei sich. Wenn sie Glück hatte, konnte sie Nemesis dazu überreden, mit ihr zu kommen. Und vielleicht konnte sie Nemesis ja eines Tages dazu bringen, auf ihr reiten zu dürfen. Aber das war alles sehr vage und je näher Leá den Stallungen kam, umso mehr zweifelte sie an ihrem Vorhaben, Nemesis mitzunehmen. Sie wollte Nemesis aber unbedingt dabei haben, denn es erschien ihr falsch, das Pferd ihrer Mutter hier zurück zu lassen, denn Leá hatte das unbestimmte Gefühl, nicht mehr in ihr Dorf zurück zu kehren.

Das Pferd zurück zu lassen, würde bedeuten, ihre Mutter zurück zu lassen und das brachte sie nicht übers Herz.

 

 

Der Tau unter Ilias´ Füßen war nass und kalt und er hinterließ tiefe Abdrücke hinter sich im Gras, während er langsam und mit aller Zeit der Welt seinem Ziel immer näher kam. Ein leichter Wind kam auf und zerrte an seinem dunklen Haar und trocknete die Tränen in seinem Gesicht. In seinen Händen hielt er eine einfache Holzschachtel, die er so vorsichtig an seinen Körper gepresst trug, als lägen darin die kostbarsten Schätze der Welt. Seine Mutter war eine Himmelsfee gewesen und sie würde zum Wind zurückkehren, das war immer ihr Wunsch gewesen. Das war einer der wenigen Wünsche, die Ilias ihr erfüllen konnte. Denn Ilias war zur Hälfte menschlich und nie so machtvoll wie seine Mutter gewesen. Er hatte sie deshalb oft enttäuscht und auch wenn er nicht bezweifelte, dass Zaáli ihre Kinder geliebt hatte, sie hatte ihn seine Unfähigkeit jeden Tag spüren lassen.

Vor ihm tauchte der Felsvorsprung auf, von dem Leá mit Nemesis gestürzt war und der Wind wurde stärker, fordernder. Als Ilias direkt vor dem Abgrund stand und das Wasser unter sich Rauschen sah, öffnete er die Schachtel und die Asche seiner Mutter verstreute sich augenblicklich im Tosen des Windes. Ein Heulen drang in sein Ohr, ein Ton, den nur der Wind erzeugen konnte, wenn er um die Häuserecken strich und Ilias wusste, dass seine Tante ihre Schwester willkommen hieß. Und er bildete sich ein, noch mehr zu hören. Das Geheul wurde lauter, stärker und unbezwingbar. Die Wasserfläche unter ihm kräuselte sich wild, die Äste der Bäume wurden rücksichtslos hin und her gerissen, die Tiere suchten Schutz im Dickicht.

Der Wind forderte. Er zeigte Ilias was zu tun war.

Und Ilias gehorchte.

 

 

 

Während sie Nemesis versorgte, dachte sie über die letzten Tage nach. Nach Zaális Tod war einiges anders geworden. Das Dorf hatte viele Einwohner verloren, viele alte, die dem Feuer nicht schnell genug entkommen waren, viele Priesterinnen waren verletzt, weil sie den Dorfbewohnern geholfen hatten, so gut es ging und nun hatten sie auch keine Führung mehr. Die Wahl einer neuen Hohepriesterin wurde immer von der vorherigen vorgenommen und so standen sie vor einer unlösbaren Aufgabe. Letzten Endes hatte der Dorfälteste, der Führer der Priester, diese Aufgabe übernommen und eine der älteren Priesterinnen bestimmt. Die nächsten Tage waren bestimmt worden vom Wiederaufbau des Dorfes, Wiederanlegen der Felder und dem Zusammentreiben der entlaufenen Tiere. Es würde lange dauern, bis alles wieder seinen gewohnten Gang gehen würde, doch solange konnte Léa nicht bleiben. Ihre Tante hatte ihr mit ihrem letzten Atemzug eine Aufgabe hinterlassen. Und gleichzeitig ein Rätsel, das sie lösen musste. Sie hatte nie viel von ihrer Vergangenheit gewusst und vieles, was Zaáli ihr gesagt hatte, verwirrte sie und warf nur noch mehr Fragen auf. Sie sprach sich jede Nacht ihre Worte vor, aus Angst sie zu vergessen und irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, verfolgt von den stechenden Augen des Drachen und einer Flamme, die ihrer Hand entstieg. Am nächsten Morgen fühlte sich ihre Hand heiß an, als hätte sie sich verbrannt und die Umrisse von Schlangen hatten sich wie feine Narben in ihre Haut gebrannt. Über den Tag hinweg verblassten sie und am nächsten Morgen waren sie wieder da. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt und aufgehört sich zu fragen, woher das kam. Zaális Worte schwebten in solchen Momenten über ihr. Zwei Schlangen, zwei Kinder... Léa war sich sicher, dass sie eines dieser Kinder war. Denn Zaáli hatte ihr nur aufgetragen eines zu finden. Da blieb nur Léa als das zweite übrig. Und es war bestimmt auch kein Zufall gewesen, dass Schlangen den Atame ihrer Mutter umwunden hatten. Leá war noch einmal zum Haus ihrer Mutter zurück gekehrt, doch es war nur noch glutrote Asche übrig gewesen. Nichts, dass ihr mehr hätte sagen können. Und auch Ilias hatte ihr nicht weiter helfen können. Sie hatte ihn seit diesem Abend am Scheiterhaufen nicht mehr oft zu Gesicht bekommen und falls doch, war er immer sehr schweigsam gewesen. Eines Abends, als sie ihn auf Elias angesprochen hatte, war er schweigend aus dem Raum verschwunden und die ganze Nacht nicht wieder gekommen. Am nächsten Morgen hatte sie eine der Priesterinnen gefragt und endlich Auskunft erhalten. Elias hatte noch am Abend der Feuernacht das Dorf verlassen, in Richtung Hauptstadt. Dort sollte seine Ausbildung zum Seher beginnen. Léa hoffte, dass er Sartis heil erreicht hatte und dass es ihm gut ging. Was in Ilias vor sich ging, konnte sie nur erahnen. Er sprach nicht, über das was geschehen war und Léa drängte ihn auch nicht. Seine Trauer umfing ihn wie ein unsichtbarer Mantel, von dem sie hoffte, dass er ihn bald ablegen würde. Als sie sich heute Morgen von ihm verabschiedet hatte, hatte er keinerlei Regung gezeigt, erst als sie ihn fest umarmt hatte. Er hatte seine Arme fest um sie gelegt und gesagt: "Auch du verlässt mich. Was bleibt mir jetzt noch?" Zuerst hatte sie keine Antwort gewusst. Er hatte sie in seinen Armen gehalten und seinen Kopf auf ihrer Schulter abgelegt. "Die Menschen hier brauchen dich. Und Elias wird dich brauchen, wenn er zurückkehrt. "

"Du wirst nicht zurückkehren. " Es war keine Frage, er spürte es genauso wie sie selbst. Eine Tatsache, die aber nur er auszusprechen wagte. "Vielleicht sehe ich dich nie wieder, Léa."

"Wenn die Göttin es will, sehen wir uns wieder", hatte sie in seine Brust geflüstert. Doch keiner von beiden hatte wirklich daran geglaubt. Und wie sehr Ilias glaubte, dass es ein Abschied für immer war, hatte er ihr gezeigt. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, als er sich plötzlich von ihr löste, sich zu ihr hinunterbeugte, ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie küsste. Warm und weich lagen seine Lippen auf den ihren. Zärtlich aber bestimmt drückte er sich an sie. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte und schloss instinktiv die Augen. Es war nicht unangenehm, er fühlte sich gut an und sie liebte ihn. Aber nicht auf diese Weise. Bevor sie in irgendeiner Weise reagieren konnte, hatte er sich schon wieder von ihr gelöst und sah ihr in die Augen.

"Ich weiß, dass du nicht in dieser Art für mich empfindest, aber ich wollte dass du es weißt, bevor du gehst. Ich hoffe, du findest, wonach du suchst. Cala cest, Léa. "

Damit hatte er sich abgewandt und war verschwunden. Seitdem hatte sie ihn nicht wieder gesehen.

Léa hatte garnicht gemerkt, dass sie abwesend in die Ferne gestarrt hatte, als sie plötzlich etwas am Arm anstupste. Als sie sich umwandte, stand Nemesis neben ihr und erinnerte sie daran, dass es noch etwas zu erledigen gab.

 

 

Als sie das letzte Mal diesen Weg entlanggekommen war, war alles so schnell gegangen und als sie den Wald um sich betrachtete, stürzten die Erinnerungen dieser Nacht auf sie ein. Wie das Mondlicht auf dem Weg vor ihr getanzt hatte wie Geisterschemen, wie die Äste ihr Gesicht und ihre Arme zerkratzt hatten und der unstillbare Durst nach Rache, den sie vorher nicht gekannt hatte. Nemesis trottete neben ihr her, sah sich ab und zu um, aber störte sich nicht an den Geräuschen des Waldes und blieb immer ein kleines Stück hinter Léa. Dass sie überhaupt mitgekommen war, grenzte für Léa schon an ein Wunder und auch wenn sie nicht sagen konnte weshalb, war sie dankbar für die Anwesenheit des Pferdes. Sie kam sich im Moment etwas verloren vor und wusste noch gar nicht so richtig, wie sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Zuerst musste sie an den Ort zurückkehren, wo sie den Atame verloren hatte. Und sie wollte noch einmal den Drachen sehen.

Die Lichtung tat sich vor ihr auf und zögernd ging Léa zu der Stelle, an der der Drache gelegen hatte. Doch es gab keine Spur von ihm. Sie sah sich irritiert um. Sie war hier richtig. Sie sah in die Richtung aus der sie gekommen war, die gleiche Einmündung, wie beim letzten Mal. Nemesis stand nur da und sah sie an. Als Léa nur fragend zurückstarrte, fing sie an zu grasen. Léa drehte sich einmal um sich selbst, fing an den Boden nach Spuren abzusuchen. Ihre Finger wanderten durch das Gras, drückten auf den Boden, schoben Blumen zur Seite. Sie wusste nicht, wie lange sie schon durch das Feld robbte, doch langsam wurden ihre Beine schwer. Sie wollte gerade aufstehen, als sie etwas mitten in der Bewegung erstarren ließ. Keine paar Meter von ihr entfernt war etwas anders. Das Gras sah minimal anders aus. Sie ging darauf zu und fand sich plötzlich in einem Areal wieder, dessen Farbe sich ein wenig von dem Grün des Feldes unterschied. Léa beugte sich hinab und berührte die Grashalme mit ihren Fingerspitzen. Feine Partikel hatten sich auf ihrer Haut abgesetzt und Léa zermahlte es vorsichtig zwischen ihren Fingern, die sich silbern verfärbten. Hauchdünn lag eine silberne Schicht auf ihrer Haut. Hier hatte also der Drache gelegen. Was war nach seinem Tod mit ihm passiert? Sie sah sich näher um und bemerkte, wie das Gras herunter gedrückt worden war. Sie fuhr die Umrandung mit ihrer Hand nach. Das war unmöglich... Die Form war nicht die eines großen Tieres samt Flügel und Schwanz. Es war die eines Menschen. Aber wie konnte das sein? War "er" es vielleicht gewesen, der hier gelegen hatte? Das hätte aber bedeutet, dass er unter dem Drachen gelegen haben musste. Doch Léa glaubte sich zu erinnern, dass er etwas weiter weg gelegen hatte. Auch sein Schicksal war ihr unbekannt. Sie hatte Ilias nach ihm gefragt, doch es sei nur der Drache dort gewesen. Sonst niemand. Léa hoffte, dass er wohlauf war. Bei dem Gedanken an ihn machte ihr Herz einen Satz und brachte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück. Gut, wenn hier der Drache gelegen hatte, müsste doch auch der Atame zu finden sein. Also fing sie an zu suchen.

Kapitel 9

 

 

Raven

 

 

Eine weite Ebene erstreckte sich vor Leá und die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen. Der Himmel vor ihr strahlte rot in der Abendsonne und auch das Land war in bunte Farben gehüllt. Die letzten Vögel zogen über ihren Kopf hinweg und flogen in die Baumkronen des Waldes, den Leá gerade hinter sich gelassen hatte. Zu ihrer linken ragte das große Gebirge auf, in dessen unterirdischen Höhlen das Volk der Balir lebte. Doch Leás Ziel waren vorerst nicht die Balir, sondern das Volk er Unui, der Waldläufer. Sie waren im Gegensatz zu den Balir ein friedliches Volk, dessen kriegerische Begabung sich in der Jagd und den Stammesspielen zeigte. Leá war bereits einmal mit Zaáli und Ilias zu ihnen gereist, der Stammesführer hatte Ilias zu den Spielen eingeladen und sich eine Freundschaft zwischen seinem Sohn und Ilias erhofft. Die Spiele waren interessant, sie beinhalteten die Disziplinen des Bogenschießens, des Wettlaufs und der „Jagd“. Die Jagd war etwas ganz besonderes und Leá erinnerte sich noch genau daran, auch wenn sie erst acht gewesen war. Das Ziel waren keine Tiere, sondern die Teilnehmer selbst. Die Pfeile waren so präpariert, dass sie statt der Pfeilspitze kleine, mit roter Farbe gefüllte Säckchen vorne angebunden hatten. Die Teilnehmer verteilten sich im Wald und machten auf die anderen Jagd. Wer getroffen wurde, musste den Wald verlassen, fehlte nur noch einer, wurde ein Feuer entzündet, dass dem letzten das Signal des Sieges verkündete.

 

Leá dachte mit einem Schmunzeln daran, dass Ilias zäher gewesen war, als alle Unui anfangs angenommen hatten und schließlich nur noch er und der Sohn des Anführers im Wald waren. Die übrigen mussten lange warten, bis einer den Wald verließ. Sie jagten sich fast die ganze Nacht und als der Morgen graute kam Ilias mit einer roten Schulter aus dem Wald, der andere aber gleich hinterdrein, jedoch ohne Farbe. Leá konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern, jedoch an die Tatsache, dass er genau einen Pfeil verschossen hatte und der hatte Ilias getroffen. Er hatte sich sein Ziel genau ausgesucht und bis zum Ende gejagt.

Leá hatte länger als erwartet gebraucht, um den Weg bis zu den Unui zurück zu legen, schließlich hatte Leá lange gebraucht um Nemesis zu bändigen. Sie war anfangs stur gewesen und hatte Leá, obwohl sie eine Pferdetänzerin war, mehrmals abgeworfen.  Sie war aber nie davongelaufen und hatte Leá herausfordernd angewiehrt. Also war Leá immer wieder aufgestiegen. Nach einem langen und anstrengenden Tag hatte es Leá schließlich aufgegeben und im Wald das Nachtlager aufgeschlagen. Sie wusste, dass sie nur zu Pfeifen brauchte und Selkys wäre gekommen, vielleicht wäre er von Anfang an die bessere Wahl gewesen. So oft Leá in dieser Nacht darüber nachgedacht hatte, sie kam immer wieder zu dem gleichen Entschluss. Sie musste Nemesis bei sich haben, als wäre sie für das Pferd verantwortlich und Selkys würde es bei Ilias besser haben als hier mit Leá, die in die Ungewissheit ritt. Oder besser gesagt, ging.

Sie ließ Nemesis unangebunden, damit sie im Fall einer Gefahr davon laufen konnte. Diese Freiheit gewährten die Elari ihren Pferden. Sollte Nemesis sie verlassen wollen, brauchte sie das nur zu tun, doch als Leá am nächsten Morgen aufwachte, graste Nemesis auf der weiten Ebene vor dem Wald. Als Leá, ohne jede Hoffnung auf Erfolg, aufsteigen wollte, ließ sie es geschehen.

Seither ritt Leá auf Nemesis, als hätte sie nie etwas anderes getan und sie fragte sich, was diese Veränderung bewirkt hatte.

Es würde bald dunkel werden und Leá wollte das Dorf der Unui noch rechtzeitig erreichen, deshalb gab sie Nemesis einen kleinen Klapps und beide flogen über die weite Ebene. Das Haar von Leá und Nemesis flatterte wild im Wind und Leá streckte die Arme aus. Das Gleichgewicht mit den Beinen zu halten war kein Problem und der Wind hob ihren Körper leicht hoch. Leá hatte das Gefühl zu fliegen und fand, dass dies der perfekte Moment sein müsste, auf dem Rücken eines Pferdes im Wind zu fliegen.

Der Moment währte ewig, die Ebene war weit und Leá vergaß für diesen kurzen Augenblick alles andere.

Bis mit einem Schlag das Dorf der Unui in ihr Auge sprang. Oder das, was davon übrig war. Dort wo früher Hütten gestanden hatten, war nichts mehr, nur noch verkohlte Balken und Asche. Doch keine schwarze, es war rubinrote und es gab nur ein Geschöpf, das so etwas anrichten konnte. Ein Drache.

Leá stieg ab und führte Nemesis durch das Trümmerfeld. An einigen Stellen lagen Kleidungsstücke, an anderen waren die Umrisse menschlicher Körper in den Boden gebrannt. Wurde ein Mensch vom Feuer eines Drachen voll erfasst, wurde sein Körper sofort zu Asche und nichts war mehr übrig. Und jene die nur teilweise erfasst wurden, verkohlten und zerfielen bei Berührung zu Staub. Leá hatte es gesehen, als der Drache in ihr Dorf eingefallen war und der Gedanke an seinen Tod konnte die Wut nicht wirklich lindern. Aber konnte sie sicher sein, dass der selbe Drache beide Dörfer angegriffen hatte? Leá machte sich wie von selbst auf die Suche nach Überlebenden, obwohl sie wusste, dass hier niemand mehr war. Schon länger nicht mehr und sie fragte sich, ob alle Unui dem Feuer zum Opfer gefallen waren oder ob einige flüchten konnten. Und wenn ja, wo sie jetzt waren. Fast im selben Augenblick kam Leá der Gedanke, dass vielleicht das Dunkle Kind unter den Toten war. Wie sollte sie je erfahren, ob das Dunkle Kind unter den Unui lebte, wenn sie mit niemandem sprechen konnte? Der Geruch des Feuers war noch immer wahrnehmbar, obwohl Leá annahm, dass der Drache, wenn es der selbe gewesen war, schließlich hier zuerst gewütet hatte. Warum hatten sie nichts bemerkt? Eine solche Rauchsäule hätten sie doch bemerken müssen? Leá fand keine Antwort darauf und fand schließlich, dass es sowieso keinen Unterschied machen würde, wenn sie eine fände. Das gebrochene Holz knarrte, als sie darüber hinweg stieg und es knisterte unheimlich unter Nemesis’ Hufen. Nemesis wieherte und zog den Kopf zurück. Instinktiv ließ Leá die Zügel los und Nemesis tänzelte unruhig hin und her. Ihre Ohren zuckten von einer Richtung und die andere und auch ihre Augen sahen sich nervös um.

“Ruhig! Was ist denn?” Leá konnte nichts beunruhigendes spüren und sah sich um, während sie auf das Pferd zuging und versuchte, es zu beruhigen. Ein Vogelschrei ließ Leás Kopf in die Höhe schnellen und sie erkannte einen Raben über ihren Köpfen hinweg ziehen.

“Das ist doch nur..” Leá wollte sagen, dass es nur ein Vogel war, doch noch während sie sprach, verharrte der Vogel mitten in der Luft und ließ sich einfach fallen. Während seines Falls wurden Schnabel, Flügel, Federn und Krallen zu Gesicht, Armen, Haut und Beinen und ein fertiger Mensch landete kniend vor Leás Füßen. Nemesis machte einen Satz nach hinten und verschwand in Richtung Wald.

“Nemesis!”, rief Leá ihr noch nach und lief ihr einige Schritte hinterher, bis sie resigniert stehen blieb. Es hatte keinen Sinn diesem Pferd nachzulaufen, sie würde zurück kommen wenn sie es wollte. Stattdessen wandte sie sich um und beobachtete den jungen Mann, der inzwischen aufgestanden war und sich noch einzelne schwarze Federn aus der Haut zupfte. Leá beobachtete ihn verstohlen und wartete, bis er fertig war.

“Was siehst du mich so an?”, platzte er heraus und Leá schauderte bei dem Gedanken an das, was sie gerade gesehen hatte. Sie nahm sich zusammen und ging auf ihn zu. Er sah sie schief an, als sie ihren Finger ausstreckte und damit kurz aber fest gegen seine Brust drückte.

“Aber hallo!” Er schüttelte ihre Hand weg und trat einige Schritte zurück. “Ich mags nicht wenn man mich antatscht, also lass das!”

Er hatte eine Feder entdeckt, die sich an seiner Taille verfangen hatte und zupfte sie kurzerhand heraus.

Bis auf seine schwarzen Haare, die ihm wild zu Berge standen, trug er nichts und er schien sich deshalb auch nicht zu genieren.

“Es tut mir leid, aber ich habe noch nie jemanden wie dich gesehen!”, stellte Leá klar und kam auf ihn zu. Sofort ging er in Abwehrposition, so als hätte er Angst sie würde sich an ihm vergreifen. “Was bist du?”

”Was bist du ?”, äffte er sie nach. “Was soll ich schon sein?” Dann ging er doch davon und fing an, zwischen den Sachen am Boden herum zu wühlen. Leá ging ihm langsam nach. “Naja, ich meine, es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass ein Vogel sich in einen Menschen verwandelt.”

Sie stellte sich imposant hinter ihm auf, während er völlig versunken zwischen verkohlten und angebrannten Kleidungsstücken stöberte. Ab und zu zog er eines heraus, betrachtete es kurz und warf es dann schließlich doch achtlos zur Seite.

“Also? Was bist du?”

Doch der Vogelmensch ließ sich nicht stören. Leá fragte sich, ob er sie ignorierte oder einfach zu beschäftigt war. Vielleicht bestand zwischen dem Vogelhirn und dem Menschenhirn kein Unterschied, dachte sie boshaft und musste schmunzeln.

Immerhin hatte er schon ein paar Hosen an und zog sich gerade ein einigermaßen ansehnliches Hemd über seinen Wuschelkopf.

“Ich bin ein Rabe.” Er sagte es, als sei es selbstverständlich und sah sich interessiert um.

“Ein Rabe?” Leá sah ihn ungläubig an. “Momentan siehst du für mich aber eher wie ein Mensch aus.”

Als er scheinbar die ganze Umgebung überschaut hatte, fing er an, in aller Ruhe sein Haar zu ordnen und zupfte sich auch hier einige Federn heraus, die er achtlos zu Boden fallen ließ. “Sag mal, wo kommst du denn her? Jeder weiß doch, was der Clan der Raben ist!”

“Entschuldige mal! Soweit ich weiß, gibt es in Talar keine Clans!” Im selben Moment fragte sie sich, warum sie sich eigentlich rechtfertigte, schließlich war er doch wie aus dem Nichts hier aufgetaucht.

“Wie du meinst.” Als sein Haar geordnet war, soweit das Leás Ansicht nach möglich war, setzte er sich auf den Boden und sah in die Richtung, in die Nemesis verschwunden war.

“Sagst du mir dann wenigstens was du hier machst?”, bot sie ihm an.

“Wenns sein muss….”

Leá setzte sich neben ihn und zuckte zusammen, als sie nur einen Schritt neben sich, den verkohlten schwarzen Umriss eines Menschen am Boden sah. Er bemerkte es und ein Schatten senkte sich über seine Augen. “Es war Nacht, als es anfing. Zuerst dachte ich, es war ein Blitz, doch selbst ein Blitz kann keine solche Feuerbrunst auslösen. Es verbreitete sich wie eine Welle über das Dorf. Ich hörte Schreie und weinende Kinder. Der Rauch kratzte in den Augen, das Feuer war unerträglich heiß. Wie ein riesiger Schatten zog er über den Himmel. Ich hatte so viel Angst wie noch nie in meinem Leben.”

Leá wurde heiß und schwindlig und sie musste sich abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie sah die Bilder, als wäre sich selbst dort gewesen, konnte den Rauch riechen und spürte die Hitze des Feuers.

“Du warst da?” Sie wusste den plötzlichen Würgereiz unterdrücken und hoffte, dass er es nicht bemerkte.

“Ja ich war da. Ich hatte das Glück auf einem Bauch zu schlafen, der genau neben dem ersten Zelt stand, dass in Flammen aufging. Aber ich blieb nicht lange genug, um dem Sterben zuzusehen. Ich schloss mich den anderen an.”

Leá horchte auf und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. “Andere? Es gibt Überlebende?”

Es schien ihn nicht lange auf dem Boden zu halten. Er stand auf und ging zwischen den Trümmern hin und her. Ab und zu hielt er ein verkohltes Stück Holz hoch, sah nach, was darunter lag und ließ es wieder fallen.

Was machte der Kerl da? Für Leá war sein Verhalten höchst sonderbar. Sie stand auf und trat neben ihn. “Wenn du was bestimmtes suchst…”

“Tu ich nicht,” unterbrach er sie und rieb sich die Asche von den Händen.

“Was tust du dann?”

Er schenkte ihr einen seltsamen Blick und ging dann weiter. “Wird dir die Fragerei nicht langsam zu blöd? Ich hab keine Lust, mit dir zu reden.”

“Schön.” Leá wurde es langsam zu bunt. Alles musste sie ihm aus der Nase ziehen und ständig lief er vor ihr davon. Sie ging auf ihn zu und noch ehe er reagieren konnte, hatte sie ihm Zeige- und Mittelfinger in den Rücken gedrückt. Wie ein nasser Sack fiel der Vogelmensch auf den Boden.

“Hey! Bist du bescheuert? Was soll das?”

“Ich hab deine Beine ins Land der Träume geschickt.” Sie beobachtete amüsiert, wie er krampfhaft versuchte, sich hoch zu ziehen. “Ich habe Fragen und brauche Antworten. Und ich denke, du kannst sie mir geben. Das soll eine kleine Motivation sein."

"Ich red' trotzdem nicht mit dir."

Leá hockte sich ihm gegenüber. "Ich kann warten."

Sie saßen so eine ganze Weile, bis er wieder anfing.

“Worauf wartest du eigentlich?”, fuhr er sie genervt an.

“Unter anderem auf mein Pferd, das du verscheucht hast.”

Leá hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust und sah sie an. “Dafür brauchst du mich doch nicht.”

Leá öffnete die Augen. “Du hast Informationen, die ich brauche. Ich bin auf der Suche nach Jemandem und du wirst mich solange begleiten, bis ich weiß, was ich wissen will.” Genüsslich grinste sie und reckte den Kopf wieder in die Sonnenstrahlen.

“Was? Auf keinen Fall!” Er nahm nacheinander seine Füße, winkelte sie langsam an und stemmte sich mit den Händen gegen den Boden. Doch so sehr er auch versuchte aufzustehen, sein Hintern landete immer wieder auf dem Boden. Leá belächelte seine sinnlosen Versuche. “Das nennt man Schwerkraft.”

“Ach halt doch die Klappe!” Er stemmte sich noch mal hoch, doch seine Arme fingen an zu zittern und er landete wieder im Dreck. Ein Schrei der Verzweiflung entkam seinem Mund und er schlug mit den Fäusten auf den Boden wie ein kleines Kind, wenn es keine Süßigkeiten bekommen hatte. “Du kannst mich nicht zwingen!”

“Natürlich kann ich. Aber es liegt an dir wie weit ich dabei gehen muss.” Gefährlich glitzerten ihre Augen und er wich kaum merklich zurück.

Er sah sie schief an. “Wie meinst du das?”

“Naja,” Leá stand auf und sah auf ihn hinab. Sie zwang ihn so, zu ihr hoch zu sehen und das missfiel im sichtlich. “Zuerst wäre es natürlich hilfreich, wenn ich wüsste, wer und was du eigentlich bist.”

Er verdrehte nur die Augen. Leá deutete das als stumme Zustimmung. “Und dann will ich natürlich wissen, wer die Überlebenden sind und wo sie hingegangen sind.”

“Sonst noch was?”

“Nein.”

“Na schön.” Er lehnte sich auf seine Hände und sah sie an.

“Was?”

“Na, mach, dass ich wieder laufen kann!”

Leá sah ihn an, als wüsste er ganz genau, was er dafür zu tun hatte. Er seufzte. “Na schön. Ich heiße Raven.” Dann wartete er wieder.

“War das alles?”

“Ach komm schon! Ich lauf dir schon nicht weg!” Er hatte theatralisch die Hände flehend zu ihr empor gestreckt. Sie ließ sich breit schlagen und trat hinter ihn, drückte wieder kurz an die selbe Stelle wie zuvor und half ihm auf die Beine. Als er bemerkte, dass sie weich wie Gummi waren, klammerte er sich automatisch an Leá fest und sie zog ihn hoch. Anstatt sich zu bedanken stieß er sie weg und stand unbeholfen, wie ein neu geborenes Fohlen. Sie musste lachen und verärgerte ihn dadurch noch mehr.

“Hör auf zu lachen, du bist daran schuld!” Er musste sich anstrengen, um nicht wieder rückwärts hinzufallen. Obwohl sie es sehr belustigend fand, ihm zuzusehen, hatte Leá keine Zeit, länger auf dieses Spiel einzusteigen.

“Wo kommst du her?”

“Das geht dich gar nichts an!”, schnauzte er zurück. Allmählich kam das Gefühl in seine Beine zurück und er fing an, ungelenk herum zu stolzieren. Leá entging nicht, dass er wohl einen Sicherheitsabstand zwischen ihnen aufbaute. “Schön. Kaum kann er wieder stehen, kommt auch die Frechheit zurück was? Dir ist hoffentlich klar, dass wir eine Abmachung hatten.”

Leá kam bedrohlich auf ihn zu und er wich gleichzeitig immer wieder einen Schritt zurück.

“Das ist Erpressung! Du kannst mich nicht zwingen!” Er wusste sehr wohl, dass sie das konnte und er fing an, Holzreste nach ihr zu werfen, während er gleichzeitig nach einem Fluchtweg suchte. Der erste war nur achtlos geworfen, doch der zweite hätte getroffen, wenn sie sich nicht darunter weggeduckt hätte. Einer hatte sie am Arm gestreift und er fand immer irgendetwas, das er ihr entgegen werfen konnte. “Ich will dich doch nicht umbringen.” Holzscheit von der linken. “Ich will doch nur, dass du mir ein paar Fragen beantwortest.” Er warf inzwischen mit allem, was ihm in die Finger kam. Diesmal kam ein brauner Stoffrest geflogen, der Leá nicht wirklich aufhalten konnte. Leá hob ihn auf und gab es auf, ihm weiter hinterher zu laufen. “Ich hab keine Zeit für so was.” Sie drehte ihm den Rücken zu und ging in Richtung Wald, in den Nemesis verschwunden war.

“Wo gehst du hin?”, rief er nach kurzer Zeit.

“Mein Pferd suchen.”

“Und dann?”

Als sie nicht antwortete, hörte sie leise, aber schnelle Schritte hinter sich. “Und dann?”

Leá sah ihn kurz an und lächelte dann. “Das geht dich gar nichts an.”

Nemesis war nicht weit gelaufen. Sie graste inmitten der weiten Ebene und hob neugierig den Kopf, als die zwei Personen näher kamen.

“Du hättest mich wohl ewig warten lassen”, lächelte Leá, während sie auf Nemesis zuging. Sie ließ sich von Leá an den Nüstern streicheln, ließ Raven aber keine Sekunde aus den Augen.

“Ein schönes Pferd.” Auch er beäugte Nemesis argwöhnisch.

Leá sah ihn überrascht an. “War das ein Kompliment?”

“Eine Feststellung”, stellte Raven klar.

“Na dann.” Leá schwang sich auf Nemesis und Raven sah sie fragend an. “Was ist?”

“Wolltest du nicht noch etwas wissen?”, räumte er ein.

Leá beugte sich über Nemesis zu ihm hinab. “Na dann raus damit.”

Kapitel 10

 

 

Die Nacht

 

 

Das Klagelied der Nachtigall riss Aya aus ihrem Schlaf. Sanftes Mondlicht leuchtete durch den hellen Stoff ihres Zeltes und warf ihren Schatten an die Wand. Blässe und Erschöpfung spiegelten sich in ihrem Gesicht und ließen sie älter aussehen, als sie eigentlich war. Ihr neunzehnter Sommermond stand bevor, dennoch fühlte sich Aya mit einem mal doppelt so alt.

Was war gerade geschehen? Sie wusste, dass dies kein gewöhnlicher Traum gewesen war, mehr ein Abbild der Wirklichkeit, ein Spiegelbild der Realität und doch so unwirklich als wäre es nie geschehen. Immer noch verwirrt, von dem was sie gerade erlebt hatte, krabbelte sie vorsichtig aus dem Zelt und betrachtete den Mond, der voll und strahlend auf sie herab schien.

Selbst die Göttin konnte den Schatten, der sich auf ihren Geist gelegt hatte, nicht vertreiben.

Aya fiel mit den Knien auf das feuchte Gras, streckte die Arme weit von sich und legte ihr Gesicht ebenfalls sanft darauf. Ihre Fingerspitzen krallten sich so fest in den Boden, bis sie die Erde dazwischen spüren konnte.

„Oh Mutter!“, flüsterte sie in das Gras. „Warum hast du dich von mir abgewandt? Täglich kann ich dich in meinem Innern spüren und dennoch!“ Jeder Muskel in Ayas Körper war angespannt, als versuche sie die Erde zu umarmen. Die Schlangen auf ihrer Schulter zuckten, als Aya anfing zu weinen. „Wann? Sag mir, wann? Wann hast du mich verlassen? Was habe ich getan?“

Als Aya nur Schweigen und das leise Auf und Ab der Grashalme als Antwort bekam, schloss sie die Augen und eine letzte verzweifelte Träne rollte ihre Wange hinab, kroch über die Nase und tropfte schließlich auf den Boden.

 

Schatten. Schnelle Schritte. Nein, keine Schritte. Sie liefen. Genau auf sie zu! Ein Lichtblitz. Sie konnte nichts mehr sehen. Geblendet hob sie die linke Hand vor die Augen, in der rechten hielt sie noch immer das Schwert. Blut rann an der Scheide entlang und tropfte stetig auf den Boden. Das Licht verblasste und Aya ließ das Schwert fallen. Klirrend schlug es auf dem harten Stein auf und zersplitterte in hellen Diamantsplittern über den nachtschwarzen Boden. Die beiden Schlangen, die es umwunden hatten, wurden lebendig und fingen an, auf dem schwarzen Stein hin und her zu schlängeln. Dann kamen sie auf Aya zu und schlängelten an ihrem Bein empor, über ihren Bauch, hin zu ihrem Handgelenk und legten sich fest darum. Es brannte wie Feuer, als die Schlangen sich verbanden und ihre Köpfe schließlich an je einer Handfläche zu liegen kamen, die goldenen oben, die silberne innen. Aya ballte ihre Hand zu einer Faust und spürte, wie sich die Schlangen mit ihr bewegten. Dann öffnete sie ihre Hand weit und sah, wie aus dem Maul der silbernen Schlange plötzlich ein Dolch herausschoss, durch die Luft flog und sich in einen silbernen Drachen verwandelte, wie ihn Aya noch nie gesehen hatte. Seine Flügel betrugen die doppelte Körperlänge und waren in der Mitte aufgespalten, dass es den Anschein erweckte, als hätte er vier Flügel. Seine Augen waren gelb, wie die Sonne und die Sterne leuchteten darin. Aya beobachtete wie er den Himmel durchstreifte, seine Bahnen zog, mit ihr über Meere und Länder flog, zehnmal schneller als jedes Pferd in vollem Galopp. Plötzlich war unter ihr nichts mehr und sie fiel auf die Erde zu. Schneller, immer schneller, als sie mit einem mal von einer Hand hochgezogen wurde und sich auf einem Bett wieder fand. In den Armen eines fremden Mannes. Seine Augen waren so gold wie die Schlange an ihrem Handgelenk. Doch als sie an sich hinunter sah, waren die Schlangen verschwunden. Stattdessen hielt sie den Dolch in der Hand, das Ende des Dolches im Brustkorb des Mannes. Das Blut lief warm aus seinem Herzen, dennoch lächelte er. Sie blickte in seine Augen und verlor sich fast darin. Plötzlich schmolz der Dolch unter ihrer Hand, durch das Feuer, das von seinem Körper ausging. Immer heißer wurde es, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt und zurückwich. Sie fiel rückwärts und landete wieder auf dem Rücken des Drachen. Sie zischten durch die Lüfte wie ein Pfeil, in eine unbekannte Richtung. Sie blickte ein letztes Mal in das Leuchten der Sterne in seinen Augen und sie konnte erkennen, dass es ein goldenes Leuchten war.

 

Als die Erinnerung an ihren Traum wiederkehrte, überkam sie ein Kälteschauder und sie konnte spüren, dass sie zitterte. Sie konnte diese Augen einfach nicht vergessen. Und so sehr sie die Mutter auch anflehte, diesen Traum von ihr zu nehmen, kam er dennoch jede Vollmondnacht und Aya zerriss es jedes Mal das Herz, wenn sie den Dolch im Herzen des Mannes sah. Sie roch das Blut und hatte das Gefühl, es bereits getan zu haben, obwohl sie wusste, dass es ein Traum war. Und dennoch fühlte sie sich schuldig. Aber konnte man Schuld an etwas haben, das noch gar nicht passiert war?  Doch das war nicht das einzige, worum sie die Mutter anflehte.

Morgen würde für sie zum neunzehnten Mal der Sommermond aufgehen und sie würde nach den Gesetzen ihres Stammes als heiratsfähige Frau ihrem ausgewählten Mann zugeführt werden. Der Gedanke daran ließ sie schaudern und eine plötzliche Kälte umfing sie. Sie setzte sich auf die Knie und rieb sich die Oberarme, doch die Gänsehaut wollte nicht verschwinden. Ein sanfter Windstoß umfing sie und ließ die Blätter in den Bäumen rascheln. Aya stand auf und lauschte dem Flüstern des Windes. Es war angenehm, im Licht des Mondes dem Wispern der Göttin zu lauschen und es beruhigte langsam ihr wildes Herz. Ein seltsames Gefühl der Ruhe machte sich in ihr breit und durchströmte ihren Körper, so wie das Blut ihren Körper durchströmte. Aya öffnete die Augen und lächelte die Mondgöttin fröhlich an. „Ich danke dir für deinen Trost.“ Und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Du bist meine Mutter und ich gehorche dir. Ich werde jedes von dir auferlegte Schicksal annehmen.“

Aya ging zurück zu ihrem Zelt, krabbelte vorsichtig unter dem Vorhang hindurch und kaum dass sie sich auf ihr Lager gelegt hatte, war sie auch schon in einen traumlosen Schlaf gefallen.

 

 

 

 

 

Der Ritt war lange und beschwerlich. Das Pferd unter ihren Beinen hatte einen schweren Gang und Ayas Schenkel wurden ständig gegen die Decke gerieben. Die Reithose, die sie normalerweise trug, hatte sie gegen ein weißes Leinengewand eingetauscht, das nicht besonders gut gegen das Leder schützte, auf dem sie saß.

Dennoch hatte sie es sich nicht nehmen lassen, normal auf dem Sattel zu sitzen, anders als die Frauen der anderen Stämme, die seitlich im Sattel saßen, damit ihre Kleider nicht verknitterten. Klëa, ihre Schwägerin, ritt direkt neben ihr, sie wurde sozusagen als Vertretung für ihren Bruder geschickt, um der Hochzeit den familiären Segen zu geben. Wo sich Ayas Bruder im Moment aufhielt, wusste sie nicht. Allein die Tatsache, dass er nicht da war, machte sie wütend.  Und einmal mehr war das ein Beweis dafür, wie viel sie ihrer Familie eigentlich bedeutete.

Jede Nacht dachte Aya darüber nach, wie diese zukünftige Ehe wohl sein würde. Ob sie glücklich oder verzweifelt sein sollte, ob sie dieses Opfer, das sie für ihren Stamm brachte, auch sahen und begriffen. Aber es waren verwirrende Gedanken und ihr Schlaf wurde dadurch unruhig. Und diese Träume kehrten immer wieder.

Aya versuchte sich abzulenken, betrachtete mit übertriebener Neugier die Vögel am Himmel, wie sie kreisend über ihr schwebten, wie sich die Strahlen der Sonne an ihrem Gefieder brachen und ihre Körper schwarz auf die Erde zeichnete. Sie sah ihnen so lange nach, bis ihr die Augen schmerzten und sie sich blinzelnd abwandte. Es war ein erstaunlich schöner Tag, die Hitze, die sich sonst um diese Jahreszeit bemerkbar machte, war einem kühlen Morgen gewichen und die Sonne lugte nur dann und wann hinter einzelnen Wölkchen hervor. Aya konnte nicht umhin, das Gespräch der Frauen mit anzuhören und gab vor, voller Neugier die Tiere am Waldrand zu beobachten, während ihre Ohren an den Worten ihrer Schwägerin hafteten, wie Honig an einer Biene.

„...fünf Mal bereits. Wenn ich es doch sage! Und fünf Mal hat er gewonnen. Mit dem Schwert mache ihm keiner was vor, sagen sie, er sei wie der Blitz. Gebt ihm vier Hand langes Edelstahl in die Hand, setzt ihm einen Mann vor, den er als würdig erachtet und ihr erlebt einen Kampf, wie ihn der Löwe mit der Antilope treibt. So schnell soll er sein!“, schwärmte Klëa und untermauerte ihre Erzählung mit theatralischen Gesten, die einen Schwertschwung und die Klauen eines Löwen zeigen sollten. Bei diesem Anblick brach die Gruppe in heiteres Lachen aus und auch Aya konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie wusste, woher Klëa dieses Talent hatte, es war das jahrelange Erzählen am Lagerfeuer, mit dem sie jeden Abend die Gemüter der Frauen und Männer und besonders die der Kinder erfreute. Nicht selten wurde um Zugabe gebeten und Aya hatte den leisen Verdacht, dass Klëa sich das auch diesmal nicht nehmen lassen würde. Sei es nun vor dem Zelt ihres Clans oder in der Halle eines Königs.

„In diesem Sommermond soll er zum sechsten Mal dabei sein!“, fuhr sie fort und Aya erinnerte sich an ihre kleinen Tierchen am Waldrand, zu denen ihr Blick schnellstens zurück kehrte. „Im Clan der Selker sei es Brauch, dass ein Jüngling, der bald heiraten wird, sechs Prüfungen zu bestehen hat, ehe er sich als Mann bezeichnen und eine Familie gründen kann.“ Klëa legte eine kurze Pause ein, während dieser die anderen Frauen ihre „Ah“s und „Oh“s erklingen ließen, um zu bestätigen, wie gut informiert Klëa doch war. „Was die sechste Prüfung sein soll, weiß niemand. Heute Nacht soll es aus den Sternen gelesen werden. Dazu werden die ältesten und weißesten Deuter aus dem ganzen Land herbeigerufen. Ist ja schließlich nicht unwichtig, oder?“ Zustimmendes Gemurmel war zu hören. Aya betrachtete das Reh, wie es flink im Dickicht verschwand und wünschte sich im Moment ein solches zu sein und durch den Wald auf und davon zu rennen.

„Ja, ein Reh müsste man sein!“, dachte sie bei sich.

„Wie bitte?“, kam es von hinten. Erst da bemerkte Aya, dass sie laut gedacht hatte und meinte nur: „Ach nichts,“ und wandte sich wieder dem Wald zu. Lange würde sie diese Ablenkungsmöglichkeit nicht mehr haben, denn sie näherten sich fast dem Ende des Waldes und dahinter erwartete sie nur eine weite Ebene, die gelegentlich von einem Felsbrocken unterbrochen wurde.

„Na jedenfalls soll die sechste die schwerste sein und keiner der Selker, der sie nicht bestanden hat, lebt heute noch!“

„Wie barbarisch!“, meinte Eruybia, Klëas Schwester. Doch dann fügte sie schmunzelnd hinzu, „Wenn das bei uns so Brauch wäre, würde keiner unserer Männer noch leben!“ Diesmal machte schallendes Gelächter die Runde und auch in Aya regte sich so etwas wie Freude. Ja, vielleicht hatten sie sogar Recht. Wenn er die Prüfung nicht bestand, würde sie als freie Frau seinen Clan verlassen können.

Möglicherweise gab es doch noch Hoffnung.

 

 

Den Rest des Rittes verbrachte Aya damit, halbherzig den Erzählungen ihrer Schwägerin zu lauschen, während der Tag an ihr vorbei zog, mal belustigt, mal erschrocken über die Direktheit, mit der sie manche Themen behandelte. So wie dieses hier.

„Ich weiß noch, wie die erste Nacht war. Verdammt aufgeregt war ich und er genauso, er wollte es nur nicht zugeben. Waren schon immer eigensinnig, die  Asch´ra!“, zwinkerte sie Aya zu, die rasch wieder den Kopf nach vorne richtete, als hätte sie gar nichts gehört. Doch Klëa wäre keine Windsbraut, wenn sie nicht bemerkt hätte, dass Aya bereits die ganze Zeit zuhörte. Deshalb fuhr sie sogleich fort und dachte gar nicht daran, auch nur das winzigste Detail auszulassen. „Da lag ich also auf dem Lager, mit nichts bekleidet als einem Stück Stoff, das manche auch Kleid nennen, das mehr zeigte, als verhüllte. Aber das war ja auch nicht Sinn und Zweck der Sache, nicht? Dann kam er langsam auf mich zu, der Riese von Mann der er ist, und legte sich neben mich und wusste nicht, was er tun sollte.“

„Aber das war doch bestimmt nicht das erste Mal, dass er bei einer Frau lag, oder?“, warf Eruybia ein.

„Nein. Aber das erste Mal auf meinem Lager! Und er wusste wie ich sein konnte, sollte er etwas falsch machen oder mir wehtun. Tja, da hab ich die Sache in die Hand genommen. Die Sache, wenn ihr versteht.“

Allgemeines Gelächter brach aus und Aya musste schmunzeln. So konnte sie sich ihren Bruder, den großen E´Noah, gar nicht vorstellen. Hilflos im Bett einer Frau, noch dazu wenn es um seine Männlichkeit ging. Klëa redete bereits wieder weiter, doch Aya wollte von den brüderlichen Problemen im Ehebett lieber nicht zu viel hören, womöglich konnte sie ihm sonst nie mehr in die Augen sehen, ohne an das Ding zu denken und zu lachen. Den Wald hatten sie gerade hinter sich gelassen, Aya blickte sich nur zufällig noch einmal um und erkannte eine schnelle Bewegung zwischen den Bäumen. Um sicher zu gehen, dass ihre Augen sie nicht getrogen hatten, sah sie noch einmal hin. Ja, da war es wieder. Ein Schatten, der sich so schnell durch das Gehölz bewegte, zu schnell für ein Reh oder einen anderen Bewohner des Waldes. Also blieben nur noch drei Möglichkeiten, entweder war es ein Verfolger, ein Kundschafter oder aber eine völlig unbeteiligte Person, die sich jedoch mit einer immensen Geschwindigkeit fortbewegte.

Aya blieb stehen und wendete das Pferd. Klëa ritt zuerst vorbei, folgte dann aber Ayas Blick und blieb direkt hinter ihr stehen. Klëa, deren Augen nicht die selbe Fähigkeit besaßen wie Ayas, konnten die Gestalt nur als immer wieder aufblitzenden Schatten in den Bäumen ausmachen. Ayas vordere blaue Iris war weit geöffnet und die darunter liegende, violette Iris hatte sich eng zusammengezogen. Damit konnte Aya einen Fuchs in mehreren Kilometern dabei beobachten, wie er einen Floh aus seinem Fell kratzte und eben dieser erneut auf den Fuchs hüpfte.  Aya erkannte jetzt, was es war, dass so freudig, ja, er lachte tatsächlich, durch den Wald flog. Aya hatte einen wie ihn nur einmal gesehen, damals war sie noch so klein gewesen, dass sie kaum auf einem Pferd sitzen konnte, dennoch war ihr dieses Erlebnis wie in ihr Gehirn gebrannt.

„Was um alles-“, begann Klëa, wurde dann aber durch Ayas Zungenschnalzen unterbrochen, dem ein wilder Galopp in den Wald folgte. „Was“, begann Klëa wieder, überlegte es sich aber anders. „Bis Sonnenuntergang bist du zurück, hast du mich verstanden, Aya?“, rief sie so laut sie konnte. Aya hob wie zur Bestätigung den rechten Arm, bevor sie im Gehölz verschwand.

 

Im Wald selbst war es dunkler, als sie zunächst angenommen hatte, doch die Wege waren breit und gut zu sehen, auch wenn sie schon lange nicht mehr benutzt wurden. Es kostete Aya große Anstrengung, mit Isakis dem schnellen Flug des Unbekannten mitzuhalten. Ab und zu ragte ein Zweig auf den Weg und Aya ritt mitten hinein, um nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. Sie ignorierte den Schmerz. Der plötzliche Trieb diesem Wesen zu folgen, war stärker als alles andere und sie konnte spüren, wie ihre Wangen glühten. Immer wieder peitschte ihr ein Ast in Gesicht, Arme oder Beine, doch sie verlor ihn nie aus den Augen. Wie ein weißer Blitz flog er durch das Dickicht, doch Aya verlor selten ein Ziel, das sie einmal ins Auge gefasst hatte. Sie schien jede seiner Bewegungen im Voraus zu erahnen, jeden Haken, den er schlug, jede ruckartige Bewegung. Plötzlich stoppte er und fast zeitgleich blieb auch Isakis stehen. Aya verlagerte schnell ihr Gewicht, um nicht über Isakis´ Hals zu rutschen. Das Wesen war immer noch weit von ihr entfernt, dennoch konnte Aya spüren, dass etwas nicht stimmte. Er zögerte kurz, blickte zuerst nach links, verharrte einige Zeit, blickte dann nach rechts und schien sich unsicher zu sein, welchen Weg er wählen sollte. So sah es zumindest im ersten Moment aus. Aya drückte mit ihren Schenkeln leicht an Isakis´ Bauch und er schritt langsam vorwärts. Sie näherte sich dem Wesen langsam aber sicher und sie spürte die Unsicherheit, die von ihm ausging. Sein silberner Schwanz zuckte nervös hin und her und sein echsenartiger Kopf blickte ständig in eine andere Richtung. Sein ganzer Körper war voller Energie und seine Drachenschnauze schnupperte unaufhörlich, als wittere es etwas. Aya wusste, das Drachennasen erstaunlich gut riechen konnten, doch selbst sie schafften es nicht, Gerüche gegen den Wind zu erhaschen. Also war es etwas, das vor ihm oder in unmittelbarer Nähe sein musste, ein Geruch, der mit dem Wind zu ihm getragen wurde.

Aya hörte es, noch bevor sie es sah. Das Spannen des Bogens, dieses unverwechselbare Geräusch, wenn das Haar gespannt wurde, das Reiben der Finger, wenn sie den Pfeil losließen, das Surren von Holz und das Schneiden der Federn in der Luft. Das alles passierte innerhalb einer Sekunde, doch für Aya schien es eine Ewigkeit, bis der Pfeil in ihrem Blickfeld auftauchte. Der Pfeil surrte durch die Luft wie ein Blitz und bohrte sich in den Boden, an genau der Stelle, an der sich noch vor kurzem der Drache befunden hatte. Doch auch er hatte es gehört, vielleicht auch gesehen und hatte sich schnell, wenn auch ungelenk vom Boden in die Luft erhoben.

Dem ersten folgten weitere und die Luft war erfüllt von den Geräuschen losgelassener Pfeile. Aya konnte beobachten wie sich der Drache seinen Weg durch den Wald bahnte, während sich immer mehr Schatten aus den Bäumen zu lösen schienen.

Damit war die Jagd eröffnet. 

Kapitel 11

 

 

 

Der Drache

 

 

Für Aya hatte die Situation eine überraschende Wendung genommen. Von einem Augenblick in den anderen war nicht mehr sie diejenige, die den Drachen verfolgte, sondern jene unbekannte Wesen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Und im Gegensatz zu Aya waren sie auf der Jagd. Das bedeutete Schmerzen, wenn nicht gar den Tod für den Drachen und das war nun gar nicht das, was Aya im Sinn gehabt hatte. Als sie damals zum ersten und bis heute einzigen Mal einen Drachen gesehen hatte, war es das schönste Gefühl auf Erden gewesen. Bisher hatte sie dieses Gefühl nur, wenn sie bei ihrer Mutter gewesen war. Diese tiefe Verbindung von zwei Menschen, von einer Mutter und ihrem Kind, die hatte sie auch in diesem Moment gespürt. Aya war ein Asch´ra. Ein Drachenreiter. Ihr Volk war fast so alt wie die Drachen selbst, es heißt es sei aus der Verbindung von Drachen und Urmenschen, den Sethú, entstanden und somit unweigerlich mit ihnen verbunden. Auch wenn Aya daran zweifelte, das Menschen sich mit Tieren vereinigen konnten, fand sie die Vorstellung, von einem dieser mächtigen Wesen abzustammen, irgendwie aufregend und verlieh ihr eine gewisse Stärke und Zuversicht. Mit den Jahrhunderten hatte die Anzahl der Drachen abgenommen. Einerseits durch die Veränderung des Wetters, am meisten jedoch durch der Besiedelung der einstigen Drachenlande. Die Drachen waren immer weiter in die Berge zurückgedrängt worden, wo die meisten von ihnen erfroren waren, sobald der Schneemond kam. Dennoch haben sich einige den Verhältnissen angepasst und sich vermehrt, die einstige Anzahl hatten sie aber nie wieder erreicht. Deshalb war es für Aya auch eine Überraschung gewesen, als sie erkannt hatte, dass es sich bei diesem Wesen um einen Drachen handelte. Ein Drache, auf den Jagd gemacht wurde. Und das konnte sie unter keinen Umständen geschehen lassen. Wer auch immer diese Menschen waren, sie hatten das ungeschriebene Gesetz, dass auf einen Drachen keine Jagd gemacht werden durfte, gebrochen. Wäre es einer ihres Volkes gewesen, stünde darauf der Tod. Doch Gestalten wie diese hatte Aya noch nie gesehen. Während sie ihnen heimlich aber schnell folgte, beobachtete sie sie aus der Entfernung genauer. Sie waren kaum bekleidet, bis auf eine dunkle Hose, die wahrscheinlich aus Tierhaut gemacht war, und Lederschutz für die Arme trugen sie nichts. Ihre langen schwarzen Haare hatten sie zu Zöpfen gebunden, in die Perlen und Bänder eingeflochten waren, jeder von ihnen hatte eine andere Farbe im Haar. Sie liefen barfuß über den Waldboden, sie schienen die Äste und Steine auf dem Boden nicht zu spüren, jedenfalls hatte es nicht den Anschein. Sie liefen so schnell, das Aya in normalem Galopp gerade noch mitkam. Isakis war eines der schnellsten Pferde, die Aya kannte. Bei einem Rennen eines normalen Menschenpferdes und einem dieser Läufer wüsste sie nicht, wer gewinnen würde. Geschweige denn, dass sie es ausprobieren wollte. Aya sah den Drachen, wie er, zwar hoch aber nicht hoch genug, über ihnen flog und die Pfeile, die einer nach dem anderen ihr Ziel trafen. Er war zu erschöpft, um noch lange fliegen zu können, Aya wusste es. Und auch der Drache wusste es und seine Verfolger. Wieder traf ein Pfeil, diesmal direkt unter den Kiefer. Der Drache heulte auf, ein Schmerzensschrei, der sich tief in Ayas Seele bohrte. Dunkelrotes Blut floss aus der Wunde und er strauchelte, machte einen verzweifelten, kräftigen Schlag mit den Flügeln und gewann etwas an Höhe.

„Wie lange willst du denn noch warten?“, flüsterte sie sich selbst zu. Nein, was genug war, war genug! Aya drückte Isakis die Schenkel in den Bauch und lehnte sich eng über ihn, bevor er in einen schnellen Galopp wechselte und die Bäume nur so an Aya vorbeirauschten. Sie sah die Menschen immer näher kommen, den Drachen, der sich immer noch mühselig am Himmel zu halten versuchte und fragte sich, was sie eigentlich tun wollte. Sie war ein Asch´ra. Wollte sie sie wirklich töten?

„Reite nicht in den Kampf, wenn du nicht vorhast zu töten!“, das war es, was man sie gelehrt hatte. „Jemanden zu verletzen mag im ersten Moment vielleicht hilfreich sein, doch ist er wie eine verwundete Schlange, deren Biss noch immer tödlich ist.“

Hatte sie sich also in diesem Moment dazu entschlossen, die Jäger zu töten?

Einer der Männer hatte sie entdeckt und rief den anderen etwas zu. Sie wandten sich verwundert von dem Drachen ab und versuchten wohl, die neue Situation einzuschätzen. Doch dazu durfte sie ihnen keine Zeit lassen. Aya machte sich gerade zum Kampf bereit, als ein Schrei die Stille zerriss und alle Blicke in den Himmel zog. Der Drache schlug ein letztes Mal verzweifelt auf, bevor er wie ein großer Sack Mehl nach unten stürzte. Das Knacken von Zweigen und das Aufschrecken der Vögel zeigte ihnen, dass er auf dem Boden aufgeschlagen war, nur wenige hundert Längen von ihnen entfernt. Drei der fünf liefen in Richtung des Drachen, zwei blieben zurück. Sie waren wohl der Ansicht, dass es zwei mit einem Mädchen ohne große Schwierigkeiten aufnehmen konnten. Doch da hatten sie sich geirrt. Ayas Augen leuchteten blau, als sie die Feuermagie beschwor. Das Feuer schien tief aus ihrem Innern heraus zu brennen, floss in ihre Arme und loderte aus ihrer Handinnenfläche. Zwei riesige Feuerbälle tanzten auf Ayas Händen und die Männer wichen erschrocken zurück.

„Belgh-dar!“, spuckte der linke aus. Aya kannte diesen Ausdruck. „Feuerdämon“.

„Diese Jagd ist beendet!“, rief sie. Dann streckte sie die Arme nach hinten, holte tief aus und warf, so weit sie konnte. Das Feuer flammte keine Länge vor den drei anderen Reitern auf dem Boden auf. Aya konzentrierte sich und befahl dem Feuer sich auszubreiten und zu wachsen, um so den Weg zum Drachen abzuschneiden.

Sie hörte das Fluchen der Männer, als sich vor ihnen plötzlich eine Feuerwand erhob und um sie herum zu wachsen schien, bis sie schließlich in einem Feuerring gefangen waren. Der rechte Mann legte einen Pfeil an die Sehne und zielte auf Aya, doch der andere gebot ihm Einhalt.

„Wir reden“, sagte er und kam auf sie zu. Dann deutete er auf den Feuerkreis. „Du befreien.“

Aya war verwundert, dass er ihre Sprache konnte. Anscheinend war er der Anführer seines Volkes. „Nein.“ Aya wollte ihre Forderung klar stellen. „Ich bin Ayanareth aus dem Volk der Asch´ra. Auf die Jagd eines Drachen steht der Tod.“

Der Anführer nickte. „Ja. Doch dieser Drache töten. Töten mein Volk. Verfolgen bis hier. Jetzt er muss sterben!“

Aya betrachtete ihn genauer. Er sah tatsächlich so aus, als wäre er schon länger unterwegs. Aber warum hatten sie dann keine Pferde? Sie mussten eine lange Strecke zurückgelegt haben, ihre Beine waren aufgekratzt und ihre Kleidung war voller Flecken und Risse. Das einzige, was noch respektabel aussah, waren ihre Bögen. Sie waren sorgfältig geschnitzt worden, jeder Bogen hatte die Form eines Tieres. Um die Schulter des Anführers schmiegte sich ein Hirsch, der stolz seine Brust nach vorn streckte und sie mit seinen sorgfältig eingravierten Augen direkt anzublicken schien.

Aya schien ihm eine imposante Person zu sein, wie sie hoch zu Ross auf ihrem schwarzen Pferd saß, ihr ebenfalls schwarzes Haar sanft im Wind schaukelte und sie mit ihren blauen Augen kalt auf ihn herabblickte. „Drachen greifen keine Menschen an. Es sei denn, sie werden bedroht.“ Sie beugte sich leicht zu ihm herab. „Habt ihr ihn bedroht?“

Der Anführer wich nicht zurück, machte aber keine Anstalten, näher zu kommen.

Aya schnalzte mit der Zunge und Isakis ging langsam an ihm vorbei in Richtung des Feuerkreises. Kurz davor blieb sie stehen und blickte sich zu den beiden Männern um. Der eine hatte den Bogen noch immer auf sie gerichtet und sah ihr direkt in die Augen. Plötzlich erkannte sie, dass er viel jünger war, als sein Anführer, vielleicht zwei Sommermonde älter als Aya selbst. Der ältere hatte ihren Blick bemerkt. „Mein Sohn. Loky.“

Aya sah ihn kurz an. Seine grünen Augen hoben sich stark von seinem dunklen Haar ab und waren ganz anders, als die seines Vaters. Sie zeigten Mut und Entschlossenheit und sie schienen Aya direkt ins Innere zu blicken. Es waren die Augen eines jungen Mannes, der schon viel gesehen hatte, der bereit war, jederzeit sein Leben für seinen Vater oder sein Volk zu geben. Er schien jung, war aber keinesfalls unerfahren, das wusste sie nun. Sie konnte seinem Blick nicht lange standhalten und sagte deshalb: „Sag deinem Sohn, er soll seine Pfeilspitze nicht direkt auf mein Herz richten.“

Doch der Vater brauchte nichts zu sagen, er senkte ihn von allein. Aya drehte ihnen den Rücken zu, ritt an dem Feuerkreis vorbei, der mit einer knappen Handbewegung Ayas erlosch, und drückte Isakis die Schenkel in den Bauch.

 

 

Er war ein erstaunliches Tier. Er war fast so lang wie drei Pferde und überall von silbernen Schuppen bedeckt. Er war kräftig gebaut und hatte an jeder Pranke vier Krallen, die sich verkrampft in den Boden gruben. Seine Augen waren halb geöffnet und blickten direkt in ihre. Goldene undurchdringliche Augen, tief und dunkel wie Bernstein. Doch das aufregendste waren seine Flügel. Sie waren zusammengesackt und lagen schlaff auf seinem Rücken und größtenteils auf dem Boden. Die Spannbreite der Flügel musste mindestens das Doppelte seiner Körperlänge erreicht haben, was man aber nicht besonders gut einschätzen konnte, da sie teilweise umgeknickt waren oder er auf ihnen lag.  Aya war von seinem Anblick so gebannt, dass sie die beiden Gestalten neben sich anfangs nicht bemerkte.

„Schönes Tier!“ Der ältere trat plötzlich neben sie und maß den Drachen mit einem kennenden Blick.

Sein Sohn stand hinter ihm, den Bogen bereit und sah Aya direkt in die Augen. Doch diesmal konnte sie ihnen standhalten. „Ihr werdet keine Hand an diesen Drachen legen!“

Der ältere sagte nichts, er schritt auf den Drachen zu und beobachtete ihn, während er ihn einmal umrundete und seine Verletzungen einschätzte. Der Drache wehrte sich nicht gegen seine Blicke, sah ihn aber die ganze Zeit über direkt an. „Viele Wunden“, erkannte er und kam zu Aya zurück. „Viele gute Treffer“, nickte er seinem Sohn zu. Aya wurde wütend. Wie konnte er nur auf das, was er diesem Drachen angetan hatte, stolz sein?

Sie schwang sich von ihrem Pferd und baute sich bedrohlich vor ihm auf. Sie war jetzt einen Kopf kleiner als er und bereute schon fast ihren Größenvorteil auf Isakis aufgegeben zu haben. Doch sie schien noch immer imposant auf ihn zu wirken, denn er wich unmerklich zurück. „Ihr werdet jeden einzelnen dieser Pfeile bereuen, wenn er euch nicht sofort zurückzieht und dahin zurückkehrt, von wo ihr gekommen seid!“

Nun trat der jüngere, Loky, vor. Er senkte seinen Bogen und trat direkt vor Aya, sodass diese zu ihm hoch sehen musste. Sie hielt seinem Blick tapfer stand, auch wenn er fast einen Kopf größer war als sie. „Das wird wohl kaum möglich sein. Unser Dorf ist zerstört. Unser Volk wurde fast bis zum letzten ausgelöscht. Wir sind alles was von den Unui noch übrig ist.“ Während seinen letzten Worten waren die anderen aus dem Wald getreten und er neigte ihnen kurz den Kopf zu. Aya zählte sie. Da waren die drei, die dem Drachen nachgeeilt waren, plus fünf weitere, darunter auch zwei Frauen, wie sie jetzt erkannte. „So wenige…“

Sie schien wohl laut gedacht zu haben, denn er nickte bestätigend. „Uns hat es schwer getroffen und ich dachte, es könnte nicht schlimmer sein. Doch bereits drei Tage später erfuhr ich von Pepi“, er deutete auf einen der Männer, der in Lokys Alter sein musste, „dass der Drache erneut zugeschlagen hatte, nicht weit von uns in der Nähe der südlichen Berge. Wir folgen ihm jetzt schon seit einem Silbermond, zwei meiner Leute erlagen in dieser Zeit seinem feurigen Atem.“ Er deutete auf den Drachen. „Ich verstehe, dass dieses Ungeheuer“, er spuckte das Wort förmlich aus, „für dich heilig sein mag. Auch wir verehrten die Urgeschöpfe. Bis zu jenem Tag. Doch dieser hier ist nicht wie die anderen seiner Art. Vielleicht ist es nur dieser eine, aber dafür ist er durch und durch böse. Er muss sterben!“

Aya wusste nicht, was sie mehr verwirrte, die Tatsache, dass dieser Drache ein ganzes Volk, wenn nicht sogar zwei Völker, ausgelöscht haben soll, oder die Art, wie er ihre Sprache so perfekt beherrschte, als wäre es seine eigene.

Ihre Verwirrung schien ihr ins Gesicht geschrieben zu sein und er fuhr mit seiner Erklärung fort, da sie bis jetzt keinen Einwand erhoben hatte.

„Es fiel mir schwer, es zu akzeptieren. Uns allen fiel es schwer. Doch das Risiko ist zu hoch, für uns und für die anderen Völker.“ Als sie wieder nichts erwiderte, fügte er noch mit Nachdruck hinzu: „Vielleicht sogar selbst für dein Volk.“

Sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Sie hörte seine Worte, sah den Sinn und die Dringlichkeit in diesem Anliegen und dennoch wollte sich ihr Herz nicht dazu erweichen lassen. Sie empfand Mitleid mit ihm und seinem Volk und er hatte Recht, vielleicht war auch ihr Volk in Gefahr. Aber konnte sie deshalb über das Leben eines Drachen entscheiden?

Sie wandte sich dem Drachen zu und sah ihm direkt in die Augen. Sie versuchte, in die Tiefen seines Geistes einzudringen, aber er wäre kein heiliges Tier, wenn ihr das so einfach gelungen wäre. Enttäuscht senkte sie die Lider und dachte darüber nach, wie sie dieser Situation entkommen konnte. Sie konnte den Drachen nicht zurücklassen. Sie spürte, wie sich ihr Herz bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammenzog. Aber wenn sie hier blieb, würde sie einen Grund finden müssen, der es dem Drachen gestattete, weiterzuleben.

„N´chor-n´chischka“, flüsterte plötzlich jemand.

Aya blickte sich verwirrt um und auch Loky sah seinen Trupp fragend an. Doch die schüttelten alle den Kopf und Aya wandte sich langsam dem Drachen zu. „Er war es.“

„N´chor-n`chischka, chem“, wiederholte er und versuchte, sich aufzurichten.

„Was sagt er?“ Loky hatte seinen Bogen gespannt, noch bevor der Drache zu Ende gesprochen hatte.

„Woher soll ich das wissen?“, bluffte sie ihn an. Dass der Drache jetzt zu sprechen anfing, hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie verstand die uralte Sprache, man hatte sie ihr beigebracht, als wäre es die Sprache ihrer Mutter, was in gewisser Weise auch stimmte. Aber sie hatte auch gelernt, dass die Sprache nur jenen vergönnt war, die ihres Volkes waren.

„N´chor-n´chischka, chem!“, donnerte es in ihrer aller Köpfe. Aya hielt sich die Hände auf die Ohren, auch wenn sie wusste, dass es nichts helfen würde. Der Drache hatte sich inzwischen auf seine Vorderbeine gestützt und versuchte seine Flügel zu bewegen, was ihm sichtlich schwer fiel. Loky hatte den Bogen wieder gespannt und verfolgte jede seiner Bewegungen genau. Sie wusste, wenn er eine falsche Bewegung machte, würde Loky den Pfeil von der Sehne lassen. Doch auf einen weiteren Schuss wollte sie nicht warten.

„N´chor talai?“, fragte sie klar und deutlich und musterte den Drachen scharf. Er erstarrte in seiner Bewegung und reckte ihr verwundert seinen markanten, schuppigen Kopf entgegen.

„Sethú-kolcha.“

Aya nickte. „Soka.“

Loky sah von einem zum anderen, die Verwirrung stand ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben, jedoch nicht so deutlich, wie seine Neugier. „Was sagt er?“

„Die Sprache der Alten ist nicht für deine Ohren bestimmt.“ Aya zeigte in den Wald. „Warte dort, bis ich zu dir komme.“

„Nein. Zu lange habe ich gewartet, als dass ich ihn jetzt gehen lasse!“

Insgeheim verwünschte sie ihn für seine Sturheit, auch wenn sie sie verstehen konnte. Doch sie musste mit dem Drachen sprechen. „Dann schicke wenigstens die anderen hinein. Die Sprache der Alten in Gegenwart eines Fremden zu sprechen ist verboten. Es reicht, wenn nur du es weißt.“

Loky schien der Gedanke nicht zu gefallen, doch er schickte die anderen mit einem knappen Nicken in den Wald.

 

 

Kapitel 12

 

 

  

Das Geheimnis

 

 

Aya trat vor und senkte das Knie vor dem Drachen. Sie sah ihm direkt in die Augen und spürte, dass er ihr nichts tun würde. Loky stand noch immer mit gespanntem Bogen hinter ihr und zielte direkt auf den Kopf des Drachen. Ob Lokys Geschoss überhaupt irgendeine Wirkung erzielen würde, bezweifelte Aya. Schließlich waren Drachenschuppen das härteste Material, das ihr bekannt war. Und dennoch hatten sie es geschafft ihn zu verletzen. Das war ein Punkt über den sie noch mit Loky reden musste.

Leichter Wind kam auf und verwirbelte Ayas schwarzes Haar, als der Drache erneut zu sprechen begann.

„Schon lange habe ich das Wort an deinesgleichen nicht mehr gerichtet.“

„Eine Ewigkeit“, entgegnete Aya.

„Dennoch nur ein kurzer Augenblick für meinen Geist.“

„Warum seid ihr hier?“

Kurz zögerte er und blickte über Ayas Schulter. Sie spürte, wie sich sein Blick in Loky bohrte.

„Ich reiste viele Tage und Nächte und überquerte das südliche Gebirge.“

„Warum?“

„Warum unternimmt man eine Reise? Man verlässt den Ort, der einem vertraut ist, lässt alles hinter sich zurück. Eine Reise unternehmen viele, doch niemand geht wirklich fort von dem, was er kennt und liebt.“ Der Drache unterbrach sich, fing an zu husten und zu würgen und spie schließlich Blut auf den Boden.

„Auch du wirst eine Reise unternehmen.“

„Ich bin,“ begann sie , unschlüssig, ob sie dem Drachen etwas über sich erzählen sollte. Doch sie wusste, Drachen forderten eine Bezahlung für ihre Informationen. Und für Drachen gab es nichts Wertvolleres als gesprochene oder geschriebene Worte. „Ich bin bereits auf einer Reise.“

„So? Das, was du als Reise bezeichnest, ist nur ein Weg, den du  zurücklegst. Ein Weg, der dich von deinem Zuhause in die Arme eines neuen Zuhauses führt. Doch eine Reise wartet noch auf dich. Eine Reise ohne Wiederkehr.“

Aya wollte gerade fragen, was das für eine Reise war, doch Loky wurde langsam ungeduldig. „Was sagt er? Gibt er zu, dass er unser Dorf zerstört hat? Sag schon!“

Sie wandte sich nicht um, als sie ihm antwortete. „Mit Drachen ist es nicht so einfach. Ich sagte doch du sollst warten. Also warte hier und hör zu oder geh und warte mit den anderen.“ Als sie dem Drachen in die Augen sah, fügte sie noch schnell hinzu: „Und senke deinen Bogen. Das ist nicht sehr höflich.“

Aya hörte ihn noch etwas von wegen Höflichkeit grummeln, wusste aber, dass er den Bogen gesenkt hatte. Loky machte es sich auf einem höheren Stein bequem und war von nun an wieder still.

„Was ist das für eine Reise, von der ihr spracht?“

„Eine Reise ohne Wiederkehr. Der Weg der Schlange. Bis zum Tod.“

„Tod? Wann? Woher wisst ihr, dass ich sterben werde?“

„Deinesgleichen wird immer eines Tages sterben.“ Aya senkte beschämt den Kopf. Natürlich würde sie eines Tages sterben, was für eine dämliche Frage.

„Doch dein Ende kommt nicht vor der Zeit. Noch lange werden du und deinesgleichen auf dem Weg der Schlange wandeln, bis sich die Götter wieder erheben.“

„Wann werde ich diese Reise antreten? Und was ist der Weg der Schlange?“

Doch der Drache antwortete nicht. Stattdessen versuchte er erneut, sich aufzurichten und Blut quoll wie Wasser aus seinen Wunden. Niemals konnten Pfeile solche Wunden zufügen. Was war es, das ihn so schwächte?

„Was sind das für Wunden? Wer hat euch das angetan?“

Der Drache ließ seinen Körper in einen Bach aus Blut zurück sinken.

„Die Zeit. Ja, die Zeit wird es zeigen. Sie kennt den Weg.“

Die Augen des Drachen wurden immer trüber und Aya machte sich sorgen. Sie musste ihm helfen. Doch wie konnte sie es tun, ohne ihr Geheimnis zu verraten? Ohne zu zeigen, wer sie in Wirklichkeit war? Noch dazu vor den Augen Lokys?

„DU würdest dir nur selbst Schaden zufügen. Meine Wunden sind nicht von Menschenhand.“

„Aber, nur ein… Soll das heißen, dass…“

„Ja.“ Er las ihre Gedanken wie ein offenes Buch und zeigte ihr ein Bild des Grauens. Zeigte ihr, wer ihm diese Wunden zugefügt hatte. Schreiend wandte sie sich ab und Loky sprang auf, den Bogen wieder gespannt. Aya sah den Pfeil schon von der Sehne fliegen, hob instinktiv die Hand und verbrannte ihn noch in Lokys Hand.

Loky schrie auf und ließ den brennenden Pfeil fallen. „Was-?“

„Es war nicht seine Schuld“, begann sie und richtete sich langsam auf. „Es war ein anderer seiner Sippe. Er hat ihn so schlimm verwundet.“ Sie ging zu dem Drachen und legte ihm sanft die Hand auf seinen schuppigen Kopf, während sie die verletzten Stellen sorgsam mied. „Und er war es, der das Dorf südlich der Berge zerstört hat.“

„Das glaube ich nicht! Ich habe ihn gesehen! Er war es!“ Loky kam bedrohlich auf sie zu und starrte wutentbrannt auf den Drachen. „Er lügt! Er muss lügen, er weiß, dass wir ihn sonst töten!“

Aya baute sich bedrohlich vor ihm auf. „Es ist keine Lüge! Er hat es mir gezeigt, ich habe es auch gesehen. Es war einer seiner Sippe, das bedeutet, dass sie gleich aussehen, verstehst du? Ihr habt sie verwechselt!“

Loky war noch nicht überzeugt, trat aber einen Schritt zurück. „Und ich dachte noch bei mir, dass es eine Einbildung war. Kurz glaubte ich, zwei gesehen zu haben, aber ich war dann der Überzeugung gewesen, dass es eine Spiegelung im Wasser gewesen sein musste. Und dann war es auch schon wieder verschwunden.“

„Er hat Recht.“ Der Drache sah Loky an und sprach mit ihm in der neuen Sprache, damit es auch für ihn verständlich war. „Ich habe meinen Bruder verfolgt. Viele Tage und Nächte lang, bis über das Gebirge hinaus, obwohl wir es nie verlassen. Ich wusste, etwas trieb ihn, doch was es war, weiß ich nicht. Ich folgte ihm bis zu jenem Dorf hinter den Bergen, doch dann verlor ich ihn.“

„Was bedeutet das?“, fragte Loky.

„Das bedeutet“, antwortete Aya leise, „dass er tot ist.“

„Tot?“, fragte Loky ungläubig. „Keine Menschenhand kann einen Drachen töten!“

„Und dennoch habt ihr es versucht!“, warf Aya ihm vor.

„Ja, aber nur weil er bereits verletzt war!“, verteidigte er sich.

„Darf ich nun davon ausgehen, dass ihr mich nun am Leben lasst, jetzt, da ihr wisst, wer euer Dorf zerstört hat?“ Beide drehten sich wieder zu dem Drachen um. Loky nickte nur, entschuldigte sich aber nicht für seinen Fehler. Aya warf ihm einen bösen Blick zu und kniete sich erneut vor den Drachen. „Erlaubt mir euch zu helfen!“, bat sie plötzlich. Der Drache sah sie überrascht an. „Ein Landiel sollte sich nicht in die Klippen stürzen, wenn der Wind weht!“, warnte er sie mit einem vielsagenden Blick auf Loky, der nicht verstehen konnte, was der Drache gesagt hatte.

„Er muss, wenn das die einzige Möglichkeit ist, dem Jäger zu entkommen. Und vielleicht entpuppt sich der Wind auch als eine tragende Bö.“

„Ein Sturm. Das ist er. Wild und ungestüm.“ Er sah Loky lange an und er erwiderte seinen Blick. „Ein Sturm der Veränderung.“

Aya sah seine Antwort als eine unausgesprochene Bitte um Hilfe. Schließlich gab es keine Auskunft ohne Bezahlung. Dieser Gedanke ließ sie lächelnd die Wunden des Drachen berühren und sie konzentrierte sich auf jede Faser ihres Körpers. Bereits nach einem Wimpernschlag spürte sie die Veränderung.

Lokys geschocktes Einatmen nahm sie nur noch im hintersten ihres Bewusstseins war, ihr ganzes Denken und Sein ging in ein anderes Wesen über, zu dem sie nun wurde. Ein Urmensch. Ein Sethú.

 

Das Seltsame war, dass es nicht wehtat. Ein einigen Stellen zwickte oder juckte es und manchmal hatte Aya das Gefühl, der Juckreiz mache sie noch verrückt. Doch es schmerzte nicht. Selbst als sich ihre Wirbelsäule verdickte, hörte sie nur ein leises Knacken und spürte ein kurzes Ziehen, als plötzlich zwei Knochen aus ihrem Rücken wuchsen, sich verzweigten und an ihrem Ende krallenähnliche Spitzen bildeten. Bedeckt wurde das alles durch ein schwarzes Schuppengeflecht. Auch an ihrer Wirbelsäule entlang, an den Oberarmen, um den Brustkorb und um die Taille bildeten sich harte Schuppen. Der Rest ihres Körpers war auch mit Schuppen bedeckt, die aber viel heller und deshalb kaum sichtbar waren. Ihre Beine waren nicht mehr menschlich, auch sie hatten sich verändert. Sie waren nun gebaut wie die Hinterläufe eines Drachen, aber schlank und zierlich und waren noch menschenähnlich. Hände und Gesicht blieben normal, bis auf die Ohren, die spitz geworden waren und den kleinen Hörnern, die wie eine Krone um Ayas Haare gewachsen waren.

Loky hätte geschrien, wenn dieser Anblick nicht gleichzeitig so phantastisch wie schrecklich gewesen wäre. Sie hatte wie gebannt seinen Blick auf sich gezogen und obwohl sie das furchteinflößendste Wesen war, das er jemals gesehen hatte, konnte er seinen Blick nicht von ihr wenden und hatte das Gefühl, dass sie im selben Augenblick auch das Beeindruckendste war, was er jemals gesehen hatte.

Aya spürte seinen Blick auf sich und drehte sich zu ihm um. Loky zog scharf die Luft ein und wagte nicht mehr zu atmen. Er hatte bereits von ihnen gehört, den Urmenschen, von ihrer Brutalität, ihrer endlosen Macht über die Elemente, und ihrer Grausamkeit. Wie sie während der Götterkriege am Anfang der Zeit kaltherzig alles und jeden zerstörten, die nicht ihrer Sippe waren. Wie Raubtiere, die Freude am Töten hatten.

Doch er wusste auch, dass sie es waren, die ohne auf sich selbst zu achten, die grausamen Götter vernichtet hatten und so einen Frieden geschaffen hatten, den es seit dem Anfang der Welt nicht gegeben hatte. Die Tyrannei der Götter lag für Loky tief in den Nebeln der Vergangenheit, doch konnte er noch deutlich die Auswirkungen erkennen. Nur mühsam war es seinem Stamm gelungen, an ihre erlangte Freiheit und Unabhängigkeit zu glauben und neuen Mut zu fassen und einmal alle Sonnenläufe wurde der Tag der Befreiung gefeiert, mit dem großen Feuer, um das die Mädchen und Jungen tanzten, die dadurch zu Freien wurden, die selbst über ihr Leben bestimmen konnten. Doch die Götter waren nicht für immer fort. In Geist und Körper aller Völker lebten sie weiter, in Lokys Stamm in Form eines Mals, das jeder trug, von Geburt an. Man nannte sie die Rache des Raben, es waren drei Striemen am Hals, die den Kratzern eines Raben ähnelten.

Unbewusst tastete seine rechte Hand nach den Narben, die sich über seinen Hals zogen und er zuckte unwillkürlich zurück. Als hätte ihn diese Bewegung aus seiner Starre befreit, sah er Aya an. Sie hatte sich über den Drachen gebeugt und ihm die linke Hand auf den Kopf gelegt, während die andere unter seinen Leib gewandert war. Als sie die richtige Stelle gefunden hatte, drückte sie fest dagegen und der Drache zuckte kurz vor Schmerz zusammen. Aya schloss die Augen und dann geschah etwas, dass Loky wohl niemals mehr vergessen würde. Die Sonne hatte sich dem Horizont inzwischen lange genähert und ihr rotes Licht flutete plötzlich durch die Bäume, wie Blut durch eine Wunde und der Wind zerrte so wild an ihnen, als wolle er sie mit sich fortreißen. Aya keuchte vor Anstrengung und Tränen des Schmerzes liefen ihre Wangen hinab. Es raubte ihr fast ihre ganze Kraft und nur die starke Verbindung mit dem Drachen half ihr, nicht in Ohnmacht zu fallen. Als Loky genauer hinsah, erkannte er, dass das auf Ayas Wangen keine Tränen aus Wasser sondern aus Blut waren und als sie die Augen öffnete, waren auch sie dunkelviolett, wie Rubine im Mondlicht und das Licht der Sonne brachte sie unheimlich zum Leuchten.

Die Wunden des Drachen schlossen sich langsam, doch stetig und das Blut hörte auf zu fließen, bis nur noch die roten Flecken auf dem Waldboden von seinen Verletzungen zeugten. Langsam öffnete der Drache die Augen und mit einem Mal war es vorbei. Kein greller Blitz, der die Szene zerriss, kein unheimliches Geheul, wie es Loky vermutet hatte, nichts. Einzig und allein das Auflegen ihrer Hand hatte den Drachen gerettet. Der Drache richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zerschnitt so die Verbindung zu Aya, die kraftlos zu Boden sank und dort einfach liegen blieb.

„Deine Tat wird niemals vergessen sein!“ Der Drache erhob sich in die Lüfte  und verschwand in der untergehenden Sonne.

Loky lief zu Aya, die langsam wieder sie selbst wurde, deren Blut aber noch immer ihr schlafendes Gesicht bedeckte. Er nahm sie sanft auf den Arm und trug sie zu ihrem schwarzen Wallach, der brav und ruhig am Rande des Geschehens gewartet hatte, als wäre es das natürlichste der Welt, was gerade geschehen war. Er setzte erst sie auf die Rückendecke und schwang sich dann hinter sie auf den Rücken des Pferdes. Er tätschelte ihm den Hals und flüsterte ihm leise zu, dass er ihm doch den Weg zeigen möchte, um seine Herrin sicher nach Hause zu bringen. Er wusste nicht genau, was es war. Doch er spürte das unüberwindbare Verlangen, sei beschützen zu müssen. Ohne ein Wort an die anderen seines Stammes, ritt er im vollen Galopp an ihnen vorbei, hinaus in die Ebene, über der sich gerade der silberne Mond in seiner vollen Pracht erhob, als würde er ihnen geradewegs den Weg leuchten, der sie in ihr Schicksal führte.

 

Impressum

Texte: Stephanie Stanner
Bildmaterialien: Stephanie Stanner
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013

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