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Die letzte Zigarette - Extra

 Genau zehn Tage und zehn Stunden war es nun her, seit ich mit Paul geschlafen hatte. Ich hatte nachgezählt. Zehn Tage und zehn Stunden seit ich meinem selbstverletzenden Verhalten einen Riegel vorgeschoben hatte. Zehn Tage und zehn Stunden seit ich keine Zigarette mehr auf meiner Haut ausgedrückt hatte. Es war wie ein Mantra, mein Mantra.

Ich fühlte mich wie ein Alkoholkranker, der die Zeit zurückzählte bis zu seinem letzten Bier. Ich war trocken. Und es war nicht einfach, trocken zu sein und trocken zu bleiben. Mein ganzer Körper kribbelte seit Stunden und gierte nach Erlösung, nach Schmerz. Ich hatte mir vorhin, jeder Vernunft zum Trotz, eine Packung Zigaretten kaufen wollen. Nervös war ich vor dem Automaten gestanden und hatte die Euromünzen zwischen den Fingern hin- und hergedreht. Meine verschwitzten Hände rochen noch immer nach Nickel und Messing. Dann hatte ich an Paul gedacht und das Geld wieder in meiner Jackentasche verschwinden lassen.

Nun saß ich auf einer Parkbank, nicht weit vom 69 entfernt, einer Bar, die ich gewöhnlich aufsuchte, wenn ich auf einen schnellen Fick aus war. Einen bezahlten Fick, versteht sich. Erika, die Besitzerin der Bar, hatte mir deswegen schon oft eine Standpauke gehalten. Ich prostituierte mich in ihrem Hinterhof, damit war sie natürlich nicht einverstanden.

Ich seufzte tief und starrte stoisch ins Leere. Zu allem Übel war auch noch Valentinstag. Mit diesem Tag verband ich nur schreckliche Erinnerungen. Ich hatte Lust auf einen Fick, wie so häufig. Aber bedeutungsloser, meist gewaltsamer Sex, reichte mir nicht mehr. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, die Männer würden sich an mir bedienen, sie fickten mich nur, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Und ich hatte mich von ihnen ficken lassen, um meine zu befriedigen. Ich hatte Schmerzen empfinden wollen. Das wollte ich noch. Aber ein anderes Bedürfnis schlich sich seit kurzem immer stärker in mein Bewusstsein: Ich wollte geliebt werden. Lange hatte ich geglaubt, ich würde Liebe nicht verdienen. Mittlerweile fragte ich mich, wie ich je auf diese Idee kommen konnte.

Ich zog mein Handy aus meiner Jackentasche und suchte nach Pauls Nummer. Ob er an Valentinstag schon etwas vorhatte? Vermutlich. War er überhaupt Single? Ich hatte ihn im 69 kennengelernt. Er war mir aber nie richtig aufgefallen, auch wenn er mich permanent angequatscht hatte. Leider hatte ich nur Augen für Marcus gehabt. Marcus, der perfekte Marcus, der so freundlich war und so zärtlich und mich einfach … abserviert hatte. Ohne ein Wort. Er ging mir seit unserem ersten Sex einfach aus dem Weg. Dabei hatte Paul mir doch geraten, ich sollte mich nicht auf ihn einlassen. Ich hätte auf Paul hören sollen!

Zögernd drückte ich auf den grünen Hörer auf meinem Smartphone, bevor ich das Telefon an mein Ohr legte. Es klingelte. Mein Herz pochte so laut, ich konnte hören, wie das Blut durch meinen Kopf preschte.

Paul hatte mir nach unserem One-Night-Stand einen Zettel an der Tür hinterlassen. Er hatte geschrieben, ich sollte ihn anrufen. Das hatte er doch ernst gemeint, oder nicht? Meine Hände schwitzten schon wieder und ich wünschte mir eine Zigarette herbei, die ich zumindest rauchen konnte, wenn ich schon dem Drang widerstehen wollte, sie auf meinem Körper auszudrücken.

»Wer ist da?«, fragte eine rauchige Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich erschrak. Kurz misslang es mir, meine Stimme wiederzufinden, doch dann antwortete ich:

»Ich bin es.«

»Wer ist ich?«, fragte Paul mürrisch. Mein Herz sank mir bis zu den Knien.

»Ich … ich meine … ich bin's, Felix«, stotterte ich verlegen. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen hochkriechen. Stille am anderen Ende der Leitung. Dann …

»Wer ist Felix?«

Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu erwidern, dann verließ mich der Mut und ich wollte schon auflegen, als Paul hölzern lachte und sagte:

»War nur ein Scherz! Natürlich erinnere ich mich an dich!«

Mein Magen rebellierte. Ich war erleichtert, aber immer noch schrecklich nervös.

»Du hast gesagt … ich soll dich mal anrufen …«, stotterte ich weiter.

»Ja, hab ich. Ich dachte aber nicht, dass du dich noch melden würdest. Im 69 warst du auch nicht mehr …«

»Ich … hab mal Abstand gebraucht. Ist ziemlich schwer, nicht in alte Gewohnheitsmuster zurückzufallen.«

»Soll das heißen, kein bezahlter Fick mehr?« Paul war direkt.

»Nein …«, sagte ich leise. Ich hatte das Gefühl, ich schuldete Paul diese Antwort. »Seit zehn Tage schon nicht mehr …«

»Gratuliere!«, flötete er mir ins Telefon. »Kriegt man da einen Sticker? Wie bei den Anonymen Alkoholikern?« Der Vergleich mit einem Alkoholkranken schien auch Paul naheliegend. Dabei ging es nicht um Sucht, oder doch?

»Bist du irre?«, brummte ich gespielt verstimmt.

»Ein bisschen vielleicht. Sind wir das nicht alle? Irresein fördert die Kreativität und kreatives Arbeiten bereichert das Leben.«

»Hmm …«, sagte ich nur. Vom kreativen Arbeiten verstand ich nicht viel. Paul war Schriftsteller. Ein ziemlich erfolgloser Schriftsteller. Worüber er wohl so schrieb? Welche Themen ihn beschäftigten und berührten? Für wen schrieb er überhaupt?

»Willst du vorbeikommen? Heute ist doch Valentinstag. Ich koch uns was«, sagte er plötzlich.

»Okay … ich meine, gerne! Super … also …« Ich hatte nur darauf gewartet, Paul wiederzusehen. Ich klammerte gerne, das war mir bewusst. Ich hatte Angst, mich an Paul zu sehr zu klammern, zu abhängig zu werden und ihn schlussendlich sogar zu vergraulen. Auch an Rob hatte ich mich immer viel zu sehr geklammert. Ich hatte ihn im Heim für schwer erziehbare Jugendliche kennengelernt. Unsere Beziehung war immer schwierig gewesen. Wir taten uns nicht gut, aber dennoch kamen wir nicht voneinander los. Er war es auch gewesen, der mich auf die Idee gebracht hatte, mich selbst zu verletzen. Ich betrachtete im Halbdunkel meinen Handrücken. Eine dunkle, runde Narbe, die genau dem Durchmesser einer handelsüblichen Zigarette entsprach, klaffte darauf. Das war aber erst der Anfang gewesen! Heute zierten solche Wunden auch andere Stellen meines Körpers, vor allem meinen Bauch und die Innenseiten meiner Oberschenkel. Ich seufzte tief, dann horchte ich gespannt Pauls Stimme am anderen Ende der Leitung:

»Du findest den Weg doch noch, oder?«, fragte er.

»Ja, sicher.«

»Wo bist du gerade?«

»Im Park in der Nähe vom 69.«

»Dann sehen wir uns in zwanzig Minuten?«

»Okay.«

Paul legte auf und ich starrte noch eine Weile stoisch auf mein Handy.

Valentinstag.

Ich lehnte meinen Kopf zurück, blickte hoch in den wolkenlosen Himmel. Dort oben entdeckte ich vereinzelt ein paar Sterne. Wie konnte der Himmel nur so schön sein, wenn die Welt unter ihm so hässlich war? Im Astronomieunterricht war ich immer eine Flasche gewesen, kein einziges Sternbild hatte ich mir je merken können. Aber das war mir auch nie wichtig erschienen. Denn der Himmel hatte mich verspottet. Da oben wäre ich sicher gewesen.

Als Heinrich, mein Stiefvater, sich zum ersten Mal an mir vergriffen hatte, war ich zehn Jahre alt gewesen. Da hatte ich noch an den lieben Gott geglaubt und abends vor dem Einschlafen meine Hände regelmäßig zum Gebet gefaltet. Ich hatte darum gebeten, dass er meinen Stiefvater da hochschicken möge, zu den Sternen, wo er mir nichts mehr anhaben konnte. Weil Gott mir diesen Wunsch nicht erfüllen wollte, betete ich irgendwann darum, dass er dann wenigstens MICH dort hochschicken sollte, damit ich endlich meine Ruhe hatte und ich nichts und niemanden mehr fürchten müsste. Aber auch dieser Wunsch war nicht erhört worden.

Drei Jahre lang hatte mich mein Stiefvater missbraucht. Dann hatte er das Interesse an mir verloren. Kaum, dass mir Schamhaare gewachsen waren, hatte sich etwas verändert. Ich war dreizehn Jahre alt gewesen und am Valentinstag hatte mein Stiefvater meiner Mutter vorgegaukelt, er müsste geschäftlich ins Ausland. In Wahrheit hatte er mich im Heim besucht und unter dem Vorwand, mit seinem Stiefsohn einen Nachmittag verbringen zu wollen, hatte er mich in seine Zweitwohnung gebracht. Ich hatte mich rasieren müssen, überall. Ich hatte aussehen sollen wie ein kleiner Junge, wie eine Puppe. Und dann hatte ich vor ihm posieren müssen. Er hatte gesagt, ich sei sein Valentinsgeschenk. Mit roten Bändern hatte er meine Handgelenke verknotet und eine Schleife gebunden.

Aber danach hatte er mich nicht mehr angefasst. Er hatte an diesem Tag Fotos gemacht, vermutlich wollte er eine Erinnerung haben an den hübschen Jungen, der ich mal gewesen war. Ich hatte mich hinlegen müssen, meine Beine auseinanderziehen, sodass er freien Blick auf meine intimsten Körperbereiche hatte. Zugleich hatte ich ihm verruchte Blicke zuwerfen müssen. Da ich nicht gewusst hatte, was er damit meinte, hatte er mir eine Ohrfeige verpasst – bis ich ihn schließlich aus einer Mischung aus Angst und brennender Wut angesehen hatte. Das schien ihm genügt zu haben.

Müde und erschöpft schüttelte ich meinen Kopf, als würde ich glauben, mit dieser Bewegung alle unliebsamen Gedanken verscheuchen zu können. Dann sah ich auf mein Smartphone. Ich saß nun schon seit zehn Minuten hier! Ich musste doch zu Paul! Rasch erhob ich mich und schlenderte die Straßen entlang. Den Weg kannte ich natürlich noch. Beim Appartementhaus angekommen, musste ich klingeln. Paul Vogel stand auf einem Schild. Vogel? Ich musste unwillkürlich grinsen. Einen Vogel hatte Paul tatsächlich.

»Ja?«, hörte ich seine Stimme.

»Ich bin’s«, sagte ich.

»Wer ist ich?«, fragte er.

Ich legte meine Stirn in tausend Falten. Im 69 war mir Paul nie wirklich aufgefallen, weil ich ihn nie ernst genommen hatte. Er war ein komischer Kauz, ein wenig seltsam und auch ein wenig verrückt.

Er öffnete mir die Tür, ohne weitere Späße mit mir zu treiben. Ich ging die Treppen hoch, im ersten Stock angelangt, kam ich ins Grübeln. Welche Türnummer hatte er nochmal?

Bevor ich die Antwort auf diese Frage selbst finden musste, öffnete sich eine der vielen Türen und Paul trat heraus in den Flur. Er trug eine Küchenschürze und hielt einen Kochlöffel in der Hand.

»Komm schon rein!«, rief er fröhlich und winkte mich zu sich. Ich ging mit zögernden Schritten weiter.

Pauls Ein-Zimmer-Wohnung war mir noch gut in Erinnerung. Er lebte in einen Schweinestall. Umso überraschter war ich, als ich dieses Mal eintrat und ein sehr sauberes Appartement vorfand.

»Du hast aufgeräumt?«, fragte ich erstaunt, als ich die Tür hinter mir ins Schloss schob. Paul stand vor seiner elektrischen Herdplatte und rührte mit dem Kochlöffel die Soße im Topf um.

»Ja, hab ich. Und ich hab gekocht, wie du siehst.« Er lächelte mich an und ich fühlte mich … komisch.

»Setz dich«, sagte er nun. Ich sah mich um. Sitzmöglichkeiten gab es nicht viele. An der Wand stand ein kleines Tischchen, da konnte man vermutlich gemeinsam essen. Also zog ich meine Jacke aus, hängte sie an den Haken, gleich neben der Tür, und setzte mich hin.

»Das nächste Mal treffen wir uns in meiner Wohnung, okay?«, sagte ich.

»Gefällt’s dir hier nicht?«, fragte Paul unbeeindruckt. Ich hörte ein Zischen, als er Butter in die Pfanne warf, dann schmiss er die Nudeln flink hinterher, die Soße kam obendrauf und dann rührte er wieder um. Es roch aber köstlich.

»Doch. Aber ich dachte nur …«

Was dachte ich? Ich hatte ihm nur mal zeigen wollen, wie ich so wohnte. Ich hatte eine nette kleine Wohnung, auf die ich sehr stolz war. Die Miete war nicht gerade billig.

Paul stellte zwei Teller auf den Tisch. Beide waren mit Spaghetti gefüllt.

»Was willst du trinken?«, fragte er.

»Was hast du?«

»Wasser und Alkohol.«

»Alkohol? Du trinkst doch nie …« Ich hatte Paul noch nie trinken sehen.

»Ein Freund, den ich von früher kenne, war zu Besuch und hat mir eine Flasche Wein mitgebracht. Er wusste nicht, dass ich, ähm, na ja …«

»Was?«

Paul guckte spitzbübisch, dann sagte er: »Ich versuche die Finger vom Alkohol zu lassen.«

»Heißt das …?«

Paul zuckte nur mit den Schultern.

»Ich hab dir doch gesagt: jeder hat seine Geschichte. Wenn du also ein Glas Wein haben willst, dann bitteschön! Ansonsten werde ich den Inhalt dieser Flasche demnächst in den Abfluss schütten. Das hätte ich schon längst tun sollen … «

»Ich will nichts trinken«, sagte ich entschieden. Das gehörte sich doch nicht.

»Mir ist es egal. Ich bin dran gewöhnt …«, sagte er, aber ich wehrte entschieden mit den Händen ab.

»Und? Wie ist es dir so ergangen?«, fragte er neugierig, während er sich zu mir setzte. Er griff nach seiner Gabel und schob sich eine beträchtliche Menge Spaghetti in den Mund.

»Was meinst du? Wie es mir ergangen ist?«

»Was soll ich schon damit meinen?«, fragte er grinsend. »Du bist es wohl nicht gewohnt, dass man dich fragt, wie’s dir geht?«

Ich überlegte. Nein, daran war ich wirklich nicht gewohnt.

»Ganz gut, denke ich.«

»Keine neue Narbe dazugekommen?«, fragte er direkt. Er sprach mit vollem Mund und blickte mich mit seinen haselnussbraunen Augen neugierig an.

»Nein«, sagte ich und begann endlich damit, meine Spaghetti aufzuessen.

Mein Blick fiel plötzlich auf eine Schokoladenschachtel, die in Pauls Kochnische auf der Arbeitsfläche stand. Sie war herzförmig.

»Was ist das?«, fragte ich. Auch ich sprach jetzt mit offenem Mund.

»Hat mir mein Nachbar heute gebracht.«

»Dein Nachbar schenkt dir am Valentinstag eine herzförmige Schachtel mit Pralinen?«, fragte ich irritiert.

»Valentinstag? Ist das heute?« Paul kratzte sich verwirrt am Kopf. »Ach, du Scheiße! Der steht doch nicht auf mich, oder?«

»Du bist ein Chaot«, kommentierte ich nüchtern.

»Und trotzdem magst du mich. Oder warum bist du hier? Ich hätte ja eigentlich nicht mehr mit dir gerechnet. Du interessierst dich ja eher für Männer wie Marcus …«

»Willst du mir das vorwerfen? Du warst doch selbst mal mit ihm zusammen.«

Paul zuckte nur mit den Schultern, dann schob er seinen Teller zur Seite, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, bevor er sich zusätzlich noch ein paar Mal über die Lippen leckte. Sein Kinn war von wenigen, sehr hellen und kaum sichtbaren Barstoppeln bedeckt. Dabei war sein Kopfhaar dunkelbraun.

»Kommen wir jetzt zur Sache?«, fragte mich Paul ganz ungeniert.

»Zur Sache?« Auch ich schob meinen Teller beiseite und griff nach einer Serviette, um mir die Reste der köstlichen Spaghetti alla carbonara vom Mund zu wischen.

»Willst du nicht mit mir ficken?«, fragte er neugierig.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte Paul heute vor allem aus einem Grund angerufen: ich hatte Angst gehabt, irgendwelche Dummheiten zu machen und war mir sicher gewesen, wenn ich mit Paul den Abend verbringen würde, müsste ich mir diesbezüglich keine Sorgen mehr machen.

»Doch …«, gestand ich ehrlich. Es hatte mir gefallen, mit ihm zu schlafen. Es war anders mit ihm gewesen.

Paul grinste breit und stand auf. Er hielt mir seine Hand hin und ich griff schüchtern danach. Dann zog er mich mit einem Ruck vom Stuhl hoch und führte mich in sein Schlafzimmer, welches eigentlich kein richtiges Schlafzimmer war, sondern nur aus einem Bett und einem Nachttisch bestand. Beides war von einer großen Papptrennwand vom restlichen Wohnbereich abgegrenzt. Im ganzen Zimmer roch es immer noch nach Spaghetti.

Ich wollte mich aufs Bett setzen, als Paul plötzlich geradezu über mich herfiel. Er griff mir unter mein Shirt, berührte meinen mit Narben übersäten Bauch – ich zuckte erschrocken zusammen. Dann küsste er mich forsch. Er schob mir ganz ungeniert seine Zunge in den Hals, während er sich an meinem Gürtel zu schaffen machte und kaum, dass er meine Hose geöffnete hatte, mit seiner Hand unter meine Unterwäsche fuhr und nach meinem Schwanz griff.

Ich bekam Panik. In meinem Kopf rauschte es. Irgendetwas stimmte nicht. Paul hatte sich das letzte Mal doch ganz anders verhalten … Ich wollte ihm sagen, dass ich eine Pause brauchte und dass er damit aufhören sollte, aber kein Wort schaffte es über meine Lippen. Doch dann ließ er plötzlich von mir ab, ohne dass ich ihn dazu hätte auffordern müssen.

Seine Hand rieb nicht länger an meinem Schwanz und seine Lippen küssten nicht länger meine. Stattdessen starrte er mich an. Er zwinkerte nicht einmal.

»Okay …«, sagte er leise. »Ich hab verstanden. Du bist hier der Boss.«

»Was … was meinst du?«, fragte ich irritiert. Ich war völlig durcheinander. Mein Herz hämmerte wie wild und ich hatte Angst. Verdammte Angst.

Er verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und sagte: »Du kannst mit mir machen, was du willst. Ich halte mich zurück.«

Wir standen uns gegenüber, sahen uns nur an. Ich konnte machen, was ich wollte?

Was ich wollte …

Vorsichtig wagte ich einen Schritt nach vorne, um seine Lippen zu erreichen. Paul küsste schüchtern zurück. Ich legte meine Arme um seine Taille, seine Hände waren immer noch hinter seinem Rücken versteckt. Ich umfasste sanft seine Handgelenke. Ich wollte nicht, dass er passiv war, ich wollte kein Valentinsgeschenk wie Heinrich. Einen Menschen, den man verpackte wie ein Ding und eine Schleife um den Körper band. Ein Geschenk, mit dem man spielte, bis man die Lust daran verlor.

Ich fuhr mit meinen Händen unter sein Shirt und streichelte seine nackte Haut. Es war ein schönes Gefühl und ich verstand zum ersten Mal, warum er vorhin dasselbe hatte tun wollen.

»Darf ich?«, fragte er leise. Er zupfte am unteren Saum meines Pullis.

Ich nickte stumm. Er zog mir den Pulli über den Kopf, ich war ihm dabei behilflich.

»Du bist schon wieder so angespannt«, sagte er.

»Tut mir leid.«

»Willst du’s nicht tun? Ist okay …« Seine Stimme war nur ein Flüstern.

»Doch … ich will’s tun …« Es war die Wahrheit. Ich atmete tief ein, sog dabei Pauls Geruch in mich auf. Sein Haar duftete ganz eigenartig. Nach Vanille und Kokos. Seine Haut schmeckte genauso eigenartig. Er hatte nicht geduscht. War es getrockneter Schweiß? Es war ein herber Geschmack, der süchtig machte. Ich leckte an seinem Hals entlang. Ich wollte ihn schmecken, berühren.

»Hey, das kitzelt …« Er kicherte plötzlich wie ein kleines Mädchen und ich spürte, wie die Anspannung von mir abfiel. Rasch zog ich mir die Jeans von den Hüften. Paul zog sich auch aus. Nackt standen wir uns jetzt gegenüber. Ich blickte nach unten, sah ihm zwischen die Beine. Dann lachte ich.

»Hey, ich weiß, ich habe nicht gerade den Größten, aber gelacht hat noch keiner bei dem Anblick …! Außerdem siehst du ihn nicht zum ersten Mal …«, entrüstete er sich.

Das stimmte. Ich hatte Paul schon einmal nackt gesehen, aber damals war alles so schnell gegangen. Ich hatte nicht Zeit gehabt, ihn mir von Kopf bis Fuß zu betrachten.

»Die Haare da unten … sie sind hell …«

»Ach so … puh …!« Er lachte erleichtert auf und erklärte mir: »Ich bin blond. Überall. Eigentlich. Die Haar auf dem Kopf sind gefärbt.«

Dann setzte er sich mit seinem nackten Arsch aufs Bett und sagte:

»Komm schon …!«

Er schenkte mir ein breites Lächeln. Er sah ganz anders aus, wenn er lächelte. Hübscher. Viel hübscher.

»Du solltest öfter lächeln«, rutschte mir über die Lippen.

»Ich muss es auch erst wieder lernen, aber ich gebe mir Mühe!«

Ich beugte mich über ihn, sodass er gezwungen war, sich hinzulegen. Besorgt schielte er zu mir hoch.

»Ich hab dir gesagt, du kannst mit mir machen, was du willst. Du stehst doch nicht auf irgendwelchen perversen Kram, oder doch?«

»Zum Beispiel?«, fragte ich irritiert.

»Keine Ahnung … muss ich mich fürchten?« Er lächelte verschmitzt.

»Ich will niemanden wehtun«, sagte ich ernst. Dazu war ich gar nicht fähig.

»Du tust nur dir selber weh, hm?«, erwiderte Paul leise. Dann sah er auf meinen Bauch.

»Das muss ja verdammt schmerzvoll gewesen sein.«

»Ein paar Wunden waren schlimmer als andere«, gestand ich ehrlich.

Dann presste ich meinen Körper bewusst auf Pauls. Ich lag geradezu auf ihm drauf. Wie viel Macht doch jemand über einen anderen Menschen haben konnte? Wie viel Schmerz hätte ich Paul zufügen können? Wie viel Schmerz hatte Heinrich mir zugefügt? Wie viel Verantwortung hatte der Starke gegenüber dem Schwachen?

Ob Paul sich gegen mich wehren könnte, wenn ich ihn –

Woran dachte ich nur? Ich konnte keiner Fliege etwas zuleide tun! Die Angst kroch in mir hoch. Die Angst vor mir selber. Wie unberechenbar war ich überhaupt?

Paul hatte nach Kondomen und Gleitmittel gegriffen. Seinen langen Arm hatte er nach dem Nachttisch ausgestreckt, während mein Körpergewicht ihn beinahe bewegungsunfähig machte. Er hatte seine Beine auseinandergezogen und sein Becken angehoben. Ich griff nach meinem Schwanz und schob ihn in Pauls Körper. Ich war drin. In ihm. Was für ein Gefühl!

»Du musst dich schon bewegen …«, sagte Paul. Er spähte zu mir hoch. Ganz wehrlos lag er unter mir und ich bewegte mich ganz langsam. Ich erinnerte mich daran, wie schmerzvoll ich schon gefickt worden war und nun, da ich mich selber im Körper eines anderen Menschen bewegte, begriff ich immer weniger, warum meine Fickpartner so oft das Bedürfnis verspürt hatten, mir Schmerzen zuzufügen.

»Tut doch nicht weh, oder?«, fragte ich besorgt. War ich genau wie sie?

»Nein … Spinner!« Paul lächelte schon wieder. Er schien sich beinahe zu langweilen. Ich machte meine Sache offenbar gar nicht gut.

»Tut mir leid … ich hab keine Erfahrung … ich meine …«

»Ist okay … ist okay …«, flüsterte Paul in mein Ohr. Er hatte seine Arme um meine Schultern gelegt und ich spürte seinen heißen Atem auf meiner Haut. Irgendetwas schien ich doch richtig zu machen. Sein Körper vibrierte unter meinem, seine Atmung wurde unregelmäßiger, leises Stöhnen konnte ich vernehmen. Die Geräusche, die er machte, lösten die seltsamsten Dinge in mir aus … in meinem Bauch kribbelte es ganz furchtbar, mein Herz pochte, als wollte es zerbersten, und in meinem Schwanz baute sich dermaßen viel Druck auf, dass ich wusste, ich würde nicht mehr lange durchhalten können.

Und so war es dann auch. Paul war es ähnlich ergangen. Ich hatte recht ungeschickt an seinem Schwanz gerieben, während ich ihn – vermutlich noch ungeschickter – gefickt hatte, aber er war gekommen. Und sogar ziemlich heftig.

Schwer atmend lag ich nun neben ihm. Er hatte seine Beine wieder lang ausgetreckt. Sein Brustkorb hob und senkte sich auffallend schnell. Er fuhr mir mit seinen Fingern durch mein Haar.

»Für dein erstes Mal war das nicht schlecht«, sagte er grinsend.

»Wird sicher noch besser … ich meine … beim nächsten Mal …«

»Ein nächstes Mal?«, fragte Paul.

»Willst du etwas nicht?« Sofort war ich wieder verunsichert.

»Sind wir jetzt zusammen?«, fragte Paul.

»Ich hatte noch nie einen richtigen Freund«, gestand ich ehrlich.

»Ich schon. Viel zu viele. Aber vielleicht wirst du ja der Letzte sein …« Er schenkte mir wieder dieses wunderschöne Lächeln.

»Der Letzte? Was meinst du … oh!«

»Du bist nicht gerade der Hellste, hm?«, fragte er grinsend. Jetzt war ich beleidigt. Ich schmollte. Aber zum Schmollen blieb keine Zeit, denn Paul küsste mich so zärtlich, dass ich alles vergaß.

Wirklich alles. Dabei wollte ich gar nicht vergessen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich, dass ich die Erinnerung bewahren wollte.

Ich wollte diesen Valentinstag mein Leben lang im Gedächtnis behalten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.01.2015

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