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Erstes Buch - Emma

 

 

 

"Weiter weiter ins Verderben...

wir müssen leben

bis wir sterben..."

 

Dalai Lama - Rammstein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

- Lilith -

 

 

Langsam aber zielsicher brachten ihre Schritte sie ihrem Ziel immer näher. Lange hatte sie auf diesen Moment gewartet und jetzt, nach all diesen Jahrtausenden war es soweit. Der Eingang in dieses technische Gomorrha war leicht zu finden gewesen und diese unterentwickelten Adamssöhne hatten ihr nichts entgegen zu setzen gehabt. Hatten sie wirklich geglaubt ihre Intelligenz und ihre Technik würde ihr überleben sichern? Sie vor Ihr beschützen? Wie jämmerlich und überheblich sie doch waren. Jetzt stapelten sich ihre leblosen Hüllen hinter ihr auf und schickten einen roten Bach zwischen ihren Zehenspitzen nach vorne in die Mitte des runden Raumes, ihrem Ziel entgegen. Dort war er. Ein Gefangener der Adamssöhne. Und sie hatten nicht einmal gewusst wen sie da überhaupt in ihren zerbrechlichen Fingern gehabt hatten. Michael hatten sie ihn genannt. Sie schnaubte verächtlich, als sie an diesen Namen dachte. Als sie die Glasröhre erreicht hatte, sah sie den Mann darin intensiv an, ihr Gesicht war dem seinen ganz nah und ihre Hand strich sanft über das Glas. Die sterbliche Hülle, die er gewählt hatte reichte nicht im Ansatz an seine wahre Gestalt heran und doch, für sie war er unbeschreiblich schön. Sein rabenschwarzes Haar trieb der Decke der Säule entgegen, als versuche es zu entkommen, sein Körper hing entspannt in der grünlichen Flüssigkeit und einzelne Schläuche führten in Oberbauch und Hals. Von den Menschen statt von Michael in Ketten gelegt. Doch nicht mehr lange. Sie würde ihn aus dem Gefängnis befreien, in welches die Adamssöhne ihn gesteckt hatten und es würde endlich alles so werden, wie es von Anfang an bestimmt gewesen war.

Er war der Ihre. Schon immer gewesen, am Anfang, als alles begonnen hatte. Und jetzt würde es enden. Für die Adamssöhne und Evastöchter. Und sie beide und ihre Kinder würden über die Welt der Sterblichen herrschen, so wie es bestimmt gewesen war. Sie ging einen Schritt zurück, presste beiden Handflächen so fest es ging an das Glas und ließ ihrer Kraft freien Lauf. Sie spürte wie ihre Augenfarbe sich in dunkles Schwarz veränderte, wie sich rote Adern durch ihre Iris zogen und so ihre Kraft entfalteten. Das Glas um ihre Hand wurde weicher, es schmolz unter ihrer Haut und legte sich langsam über sie, bis ihre Unterarme sich im Tank befanden und sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Als sie in berührte ging ein Raunen durch den Raum, er schien sich zu bewegen und zu verschieben und dann in sich zu explodieren. Glas splitterte, Flüssigkeit spritzte in alle Richtungen davon und die Leichen der Labormitarbeiter wurden in ihre Moleküle zerlegt.

Er öffnete die Augen und sah sie an.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Gedanken geordnet hatten, bis sein Gehirn wieder völlig ihm gehörte und er realisierte, wo er sich befand. Dann atmete er tief durch und die Schläuche rissen von allein aus seinem Körper und fielen zu Boden.

Sie war durch die Wucht der Explosion ein paar Meter zurückgeworfen worden und richtete sich gerade auf, als er mit vorsichtigen Schritten auf sie zukam. Seine Muskeln hatten sich im Laufe der Jahre zurückgebildet und nur durch seine Geisteskraft befahl er seinem Körper sich zu bewegen. Er half ihr auf und lächelte sie an. Und dann hörte sie nach Jahrtausenden der Qual und Verzweiflung die erlösenden Worte, für die es sich gelohnt hatte, zu töten, getötet zu werden und als neuerschaffen wiederzukehren.

" OL GZE OLANI NOSTOAH NOASMI" Meine Einzige, die Zeit ist gekommen.

Ihr Herz schien beim Klang seiner Stimme zu explodieren. Sie hatte sich nicht getäuscht. All die Zeit war er immer in ihrer Nähe gewesen. Hatte seinen Vater und seine Brüder verlassen, für sie. War zur Erde gefallen, ihre leuchtender Stern, nur um bei ihr zu sein. Für immer. Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.

"OL OLPIRT GAH OBZA OIAD LADNAH OL IOLCI NANAEEL PASHS OL BOGPA NETAAB OIAD NANTA."

Mein Licht, es ist nun an uns,  unsere Kinder zur Herrschaft über Gottes Erde zu führen.

Er nahm sie in seine Arme, strich über ihren Körper und flüsterte in ihr Ohr.

"OIAD BAZM OL OLLOG G-CHIS-GE NETAAB. LADNAH BOGPA OIAD PASHS OL LILITH"

Die Tage der Menschen sind vorüber. Jetzt herrschen die Kinder der Lilith.

"NOIB- " Ja-

Sie sah in seine schneeweißen Augen, die von schwarzen Adern durchzogen waren. Ein Mal, welches er nach seinem Sturz aus den hohen Himmeln bis jetzt behalten hatte.

"-OL OLPIRT, SAMAEL" -mein Licht, Samael.

Kapitel 1

 

"Er wusste, dass sie das tun würde. Er war jetzt ihr Partner. Ihr Fatum. Ihr Schicksal und Verderben."

 

 

I

 

Blood and snow in London

 

 London, 24. Dezember 1832

 

William ging durch die verschneiten Straßen Londons und beobachtete die weißen Flocken, die langsam auf die Erde hernieder gingen und auf einem Häufchen Schnee zu liegen kamen. Von Innen drangen die Lichter aus den Häusern und warfen ihre Strahlen auf die weiße Pracht vor Williams Stiefeln. Er blieb stehen und blickte in das Haus, in dem ein kleiner Junge mit seiner Mutter am Boden spielte, während der Vater an seiner Pfeife paffte. Er kannte die Familie. Es war seine eigene. Und doch nicht mehr die seine. Alles hatte sich verändert und er konnte nie mehr zurück. Leise sank eine dicke Schneeflocke auf seinen Mantelkragen, wurde zu einem Tröpfchen Wasser und rann an seinem Hals hinunter. William lief es eiskalt den Rücken hinunter. Bereits vor vielen Minuten war er an seinem Elternhaus angekommen, doch noch immer stand er vor dem Fenster und schaute nur hindurch. Weiter fielen die Schneeflocken auf ihn herab, doch William bewegte sich nicht. Er zog den Kragen weiter hoch und blickte sich um. Niemand zu sehen. Er wandte sich vom Haus ab und sah in das Dorf hinein.

“Warum hast du mich mit dieser Last beladen?”, sprach er in die scheinbare Dunkelheit.

Doch es kam keine Antwort. Wie so immer wenn er zu Gott sprach. Er blickte noch einmal zum Haus zurück, in dem eine fröhliche Familie ihren Heiligabend verbrachte und auf die Rückkehr ihres Kindes wartete, eines das nie zurückkehren würde, und ging schweren Herzens in die entgegen gesetzte Richtung.

 

Adam hatte das letzte Geschenk “besorgt” und konnte sich nun mit einem zufriedenen Lächeln auf den Weg zu seinem persönlichen “Geschenk” machen. Es waren zwei Jahre vergangen, seit er sich verändert hatte, und er fühlte sich kräftiger denn je. Noch hatte er sein höchstes Glücksgefühl nicht erreicht, deshalb ging er mit seinem menschlichen Gesicht zufrieden durch die Straßen. Er hatte sein Präsent hübsch in Zeitungspapier eingewickelt und bog nun in die Straße ein, in der Williams Frau Johanna wohnte. Als er vor ihrer Haustür ankam, richtete er seinen Mantel zurecht und begutachtete voller Stolz sein eingewickeltes “etwas”, das er sicher unter dem Arm hielt. Dann klopfte er und wartete, bis sie öffnete. Er legte sich gerade seine Worte zurecht, als sie in der Tür erschien und ihn erwartend ansah.

“Ich grüße dich Adam. Was machst du hier?" fragte sie verwirrt. Kurz sah sie ihm über die Schulter, wohl auf der Suche nach William. Ja, es gab so viel von dem sie nichts wusste.

Er zwang sich an ihr vorbei und trat ein. Langsam schloss sie die Tür und blieb davor stehen.

“'Enttäuscht, nur mich zu sehen?”, fragte er verschmitzt und legte sein Geschenk ab. Dann drehte er sich zu ihr um und sah in ihr hübsches vollkommenes Gesicht. Sie hatte ihm schon immer gefallen, aber heute kam sie ihm noch schöner vor.

Sie hatte ihre lockigen dunklen Seitenhaare mit einer Spange nach hinten gesteckt und ließ sie locker nach hinten fallen. Johanna hatte eines ihrer schönsten Kleider an, vermutlich hatte sie statt seiner William erwartet. Sie sah im Schein der Kerze mit ihrem beigen Leinengewand einfach wundervoll aus, entweder jetzt oder nie mehr. Aber er konnte William ja schlecht ohne Geschenk verlassen. Obwohl, wenn er es recht bedachte, wusste er ein noch viel besseres Geschenk für seinen besten Freund.

“Hast du mich denn nicht vermisst?”, fragte er voller Trauer.

“Was willst du, Adam?”, seufzte sie.

“Ich möchte dir ein Geschenk machen!” Er drehte sich um, nahm vorsichtig sein Geschenk vom Tisch und hob es ihr entgegen. Langsam kam Johanna näher und sah in skeptisch an. Adam hatte rote Haare und grüne Augen, ganz im Gegensatz zu William. Warum war er bloß noch nicht hier?

“Du darfst dich geehrt fühlen, es ist ein Meisterwerk!”, pflichtete er ihr bei, als sie das Paket entgegen nahm. Er ließ es in ihre Handflächen plumpsen, dass es ein schmatzendes Geräusch von sich gab, wie bei einem großen Stück rohen Fleisches, dass auf den Tisch fällt. Es fühlte sich warm an und nass. Vor allem sehr nass und als sie ihren Blick von dem Seinen löste und auf diesen in Zeitungspapier eingewickelten Klumpen sah, erkannte sie eine rötliche Färbung im Papier.

“Mach es auf´,” lächelte er, “ich versichere dir es kommt von Herzen!”

Langsam öffnete sie das Papier und stieß einen Schrei aus, als sie entdeckte, was darin war. Doch sie konnte kein zweites mal mehr schreien, dann dazu ließ er ihr keine Zeit. Wie eine Raubkatze stürzte er sich auf sie und riss sie zu Boden.

 

 

William wusste nicht, wer oder was ihn dazu getrieben hatte, doch nun sah er, dass es kein Zufall war. Er roch den Geruch des Blutes auf seinem Weg und er wusste, wer sie voran zog. Er musste ihr folgen, dann würde er ihn finden. Dessen war er sich sicher. Doch was, wenn es bereits zu spät war? Wenn er der Spur zu langsam folgte? Dann würde er nur noch mehr Schuld auf sich laden. Doch sie schien ihn schon bald zu erdrücken, ohne dass er sie wieder von sich schieben konnte. Er folgte weiter der Spur.

Links.

Der Geruch wurde stärker, intensiver. Von einem menschlichen Wesen konnte er nicht wahrgenommen werden. Er sah sich um, Niemand folgte ihm. Woher hatte er nur dieses ungute Gefühl? William ging weiter die Straße entlang. Er kannte diese Gegend. Aber…!

Er beschleunigte seine Schritte, er lief beinahe. Unmöglich! Wie konnte das sein? Er hätte es spüren müssen! Sein Schritt fiel in Lauf über. “Bitte nicht!”, keuchte er, während er an den leuchtenden Häusern vorbeilief. Er konnte die Freude und die Harmonie darin spüren, aber er beachtete sie nicht. Angstschweiß machte sich auf seiner Stirn breit. Und mit jedem Meter, den er lief, wuchs sein Hass. Er wurde wieder stärker. Konnte er denn nicht einfach aufhören zu atmen? Der Geruch des Blutes schien ihn schier verrückt zu machen. Doch wenn er das tat, würde er seine Spur verlieren. Die Spur des Todes, der er schon seit Wochen folgte. Nein, er musste ihr folgen, er musste es zu Ende bringen.

Er blieb stehen. Er war am Ziel. Er wusste, dass er mehr als vier Blocks gelaufen war, er hätte sonst wo sein können. Doch er hatte während des ganzen Weges nur auf den Schnee vor sich geblickt, um sich besser auf den Geruch konzentrieren zu können. Er musste erst gar nicht aufblicken, als er am Ziel war. Er musste seine Augen erst gar nicht auf das Gebäude vor sich richten. Er wusste wo er war.

Und er war zu spät.

Langsam ging er auf die Eingangstür zu. Erst als er seine Hand auf den Türrahmen gelegt hatte, sah er auf. Sein Blick fiel durch die geöffnete Tür und das Schauspiel, dass sich ihm bot.

Langsam trat er ein.

Sie lag vor ihm. Um sie herum wie ein großer roter Teppich ihr Blut. Wie in einem Bett aus roten Rosen lag sie dort. Wunderschön. Erstarrt. Ihre Augen kaum geöffnet, doch er konnte sehen, dass ihr Blick leer war… Der Glanz in ihren Augen, den er so geliebt hatte, war dahin und nur noch eine Leere geblieben, an dem Ort wo noch vor kurzer Zeit ihre Seele gewesen war.

Er musste das Blut nicht berühren, um zu wissen dass es noch warm war.

Seine Hose färbte sich rot, als er sich neben sie kniete und ihren Körper in seine Arme nahm.

Liebste Johanna….

Ihr Kopf ruhte in seinen Armen und er streichelte ihr sanft übers Haar, so wie sie es immer gern gemocht hatte.

Was habe ich getan…? Was habe ich nur getan?

Sie hatte das Kleid an, dass ihm so gefiel… er hatte es ihr zum Hochzeitstag geschenkt.

Seine Augen wurden feucht und er verfluchte sie dafür. Er weinte nicht. Niemals. Er musste stark sein. Er musste kämpfen. Er durfte seine Kraft nicht für so etwas wie Tränen verschwenden. Und dennoch…

Sie war tot….

Und er wusste, wer es getan hatte.

Jetzt da er Johanna verloren hatte, war Er der einzige Grund warum William noch lebte. Oder zumindest so etwas in der Art.

Er legte seine Stirn auf ihre Schulter und versuchte noch etwas von ihrem Duft zu erhaschen. Doch auch der war ihm nicht mehr geblieben…

Nichts blieb für ihn zurück.

Er wusste, dass er dumm war. Dumm, einfach hier zu sitzen und zu trauern.

Dumm, Adams Präsenz einfach zu ignorieren. Er spürte ihn, wusste, dass er hier war. Und dennoch…

Er war dumm gewesen, ihn gerettet zu haben.

Noch immer streichelte er ihr Haar. Am liebsten wollte er nie von hier fort gehen, sie niemals verlassen. Niemals ihren Körper aus seinem Schoß heben, ihr bleiches Gesicht mit einem Tuch bedecken, ihren Körper zu Grabe tragen… Doch er hatte noch eine Aufgabe. Einen letzten Schritt zu gehen, bevor er ihr folgen konnte. Wenn dass für ihn überhaupt noch möglich war. Er hob seinen Kopf und sah sie an. Doch sie hatte sich verändert. Ihre Augen waren nicht mehr leer. Sie waren blutunterlaufen und nur die Iris war kalkweiß. Und sie starrten ihm direkt in die Augen! Innerhalb eines Augenschlages war er aufgesprungen und stand in sicherer Entfernung. Jede Spur von Gefühl war aus seinem Gesicht verschwunden. Langsam richtete sie sich auf, ihre roten Augen immer auf ihn fixiert. Doch ihr Körper war noch nicht bereit. Als sie wieder hinfiel gab sie ein schrecklich verzehrtes Knurren von sich. William konnte nicht fassen, dass Adam das getan hatte. So kurz nachdem…

Er wollte ihn bestrafen.

Diese Erkenntnis traf William wie ein Schlag, als er Johanna beobachtete, die sich vor Schmerzen auf dem Boden wand. Den Kampf, der im Innern ihres Körpers tobte, kannte William nur zu gut. Sie fing an, sich überall zu kratzen, bis ihr Körper von roten Spuren übersäht war, krümmte sich zusammen und schrie wie ein kleines Kind. Als versuche sie von etwas unsichtbaren wegzulaufen, kroch sie auf dem Boden herum. Und plötzlich sah sie ihn an. Doch diesmal war es nicht das Monster zu dem Adam sie gemacht hatte. Es war Johanna.

“William…”, flüsterte sie seinen Namen.

Ihre Augen hafteten auf ihm, flehten ihn an. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. “Bitte…!”

Doch er blieb starr und sah sie nur an. Er sah sie an, was sonst konnte er tun? Sie war für ihn verloren… für immer. Und so schnell sie Johanna geworden war, wurde sie wieder zu einem Monster. Sie stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Für Menschen nicht wahrnehmbar, für ihn dafür um so lauter. Der Schrei nach ihrem Partner. Nach Adam. William wusste, dass er sie töten musste. Sie war von Adam verwandelt worden. Und Adam war ein Killer. Sie würde das selbe werden, wenn sie bei ihm blieb. Er wusste, dass sie das tun würde. Er war jetzt ihr Partner.

Ihr Fatum. Ihr Schicksal und Verderben.

 

 

 

Ihr Schrei gellte in seinem Kopf, jedes mal wenn er erwachte. Erwachte aus einem Traum, der ihn seit dieser Nacht immer wieder verfolgte. Er schnitt ihm ins Herz, zerriss es, trampelte darauf herum. Dieser Schrei war mehr gewesen als nur der Ruf nach ihm. Er war Verrat gewesen. Verrat an allem woran William bis dahin geglaubt hatte. Die Zeit die er mit ihr verbracht hatte, all die Versprechen die sie sich gegeben hatten… alles verraten.

Bis dass der Tod uns scheide…

 

Kapitel 2

 

Schnee. Weißer Schnee. Blut... Weißer Schnee, der sich rot färbt… rot von Blut.

 

 

II

 

Die erste Nacht

  

München, November 2035

 

Man sagt, die Sterne beeinflussen unser Leben. Man sagt auch, der Mond beeinflusst unser Leben. So wie er Ebbe und Flut bewirkt, so bewirkt er auch in uns eine stetige Veränderung. Er sagt uns, wann wir unsere Haare schneiden, wann wir bestimmte Blumen pflanzen und wann wir mal wieder unsere Wäsche waschen sollten. Anders bei den Sternen. Sie sagen uns, wann es wieder Zeit ist, uns zu verlieben, mit welchem Sternzeichen man sich in der nächsten Woche besser nicht streiten sollte, wann der Geldsegen wieder mal eintritt. Sie sagen uns, wann wir unsere Gesundheit schonen sollten oder wann wir mal wieder so richtig Gas geben sollten. Aber was sie uns nicht sagen, das was eigentlich am Wichtigsten ist: Wann man aufhört ein Mensch zu sein, wann wir sterben werden. Wenn man sie beobachtet, wie sie von einer Hemisphäre zur nächsten wandern, wie der Mond seine Form verändert, vom Vollmond zum Neumond und wieder zurück. Wenn man sein Leben nicht mehr in Jahren sondern in Jahrzehnten rechnet. Und immer mehr vergisst wie es war. Damals. Als Mensch. William hatte Glück. Oder auch nicht. Je nachdem wie man es sah. Glück, weil er noch kein alter Vampir war. Er konnte sich noch an sein Dasein als Mensch erinnern. An den Geschmack des Schmorbratens, den seine Mutter so gut kochte, an den Geruch von Earl Grey und den Duft der Zimtstangen am Weihnachtsbaum. Die innere Wärme, die er empfunden hatte, jedes Mal wenn er an Weihnachten nach Hause kam, zu seiner Familie. Und seiner Frau. Die Wärme der Sonne, die auf seine Haut geschienen hatte. Die Kälte des Schnees und wie er langsam auf der Haut geschmolzen war. Doch es waren nur Erinnerungen. Der inneren Wärme war Kälte gewichen. Earl Grey hatte er, so kam es ihm vor, schon seit Ewigkeiten nicht mehr getrunken. Auch wenn er sich manchmal vorstellte, die rote Flüssigkeit in seinem Glas wäre eine Tasse Tee. Fleisch brauchte er nicht mehr. Ebenso wie alles andere, was er jemals gegessen hatte. Und es fehlte ihm. Einmal hatte er es versucht. Und hatte sich nach dem ersten Bissen gleich wieder übergeben. Die Nächte als Vampir konnten einsam sein. Besonders in der ersten Zeit. Es war zu gefährlich sich einem Menschen zu nähern. Zu verführerisch war der Geruch des Blutes, zu groß der Hunger danach. Anders war das bei Tieren. Auch wenn William keine Erklärung dafür hatte. Und so kam es, dass William in dieser Nacht nicht allein durch die Straßen ging. Ein schwarzer Schatten folgte jedem seiner Schritte. Lautlos und schnell. So wie William. Braver Hund. William war verblüfft gewesen, wie scharf die Sinne eines Hundes sein konnten. Sie reichten zwar nicht an seine eigenen heran und doch war Sam so etwas wie sein zweites Paar Augen und Ohren. Heute war es kalt und aus Sams Nase tauchten kleine Atemwölkchen in die Luft auf. Nicht, dass William Kälte stören würde. Auch er konnte seinen Atem in der Luft sehen, wie er als kleine Wölkchen in den Himmel stieg. Er hatte sich an die Kälte gewöhnt, die Kühle seiner Haut, die nicht mehr so gut durchblutet war wie früher. Ein Irrglaube zu meinen, Vampire wären tote Körper. Mit eiskalter Haut, ohne Atem, ohne Herzschlag. Am Anfang vielleicht, bis das erste vampirische Blut durch die Adern rann, die ersten Tage die es brauchte bis man sich veränderte. In denen der Körper sich regenerierte und letztendlich zu dem wurde, was er nun war. Doch dann ging der Körper wieder den Rhythmus des Lebens, nur dass er jetzt nicht mehr von sich aus starb. Unsterblich war er dennoch nicht, er hatte dutzende Nachtwandler sterben sehen. Und doch waren sie anders als Menschen. Nicht mehr so wie vorher. Es war bereits die vierte Nacht, in der es so kalt war. Wenn es so weiter ging, würde er ihn noch verlieren. Adams Geruch war das einzige, was William hatte. Und je kälter es wurde, umso weniger konnte er davon wahrnehmen. Er musste schneller sein. Doch er hatte das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Als würde ihn etwas festhalten. Es begann zu schneien. William sah in den Himmel und beobachtete die weißen Flocken, die langsam auf ihn herabregneten. William hasste Schnee. Schnee war sauber und rein gewesen.  Doch das war vor jener Nacht. Schnee. Weißer Schnee. Blut…  und weißer Schnee, der sich rot färbt… rot von Blut. William schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Adam… Er spürte, dass er nah dran war. Und das verwirrte ihn zugleich. Adam ließ William nie nah dran sein. Warum jetzt auf einmal? Er hatte ihn sonst immer auf Distanz gehalten. Glaubte er, in Sicherheit zu sein? Oder war er sich seiner zu sicher? Hatte er keine Angst davor, William gegenüber zu treten? Plötzlich blieb Sam stehen und William erstarrte ebenfalls. Sam streckte seine Nase in die Luft und schnupperte. William roch es ebenfalls. Seine Beute war nah.

 

 

 

Es war heiß. Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie schwitzte am ganzen Körper. Doch das war ihr egal. Es war toll. Ihr Körper war eins mit der Musik und Emma ließ sich einfach fallen. Sie kümmerte sich nicht um die Leute um sie herum, auf die Männer die sie anstarrten, die Frauen, die sie feindselig ansahen. Mochten sie doch schauen, was sie wollten. Emma trug ein kurzes, schulterfreies weißes Kleid, darüber eine schwarzweiße Korsage mit schwarzen Rüschen, die wie Rosen aussahen und ihre Haare fielen lang und leicht gelockt auf ihre Schultern. Emma war gut drauf. Und sie war betrunken. Das konnte sie ruhig zugeben. Was konnte man denn sonst tun, außer sich zu betrinken, wenn man seinen Geburtstag alleine feierte? Die Musik wurde schneller, fordernder. Und ihr Körper passte sich der Musik an. Ihre langen elfenbeinfarbenen Haare wiegten sich im Takt mit ihrem Körper, umschmeichelten ihn, umfingen ihn. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Körper schien mit der Luft um sie herum zu verschmelzen… Und dann endete die Musik. Bandpause. Enttäuscht öffnete Emma die Augen. Die Tanzfläche leerte sich langsam und alles strömte Richtung Bar. Die Band, ein zusammengewürfelter Haufen aus Garagenmusikern, die mit ihrer Gage versuchten über die Runden zu kommen, was nur spärlich gelang. Viele hatten die großen Städte verlassen, zu hoch war der Grad der Strahlung in vielen Stadtteilen. Die meisten hatten sich dem Städtebau in den umliegenden Gebieten angeschlossen. Arbeit für Wohnraum, für Essen, ein neues Leben. Andere waren geblieben, in die Teile der Stadt gezogen, in denen zu Leben zwar nicht gesund aber auch nicht tödlich war. Zumindest nicht sofort. Einige hatten sogar damit angefangen, unterirdischen Wohnraum zu schaffen, S-Bahn-Tunnel und U-Bahn-Schächte wurden zu Wohngebieten umfunktioniert, Stromleitungen verlegt, Grundwasser angezapft. Es hatte Jahre gedauert bis das Leben in München wieder einigermaßen weiter gegangen war, und doch stand man immer noch am Anfang. Die dunklen Jahre waren vorbei, als es keinen Strom und keine Versorgung gegeben hatte, trotzdem kämpften die Münchner noch immer ums Überleben in der Stadt. Auf der einen Seite gab es diejenigen, die in den Slums lebten, von einem Tag in den nächsten, immer auf der Suche nach einem Schlafplatz oder Essen. Man nannte sie auch "Jumper", weil sie fast jeden Tag in ein neues Zuhause sprangen. Und dann gab es solche wie Emma. Die das Glück hatten, in eine wohlhabende Familie geboren worden zu sein. Die, die  "zwölf Uhr" einigermaßen unbeschadet überlebt hatten und ihren Reichtum sichern konnten. Ihr Vater schien auf so etwas vorbereitet gewesen zu sein, denn in den letzten Jahren vor der Krise hatte er sein Geld von der Bank genommen und zuhause gebunkert. So wie die Wenigsten. Und so hatte Emma das Glück, in einem zwar kleinen, aber sicheren Loft in München zu wohnen, nicht weit vom "Dampfwerk" entfernt, mitten im Steampunkviertel Münchens. Das "Dampfwerk" war ein Steampunk-Club, eine der wenigen Lokalitäten, die sich Leute mit etwas größerem Geldbeutel leisten konnten. Seit der Atom-Krise oder "zwölf Uhr", wie es die meisten in München nannten, waren Discos ein Relikt der Vergangenheit. Aus ihnen waren kleine Clubs hervorgegangen, in denen sich die wenig verbliebenen trafen, wie zu einer Familienfeier. Normalerweise arbeitete Emma hier, doch an ihrem Geburtstag gönnte sie sich eine Auszeit. Es war angenehm, einmal auf der anderen Seite der Bar zu stehen.

Sie wollte gerade bestellen, als plötzlich hinter ihr jemand fragte: “Darf ich dich einladen?”

Emma drehte sich um, um ihm eine Abfuhr zu erteilen. Ein Anmachspruch war jetzt wirklich das letzte was sie brauchte. In nächster Zeit keine Männer mehr. Das hatte sie sich geschworen.

“Nein…” , setzte sie an. Und sah in ein paar stechendgrüner Augen. So grün, dass man sich darin verlieren konnte. Und sein Gesicht…. So… makellos.

“Danke,” flüsterte sie.

“Wirklich nicht?” Und dann lächelte er. Dieses Lächeln hätte wohl jede Frau zum Schmelzen gebracht. Es war eines dieser Lächeln, die der Hauptdarsteller immer aufgelegt und jede Frau im Kino zum Seufzen gebracht hatte. Und doch ließ Emma Etwas zögern. Er schien es zu bemerken und kurz glaubte sie, Enttäuschung und gleichzeitig Verwirrung in seinen Augen zu lesen. Hatte sie ihn etwa aus dem Konzept geworfen? Der Gedanke belustigte Emma und gab ihr ein, wenn auch nur kleines, Siegesgefühl. Beinahe hätte es ja funktioniert.

“Nein danke. Wirklich nicht.” Sie lächelte ihn entschuldigend an und drehte sich wieder um.

Er schien sich schnell wieder gefangen zu haben. Selbstbewusst setzte er sich neben sie und bestellte einen Bloody Mary. Sophie stand heute hinter der Bar und trug eines ihrer hellbraun gestreiften Kleidchen mit dunklem Ledermieder. Auf dem Kopf saß eine Fliegerbrille und reflektierte die Laser des Clubs wie rote und blaue Glühwürmchen. Während sie selig grinsend seinen Drink mixte, fixierte er sich nur auf sie, beobachtete jede ihrer Bewegungen und als sie seinen Blick streifte, lächelte er wieder. Dieses umwerfende Lächeln. Emma glaubte, sie im dunklen Licht des Nachtclubs erröten zu sehen. Nervös stellte sie ihm den Cocktail hin. Er nahm ihn, trank jedoch nicht davon. Stattdessen sah er Emma an. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde stehen bleiben. Etwas tief ihn ihr bäumte sich auf und mit einem Mal war ihr gar nicht mehr heiß. Sondern kalt, eiskalt, und sie konnte spüren, wie sie Gänsehaut bekam. Sein ganzer Körper strahlte etwas aus. Sie konnte nicht genau sagen, was es war. Auf jeden Fall ein Hauch von… Gefahr. Scheinbar eine Ewigkeit schien zu vergehen, während sie sich in diesen grünen Augen verlor… so tief…. So dunkel…. So dunkel…. Emma schien sich in dieses schwarze Loch zu verlieren. Es war so einfach…. Sie musste nur loslassen…. Alles hinter sich lassen und in diese wunderbare Tiefe fallen…. Es schmerzte. Und Emma schrie. Zumindest glaubte sie zu schreien. Sie hatte ihren Mund weit aufgerissen, doch kein Laut entkam ihrer Kehle. Der Schmerz war so tief in ihr drin, durchfuhr ihren ganzen Körper, wühlte sie auf. Ihr Blut brannte. Ihr Herz raste. Sie hatte das Gefühl, es würde gleich ihren Brustkorb sprengen. Der Schmerz schien ewig zu dauern. Sie fühlte nichts mehr außer ihm. Und dann war es vorbei. Sie hörte plötzlich die Musik um sich herum näher kommen wie durch Watte, roch wieder den Zigarettenrauch der Discobesucher, fühlte die Hitze. Und als sie die Augen öffnete, war sie allein. Der Fremde war verschwunden. Sophie sah sie mit aufgerissenen Augen an, doch als Emma sich umsah erkannte sie, dass den übrigen Besuchern nichts aufgefallen war. Emma war das Tanzen vergangen und so schnell sie sich durch die Menge schieben konnte, verließ sie die Disco in die kühle Winternacht.

 

 

Adam empfand etwas, dass er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Schmerz. Tiefer, reiner, unaufhörlicher Schmerz. Er hatte diesem Mädchen in die Augen gesehen. Mit der Absicht, sie in seinen Bann zu ziehen. Doch irgendetwas war da gehörig schief gelaufen. Was war das nur gewesen? Er hatte in diese Augen gesehen… und dann konnte er sich nur noch erinnern, dass er vor Schmerz und Verblüffung seine Tarnung außer Acht gelassen und gefaucht hatte. Er war aus der Diskothek geflohen, noch bevor jemand geblinzelt hatte und erst in einer dunklen Seitenstraße zum stehen gekommen. Normalerweise eine Kleinigkeit für ihn. Doch diesmal nicht. Es strengte ihn an. Auch das war etwas, dass Adam nicht mehr gekannt hatte. Schmerz, Angst, Anstrengung. Menschliche Empfindungen. Keuchend sank er zu Boden. Sein Herz schmerzte. Er musste hier weg. Er spürte, dass William nah war. Wenn er ihn jetzt fand, wäre er verloren. Doch er wusste, dass Johanna nie fern war. Schließlich gehörte sie zu ihm. Er stieß einen lautlosen Schrei aus, einen Schrei, unhörbar für jeden außer sie. Es dauerte nur einen Wimpernschlag und sie saß neben ihm. Aufgetaucht aus dem Nichts. Er musste ihr nicht sagen, was geschehen war, sie konnte seine Gedanken hören. Sie griff ihm unter die Arme und zusammen verschwanden sie in die Schatten.

 

 

 

Emma lief. Sie wusste nicht wohin. Und auch nicht vor was sie weglief. Ihr Herz schlug noch immer wie wild. Was war da gerade geschehen? Wer war dieser Fremde? Es war kalt und der Schnee erschwerte es ihr, Halt zu finden. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und fiel in den Schnee. Das Eis auf der Straße riss ihre Haut auf und hinterließ kleine dünne Striemen, die sich langsam rot färbten. Als Emma das Blut sah, hatte sie das Gefühl ihr Herz würde mit einem Mal aufhören zu schlagen. Sie hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen und würgte. Doch statt dem Erwarteten kam Blut aus ihrem Mund und färbte den Schnee rot. Immer wieder übergab sie sich, bis sie das Gefühl hatte, komplett leer zu sein, dass kein Tropfen Blut mehr in ihrem Körper war. Erschöpft sank sie in den Schnee. Er war schön kühl und Emma fühlte sich willkommen. Als würde er sie einladen, sich auf ihm ein wenig auszuruhen. Ja, schlafen war eine gute Idee. Nur eine Weile, denn sonst würde sie erfrieren, das wusste sie. Sie beobachtete ihr Blut, wie es im Mond leicht leuchtete und den Schnee, der das Licht zurückwarf.

“So weiß. So rein”, dachte sie bei sich. “Der weiße Schnee. Und mein Blut, das ihn rot färbt…”

Kurz bevor sie ihre Augen schloss, glaubte sie eine schwarze Gestalt vor sich knien zu sehen und etwas feuchtes auf ihrer Wange zu spüren. Dann umfing sie die Dunkelheit und die sanfte Kühle einer Novembernacht.

 

Kapitel 3

 

Wie eine Katze, die zum Sprung bereit war, kauerte er auf dem Fenstersims ..und sah sie nur an…

 

 

III

 

Die Jaegerin

 

 

Johanna durchschritt die große Halle. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, das ihrer Figur schmeichelte und ihre Schönheit noch mehr hervorhob. Ihr Haar hing lose in leichten Locken über ihre Brust und wiegte sich leicht mit ihrem Gang. Sie trug kein Schuhwerk, die Hallen waren das Heiligtum ihrer Horde und niemand durfte sie mit Schuhen betreten. Sie hatte Gefallen an den östlichen Hautkünsten gefunden und ein großer roter Drache schlängelte sich an ihrem Rücken hinauf. Es war still. Totenstill. Niemand wagte es zu sprechen. Ein Tag war vergangen seit Johanna Adam in der Seitenstraße aufgelesen hatte. Ein Tag und eine Nacht. Und noch immer hatte sich Adams Zustand nicht gebessert. Egal wie viel Blut sie ihm auch anbot, egal wie jung die Opfer waren, nichts schien ihm zu helfen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie denken, er sei krank. Doch Krankheit war etwas, das sie beide vor langer Zeit abgelegt hatten. Scheinbar für immer.

Adam war der Vater ihrer Horde. Alle die sich hier versammelt hatten waren von ihm geschaffen worden. Und er war der Einzige, der neue Mitglieder erschuf. Nur einmal hatte es einer der Ihren gewagt, das Gesetz zu brechen. Und hatte mit dem Tod bezahlt, so wie seine Kreatur. Johanna konnte die Unruhe in ihnen spüren. Was würde geschehen, wenn Adam sich nie mehr erholte? Wer würde die Horde anführen? Einer der Ihren oder seine Braut? Johanna wusste, dass es beide Male auf einen Kampf hinausführen würde. Doch noch wollte sie sich nicht mit diesem Gedanken beschäftigen. Es war keine Liebe was sie mit Adam verband. Eher eine bedingungslose Verbundenheit. Sie würde alles für ihn tun. Und wenn es ihren eigenen Tod bedeuten sollte. Bei Adam angekommen kniete sie sich neben sein Lager. Er lag auf einem Haufen schwarzer und weinroter Samtkissen, überlagert von einer riesigen schwarzen Decke. Neben ihm zu beiden Seiten jeweils ein junges Mädchen, das mit Stahlfesseln an den Beinen am Boden angekettet war. Jung und schön waren sie. Das mussten sie immer sein. Adam wählte sie immer persönlich aus. Die anderen “schenkte” er dem Rest der Horde. Und Johannas Aufgabe war es, sie zu besorgen. Damals war es noch einfach gewesen, in den dunklen Jahren, als die Zeiten schlechter gewesen waren. Man gabelte ein Mädchen auf der Straße auf, versprach ihm etwas zu essen und sie gingen bereitwillig mit dir. Heute war das schwieriger. Es waren schwere Zeiten für Nachtwandler. Oder für Vampire, wie sie von den Menschen genannt wurden.  Johanna musste ein neues Lockmittel finden, eines das meistens ins Schwarze traf: Drogen. Ein zeitweiliger Ausweg aus ihrer aussichtslosen Situation, eine kurze Linderung der Schmerzen, die die lang anhaltende Strahlung verursachte. Viele betäubten sich so lange damit, bis sie gar nichts mehr spürten und nur noch als hohle Gefäße in den Ecken der Slums saßen, bis der Tod sie erlöste. Sie war selbst überrascht gewesen, wie einfach es funktionierte. So waren ihr auch diese beiden Hübschen in die Falle gegangen. Johanna konnte ihre Sucht nach diesen kleinen bunten Pillen nicht nachvollziehen. Sie selbst hatte sie versucht und feststellen müssen, dass rein gar nichts ihren Körper in irgendeiner Weise verändern konnte. Doch solange es bei Menschen funktionierte, sollte es sie nicht weiter kümmern. Doch was sie im Moment bekümmerte war Adams Zustand. Sie hatte ihn noch nie so gesehen und das verwirrte sie. Und Verwirrung war etwas was sie nur selten empfand. Das war noch ein Überbleibsel ihres menschlichen Daseins, doch Adam hatte ihr versprochen, dass sie ihre Gefühle bald komplett unter Kontrolle haben würde und dann wäre auch Verwirrung nur noch eine Erinnerung an etwas, was einmal gewesen war. Sein Gesicht war gerötet. Es hatte seine wunderschöne, perfekte, elfenbeinfarbene Farbe verloren. Sein Glanz war ermattet und seine Augen ausdruckslos. Sie besaßen nicht mehr diese tiefe, mystische Schwärze wie noch vor einem Tag. Das machte Johanna Sorgen.

“Mein Herr,” flüsterte sie. Adam hatte ausdruckslos an die Decke gestarrt und sah sie an, ohne den Kopf zu drehen. Es schmerzte sie, in seine Augen zu sehen. Sie wandte den Blick ab und reichte ihm den Becher entgegen. “Ihr müsst trinken.”

Er sah sie lange an. Sie wünschte sie könnte in seinen Gedanken lesen, doch auch das blieb ihr verwehrt. War es sein eigener Wunsch, sie aus seinen Gedanken zu sperren? Oder war es eine der Wirkungen seiner Krankheit? Und dann sagte er etwas, womit sie niemals gerechnet hätte.

“William…” Seine Stimme war nur ein Hauch, sanft in den Raum hinausgetragen, nur für Johanna hörbar.

“Mein Herr?” Entsetzt wich sie zurück. Was ging nur in ihm vor? Seit sie bei ihm war, war sein Name nie ausgesprochen worden. Niemals. Johanna war die Einzige in der Horde, die wusste, dass William der Einzige war, der Adam gefährlich werden konnte. Niemand sonst durfte das wissen. Und so war er ein Geheimnis geblieben. Bis jetzt.

“William…, “ wiederholte er nur.

 

 

 

William, was machst du da eigentlich?, fragte er sich, während er durch das dunkle Zimmer schritt. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie lange er schon hier war. Sam lag auf dem Fußende des Bettes in dem das blonde Mädchen lag und döste zufrieden vor sich hin. Wenigstens einem ging es gut. Sam war es auch gewesen, der sie gefunden hatte. Und seitdem war er nicht von ihr zu trennen gewesen. William hatte sie vorsichtig aus dem Schnee gehoben. Sie war so leicht und zerbrechlich gewesen und ihr Blut war über seine Haut gelaufen, wie süßer Honig. Doch er hatte widerstanden. Es gab nicht mehr viele Orte, an die man Verletzte bringen konnte. Die noch stehenden Krankenhäuser waren zu Zufluchtsorten und Drogenhöhlen geworden. Die viel verbreiteten Ingenieure, wie sie nun genannt wurden, waren in den Slums zu finden. Bastler, die sich hauptsächlich um Menschen mit Implantaten kümmerten, Chips einsetzten oder Modifikationen durchführten. Doch das Mädchen hatte ihm nicht nach einem Techie ausgesehen. Und sie war vor einem der besseren Etablissements gelegen. Durch seinen spezielle Situation kannte er ein paar Ärzte, die gegen eine angemessene Summe ohne weitere Fragen zu stellen, sich um alles kümmerten. Er war also schweigend über die Schwelle des neunstöckigen Hauses getreten, als der Doc im geöffnet hatte und hatte das Mädchen ohne weitere Erklärung auf ein Bett gelegt und der Obhut des Docs überlassen. Er hatte keinen Fragen gestellt und das Mädchen untersucht. Und seitdem wartete er. Worauf genau konnte er nicht sagen. Als er sie da so liegen gesehen hatte, war sein erster Verdacht gewesen, einen Frischling vor sich liegen zu haben. Jene Menschen die sich in dem Zustand zwischen Mensch und Nachtwandler befanden, kurz nachdem sie gebissen worden waren. Doch als er keine Bisswunde entdecken konnte und ihren zwar schwachen aber immerhin vorhandenen Herzschlag hören konnte, entschied er sich, ihr zu helfen. Noch nie in seinem ganzen Leben als Nachtwandler hatte er das getan. Er hatte nur eine Regel: Vermische nie dein Leben mit dem eines Menschen. Es war ihm schwer gefallen diese Regel aufzustellen. Sie hatte so viel Vorteile wie Nachteile. Doch sie half ihm zu überleben. Und sie half ihm, Leben zu lassen. Er wusste nicht genau, ob es daran lag, seit einer schieren Ewigkeit einem Menschen nicht mehr so nahe gewesen zu sein, oder ob es an dem Mädchen selber lag, denn das Blut an und in ihrem Körper hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Es war das Süßeste und Wunderbarste was er in seinem ganzen Leben gerochen hatte. Und auch als er nicht mehr lebte. Wie Kinder, die vor dem Zuckerwattestand standen und ihre Eltern um die zuckersüße Leckerei anflehten, so flehte alles in William nach ihr. Ihrem Blut. Oh wie einfach wäre es gewesen. So einfach. Sie lag direkt unter ihm. Wehrlos. Schutzlos. Eine leichte Beute. Er musste nur seine Zähne in ihr junges, weiches Fleisch sinken lassen…. Ganz schmerzlos…. William schloss die Augen und drehte sich zum Fenster um. Als ob das etwas nützen würde. Ihr Geruch war so penetrant, selbst nachdem der Doc sie notdürftig abgewaschen hatte. So einfach… Sie würde nichts spüren… So schnell, dass ein Menschenauge es nicht wahrnehmen konnte, öffnete er das Fenster, sprang auf den Fenstersims, streckte seinen Kopf dem Himmel entgegen und nahm einen tiefen Atemzug. Schon besser….

Der Doc trat an ihn heran. "Ich kann keine äußeren Wunden feststellen. " Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab und schob seine Brille zurück auf die Nase. "Es gibt da allerdings etwas, was mir Sorgen macht."

William sah ihn nicht an, sondern nickte nur. Wenn er sich nur ein wenig mehr umdrehen würde, würde dieser süße Geruch zu ihm herüberwehen und wuste nicht, ob er noch länger widerstehen konnte. "Ihr Herzschlag setzt immer wieder aus. Es ist fast, als würde ihr Herz einfach vergessen, zu schlagen. Es ist jedenfalls keine normale Herzrhythmusstörung. Für weitere Diagnosen müsste ich sie an ein paar Geräte anschließen. Dafür bin ich hier aber nicht ausgerüstet. "

"Das wird nicht nötig sein." William blickte stur geradeaus. Er konnte die Wärme und Verlockung ihres Körpers bis hier spüren. "Sobald sie aufwacht, wird sie in ihr Leben zurückkehren. "

Der Doc nickte. William hörte, wie er sich entfernte und die Tür hinter sich schloss. Er saß noch eine Weile so da, bis er spürte dass sich etwas veränderte. Langsam drehte er sich um und sah zum Bett hinüber, wo sich das Mädchen kaum merkbar bewegte und kurze Zeit später die Augen öffnete.

 

 

Alles schmerzte. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde jemand mit einem Hammer auf sie einschlagen. Ihre Arme und Beine fühlten sich seltsam taub an und wenn sie versuchte sie zu bewegen, kribbelten sie so stark, als würde sie von tausend Nadeln gestochen werden. Etwas regte sich bei ihren Beinen und als Emma nach unten sah erkannte sie, dass zu ihren Füßen ein rabenschwarzer Labrador lag und sie mit seinen blauen Augen ansah. Erst jetzt begann sie zu realisieren, dass sie gar nicht in ihrem eigenen Zimmer lag. Aber wo war sie dann? Langsam sah sie sich um. Das Bett, in dem sie lag, ein weißer Beistelltisch, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Neben ihr ein kleiner Schrank. Alle sah sehr heruntergekommen aus. War sie in einem ehemaligen Krankenhaus? Eine kühler Windhauch streifte ihre Haut und bescherte ihr eine Gänsehaut. Als sie zum offenen Fenster blickte, schien ihr ganzer Körper zu erstarren. Auf der Fensterbank kniete ein Mann, sein Schatten wurde durch das Mondlicht in seinem Rücken auf den Boden geworfen, so schwarz und dunkel wie er selbst war. Sein Haar war kurz und stand ihm leicht vom Gesicht weg. Schnee fiel langsam von draußen auf ihn herab. Er musste schon eine längere Zeit dort sitzen, auf seinem Haar sammelten sich schon die Schneeflocken. Mit einer Hand hielt er sich am Fenstergeländer fest, die andere hatte er auf seinem Knie abgelegt, sein Blick direkt auf sie gerichtet. Wie eine Katze, die zum Sprung bereit war, kauerte er auf dem Fenstersims und sah sie nur an. Wartete er auf etwas? Emma wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Wer war dieser Mann? Und warum war er hier? Warum war sie hier? Als die Erinnerung an den vorangegangenen Abend sie einholten, erschauderte sie. Diese schwarzen Augen…. Der Schmerz in ihrer Brust… Ihr Blut, das den Schnee rot färbte…

Emma wollte fragen, wer er war, doch ihre Stimme versagte. War er die schwarze Gestalt gewesen, die sie vor sich gesehen hatte? Sollte sie sich bei ihm bedanken? Im Moment wusste sie gar nicht was sie tun sollte. Also tat sie das, was ihr im Moment als am unverfänglichsten erschien, sie kraulte den Hund. Dieser reckte sich unter ihrer Berührung und rollte sich auf den Bauch, ihre Liebkosungen sichtlich genießend. Als sie wieder zum Fenster sah, konnte sie eine Veränderung im Gesicht des Mannes erkennen, wenn sie auch nicht genau sagen konnte, ob das jetzt gut oder schlecht war. Sie wusste nicht warum, aber sie fühlte sich zu diesem unbekannten Mann hingezogen. Vielleicht weil er ihr Leben gerettet hatte. Vielleicht. Emma fasste einen Entschluss. Den folgenreichsten ihres Lebens. Sie schlug die Decke zurück und bemerkte, wie er leicht zurückzuckte. Sie versuchte aufzustehen und wollte sich mit den Händen abstützen, als ihr die Beine versagten. Sie konnte sich nicht mehr abfangen, ihre Arme rutschten am Nachtisch entlang und schoben ihn zur Seite. Reflexartig hatte sie die Augen geschlossen und als sie sie wieder öffnete, erkannte sie, dass sie auf etwas weichem gelandet war. Sie lag in den Armen des Unbekannten und sah ihm direkt in die Augen. So tiefblau….. Sein Gesicht so schön, wie das eines Engels… seine Haut, so weiß wie der Schnee, der draußen vom Himmel fiel…. Und gleichzeitig waren seine Arme so kalt. Ihre Hand lag auf seiner Schulter und sie konnte den Schnee unter ihrer Haut schmelzen spüren. Die Zeit schien langsamer zu laufen, alles um sie herum schien zu erstarren. Lange sahen sie sich an und Emma wagte nicht zu zwinkern. Und dann musste sie es doch und mit einem Ruck lief die Zeit weiter. Er schien selbst darüber überrascht zu sein, was gerade geschehen war, sie konnte es in seinen Augen sehen. Verwirrung, Verblüffung, Unglaube. Unsicherheit… So viele Emotionen auf einmal… Das einzige was Emma in diesem Moment fühlte war… Verbundenheit und Vertrautheit. Sie hatte das Gefühl, diesen Mann, der ihr völlig unbekannt aber dennoch kein Fremder für sie war, schon ewig zu kennen. Diese Verletzlichkeit in seinem Blick, Emma wünschte sich im Moment nichts sehnlicher als ihm diese Traurigkeit zu nehmen. In diesem kurzen Augenblick wurde ihr klar, dass sie alles für ihn tun würde. Und gleichzeitig fragte sie sich, warum das so war… Sie wollte in diese wunderbaren blauen Ozeane in seinen Augen hineinfallen und sich für immer darin verlieren und niemals mehr erwachen.

  

Das Erste woran William dachte war Flucht. So schnell wie möglich. Ohne zurückzublicken. Beinahe hätte er sie einfach fallen gelassen. Einen Wimpernschlag später hätte er sie beinahe getötet. Und wieder einen Augenblick später hätte er sie am liebsten in den Arm genommen und nie wieder losgelassen. Was war das nur? Warum empfand er so? Seit dem Augenblick, indem er Johanna damals verfallen war und er gewusst hatte, dass sie die Frau seines Lebens war, hatte er nicht mehr ein solches Chaos in sich gespürt. Doch wenn Johanna die Frau seines Lebens gewesen war und sie wie auch sein Leben nun nicht mehr das seine waren, vielleicht war dieses Mädchen dann die Frau seines Lebens nach dem Tod? Konnte das sein? War das möglich? Konnte er trotz seines fehlenden Lebensfunkens noch Liebe empfinden? Diese Erkenntnis überraschte und ängstigte ihn, so wie sie ihn hoffen ließ. 

Ein wohlbekanntes und alarmierendes Geräusch riss ihn aus seinem Gefühlschaos. Sein Kopf schnellte in die Richtung aus der es sich rasend schnell näherte und er lauschte angestrengt. Gedanken rasten durch seinen Kopf wie Autos über die Autobahn. Ein Auto näherte sich. Und zwar schnell. Und in ihre Richtung. Ein Zufall? Je näher sie kamen um so mehr konnte er von ihrem Gespräch verstehen, auch wenn es für ihn überhaupt keinen Sinn ergab worüber sie sprachen. Es waren genau drei Worte, die ihn zwangen eine schnelle Entscheidung zu fällen.

“….. Mädchen…Disco…. Erledigen….”

Er konnte flüchten. Das Mädchen zurücklassen, sich zurückziehen und beobachten, was passiert. Die sichere Variante, für ihn. Oder sie wegbringen. In Sicherheit. Aber wohin? Wenn sie wirklich in Gefahr war, würde man in ihrem Zuhause als Erstes suchen. Sollte er sie zu sich nach Hause mitnehmen? Doch sie in seine Welt zu führen, war eine Einbahnstraße. Es gab nur den Weg hinein, nie mehr zurück. Und er musste das jetzt für sie entscheiden?

 

 

 

Johanna konnte nicht mehr warten. Adam ging es immer schlechter, nichts schien ihm zu helfen… Selbst das Blut der beiden Mädchen hatte ihn nicht gestärkt, deren leblose Körper jetzt darauf warteten, von ihren Tieren zerfleischt zu werden… Ja wunderbare Tiere waren es, die sie hatte und sie war sehr stolz auf sie. Johanna hatte das Muttertier selbst gefangen, als es noch trächtig gewesen war und sie getötet, nachdem die Welpen geboren worden waren. Jahrelange Aufzucht und Züchtigung hatten sie zum dem gemacht was sie jetzt waren: gefügige, absolut treuergebene, nach Blut lechzende Kampfmaschinen. Und wenn sie es sich verdient hatten, gab Johanna ihnen einen Leckerbissen. Junges Menschenfleisch. Doch selbst ihre Lieblinge schienen heute keinen Appetit zu haben, und so fiel der Schnee weiter auf die blassen Mädchenkörper, die draußen im Zwinger lagen. Doch Johanna kümmerte das nicht weiter. Der Blick ihrer trostlosen, leeren Augen hatte sie noch nie berührt und auch diesmal hatte sie eine innere Befriedigung empfunden, als das Licht in den Augen der Mädchen langsam erloschen war. Doch der erwünschte Effekt war ausgeblieben und so machte sich Johanna jetzt an die Lösung des Problems. Sie wusste zwar nicht was geschehen war, da Adams Geist für sie verschlossen blieb, aber das machte nichts. Sie ging einfach zum Ort des Geschehens zurück. Sie kannte seine Lieblingsplätze, an denen er sich seine Mädchen aussuchte und wusste, dass nicht weit von der Stelle an der sie ihn entdeckt hatte, eine Discothek war. In einen weißen Pelzmantel gehüllt betrat sie selbstsicher die Diskothek. Es war bereits nach zwölf Uhr und die Halle war steckend voll. Zu viele Menschen. Johanna musste sich stark konzentrieren um Adams  Aura aus dieser Menschenmasse heraus zu erkennen.  Jedes Lebewesen hinterließ etwas von sich an den Orten, an denen sie gewesen sind. Das hatte Johanna erst mit der Zeit erkannt, als ihre Kräfte stärker wurden. Das machte es für Nachtwandler auch so leicht, ihre Beute zu verfolgen. Nicht etwa, weil ihre Augen zu Nachtsichtgeräten mutiert waren, wie viele Menschen es annahmen. Nein. Johanna sah nun einfach mehr. Die Auren, die Menschen umgaben waren einzigartig, niemals hatten zwei Menschen die gleiche Aura, selbst Nachtwandler. Und es war auch ein Mythos, dass Nachtwandler wirklich tot waren. Wäre ihr Gehirn tot, wäre es ihr nicht möglich zu denken. Und wären ihre Organe tot, könnte ihr Körper nicht mehr versorgt werden. Adam hatte ihr erklärt, dass sie durch ihre Verwandlung besser geworden war. Es war so etwas wie ein Virus, der ihre Erbanlagen verändert hatte. Ihre Zellen regenerierten sich so schnell, dass keine Verletzung sie wirklich töten konnte, ihr Körper nicht mehr alterte, ihre Schönheit für immer erhalten blieb. Ihre Sinne waren noch schärfer geworden, ihre Muskeln noch stärker. Und ihre ganze Wahrnehmung hatte sich verändert. Sie nahm die Welt und die Lebewesen um sich herum nun ganz anders wahr. Was für die Menschen ihr übernatürlicher sechster Sinn war, war für Johanna tatsächlich ein sechster Sinn geworden, an den sie sich schnell gewöhnt hatte. Die Auren der Menschen zogen sich wie ein Faden hinter ihnen her, manchmal schwächer, manchmal stärker, abhängig von ihren Emotionen. An Orten, an denen schwere Tragödien stattgefunden hatten, waren Auren noch lange sichtbar. Oder an Orten der Freude, so wie hier. Viele Emotionen konnte Johanna erkennen, überschwängliche Freude durch zu viel Alkohol, Adrenalinräusche von tanzenden Menschen, die sich kennenlernten, ja sogar das euphorische Glücksgefühl zweier Menschen beim Sex. Doch das musste sie jetzt alles ausblenden. Es gab nur eine Aura auf die sie sich jetzt konzentrieren musste. Adam. Eine Aura, die in Farben ausgedrückt so schwarz war, wie die Nacht. Dies war nichts ungewöhnliches, alle Nachtwandler hatten Auren in Schwarztönen. Das war ein Nachteil ihres neuen „Lebens“. Die Schattenseiten waren der Verlust jeglicher Empfindung, jeglichen Bedürfnisses nach fester Nahrung, nur der unstillbare Durst nach menschlichem Blut. Denn darin befand sich alles, was ihr Körper benötigte, um weiter zu leben. Das war das Einzige, was Nachtwandlern wirklich gefährlich werden konnte: Nahrungsentzug. In diesem Punkt waren sie den Menschen gleich. Man konnte es durch Training hinauszögern, doch irgendwann kam immer der Punkt, an dem Schluss war. Wie ein schwacher Spinnenfaden schwebte sie vor ihr, kaum wahrnehmbar, Adams Aura. Plötzlich hinfort gerissen von einem undurchdringlichen Körper. Verärgert schubste Johanna den nutzlosen Menschenkörper zur Seite. Was erlaubte sich diese minderwertige Kreatur, sie bei ihrer Arbeit zu stören? Und sich dann auch noch bei ihr zu beschweren? Doch sie versuchte es zu ignorieren, wenn sie wollte, konnte sie sich diesem Zwischenfall auch später noch widmen. Sie hatte Adams Aura wieder aufgenommen und folgte ihr durch die Disko. Als sie stark genug war, schloss Johanna die Augen. Dies war eine Fähigkeit, wie sie nur sehr wenige Nachtwandler beherrschten. Adam hatte sie ihr beigebracht und sie war eine eifrige Schülerin gewesen. Seither war ihr keine Beute mehr entwischt und Adam nannte sie seitdem „die Jägerin“. Und heute war Adam die Beute. Blind folgte sie seiner Spur, bewegte sich wie in Trance und als sie die Augen wieder öffnete, bot sich ihr das Bild von vor einem Tag. Die selbe Menge an Menschen tummelte sich hier und doch waren es andere Menschen. Tanzten, tranken, lachten. Und in deren Mitte war ein Mädchen. Schattenhaft waren ihre Bewegungen in einem Meer aus Nebelgeistern. Dieses innere Bild von Adams Aura war nicht so klar abgetrennt wie die Wirklichkeit und es war schwer etwas zu erkennen. Darin lag die Schwierigkeit, den Nebel auseinander zu ziehen und etwas zu erkennen. Sie konzentrierte sich noch mehr und die Gestalt des Mädchens trat klar hervor, ihre Bewegungen, als würde sie im Wasser tanzen. So hatte Adam sie gesehen. So hatte er sie lange betrachtet und sich entschlossen, dass sie ihm gehören würde. Als die Musik endete, verschwand das Mädchen und Johanna bewegte sich wie in Trance. Das Mädchen drehte sich zu ihr um. Ihr Haar umfloss sie, als würden sie von Wasser umspült, ihr Gesicht war so hell, als leuchtete es von Innen und Johanna erstarrte. Ihre Augen waren so schwarz wie das All, groß und in ihnen erkannte Johanna sich selbst wie in einem Spiegel und in ihm ihre eigenen Augen. Und gleichzeitig leuchteten in ihnen die Sterne und Planeten und blendeten sie bis in ihre Seele. Sie wollte schreien, doch es ging nicht und ein unendlicher Schmerz durchlief ihren Körper. Wie von selbst stolperte sie von diesem unerträglichen Licht weg, hinaus in die Kälte der Nacht. Langsam öffnete sie die Augen. Ihre im ersten Moment noch weißen Augen wichen bald ihrer alten braunen Augenfarbe. Krampfhaft hatten sich ihre Finger in ihre Brust gekrallt. Was war das gewesen? Kein Mensch hatte solche Augen… und ihre Aura… Jetzt wusste sie, was sie schon die ganze Zeit gestört hatte, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte. Dieses Mädchen war definitiv ein Mensch gewesen. Johanna hatte es an dem Schlag ihres Herzens erkannt und wie das Blut wie tausende Ameisen durch ihren Körper geflossen war. Und dennoch… dieses Mädchen hatte eine Aura, so schwarz wie die Nacht, noch dunkler als Adam, dunkler, als sie es jemals gesehen hatte, so dunkel wie ein schwarzes Loch, das alles in sich aufsog. In den ganzen zweihundertdrei Jahren, die sie diese Fähigkeit jetzt besaß, hatte sie so etwas noch nie gesehen. Wer oder was war dieses Mädchen? Johanna kam nur schwer auf die Beine, ein solches Gefühl der Schwäche hatte sie schon lange nicht mehr empfunden…

„Hey meine Süße!“, pfiff jemand hinter ihr und schon spürte sie zwei Arme, die sie fest umschlangen. Johanna sah, wie sich seine Aura um sie ausbreitete und musste lächeln. Welch glückliche Fügung des Schicksals…

„Tut mir leid, dass ich vorhin nicht so nett zu dir war“, flüsterte sie in ihrem besten Schlafzimmerton. Langsam drehte sie sich in seinen Armen um. „Aber ich war beschäftigt.“

Der junge Mann lächelte sie betrunken an. „Is doch kein Problem Süße.“

Johanna streichelte ihm sanft über die Wange. „Es gibt da noch etwas wobei du mir behilflich sein könntest“, säuselte sie und drückte ihren Körper ganz fest an ihn. Innerlich krampfte sie sich zusammen. Wie unvollkommen dieser klobige, stinkende Körper war. Dieser widerliche menschliche Geruch, der von ihm ausging nahm ihr fast den Atem. Doch sie spürte, wie geschwächt sie eigentlich war und sie brauchte Kraft, wenn sie ihren Weg weiterverfolgen wollte.

„Was du willst Süße..“ Er küsste unbeholfen ihren Hals.

„Das dachte ich mir“, flüsterte sie in sein Ohr.

Sie lächelte, als ihre Reißzähne länger wurden, mit der Vorfreude auf ein köstliches Mal.

 

Kapitel 4

 

"Hier ist kein Platz für einen Gott...  Nur die ewige Weite der Dunkelheit"

 

 

IV

 

Die erste Nacht

 

 

Das Auto hielt quietschend an. Der Asphalt war noch nass vom Regen und die Person, die aus dem Auto stieg, fluchte, als sie mit ihren schwarzen Stilettos in eine Pfütze tauchte. Sie war in einen weiten schwarzen Mantel gekleidet, der ihr Gesicht verdeckte und nur eine Strähne blonden Haares hervorspitzen ließ. Sie ging langsam auf die Treppe des Gebäudes zu, während hinter ihr ein Kleintransporter hielt. Sobald er angehalten hatte, wurden die Seitentüren aufgerissen und vier Männer stürmten aus dem Wagen. Auch sie waren in schwarz gekleidet und hatten Gewehre bei sich, die wie silberne Schrotflinten aussahen. Ohne ein Wort stürmten sie in das Gebäude, sicherten den ersten Gang und warteten auf die Frau.

Ein irritierter Doc lugte aus einer der Türen. "Kann ich behilflich sein?"

„Keine Sorge. Sondereinsatzkommando.“ Die blonde Frau streckte ihr den Ausweis entgegen. „Ist etwas passiert? Ich wusste nicht…“

Die blonde Frau winkte ab und steckte den Ausweis wieder in ihre Manteltasche. Dabei konnte der Doc einen Blick auf ihren silbernen Kolt werfen, den sie am Gürtel trug und schluckte. Die Blonde bemerkte den Blick. "Verschwinde."

Als der Doc nicht sofort reagierte, entsicherte sie den Kolt. "Sofort." Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie wandte sich ab und schritt den Gang entlang. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und lauschte. Als sie die Augen wieder öffnete, lächelte sie und nickte den Männern zu. „Erster Stock, Zimmer am Ende des Ganges.“

Daraufhin stürmten sie los.

 

 

William setzte sie sanft aufs Bett zurück und ging zum Fenster. Als er auf die Straße hinausblickte, sah er einen schwarzen Kleinbus, der gerade anhielt. Eine Frau stieg aus. Als er sie sah, hatte er für kurze Zeit das Gefühl, sein Herz würde stehen bleiben. Welch Ironie. Er hatte inzwischen geglaubt, dieses Gefühl vergessen zu haben. Seine Brust zog sich zusammen und ihm blieb kurz die Luft weg. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, sah sie ihn fragend an. „Was ist los?“

Ihre Stimme. Zum ersten Mal hörte er sie. Und ohne dass er es wollte, antwortete er ihr. „Ich glaube du bist in Gefahr.“

William konnte die Stimme des Docs hören. Wie auf Kommando sprang Sam vom Bett und lief zur Tür. Dann sah er William an, als wolle er ihn  dazu bewegen, ihm zu folgen. William überlegte nur kurz. Wenn sie hierblieb war sie so gut wie tot, mit ihm hatte sie wenigstens eine Chance. Innerhalb einer Sekunde stand er neben ihr, schwang sie auf seine Arme und ging zum Fenster. „Du weißt, was du zu tun hast, mein Junge.“

Sam hechelte zur Antwort und war schon zur Tür hinaus, da hörte William ihre Schritte. Sie waren bereits auf dem Weg. Er sprang auf das Fensterbrett und spürte wie sie sich in seinen Armen versteifte. Ein Sprung aus dem ersten Stock stellte für ihn kein Problem dar, das Mädchen konnte vielleicht ein paar blaue Flecken davontragen. Schließlich war er nicht Superman und konnte so einfach aus dem Fenster fliegen. Ein Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Wenn der Mythos von Vampiren wahr wäre könnte er sich jetzt einfach ein paar praktische Fledermausflügel wachsen lassen und in die dunkle Nacht entschweben. Doch für Gedankenspiele war jetzt keine Zeit. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, doch ihr Griff war fest und bestimmt. Warum vertraute sie ihm? Er atmete noch einmal durch, sah auf den Gehweg unter sich, balancierte sich noch einmal richtig aus und stieß sich dann lautlos ab. In diesem Moment öffnete sich eine Tür hinter ihm und eine Frau betrat das Zimmer. In der Sekunde in der er sich umdrehte, sah er ihr kurz in ihre dunklen Augen und als er sie bereits aus den Augen verloren hatte hörte er einen Schuss. Ein stechender Schmerz durchdrang ihn, ein Gefühl dass er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Mehr aus Überraschung schrie er kurz auf, als er unten auf dem Gehweg aufkam. Kaum gelandet lief er auch schon los, während er weiterhin ihre Schüsse hinter sich hörte.

 

 

Emma schloss die Augen und krallte sich so fest an den Fremden, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Warum sie ihm traute wusste sie selbst nicht, aber es erschien ihr richtig. Sie hatte sich bis jetzt immer auf ihren Instinkt verlassen können und hoffte, dass er sich diesmal nicht täuschen würde.  Als er aus dem Fenster sprang, zog sich alles in ihr zusammen und sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde platzen. Schnelle Höhenveränderungen hatte sie noch nie gemocht. Doch der Schmerz währte nur kurz, dann ein kurzer Ruck, als sie auf dem Boden aufkamen. Emma konnte Schüsse hören, doch sie hielt die Augen geschlossen. Er lief los, in welche Richtung sah sie nicht und sie wollte es auch gar nicht wissen. Einfach weit weg von hier. Am liebsten wäre ihr gewesen, sie hätten sogar Deutschland verlassen, einfach weg von allem was in den letzten Tagen geschehen war. Bald hatte sie das Gefühl für die Zeit verloren, er rannte mit ihr auf den Armen, als hätte sie kein Gewicht und er schien auch nicht müde zu werden. Nach einiger Zeit öffnete sie die Augen und sah sich um. Die Gegend hier kam ihr nicht bekannt vor. Auf der rechten Seite befanden sich verlassene Gleise, links ragten verfallene Häuserblöcke empor. Einer nach dem anderen reckten sie sich in die Nacht, vereinzelt brannte Licht in den Baracken. Er war stehen geblieben und schien auf etwas zu warten. Emma festigte ihren Griff, auch wenn das nicht nötig war, er hielt sie noch immer fest und sicher in seinen Armen, und sah an ihm hinauf. Sein Haar stand in alle Richtungen davon, durch den Lauf hatte der Wind sie noch mehr zerzaust und die Lichter der Slums malten markante Schatten auf sein Gesicht. Und er roch gut. Schon die ganze Zeit über schlich sich sein Duft dezent in ihre Nase. Doch Parfum oder Duschgel war es nicht. Wahrscheinlich vom Laufen, dachte sie bei sich und ihr Herz machte einen Sprung, als sie bemerkte, dass er sie auch ansah. Der Moment währte nur kurz, denn ein leises Bellen riss seinen Blick herum. Als Emma ihm folgte, sah sie den schwarzen Hund um die Ecke kommen. Zielsicher lief er auf sie zu, in seinem Maul eine schwarze Sporttasche vor sich her tragend. Stolz lief er an ihnen vorbei und der Fremde folgte ihm, bis sie zusammen an einer der vielen Haustüren eines Häuserblocks ankamen.

„Ich lass dich jetzt runter“, flüsterte er. Warum wusste er wahrscheinlich selbst auch nicht, denn er räusperte sich und fügte in normaler Tonlage hinzu: „Wenn du möchtest kannst du hier bleiben.“

Emma fiel auf, dass er mit leichtem Dialekt sprach, war er etwa Engländer? Sie überlegte nur kurz. Sie nickte und er öffnete die Tür. Der Gang lag dunkel vor ihnen und Emma hielt sich ganz nah an ihm. Fünf Stockwerke gingen sie hoch, bis Emma ein kurzer Schwindel erfasste und sie sich abstützen musste. Er bemerkte es sofort und hielt sie fest. „Soll ich dich wieder tragen?“

„Nein“, winkte sie ab. Das atmen fiel ihr schwer. Was war nur mit ihr los?

„Du hast viel Blut verloren, es dauert bis sich dein Körper davon erholt hat.“ Ohne sie noch einmal zu fragen, hob er sie einfach noch einmal auf seine Arme.

„Aber ich sagte doch-“

„Ja hab ich gehört.“ Er ging weiter, ohne auf ihren Protest einzugehen und erklomm weiter die Stufen, noch einmal drei Stockwerke.

Als sie vor seiner Wohnungstür standen, ließ er sie wieder runter und sperrte auf. Keiner war zu sehen gewesen, auf ihrem Weg. Das ganze Gebäude war in erstaunlich gutem Zustand. Er hielt ihr die Tür auf und sie trat in die dunkle Wohnung. Die Jalousien waren geschlossen, kein Licht trat von außen ein. Unheimlich. Als hinter ihr die Tür ins Schloss fiel, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Der Schlüssel wurde herum gedreht, drei weitere Riegel vorgeschoben und die Kette vorgelegt. Wenn er ein Serienkiller war, wäre es jetzt eh zu spät, dachte sie bei sich und musste lächeln. Sie hörte das Zischen eines Streichholzes und das plötzliche Licht ließ sie blinzeln. Nach der langen Dunkelheit brannte sich das Licht schmerzhaft in ihre Augen, doch Emma gewöhnte sich schnell daran und sah sich um. Die Wohnung war nicht übermäßig groß, gleich links war ein Durchgang zur Küche, die Küchentheke ragte in den Wohnbereich, wie eine kleine Bar. Im Wohnzimmer stand eine weiße Couch mit einem kleinen Holztisch. Am anderen Ende des Raumes befand sich ein Kamin. Sehr schlicht. Der schwarze Hund ließ die Tasche im Flur fallen und schlenderte gemächlich in die Küche. Der Fremde folgte ihm und hantierte in der Küche rum. Emma nutzte die Gelegenheit und erkundete die Wohnung. Sie ging ins Wohnzimmer und sah sich um. Ein Bücherregal stand neben dem Kamin. Verschiedene, wohl wahllos zusammengewürfelte Bücher standen im Regal, von Comedy bis Thriller war alles vertreten, ließ nicht viel Rückschluss auf seine Vorlieben zu. Emma blinzelte verwirrt und fragte sich, weshalb sie sich über so etwas Gedanken machte. Da entdeckte sie Romeo und Julia und musste schmunzeln. Als sie das Buch näher betrachtete, erkannte sie, wie alt das Buch war. Der Buchrücken war ziemlich mitgenommen, die Lettern kaum noch lesbar. Erst jetzt kam Emma in den Sinn, dass es ja eine Julia in seinem Leben geben könnte. Aber wo war diese Frau dann jetzt? Schon wieder zu viele Gedanken in ihrem Kopf. Sie war gerade geflohen, vor wem, wusste sie nicht. Einfach so, ohne nach weiteren Gründen zu fragen, hatte sie ihm vertraut und war mit ihm gegangen. Und jetzt stand sie hier in der Wohnung eines Fremden und durchstöberte seine Wohnung. Und seltsamerweise war das keine unangenehme Situation. Als würde sie hierhin gehören. Ein Winseln aus der Küche brachte ihre Gedanken wieder zurück in den Augenblick und sie sah zur Küche, doch da war niemand. Wo war er denn hin? Sie ging zur Küche und als sie über die Theke sah, saß da nur der schwarze Hund und wedelte mit dem Schwanz. Als sie nach unten sah, entdeckte sie seine Jacke am Boden. Sie ging um die Theke und hob die Jacke auf. Emma wollte sie auf die Theke legen, als sie das  Blut entdeckte. Dann folgte sie dem Blick des Hundes zum Badezimmer. "Ist dein Herrchen da drin?"

 

William hatte die Tasche geöffnet und alles ausgepackt, was er gebraucht hatte. Als er sah, dass das Mädchen abgelenkt vor dem Bücherregal stand, nahm er die Chance wahr und zog seine Jacke aus. Bereits kurz nach dem Sprung hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte. Das schwarze Miststück hatte ihn getroffen. Der Schmerz brannte sich wie Feuer in seine rechte Seite und er spürte bereits wie es warm an seinem Bein herunter rann. Als er im Bad war, zog er seinen schwarzen Pullover aus und schmiss ihn in die Badewanne, ihn musste er später entsorgen. Schade, er hatte das Teil gemocht. Wenn er die Blonde wieder traf, würde er sich dafür revanchieren, dachte er bei sich als er die Wunde kritisch betrachtete. Das Loch war nicht groß, wie weit die Kugel eingetreten war wusste er nicht, doch das war noch nie sein Problem gewesen. Sobald die Heilung einsetzte, würde der Körper sie abstoßen. Doch was ihm Sorgen bereitete war, dass es überhaupt noch schmerzte. Das war ungewöhnlich. Sein Gewebe sollte schon wieder anfangen sich zu regenerieren, aber das tat es nicht. Und um das Eintrittsloch hatten sich seine Adern lila verfärbt. Was war das für ein Teufelsgeschoss? In all den Jahren die er jetzt unsterblich war, hatte er so etwas noch nie gespürt. Ob es die Ungewissheit war oder vielleicht doch Todesangst konnte er nicht genau sagen. Was für eine Ironie. Nichts hatte er sich am Anfang mehr gewünscht, als dies alles zu beenden. Doch jetzt war er nicht mehr bereit dazu. Er musste herausfinden, wer oder vielleicht auch was die Blonde war und warum sie es auf das Mädchen abgesehen hatte. Und er musste Adam zur Strecke bringen. Er nahm die Pinzette zur Hand und atmete tief ein. Mit der anderen Hand versuchte er so gut es ging die Eintrittsstelle frei zu machen und ging ohne zu zögern mit der Pinzette hinein. Der Schmerz war kaum erträglich, doch er suchte weiter nach der Kugel. Solang das Ding in ihm drin blieb würde es nicht heilen, das spürte er. Eine scheinbare Ewigkeit stocherte er herum, bis er sie endlich spürte. Verflixtes kleines Ding. Er zog sie mit einem Ruck heraus und warf sie in das Waschbecken. Sie war nicht viel größer als ein halber Fingernagel aber ungemein wirkungsvoll. Eine kleine silberne Kugel schimmerte vor seinen Augen. Wie klischeehaft, dachte er noch, bevor ihn plötzlich ein Schwindel erfasste. Er sah wie sein Blut aus der Wunde herauslief und jeder Tropfen brannte sich seinen Weg durch die Wunde. William versuchte sich am Waschbecken festzuhalten, als es ihm die Beine wegzog, doch seine Finger waren voller Blut und er rutschte weg. Die kalte Dunkelheit umfing ihn.

 

Emma wusste nicht, was sie tun sollte. Der Hund war zum Bad gelaufen und scharrte an den unteren Türschlitz, als wolle er sich unten durch buddeln. Sie klopfte an der Tür, doch niemand antwortete. Was solls, dachte sie bei sich. Schlimmstenfalls stand er unter der Dusche. Sie öffnete vorsichtig die Tür und schob mit einem Bein den Hund zur Seite, der sich ebenfalls hineindrücken wollte. Als sie ihn blutüberströmt am Boden liegen sah, kamen unerwünschte und lang unterdrückte Erinnerungen hoch, Erinnerungen, die sie schon vergessen geglaubt hatte. Doch sie durfte jetzt nicht versagen. Der Mann hatte ihr das Leben gerettet, wahrscheinlich zumindest. Sie konnte ihn so nicht liegen lassen. Sie hatte die Schüsse gehört, sich jedoch keine Gedanken darüber gemacht. Er hatte sich nichts anmerken lassen, doch anscheinend hatte eine Kugel getroffen. Emma atmete so flach wie möglich und sah sich schnell um. Der Verbandskasten lag am Waschbecken, er hatte sich bereits alles zusammengesucht. Sie kniete sich neben ihn und kontrollierte seine Atmung. So weit so gut. Dann fing sie an, die Wunde zu säubern und einen Druckverband anzulegen. Sie Wunde blutete noch immer heftig und die Rötung darum machte ihr Sorgen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Hoffentlich bekam er keine Blutvergiftung. Als sie sicher war, dass er notdürftig aber sicher verarztet war, hakte sie sich bei ihm unter und hob ihn hoch. Er war zwar kein Fliegengewicht, aber Emma schaffte es ihn unter immenser Anstrengung zum Schlafzimmer zu tragen. Sterne tanzten vor ihren Augen und ihr Kopf wurde schwer. Jetzt nicht ohnmächtig werden, dachte sie bei sich und lehnte sich am Türrahmen an.  Sie blieb kurz stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und als sie das Bett erkennen konnte, legte sie ihn vorsichtig darauf. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück, holte eine Decke von der Couch und deckte ihn damit zu. Als sie damit fertig war und sich vergewisserte, dass es ihm ansonsten gut ging, setzte sie sich erschöpft neben ihm aufs Bett. Wie so oft hatte sie funktioniert. Alles andere ausblenden und sich nur auf diese eine Sache konzentrieren, hatte ihre Psychologin gesagt. Und seitdem handhabte sie es so. Doch jetzt, wo die Arbeit getan war und sie ihn beim Schlafen beobachtete, begannen ihre Gedanken zu kreisen. Fragen tauchten in ihrem  Kopf auf, die sie sich lange gestellt aber nie jemandem erzählt hatte. Warum war es ausgerechnet in dieser Nacht geschehen? Warum hatte er auf sie gewartet? Hatte er gewollt, dass sie zusah? Wie so oft erhielt sie keine Antwort. Emma ließ sich in die weichen Kissen zurückfallen und sah zu ihm hinüber. Sie kannte nicht mal seinen Namen und doch war es ihr, als kannte sie ihn schon immer. Es war ein seltsames Gefühl, das nicht zu erklären war. Vielleicht gab es ja wirklich so etwas wie Reinkarnation und sie kannten sich aus einem früheren Leben? Bei dem Gedanken hätte Emma beinahe laut losgelacht. So ein Schwachsinn. Es gab kein Leben nach dem Tod. Kein Gott, keine Engel, kein Himmel. Mit dem Tod ihres Vaters war dieses Lügengebilde in sich zusammengefallen und seitdem glaubte Emma nur noch an das, was sie anfassen und sehen konnte. Gott will, dass wir glauben, hatte ihr Vater damals zu ihr gesagt. Glauben, wie lachhaft. An etwas glauben, dass nicht existiert. Wissen. Wissen ist das einzige auf das sie sich verlassen konnte. Und was sie wusste war, dass jeder einmal sterben musste und dann war es vorbei. Emma ertrug es nicht länger sein engelsgleiches Gesicht zu betrachten und sah aus dem Fenster. Hier waren die Jalousien geöffnet und gaben den Blick zum Balkon und zu den Sternen frei. Das Universum schien sie anzusehen und zu sagen: Hier ist kein Platz für einen Gott. Nur die ewige Weite der Dunkelheit. Wie in Emmas Herzen. Ihr Blick wurde müde und die Erschöpfung des Tages traf sie mit aller Wucht. Emma schlief ein.

Hinter ihr beobachteten sie auf der Kommode Williams Fotografien, die ihn mit Adam zeigten, eines mit Johanna am Tage ihrer Hochzeit, und eines von seiner Familie aus dem Jahre 1820, wo er gerade mal 19 gewesen war.

Kapitel 5

 

"Mit einer kurzen Bewegung ihres Fingers schoss das rote Leben in seine Adern..."

 

 

V

 

Der erste Tag

 

 

Ein stechender Schmerz fuhr durch Williams Körper, Stromstöße, die ihn sofort hellwach werden ließen. Er hatte das Gefühl, als würde sich ein Feuer durch seinen Magen fressen, sein Körper glühte, als würde er von Innen verbrennen und trieb ihm Schweiß auf die Stirn. Als er die Augen öffnete und sich aufsetzte, tanzten ihm Sterne vor den Augen und der Raum fing an, sich um ihn herum zu drehen. Er versuchte, alles um sich herum zu erfassen, die Wände, die Bilder, die geschlossenen Jalousien, den Verband um seinen Bauch... Alles war verschwommen, sein Geist, seine Visualisierung, alles verschwamm doppelt vor seinen Augen und er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Er wusste nur eins, sein Körper  brauchte Blut, sofort.

Ein Geruch stieg ihm in die Nase, süß und verheißungsvoll. Als er neben sich sah, schoss ein Lavastrom durch seinen Kopf und Erinnerungen schlugen auf ihn ein. Blondes Haar, so wie es neben ihm lag. Schnee und Blut. Eine Pistole, ein Schuss. Blut. Auf weißen Fliesen. Auf Schnee. Immer wieder Schnee und Blut. Grüne Augen in der Dunkelheit, die ihn anschauen, bevor erneut alles schwarz wird. Der Schmerz ließ langsam nach und sein Bild wurde klarer. Ein Mädchen lag mit dem Rücken zu ihm, ihr helles Haar bedeckte ihr Gesicht und William gab dem Impuls nach und beugte sich leicht über sie. Als er ihr sanft das Haar aus dem Gesicht strich, erfasste ihn ihr Geruch, so intensiv, dass er sofort seine Hand zurückzog und Mund und Nase bedeckte. Sein Hunger wurde stärker. Es wäre so einfach, so nah lag sie neben ihm. Einfach nur ihr Haar zur Seite schieben, seine Zähne tief in ihren Hals schlagen, sich satt trinken. Noch immer war er über ihr, seine Nasenspitze wanderte nur wenige Millimeter über ihrem Haar, ihrer Wange, der zarten Haut ihres Halses. Kein Atemhauch verriet ihn, kein Geruch, kein Geräusch. Nichts würde sie aus ihrem Schlaf wecken. Sie roch nach Candy Cotton und Earl Grey, herbsüß und verboten. Noch nie hatte William so etwas gerochen, einen Mensch, der so einen süßen Duft hatte. Seine Nase wanderte ihre Schulter hinauf und sog sie ganz tief ein. Menschen rochen normalerweise nach Schweiß und Angst, nach Deodorant oder Parfum. Verfälschte Gerüche, die seine Nase penetrierten, sie fast schon beleidigten. Doch dies Frau hier roch so ganz anders. Er spürte, wie seine Reißzähne länger wurden und zog sich langsam zurück. Eine unsichtbare Hand zog ihn rückwärts, obwohl er doch nichts lieber gewollte hätte, als ihren Geschmack in sich aufzunehmen, zu schmecken und sich satt trinken... Schon lange hatte er sich keiner Versuchung mehr gegenüber gesehen, die so groß gewesen war. Schmerz durchzuckte ihn mit einem Schlag, sein Körper zog sich zusammen und schrie nach Blut. Blut, um seinen Schmerz zu stillen, Blut um sich zu heilen. Er biss die Zähne zusammen und fühlte wie er sich mit seinen Zahnspitzen die Unterlippe aufbiss. Er schlug die Decke zurück. Im Nebenzimmer hatte er einen kleinen Vorrat an Blutkonserven. Er musste nur an ihn rankommen. Er wollte aus dem Bett steigen, als ihn eine weitere Welle überrannte und ihm die Beine versagten. Mit einem dumpfen Schlag kam er auf dem Boden auf und er konnte fühlen, wie die Bauchwunde erneut aufriss. Das Blut fing an wie das Leben aus ihm heraus zu laufen und wenn er keinen Mord an dieser Frau begehen wollte, musste er so schnell wie möglich hier raus. Er versuchte, aufzustehen, doch die Kraft fehlte ihm dafür. Er musste lächeln, als ihm bewusst wurde, wie schmerzlich er das vermisst hatte. Schmerz und Angst hatte er schon lange nicht mehr empfunden und nicht gedacht, dass er es jemals wieder tun würde. Er schleppte sich langsam bis zur Tür und lehnte sich am Türrahmen an. Er atmete einmal tief durch, eine Bewegung, die ihm gar nicht bewusst war, und schleppte sich weiter, eine rote Blutspur hinter sich herziehend.

 

 

 

Das Blut war überall. An den Wänden, an der Decke, überall auf dem Boden. Als hätte man sich mit einem Eimer roter Farbe einmal im Kreis gedreht. Der Gestank war unerträglich, er kroch in ihre Nase und weckte sie schließlich. Wie ein Ertrinkender rang sie nach Sauerstoff, füllte ihre Lungen mit der eisernen Luft, als wäre es ihr letzter Atemzug. Sie keuchte und zog sich langsam hoch, doch der Stuhl rollte weg und als sie mit einem dumpfen Geräusch wieder auf dem Boden aufschlug, presste es ihr erneut die Luft aus der Lunge. Ein Schmerz durchfuhr sie, wie sie ihn noch nie gespürt hatte und die Dunkelheit umfing sie erneut.

 

Emma erwachte schlagartig und wäre beinahe aus dem Bett gefallen. Sie schob alles von sich, was sie irgendwie bedeckte und setzte sich auf die Bettkante. Sie atmete tief ein und aus und versuchte sich zu beruhigen, die furchtbaren Bilder in ihrem Kopf zu vergessen. Sie schloss die Augen, doch sofort sprang ihr das Blut wieder vor Augen und sie öffnete sie sogleich wieder. Sie konzentrierte sich auf den Boden unter ihren Füßen und atmete gleichmäßig und ruhig. Ein Jahr war seither vergangen und noch immer quälten sie diese Erinnerungen. Die einzigen, die sie hatte. So oft hatte sie versucht, sich an etwas anderes zu erinnern. Ein Bild, ein Gesicht. Die Jahre, als sie noch ein Kind war. Doch nichts kam zurück. Dieser Vorfall war das einzige, woran sie sich noch erinnern konnte. Alles was davor war, wer sie selbst war, lag im Dunkeln. Ihre ID an ihrem Handgelenk hatte ihr zumindest eine Identität verraten. Einen Namen, eine Adresse. Dort hatte sie zumindest einige Dinge in Erfahrung bringen können. Doch vieles war ihr noch verschlossen und der Doc, der sie damals behandelt hatte, konnte ihr ein Wiedererlangen ihrer Erinnerung nicht garantieren. Doch daran durfte sie jetzt nicht denken, sie hatte es die letzten Monate auch ohne Vergangenheit geschafft und das würde sich auch jetzt nicht ändern. Wenn es geschehen sollte, würde es geschehen. In der heutigen Zeit fing man fast jeden Tag wieder von vorne an. Sie löste ihren Blick von ihren Füßen und sah sich um. Dabei fiel ihr Blick auf die Fotos auf der Kommode und sie fragte sich, wer heutzutage noch richtige Fotos besaß. Kaum jemand. Emma stand auf, um sie näher zu betrachten. Sie zeigten eine Familie in vermutlich viktorianischer Kleidung, zwei Erwachsene und einen jungen Mann. Emma fiel sofort die verblüffende Ähnlichkeit zu ihrem Retter auf. Sie wollte gerade den Rahmen in die Hand nehmen, als sie ein seltsames Kribbeln im Nacken spürte. Sie hatte das Gefühl, jemand stünde hinter ihr, ein Schatten, den sie mehr ahnen als sehen konnte. Langsam nahm sie ihre Hand zurück. Sie wusste nicht weshalb, doch sie wagte nicht, sich zu bewegen. Sie spürte ihn hinter sich, obwohl er kein Geräusch verursachte. Alles war still. Aber seine Präsenz drückte auf sie, dass es bald unerträglich wurde und sie drehte sich schlagartig um. Das Zimmer vor ihr lag leer. Die Bettdecke lag halb auf dem Boden und von dem jungen Mann war nichts zu sehen. Was hatte Emma gespürt? Und wo war er hin? Sie ging um das Bett herum und sah die Blutspur, die aus dem Zimmer führte. Schon wieder Blut... Der Geruch suchte sich seinen Weg zu ihr und sie hielt die Hand vor Mund und Nase. Hatte sie deshalb wieder geträumt? Langsam folgte sie der Spur, bis zum Nebenraum. Die Tür stand halb offen und er lag davor auf dem Rücken und Emma konnte die Wunde erkennen, die wohl wieder aufgegangen war und wie das Blut an seinem Bauch hinunter lief. Er schien wohl ohnmächtig geworden zu sein und sie beugte sich über ihn. Sie versuchte, den Puls zu finden, doch ergebnislos. Kurz blieb ihr Herz stehen und sie tastete an seinem Hals nach der Schlagader, doch sie konnte keine pulsieren spüren. Sie horchte an seiner Nase nach Atemgeräuschen, doch auch da wurde sie enttäuscht. Langsam machte sich Panik in ihr breit. Der schwarze Hund kam angetrabt und setzte sich schwanzwedelnd neben sie. Wie konnte er so unbedarft sein, wenn sein Herrchen vielleicht schon tot war? Sie schob ihn bestimmend zur Seite und ging in eine stabile Hocke.

"Du wirst mir hier nicht wegsterben, verstanden?" Emma wusste nicht, ob sie mit ihm oder doch mehr zu sich selbst sprach. Sie wusste nur, dass sie nicht noch jemand verlieren durfte. Sie begann mit der Herzmassage und drückte so fest sie konnte. Dann beatmen. Wieder Massage. Wieder beatmen. Auch wenn es ein schlechter Zeitpunkt war, an so etwas zu denken, kam ihr doch währenddessen ein Gedanke in den Sinn. Sie küsste gerade einen fremden Mann. Dieser Gedanke ließ sie die ganze Zeit über nicht los. Sie versuchte, sein Leben zu retten. Es war nichts verwerfliches daran und dennoch spürte sie, wie ihr die Wärme in die Wangen schoss. Sie redete sich ein, dass es von der Anstrengung kam und machte weiter. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und war beinahe davor, aufzugeben, als er sie bei der letzten Beatmung plötzlich packte und an sich drückte. Sie war zu überrascht, um zu reagieren und so ließ sie es einfach zu. Sein Mund war nicht mehr kalt auf dem ihren, sondern warm und weich und er schmeckte einfach wunderbar. Noch so ein Gedanke, der völlig fehl am Platze war, doch sie konnte nicht umhin. Seine Hände hielten sie fest am Hals und zwischen den Schultern und sein Kuss wurde fordernder, härter. Sie gab sich ihm hin und er schien es zu spüren, seine Hand wanderte an ihrem Körper auf und ab, krallte sich in ihr Haar und er riss sie herum. Er lag jetzt auf ihr, fest an sie gepresst und sie konnte sein Blut auf ihrer Haut spüren. Doch es war ihr egal. Emma war in diesem Moment gefangen und sie wünschte er würde nie enden. Und dann tat er es. Ruckartig löste er sich von ihr und rutschte zurück an den Türrahmen, die Hand fest vor den Mund gepresst. Die Augen vor Schock geöffnet, starrte er sie an. Sein Atem ging schnell und fast dachte sie, er müsse sich übergeben. Dann schluckte er fest und nahm die Hand wieder weg, stützte sich an ihr ab und atmete tief durch die Nase. Emma beobachtete ihn verwirrt und wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte. Was war hier gerade geschehen? Sie konnte es sich selbst nicht erklären. War sie so? Sie hatte sich anders eingeschätzt, doch wer wusste schon, wer sie selbst früher war? Langsam schien er sich zu beruhigen.

"Was ist passiert?", flüsterte er, ohne sie anzusehen.

Emma zögerte kurz. Wenn sie das doch nur selbst wüsste!

"Ich hab dich gefunden. Dein Herz ... es... " Sie fand keine Worte mehr. Sie saß einfach nur da und sah ihn an. Etwas schien sich an ihm zu verändern. Emma glaubte ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen gesehen zu haben. Er hielt die Luft an und schien darauf zu warten, was sie als nächstes sagen würde.

Sie gab sich einen Ruck. "Es hat nicht mehr geschlagen. Und du hast nicht mehr geatmet..."

Er biss sich auf die Lippe und sie sah wie er die Fäuste ballte. Sein ganzer Körper stand unter Spannung seine Muskeln bewegten sich unmerklich.

"Und dann?", brachte er gepresst hervor. Noch immer sah er sie nicht an. Zuerst küsste er sie leidenschaftlich und dann konnte er sie nicht mal mehr ansehen? Plötzliche Wut erfasste sie und Emma kroch zu ihm rüber. Sie wollte ihn zwingen sie anzusehen, doch er ignorierte ihre körperliche Präsenz komplett und starrte auf den Boden.

"Und dann? Ich hab versucht, dich zu retten!" Emma schrie ihm fast ins Gesicht. "Was denkst du denn? Dass ich dich einfach liegen lasse? Und anscheinend hat es ja auch funktioniert! Ich war nicht diejenige, die angefangen hat!"

Erst als die Worte aus ihrem Mund gekommen waren, kam ihr in den Sinn, dass er vielleicht gar nicht das Küssen gemeint hatte und kam sich mit einem Mal ziemlich dumm vor. Er war verletzt und vielleicht sogar kurzzeitig tot gewesen. Und sie machte wegen einem Kuss so ein Theater... Seufzend setzte sie sich und sah in den dunklen Raum. Noch immer zitterte er und langsam sah er sie an. Sah sie wirklich an. Emma konnte seinen Blick spüren, doch sie wagte nicht, ihm zu begegnen, sie war so naiv und es war ihr peinlich.

"Hab ich dich verletzt?" Seine Stimme klang so zerbrechlich, dass sie ihn unvermittelt ansah. Seine blauen Augen sahen in ihre und beinahe hätte sie alles um sich herum vergessen. So stechend blau, wie ein kühler Novemberhimmel, so verletzlich, so... besorgt?

"N-Nein...", stammelte sie und hätte sich selbst ohrfeigen können.

Die Anspannung fiel von ihm ab und er lehnte sich seufzend an den Türrahmen zurück. "Gut."

Emmas Blick fiel auf seine Wunde und sie stand auf und wollte Richtung Bad gehen. Seine Hand umfasste ihr Bein und hielt sie zurück. "Nicht."

"Was nicht?"

Er hatte ihr Bein fest im Griff. "Nicht ins Bad." Und zeigte in den dunklen Raum. "Please."

Emma zögerte nur kurz und er ließ sie los, als sie sich umwandte und in die andere Richtung ging. Sie öffnete langsam die Tür und sah hinein. Er war fast leer, nur auf der linken Seite stand ein großer Kühlschrank und daneben ein Metallschrank.

"Den Kühlschrank. Die unterste Tür. Ich brauche alles", hörte sie ihn hinter sich. Seine Stimme war nur ein Flüstern und sie befürchtete fast, er würde wieder ohnmächtig werden. Was auch immer es war, was er brauchte, sie durfte nicht so rumtrödeln. Also ging sie schnellen Schrittes zum Kühlschrank und riss die unterste Türe auf. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber nicht das. Drei Schaumstoffboxen standen aneinander gereiht, mit Ablaufdatum und etlichen anderen Zahlen bedruckt, ein Abklemmband und ein Applikator. Der Applikator war eine kleine silberne Pistole, mit der man sich selbst Flüssigkeiten injizieren konnte. Man setzte das Röhrchen oben in die Schiene und setzte an die Haut an. Wenn man den Abzug betätigte, schoss eine Säule die Flüssigkeit innerhalb einer Sekunde ins Gewebe. War ihr Retter also ein Junkie? Sie nahm die erste Box, das Band und den Applikator und breitete es kurzerhand neben ihm aus.

Er hatte die Augen wieder geschlossen, doch sein Atem ging gleichmäßig. Emma machte sich daran, die Box zu öffnen. Sie zerschnitt die Versiegelung mit ihrem Fingernagel, sie war nicht sehr stabil, und öffnete den Deckel. Im Inneren befand sich ein Tablett, in dem achtundzwanzig Röhrchen steckten. Emma nahm eins heraus und sah es sich genauer an. Eine dunkelrote Flüssigkeit schwappte im Inneren hin und her, wenn sie es schwenkte. "Blut?"

"Ja." Er hatte die Augen geöffnet und sah sie abwartend an. Sie erwiderte seinen Blick nur kurz und sah dann wieder auf das Röhrchen. Sie drehte es zwischen ihren Fingern hin und her, als könnte es ihr etwas verraten, dass sie noch nicht verstand, doch nichts geschah.

"Wofür?" Sie fragte zwar, dennoch machte sie sich daran, seinen Oberarm mit dem Abklemmband zu umwickeln. Als sie es festzog, zuckte er kurz und sah sie an. Sie konnte seinen Blick nicht deuten und lange schien es ihr, als würde sie keine Antwort erhalten. Sie nahm den Applikator und setzte das Röhrchen ein. Dann setzte sie sich neben ihn.

"Ich werde dir helfen, egal wie die Antwort ist." Sie nahm seinen Arm und setzte an. Dann sah sie ihm direkt in die Augen und er erwiderte ihren Blick. Sie wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen, doch sie blieben hinter diesem wunderbaren Blau verborgen. "Nur gib mir eine." Sie verharrte in dieser Position. Würde sie ihn so zu einer Antwort bewegen? Emma konnte warten. Warum sie unbedingt eine Antwort von ihm wollte, konnte sie selbst nicht sagen. Vielleicht, weil sie auf so vieles in ihrem Leben keine Antworten erhalten hatte, wollte sie nicht mehr so weiter machen.

Sie hatten sich gegenseitig gerettet, sich geholfen, sich vertraut. Emma konnte fühlen, dass es etwas zwischen ihnen gab, auch wenn sie es nicht genau bestimmen konnte. Vielleicht musste sie das ja gar nicht. Aber sie wollte wenigstens wissen, weshalb er Blut in Röhrchen abgefüllt in seinem Kühlschrank Zuhause lagerte.

Er atmete tief aus und gab sich geschlagen.

"I promise."

Mit einer kurzen Bewegung ihres Fingers schoss das rote Leben in seine Adern. Er hielt kurz die Luft an, als sich die Nadel wieder zurück zog. Als Emma den Applikator wegnahm, konnte sie den kleinen roten Einstichpunkt erkennen.

"Noch eine."

Emma sah ihn kurz an. Er hatte den Kopf zurückgelegt, wie ein Junkie, der sich gerade einen Schuss gesetzt hatte. Sie hatte schon viele von ihnen gesehen, doch noch keinen, der das mit Blut probiert hätte.

Sie zog die Box neben sich und zog ein zweites Röhrchen heraus. Und erneut betätigte sie den Abzug.

Kapitel 6

 

"Egal was sich sage, nur das, was du glaubst, wird für dich die Wahrheit sein "

VI

Vergangenheit

 

 

Irland, 08. September 1798

 

Er keuchte. Sein Atem ging schwer, doch er musste sich beruhigen, sonst würde es ihn noch verraten. Er drückte sich fest an den Baumstamm und hoffte, das Laub würde ihn genug verstecken, bis sie vorüber waren. Regen ergoss sich aus dem Himmel über ihm, der Boden war rutschig und voller Matsch, die Gefechte der letzten Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen. Kälte kroch unter seine durchnässte Kleidung und ließ ihn zittern. Seine Hände umkrampften seine Muskete so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Vorsichtig spähte er um den massiven Baumstamm herum. Viel konnte er nicht erkennen, der Regen fiel sehr dicht und es wurde bereits dunkel. Er konnte ihre Rufe hören, doch er verstand sie nicht. War es Freund oder Feind? Den Unterschied kannte er schon länger nicht mehr. Seit Bruder gegen Bruder kämpfte, Freund gegen Freund und irgendwie jeder gegen jeden, wusste er schon lange nicht mehr, wem er noch vertrauen konnte. Nur einmal mit der falschen Person gesprochen oder gesehen worden, hing man schon am Galgen. Die Briten gingen nicht zimperlich mit den Rebellen um, zu lange dauerte der Bürgerkrieg in Mayo bereits, zu lange leisteten die Aufständischen schon Widerstand. Und mit dem Versuch, Dublin einzunehmen, hatten sie die britische Armee nur noch mehr gegen sie aufgebracht. Frei sein, unabhängig sein, war alles was er wollte. Nicht länger die Unterdrückung der britischen Krone hinnehmen müssen. Die irische Bevölkerung litt unter der britischen Knechtschaft, täglich verhungerten Kinder um ihn herum, zu schwach und zu gebrechlich waren ihre jungen Körper. Wenn nicht junge, starke Männer wie er, wer würde dann für sie kämpfen? Anfangs war das noch ein schöner Gedanke gewesen, doch nachdem die ersten Brüder neben ihm gefallen waren, war alles nur noch grau und verzweifelnd geworden. Was als kurze Rebellion gedacht war, zog sich nun schon seit Monaten hin und statt gemeinsam gegen ihren einen Feind zu marschieren, wandten sie sich nun gegeneinander und verrieten und verkauften und ermordeten sich gegenseitig.

Der Regen tropfte von seinen Haaren und er wischte sie sich aus dem Gesicht. Noch immer waren die Stimmen um ihn herum zu hören. Doch er durfte kein Risiko eingehen. Man konnte nie sicher sein, wer noch auf der selben Seite stand. Am besten von niemand gesehen werden, ein Schatten bleiben und untertauchen, bis sich alles beruhigt hatte. Er wusste, dass er sich wie ein Feigling benahm. Doch er hatte schon früh gelernt, zu überleben, auch wenn es manchmal bedeutete, sich zu verstecken und zu warten. An einen Sieg der United Irishmen glaubte er schon lange nicht mehr, zu oft waren sie von den britischen Truppen überrannt worden und für ihn grenzte es schon jetzt an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Nicht nur zu einer Gelegenheit war er dem Tode nur knapp entronnen und er würde sich auch jetzt nicht von ihm erwischen lassen. Er war dabei gewesen, als die Rebellen noch vor wenigen Tagen mit Hilfe einiger Hundert Franzosen die Tore von Castlebar gestürmt hatten. Mit solch einem Ansturm hatten die Briten nicht gerechnet und am Ende blieb den Überlebenden nur noch die Flucht. Bei dem Gedanken daran fasste er unabsichtlich an seine vernähte Wunde. Knapp unterhalb des Herzens hatte ihn Degen durchbohrt, er hatte Glück gehabt, nur ein paar Zentimeter und er wäre sofort tot umgefallen. Doch er war noch so geistesgegenwärtig gewesen, trotz des plötzlichen Stiches, nach seinem Dolch zu greifen und ihn seinem Gegner direkt ins Herz zu rammen. Danach hatte der Schmerz eingesetzt und nach Luft ringend hatte er sich aus dem Getümmel geschleppt. Er hatte gespürt, wie das Leben aus ihm herausgeronnen war, so sehr er auch auf die Wunde gedrückte hatte, und hatte sich das Gemetzel um sich herum angesehen, als wäre er selbst gar nicht da gewesen, als würde er alles aus der Sicht eines anderen beobachten. Er hatte kaum noch die Gestalten erkannt, hatte nur Mann gegen Mann kämpfen sehen und alles so sinnlos gefunden. Alles war ihm einerlei geworden und erschöpft hatte er seine Hand sinken lassen. Was nützte das noch? Der nächste, der an ihm vorbei gekommen wäre, hätte ihn sowieso erledigt.

Doch es war einer seiner Brüder gekommen und hatte ihn mit sich hochgezogen. Er hatte sein Gesicht zuerst nicht erkannt, sein Blick war verschwommen gewesen und seine Augen waren immer schwerer geworden. Er hatte gespürt, wie er Treppen hinuntergezogen wurde und hatte kaum die Kälte des Raumes gefühlt. Sein Retter schien unermüdliche Kraft zu besessen zu haben, bestimmt hatte er ihn mit sich weiter geschleppt. Er hatte das Zeitgefühl verloren gehabt, zwischendurch war er ohnmächtig geworden und erst wieder erwacht, als Regen ihm ins Gesicht gepeitscht hatte. Und er war allein gewesen.

Seither schlug er sich allein zur Küste vor, was bei dem Aufgebot an britischem Militär nicht einfach war, vor Allem da er sich seine Wunde selbst provisorisch vernäht hatte und seine Kräfte am Ende waren. Er wunderte sich, dass sie sich noch nicht entzündet hatte, so wie er es schon oft gesehen hatte. Auch das schrieb er seinem gottverdammten Glück zu, dem Tod von der Schippe zu springen.

Er lehnte sich an den Baum zurück und schloss die Augen. Versuchte ihre Standpunkte heraus zu hören, ihre Schritte, ihre Stimmen, doch der Regen verzerrte alles. Seine Beine wurden schwer und er ließ sich ins Gras sinken. Er hatte es nicht so weit geschafft, dass sie ihn jetzt erledigen würden. Er spürte wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als er einen Entschluss fasste. Wenn sie kamen, würde er sich ihnen stellen. Dies war ein Moment an dem er sich nicht verstecken durfte. Jetzt musste er mutig sein, tapfer, und kämpfen. Er hörte ein Knacken neben sich und fuhr herum, die Waffe im Anschlag, bereit zum Schießen. Doch niemand war da, nur der Regen, der vor ihm auf den Boden fiel. Und dann spürte er die Mündung in seinem Rücken.

"Ich habe lange nach dir gesucht." Ein Brite, er erkannte es an seinem Akzent. Er wagte nicht, sich zu bewegen. "Ein Wunder, dass du es überhaupt so weit geschafft hast. Und wenn das so bleiben soll, solltest du besser von hier verschwinden. Sie sind überall um uns herum und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich erwischen."

Sie? Aber er war doch einer von ihnen?

"Sie? Du bist doch einer!" Selbst mit einer Muskete in seinem Rücken hatte er seine Stimme nicht verloren.

"Wie man's nimmt." Er spürte wie er die Waffe wegnahm  und langsam drehte er sich um. Vor ihm stand ein junger Mann mit schwarzem Haar, genauso durchtränkt wie er und in der Rüstung der Briten. Ein Rotrock.

"Siehst aber ziemlich danach aus."

Er sah an sich hinab. "Nur Kleidung."

Etwas erweckte seine Aufmerksamkeit und er verschwand um den Baum und aus seinem Blickfeld. Als er ihm folgte erkannte er den Grund: Eine Gruppe von mehreren Dutzend Briten kam genau auf sie beide zu. Sofort sprang er wieder hinter den Baum, in der Hoffnung, nicht bemerkt worden zu sein. Der andere tauchte kurz darauf hinter ihm auf.

"Wie schnell kannst du laufen?"

Da musste er nicht lange überlegen. "Schnell."

"Dann lauf!" Er packte ihn am Kragen und schob ihn vorwärts. Dann wandte er sich ab, das Gewehr im Anschlag. "Ich komme nach. Ich hab dich ja schließlich schon einmal wieder gefunden." Fast glaubt er, Belustigung heraus zu hören. Wie konnte er in so einer Situation einen Witz machen? Er ließ es sich jedoch nicht zweimal sagen und rannte los, während er hinter sich die ersten Schüsse hörte. Doch er drehte sich nicht um und seine Füße schlitterten über den nassen Boden, dem Donner den Rücken zugewandt, so schnell ihn sein Körper noch laufen ließ.

 

Es dunkelte bereits, als er das nächste Dorf erreichte. Bis jetzt war er nur einzelnen Truppen begegnet und konnte ihnen immer gut ausweichen. Doch sein Körper versagte langsam seinen Dienst und er musste sich unbedingt ausruhen. Seine Beine spürte er schon lange nicht mehr, ebenso seine Finger und seine Machete entglitt ihm immer wieder. Er saß schon einige Zeit in Sichtweite des Dorfes hinter einer Hecke und überlegte, ob er es wagen konnte. Wenn er Glück hatte, würde ihn jemand aufnehmen, wenn nicht, würde er an die Rotröcke verraten werden. Falls er noch länger hier blieb würde er erfrieren. In dem Sinne konnte er nur gewinnen. Und hoffen dass noch nicht alle Iren der britischen Krone Treue geschworen hatten. Vorsichtig verließ er seine Deckung und lief gebückt auf das nächste Haus zu, in dem noch Licht brannte. Er hielt sich nah an der Mauer und sah über die Schulter in das nächste Fenster. Viel konnte er nicht erkennen, nur einen Wohnraum, in dem ein verheißungsvolles Kaminfeuer brannte. Eine Tür öffnete sich und eine Frau kam herein. Sonst niemand. Sie setzte sich vor das Feuer auf einen Stuhl und widmete sich wohl einer Handwerksarbeit. Wo war der Mann? Wenn er Glück hatte, war er ein Widerstandskämpfer wie er, vielleicht im Moment noch in ein Scharmützel verwickelt oder aber bereits im Kampf gefallen. Er beschloss, es zu riskieren.

Er kroch zur Ecke, sah sich noch einmal um und stand auf. Er ging zur Tür und bevor er klopfte, strich er sich noch einmal seine Rüstung zurecht, warum wusste er auch nicht. Vielleicht aus Gewohnheit. Schließlich klopfte er mitten in der Nacht an die Tür einer Frau, da konnte er zumindest ordentlich aussehen, auch wenn es ihm beschissen ging.

Noch in Gedanken versunken, erschrak er kurz, als plötzlich die Tür aufging und Licht auf seine Schuhe fiel. Eine junge Frau sah ihn an, sie hatte sich eine Decke gegen die Kälte über die Schulter geworfen und ihre roten Locken fielen lang und lose auf ihre Schultern. Eine irische Schönheit, war sein erster Gedanke. Ihr Blick fiel auf seine Uniform und noch bevor er reagieren konnte, schloss sie die Tür wieder vor ihm. Doch er gab nicht auf. Noch einmal klopfte er, aber nichts geschah. Die Tür blieb verschlossen und er fing an sich nervös umzusehen. Er durfte nicht so lange hier draußen stehen bleiben. "Bitte!", sagte er so laut er sich traute. Doch nichts rührte sich. Er ging noch einmal leise zum Fenster und sah hinein. Er konnte erkennen, dass sie an die Tür gelehnt stand, das Gesicht in ihren Händen. Weinte sie? Ihr Anblick gab ihm einen Stich ins Herz. Also war ihr Mann wohl gefallen, vermutete er. Und sein Anblick half ihr nicht gerade in ihrer Trauer. Aber er brauchte einen Platz für die Nacht.

Er wollte es noch einmal versuchen. Noch einmal klopfte er vorsichtig. "Nur für diese Nacht, ich verspreche es. Ich bin verletzt. Und müde. " Als er es aussprach, spürte er erst, wie sehr. "Bitte." Er hatte sich an die Tür gelehnt und wäre beinahe ins Haus gefallen, als sie plötzlich geöffnet hatte. Er fing sich schnell wieder und noch bevor er sich umdrehen konnte, hatte sie ihn gepackt und hineingezogen. Die Tür würde schnell geschlossen und der Riegel vorgeschoben.

Es dauerte etwas, bis er die Wärme spürte, zu durchnässt und erkaltet war seine Kleidung. Sie stand vor ihm mit verschränkten Armen und sah ihn traurig an. Er hatte das Gefühl, als müsste er sich bei ihr entschuldigen, er wusste nur nicht, was er sagen sollte.

"Wie viele von euch sind noch da draußen?" Ihre Stimme war kaum ein Flüstern, als fürchte sie, man könnte sie selbst hinter ihren Mauern hören.

"Nicht viele." Er konnte nicht sagen weshalb, aber er fühlte sich schuldig deswegen.

Sie nickte und ging zum Feuer. Sie legte noch einige Holzscheite nach und bedeutete ihm sich zu setzen.

"Du bist verletzt?"

Er nickte nur und setzte sich. Die Hitze des Feuers kam langsam zu ihm durch und ein Schauder überkam ihn. Sie verließ kurz das Zimmer und als sie wieder kam, hatte sie einen Eimer Wasser und ein Tuch dabei.

"Wo?" Sie stellte alles neben ihm ab und kniete sich neben ihn. Ihr Duft wehte zu ihm herüber, nach Lavendel und Rauch und der Hitze des Feuers. Er rieb sich unbewusst über die Stelle und sah dann an sich hinab. "Hier." Als könnte er den Stich erneut spüren, zog er die Hand wieder zurück.

"Dann zieh das aus, damit ich die Wunde waschen und einbinden kann."

 Sie warf den Lappen ins Wasser und tränkte ihn, während er anfing seine Jacke zu öffnen. Als er versuchte die Knöpfe zu öffnen, merkte er wie taub seine Finger waren und ein Seufzer der Verzweiflung entkam ihm. Er schüttelte sein Hände aus und wollte es erneut versuchen, als sie mit gekonnten Fingern die Knöpfe öffnete und ihm die Jacke vom Körper zog. Er war sich ihrer Nähe durchaus bewusst und hielt den Atem an, als sie sich vorbeugte um ihm die Jacke nach hinten weg zu ziehen. Sein Hemd konnte er sich selbst über den Kopf ziehen, auch wenn es ihm den Schmerz wie einen Blitz durch den ganzen Körper jagte.

Sie fing an, seine Wunde abzuwaschen und sie zog eine Augenbraue hoch, als sie seine Nähkünste erkannte. Doch sie sprach nichts weiter und er spürte das Wasser kühl und beruhigend auf der Haut. Sie musste etwas ins Wasser getan haben, ein bitterer Kräutergeruch kroch ihm in die Nase.

"Es ist eine Mischung aus Brennnessel und Blutwurz. Es wird eine Entzündung verhindern. Aber ich fürchte, ich muss das nochmal vernähen."

Er nickte nur. "Ich muss mich nur kurz hinlegen."

Sie ging noch einmal in die Küche, wohl um das Nähzeug zu holen. Als sie wiederkam, war er bereits eingeschlafen.

Sonne weckte ihn am nächsten Morgen. Er lag noch immer vor dem Kamin am Boden, eine Decke war über ihn gebreitet worden und er lag auf einem Kissen. Er hob die Decke, um seine Wunde zu begutachten, die sauber verbunden worden war und auch nicht mehr so schmerzte.

Als er sich umsah, war von ihr nichts zu sehen. Langsam stand er auf und plötzlichen Schwindel erfasste ihn. Er wankte und wäre beinahe gestürzt, als ihn eine Hand auffing und in festem Griff hielt. Er drehte sich um und blickte in ein bekanntes Gesicht, doch etwas war anders. Sein Blick war kalt, seine Augen schwarz wie Teer und sein Gesicht eine weiße Maske. Er wollte zurückweichen, doch er hielt ihn in eisernem Griff. Der Tod stand vor ihm wie eine Statue, starrte ihn an aus seinen toten Augen und an er hatte keine Chance zu entkommen.

"Was..? Wer...?" Er fing an zu zittern, seine Beine wurden schwach, doch er konnte nicht nach unten sinken, so bestimmt hielt er ihn.

"Ich hätte dich nicht so lange alleine lassen dürfen..." , flüsterte der andere schließlich. Eine Entschuldigung? Wofür? Dann ließ er ihn mit einem mal los, so als hätte er sich plötzlich erinnert, dass er ihn immer noch fest hielt und er sank zurück auf die Decke. Hitze machte sich in ihm breit, die nicht von der Wunde stammte. Sie schien sich aus ihm heraus zu brennen und ihn gleichzeitig von Innen zu zerstören.

"Ich verstehe nicht..", keuchte er. Die Luft um ihn herum schien immer weniger zu werden und er hatte Angst zu ersticken.

Der andere schien ihn nicht zu hören und sprach mit sich selbst. "Ist ja meine eigene Schuld.... hatte dich nicht vorgewarnt... Aber jetzt ist es schon passiert... kann man nicht mehr ändern..."

Dann fing er an, durch das Haus zu laufen, Dinge durch die Gegend zu stellen und zu werfen. Er durchsuchte die Räume, schien aber nicht zu finden, was er suchte und kam zurück. Das Mädchen! Suchte er etwa nach ihr? Und was, wenn er sie fand? Würde er ihr etwas antun?

Er wollte aufstehen, doch ein Krampf durchzuckte seinen Oberleib und er fiel kraftlos nach vorne. Die Luft entwich seinen ohnehin gereizten Lungen und ließ ihn aufkeuchen. Daraufhin kam der andere zurück, kniete sich neben ihn und hob sein Gesicht hoch. Seine Augen waren immernoch tiefschwarz. Ein Dämon!, dachte er bei sich. Der gekommen ist, mich zu holen. Für all die Leben, die ich genommen habe!

Dann ließ er ihn unvermittelt los und kramte in seiner Uniform rum. Dann zog er einen Flachmann heraus, schraubte schnell den Stöpsel ab und hielt sie ihm unter die Nase. Ein modriger Geruch entströmte dem Fläschen, es roch nach Tod und Verwesung. Und gleichzeitig so verlockend. Er musste würgen, doch er wehrte sich nicht, als der andere im die Flasche an den Mund setzte und ihn zwang zu trinken. Es schmeckte so widerlich wie es gerochen hatte und er versuchte es gleichzeitig hochzuwürgen und zu trinken. Es lief an seinen Mundwinkeln heraus und tropfte auf den Boden, auf sein Kinn, lief an seinem Hals entlang. Doch das war ihm egal. Er brauchte es, er wollte es und er nahm es sich. Er riss ihm die Flasche aus der Hand und trank bis sie leer war. Erst als er sich sicher war, alles getrunken zu haben, wagte er auszuatmen und gab ihm die Flasche zurück. Er nahm sie zurück, ohne sich zu beschweren und besah ihn mit einem Blick, der gleichzeitig neugierig und mitfühlend war. Wer war dieser Mann?

"Wir sollten hier nicht verweilen. Die Briten sind überall. Und sie haben ihre Spitzel dabei." Mit diesen Worten verschwand er wieder in die Küche.

Er nutzte die Zeit, um sich selbst umzusehen. Wo war die junge Frau hin?

Als er aufstand, erkannte er rote Flecken auf dem Boden vor sich. War es das, was er gerade getrunken hatte? Wein? Nein, Wein schmeckte anders. Vielleicht schmeckte ja britischer Wein so? Zuzutrauen wäre es ihnen ja... Er folgte dem anderen und blieb auf dem Weg an einem Spiegel hängen. Er erkannte sich selbst darin und doch auch wieder nicht. Die rote Flüssigkeit hing an seinem Kinn und er rieb sie schnell weg. Als er nebenbei an seiner Hand roch, kroch ihm wieder dieser bekannte Geruch in die Nase. Metall?

"Was", schrie er, während er sich im Spiegel betrachtete. "Was hast du mir gegeben? Was war in der Flasche?"

Ohne zu antworten kam der andere zurück. Er fing an, getränkte Tücher überall im Raum auszubreiten. Er konnte dem Anderen nur ungläubig dabei zusehen, wie er in der Feuerstelle ein Feuer entfachte und eins der Tücher hineinwarf. Es fing sofort Feuer und brannte lichterloh. Er musste durch das plötzliche Aufleuchten zurückweichen und spürte nur noch, wie der andere ihn mit sich zur Tür zog, während das Feuer bereits anfing, von einem Tuch zum nächsten zu springen. Bald brannte der gesamte Raum lichterloh. "Nein! Was machst du denn? Das darfst du nicht!" Er hatte seine Stimme wiedergefunden, doch jetzt war es zu spät dafür. Warum hatte er nur die ganze Zeit zugesehen? Er war so verwirrt, kein klarer Gedanke wollte sich in seinem Kopf einstellen.

Der andere zog ihn mit sich aus der Tür. Die ersten Holzbalken hatten bereits Feuer gefangen und noch bevor die Tür in die Angel fiel, konnte er braunes Haar in der Küche erkennen. Sein Herz schien stehen zu bleiben und er wollte sich seinem Griff entwinden, doch er hielt ihn eisern und zog ihn mit sich.

"Warte! Lass mich los! Sie ist noch da drin!"

Doch er ließ ihn nicht, zog ihn hinter sich her, wie eine Mutter ihr schreiendes Kind vehement hinter sich herzog und er hatte auch nicht die Kraft sich zu wehren. Immer wieder schrie er ihn an, doch er schien nicht zu hören und als das Dach anfing einzustürzen, schien auch seine Welt mit einzubrechen. Verzweiflung machte sich ihn ihm breit und Angst. Und er hatte so viele Fragen, die ihm durch den Kopf schossen. Die ersten Leute kamen mit Wassereimern aus den Häusern gelaufen, doch dafür war es längst zu spät. Ihre kläglichen Löschversuche verpufften im Wind. Menschen liefen durch die Gegend und riefen sich etwas zu, doch er bekam alles nur durch einen Nebelschleier mit. Sie war tot... Er hatte sie einfach verbrannt... Einfach liegen gelassen und verbrennen lassen... Wie konnte jemand nur so etwas tun? Und war es schlau, sich gegen so jemand zu wehren?

Im Trubel der Menschen bahnten sie sich ihren Weg durch das Dorf, weiter die Straße entlang, weg von den Rotröcken, Richtung Killala Bay. Und er widersetzte sich ihm nicht weiter und ergab sich in sein Schicksal.

 

Die Nacht brach herein, als sie die erste Rast einlegten und er hatte das Gefühl, er müsse sterben. Er fühlte sich innerlich leer, schimpfte sich einen Versager, weil er sie nicht hatte beschützen können und zu feige gewesen war, etwas zu unternehmen. Er ließ sich wie einen Sack einfach gegen den nächsten Baum fallen und schloss die Augen. Er war fertig mit der Welt. Mit allem. Sollten sie ihn doch finden. Es war ihm egal. Jemand wie er hatte das Leben nicht verdient. So oft hatte er überlebt . Und wofür? Dass er zugelassen hatte, dass ein Mädchen getötet wurde. Ein Mädchen, das ihm geholfen hatte, als er sie gebraucht hatte. Die er angefleht hatte, ihr zu helfen. Den ganzen Weg über hatte er sich gewünscht, noch einmal in der Zeit zurückreisen zu können und diesmal wäre er einfach weggegangen, wenn sie die Tür wieder vor ihm verschlossen hätte. Immer wieder stellte er es sich vor und irgendwann war er so in diesem Tagtraum gefangen, dass er nicht bemerkt hatte, wie es dunkler geworden war.

Da saß er nun. Der Feigling. Kaputt und erledigt. Er spürte, wie sich der andere neben ihn setzte. "Du bist noch nicht soweit."

Er sah ihn verwundert an. "Wofür?"

Der andere lächelte. "Zum Sterben natürlich. Du bist ein Kämpfer, das hab ich gleich gesehen." Er lehnte ebenfalls seinen Kopf am Baum an und schloss die Augen.

"Du hast mich beobachtet?"

"Natürlich."

Das beruhigte ihn nicht unbedingt. Aber er hatte ihm dadurch wohl das Leben gerettet. Auch wenn er es für ihn jetzt zur Hölle gemacht hatte.

"Ich beobachte dich schon seit Killala. "

"Dann musst du einer der wenigen Rotröcke sein, die fliehen konnten."

Dem anderen entging sein gehässiger Tonfall nicht, doch darauf konnte er nur schmunzeln. Als schien er an ein belustigendes Ereignis zu denken.

"Wir beide, du und ich, wir sind nicht so verschieden. Unsere Uniformen haben vielleicht andere Farben und wir leben an verschiedenen Orten, doch ich habe gleich erkannt, was du bist."

"Ach ja? Und was soll das sein?"

Wieder lächelte er nur. Dann schwieg er eine Weile und sah hoch zu den Sternen. Seine Stimme war nur ein Flüstern. "Sie war bereits tot."

Er wusste nicht, ob er ihn richtig verstanden hatte und war verwirrt. "Wer?"

"Na das Mädchen. Die Braunhaarige."

Ein kalter Schmerz durchzuckte seine Brust. Auch wenn er sie nicht gekannt hatte, den Tod hatte sie nicht verdient gehabt.

"Das glaube ich nicht. Woran sollte sie gestorben sein? Bevor ich einschlief, ging es ihr noch gut!" Er dachte an den Abend zurück, wie sie seine Wunde versorgt hatte, die Nähe ihres Körpers, ihre Wärme, ihren Duft...

"Ja... Davor." Er sah ihn an, als würden diese zwei Worte alles erklären. Doch das taten sie nicht.

"Was willst du damit sagen? Als ich aufgewacht bin, warst du da und sie verschwunden! Und dann sehe ich sie in der Küche liegen, während du ihr Haus abfackelst! Und jetzt verlangst du von mir, dass ich dir das glaube? Dass sie schon tot war?" Er war aufgesprungen und stand mit geballten Fäusten vor ihm. Nein, so eine Geschichte ließ er sich nicht andrehen.

"Du kannst glauben was du willst. Egal was sich sage, nur das, was du glaubst, wird für dich die Wahrheit sein." Er erhob sich ebenfalls. "Von jetzt an bleiben wir zusammen. Du gehst nirgends mehr alleine hin, klar?"

Er verschränkte die Arme vor der Brust. "Sicher. Natürlich. " Und nach kurzer Pause fügte er noch hinzu: "Auf keinen Fall!"

Der andere war losgegangen und bei seinen Worten abrupt stehen geblieben, hatte sich aber nicht umgedreht.

"Doch das wirst du. Aus einem einfachen Grund." Er sah ihn über die Schulter hinweg an. Seine Augen glänzten gefährlich im Licht der Sterne, seine Züge waren hart und unerbittlich. "Weil du sie getötet hast, Adam. Und ich werde nicht zulassen, dass so etwas jemals wieder geschehen wird!"

Impressum

Texte: Stephanie Stanner / "Dalai Lama" Rammstein /
Bildmaterialien: Stephanie Stanner
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2013

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