Cover

Prolog

Verdrängen, verschließen und wegsperren- es fühlt sich schizophren an, zwei Seelen gefesselt an eine Hülle. Noch nie war dieses Gefühl so intensiv und präsent.

 

Ein Kokon, der schützend nach außen präsentiert, was jeder sehen will. Im Innern ist es weich, unbeständig und gefühlsintensiv- gleichzeitig so klar und einfach. Geteilte Seelen, geteilte Wünsche und Hoffnungen- geteilte Leben!?

 

Die Hülle schützt, präsentiert eine perfekte Inszenierung. Unauffällig und glaubwürdig- kein Verdacht regt sich. Nur der eigene Verstand kennt das Ausmaß, kennt die Wahrheit, die sich mehr wie eine Traumwelt anfühlt- weit weg von der Realität, in einer anderen Zeit. Nicht das größte Unwetter könnte diesen Panzer Schaden zufügen- doch im Detail ist er schwach. Die kleinen weichen Bisse nagen unermüdlich an der Oberfläche- noch!

 

Auf und ab, in klar gezeichneten Strukturen, wie feine Pinselstriche eines Malers. Im Licht entfalten sie die Farbenbracht- im Schutz der Nacht blicken wir ins Schwarz. Hier im Innern herrschen die Gezeiten der Gefühle- der Ozean der Möglichkeiten. Mit Leichtigkeit und roher Gewalt- im stetigen Wandel unter der Sonne. Nicht greifbar, rinnt es durch die Hände, verändert Gestalt und Natur- unermüdlich!

 

Ein tiefer Seufzer entrann seiner Kehle, als er den Bleistift auf das dunkle Holz seines Schreibtischs sinken ließ. Das Leder des kleinen braunen Notizbuchs war abgegriffen und an den Ecken vom ständigen Gebrauch abgestoßen. Niemals verließ er das Haus ohne seine Notizen. Mit dem ledernen Band schloss er es in einer geübten Bewegung und ließ es beim Hinausgehen in seine hintere Hosentasche gleiten.

In seinen staubigen Schuhen trat er nach Draußen in die beginnende Hitze des Tages. Die aufgehende Sonne wärmte augenblicklich seine Glieder und ließ die letzten dunklen Gedanken verschwinden.

Die Hand als Sonnenschutz vor dem Gesicht, blinzelte er in die Richtung, aus der er Motorengeräusche hörte. Es war also soweit. Heute würde sie kommen und er war weder glücklich noch unglücklich darüber, denn es war ihm tatsächlich egal. Der Staub der Straße hüllte den näher kommenden Geländewagen in eine undurchsichtige Wolke. Schnellen Schrittes machte er sich auf den Weg zu den Stallungen und damit auch außer Sichtweite des Wagens, der nun abrupt abbremste und vor dem Haupthaus zum Stehen kam.

 

Hier würde sie die nächsten Wochen oder Monate verbringen. Weit weg von jeglicher Zivilisation, ohne Handyempfang oder Internet- dafür mit hunderten Fliegen und wilden Tieren. Der Fahrer hatte den gesamten Weg keinen Ton gesagt und gab ihr nun ihr leichtes Gepäck aus dem Wageninneren ohne sie dabei anzuschauen, bevor er wieder auf den Fahrersitz rutschte. Er nickte kaum merklich zur Verabschiedung und startete den Wagen, der ihn zurück in die Hauptstadt bringen würde. Sie blickte ihm noch einen Moment nach und beobachtete das Spiel des Windes, der den aufgewühlten Sand und Staub in alle Himmelsrichtungen verteilte, bevor sie ihre Tasche aufhob und zum Haupthaus schlenderte.

Die Sonne brannte unermüdlich, bereits seit dem Sonnenaufgang und ihr blaues Jersey-Kleid klebte an ihrem Körper. Sie fühlte sich schmutzig und ausgelaugt, doch ehe sie auf die weiße Veranda trat um zu klopfen, straffte sie ihre Schultern und zog die staubige Luft tief in ihre Lungen.

„Du schaffst das! Auf geht´s!“, machte sie sich Mut und klopfte an die weiße Tür, deren Farbe bereits abblätterte. Es dauerte eine Weile, bis sie Geräusche aus dem Innern wahrnahm, die immer näher kamen, bis die altersschwache Tür endlich mit einem lauten prodestierenden Geräusch geöffnet wurde. Sie blickte in zwei stahlblaue Augen, die sie freundlich musterten und das Lächeln, das sich auf dem wettergegerbten Gesicht abzeichnete, ließ auch ihre Mundwinkel automatisch nach oben wandern.

 

Alles würde gut werden, da war sie sich nun sicher!

Kapitel 1

„Nicht schon wieder.“, grummelte sie genervt, als er gegangen war und fuhr sich durch ihre braunen Haare. Sie hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut, doch er hatte diesen Plan gerade meisterlich durchkreuzt. Sie straffte ihre Schultern und versuchte ihren Ärger herunter zu schlucken. Dieser bezog sich mehr auf sich selbst, als auf Kevin. Sie beschloss ihre schlechte Laune einzudämmen, bevor sie sich ihrem Schicksal fügen würde und sich in diese endlose nächtliche Besprechung begab.

Vor dem Spiegel in der Damentoilette betrachtete sie stumm ihr Spiegelbild und war überrascht, dass man ihr die viele Arbeit der letzten Wochen doch ansah. Unter ihren sonst strahlend grünen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, die von den vielen Stunden nächtlicher Arbeit zeugten. Ihr Blick wirkte stumpf und ausdruckslos. Sie fuhr sich mit ihren Händen durch ihre kastanienbraunen Haare, die ihr bis zur Schulter gingen, um etwas Ordnung hinein zu bringen und ließ sich kaltes Wasser über beide Handgelenke laufen. Das weckte ihre Lebensgeister und verschaffte ihr genug Energie, um das Bevorstehende ohne weiteres Murren zu ertragen.

Wieder einmal hatte Kevin kurzfristig beschlossen, dass sie Belinda bei der wöchentlichen Verlags-Besprechung vertreten sollte. Natürlich, Belinda war ihre Vorgesetzte und leitete den Bereich „News“ und es gehörte zu ihren Aufgaben sie zu vertreten. Jeder Teamleiter musste das hin und wieder tun, nur bei Amy waren es viel zu oft die nächtlichen Besprechungen, die sie übernehmen musste. Viele ihrer Teamleiter-Kollegen verabschiedeten sich rechtzeitig in den Feierabend, wenn auch nur der Hauch einer Vorahnung in der Luft lag, dass Belinda sich rarmachen könnte. Natürlich, eine schnöde Veranstaltung, die zumeist bis zwei Uhr nachts ging, war alles andere als einladend.

Amy arbeitete bereits seit ihrem Collegeabschluss für den Toronto Star, die größte Tageszeitung im Land, und hatte es als Journalistin weit gebracht. Die Karriere war eigentlich nie ein Traum von ihr gewesen, aber mit dem Praktikum bei einem solchen Zeitungsverlag und den richtigen Kontakten, konnte man sich schnell hocharbeiten und so hatte sie nach dem Praktikum zuerst eine Festanstellung erhalten und vor drei Jahren wurde sie tatsächlich Teamleiterin des Bereichs „Crime“. Die Beförderung zur stellvertretenden Resort-Leiterin, stand an und bisher wusste sie noch nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Sie übernahm bisher bereits die meisten Aufgaben, die eine solche Stellung mit sich brachte, daher würden sich lediglich ihr Titel und ihre Gehalt verändern. Doch weder das eine, noch das andere waren ihr tatsächlich wichtig. Vielmehr wollte sie weiterhin so viel als möglich selbst schreiben und recherchieren. Doch die administrativen Aufgaben würden sie spätestens mit der Beförderung komplett vereinnahmen, das wusste sie.

 

Ihr Gesichtsausdruck war gleichgültig, als sie die Toilette verließ, um an ihrem Schreibtisch noch ihre Unterlagen zusammen zu suchen. Das Großraumbüro war verlassen, lediglich aus dem angrenzenden Besprechungsraum drang leises Stimmengewirr. Sie musste sich beeilen, denn sicher waren bereits alle dort versammelt. Mit ihren Unterlagen unter dem Arm steuerte sie auf den großen gläsernen Besprechungsraum zu. Sie würde es eben über sich ergehen lassen und, dass schwor sie sich, beim nächsten Mal würde sie es Kevin nicht so leicht machen.

Die meisten Resort-Leiter und Chefredakteure waren bereits anwesend. Sie standen in losen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Im Hintergrund warf die Sonne ihre letzten Strahlen auf den Ontariosee, der direkt unterhalb des Wolkenkratzers wunderbar glitzerte, und tauchte den Besprechungsraum in ein diffuses Licht. Die Aussicht hier aus dem 15.Stock war grandios und doch genoss sie keiner der Anwesenden- es gab Wichtigeres. Amy nahm am ovalen Besprechungstisch Platz und grüßte die anderen mit einem kurzen Nicken. Sie war nicht in der Stimmung für Small-Talk.

 

Fast vier Stunden später trat sie hinaus in das nächtliche Toronto, dass sie mit einer drückenden Schwüle empfing. Sie fühlte sich befreit, als sie endlich im Freien war, auch wenn es hier draußen wesentlicher heißer war, als in den klimatisierten Räumen der Redaktion.

Die Hitzewelle plagte die Menschen nun seit mehreren Wochen und manchmal hatte sie das Gefühl, nur die stetig leichte Priese vom See würde die Hitze in der Stadt erträglich machen. Sie entschied sich heute den Nachhauseweg über den Queens Quay zu nehmen, so konnte sie noch eine Weile am Wasser entlang gehen, dass nun schwarz und ruhig da lag. Die Bewegung tat ihr gut, nachdem sie so lange Zeit bewegungslos auf dem Stuhl im Besprechungsraum ausgeharrt hatte. Nach einem kurzen Fußweg erreichte sie das backstein-farbene Appartementhaus und betätigte im Foyer den Kopf des Fahrstuhls, der durch den Farbwechsel des Kopfes den Befehl bestätigte. Im 6.Stock angekommen, schloss sie ihre Wohnungstür auf und roch augenblicklich, dass er Pasta gekocht haben musste. Seine Lieblingsspeise- Tagliatelle mit Garnelen, Tomaten und Rucola. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie gut sie beide sich doch kannten.

 

Michael kam meist erst gegen acht Uhr von der Arbeit im Gericht nach Hause. Als Staatsanwalt war er auch meist nach Feierabend noch eingespannt und hatte sich deshalb in einem der Räume ihres Appartements ein kleines Büro eingerichtet.

Für den Fall, dass sie nicht von einer nächtlichen Besprechung abgehalten wurde, kochte sie für gewöhnlich, wenn er nach Hause kam. So konnten sie zusammen essen und er verzog sich anschließend zumeist noch für ein oder zwei Stunden in seinem Büro.

Doch heute hatte er sich selbst versorgen müssen, was ihm angesichts des herrlichen Dufts, der noch immer in der Wohnung schwebte, gelungen zu sein schien.

 

„Hallo Schatz, ich bin zu Hause!“, rief sie durch den schmalen gelb gestrichenen Flur, in derHoffnung den Fernseher zu übertönen, der im Wohnzimmer den Sport kommentierte.

„Hey Honey! Konntest du dich mal wieder nicht losreißen?“, frotzelte Michael.

Sie ließ ihre Schlüssel in die Schale auf dem Schränkchen im Flur fallen und betrat breit grinsend das Wohnzimmer, das mit den dunklen Möbeln und den cremefarbenen Wände gemütlich eingerichtet war. Auch nach über sechs Jahren Beziehung, zog dieser Mann sie immer noch magisch an, sobald sie im selben Raum waren. Er war groß, muskulös und gutaussehend. Mit seinen blonden kurzen Haaren, die er meist mit etwas Wachs in eine sexy wirkende Unordnung brachte, und seinen dunkelblauen Augen, kam er bei den Frauen an- was im durchaus bewusst war. Die beiden genossen die wenige gemeinsame Zeit und sie war immer wieder einigermaßen erstaunt darüber, wie harmonisch ihre Beziehung in den gemeinsamen Jahren war. Sie waren ein eingespieltes Team und jeder hatten seinen Platz darin gefunden. Trotz der wenigen Momente für Zweisamkeiten, pflegten sie beide ihre Beziehung so gut es eben möglich war und bekanntlich lässt es sich schwer streiten, wenn man sich nicht sieht, was zu einem erheblichen Teil die Harmonie erklären könnte.

 

Er lächelte ohne seinen Blick vom Fernseher loszulösen, über den eine Zusammenfassung des heutigen Toronto Maple Leafs Spiels flimmerte, als sie den Raum betrat. Das dunkelbraune Ledersofa sah sehr einladend aus und sie hatte kurz das Bedürfnis, es sich darauf gemütlich zu machen und sich einfach an ihn zu schmiegen, seine Körperwärme zu spüren, seinen Geruch warzunehmen. Doch ihr graues Nadelstreifenkostüm war verschwitzt und sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Das Einzige was nun helfen würde, wäre eine ausgiebige Dusche. Mit einem kurzen Kuss zur Begrüßung und ohne seinen Kommentar einer Antwort zu würdigen, verabschiedete sie sich direkt wieder und verließ das Zimmer in Richtung Bad.

Achtlos verteilte sie die verschwitzen Klamotten auf den kühlen Granitfließen und stellte das Wasser der Dusche an. Nach ein paar Sekunden hatte es die gewünschte lauwarme Temperatur, genau richtig, wenn es draußen über 35 Grad waren. Sie stieg hinein und stand minutenlang bewegungslos unter dem starken Wasserstrahl, der das Wasser literweise über ihrem schlanken Körper ausgoss- so hing sie einige Zeit ihren Gedanken nach.

Sie sollte unbedingt mal wieder ihre Mum anrufen und morgen müsste sie nach Yorkville, um Lisas Geschenk abzuholen, begann sie eine imaginäre Liste im Kopf zusammen zu stellen. Lisa war ihre beste Freundin und arbeitete seit ihrem Studium als Anwältin für Michaels Mutter. Das Geschenk für ihren morgigen Geburtstag hatte Amy bereits vor Wochen für sie bestellt und sie würde es nur noch in der Galerie abholen müssen. Amy hatte alles organisiert und der gesamte Freundeskreis beteiligte sich an der vierstelligen Summe, die es letztendlich kosten würde. Sie würde Augen machen, da war sich Amy sicher.

 

Nach der ausgiebigen Dusche trocknete sie ihre Haare, den nach Lavendel dufteten, mit einem Handtuch und band sie zu einem losen unordentlichen Dutt am Hinterkopf zusammen. Sie schlang sich ein weiteres Handtuch um ihre Mitte und ihr Verlangen nach Ruhe dirigierte sie direkt in die Küche. Der Wasserkessel stand mit ausreichend Wasser gefüllt auf der hinteren Platte des Gasherds; immer startklar für eine Tasse heißen Tees. Im Wohnzimmer war der Fernseher nun leiser gedreht, offensichtlich war die Zusammenfassung vorüber und der restliche Sportbericht konnte Michaels Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln. Er liebte nur einen Sport und das war nun mal Eishockey. Michael war in Toronto geboren und aufgewachsen, was einen gewissen Fanatismus hierfür sicherlich erklärte. Sie konnte sich durchaus auch für diesen Sport begeistern, allerdings nur live im Stadion inmitten der Fans und mit einer ordentlichen Portion Fastfood- das Spiel war für sie eher Nebensache- es ging um die Atmosphäre. Beim Fernsehen galt ihre Aufmerksamkeit daher eher den Nachrichten als irgendwelchen Sportberichten.

 

Über die Schulter hinweg fragte sie ihn durch die offene Seite der Küche nach seinem Tag, während sie einen Teebeutel aus der Box angelte und in ihre blau-weiß gepunktete Teetasse fallen ließ.

„Stell dir vor, der Simons-Fall ist abgeschlossen. Wir hatten heute den letzten Verhandlungstag. Morgen erwarten wir das Urteil und dann kann ich das erste wirklich freie Wochenende seit Monaten genießen, denn es sieht gut für uns aus. Wenn wir Glück haben, entscheidet die Jury auf mindestens 10 Jahre Haft und das wird auch die Angehörigen freuen.“, in seiner Stimme schwang Stolz und Erleichterung mit, dass konnte Amy deutlich hören, auch wenn er noch immer vor dem Fernseher saß und sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

 

Dieser Fall beschäftigte ihn seit über vier Monaten und er hatte fast seine gesamte Freizeit investiert, um Max Simons hinter Gittern zu bringen. Er hatte in zwei Fällen junge Mädchen vergewaltigt und auch Amy hatte bereits über diesen Fall berichtet. Leider konnte er sich einen sehr guten Verteidiger leisten, da er zu einer der angesehensten Familien Torontos zählte. Umso mehr hatte es Michael angespornt ihn dingfest zu machen. Es ging schließlich um Gerechtigkeit, egal wie viel Geld jemand hatte oder wie gut sein Anwalt war.

Nun betrat er hinter ihr die Küche und stellte die leere metallene Popcorn-Schüssel auf dem runden Küchentisch ab. Während sie das kochende Wasser über den Teebeutel goss, konnte sie seinen Atem an ihrem Nacken spüren und sie stelle den Wasserkocher beiseite. Er war von hinten an  sie herangetreten und umschloss nun ihre Hüfte mit seinen starken Armen und drückte sie sanft gegen seinen Körper. Ihre Muskulatur entspannte sich merklich unter seiner zärtlichen Berührung und ihr Kopf sank nach hinten an seine Schulter. In einer fließenden Bewegung drehte er sie zu sich um und ihre Lippen fanden sich sofort. Zärtlich küsste er sie und streichelte dabei ihren Rücken mit seinen Fingerspitzen. Sie genoss die Wärme seines Körpers, gab sich ganz dem Gefühl der Geborgenheit hin und legte ihre Hand an seine Wange, während die andere den Weg in sein Haar fand. Der dampfende Tee auf der Küchenablage war vergessen und eh sie sich versah, hob er sie hoch und verstärkte den Druck gegen die Küchenzeile. Ihre Beine schlangen sich um seine Hüfte, während sie den Kuss intensivierte und ihr Rücken an die Küche gepresst war. Ein leichtes Stöhnen entwich ihrem Mund und er löste langsam, wie in Zeitlupe, das Handtuch und begann sie am gesamten Körper mit seinen Händen zu liebkosen. Das war genau, was sie nach so einem Tag benötigte.

 

 

Sie betrachtete verschlafen die Sonnenstrahlen, die durch die Lücken der Jalousie ein Muster in den Raum zeichneten und seufzte leise. Michael lag eng an sie gepresst neben ihr und sie spürte seinen Körper an ihrem Rücken. Es fühlte sich gut an, so wie alles an und mit ihm. Er hatte sie letzte Nacht von einer auf die andere Minute auf andere Gedanken gebracht. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte und ihre Gedanken begannen die letzte Nacht zu wiederholen.

Das zweite Klingeln des Weckers holte sie schlagartig in die Gegenwart zurück und sie löste sich langsam aus der Umarmung, um dem nervenden Piepsen ein Ende zu bereiten. Es war halb sieben und sie wollte heute früh ins Büro, um den pünktlichen Absprung zu schaffen. Ihr Blackberry zeigte bereits 14 ungelesene Emails und 4 unbeantwortete Anrufe an und sie wusste, dass heute ein stressiger Freitag werden würde. Normalerweise hatte sie ihren Klingelton auch nachts an, aber gestern war ihr nach der Besprechung einfach nach etwas Ruhe zu Mute gewesen. Und egal was in der Nacht in der Welt passieren sollte, wollte sie es erst am nächsten Morgen erfahren. Irgendetwas musste passiert sein, denn die Anzahl der Anrufe und Emails sprach Bände. Doch das spielte keine Rolle, sie würde heute Abend um acht Uhr im SPIN Club sein, um mit Lisa ihren Ehrentag zu feiern. Kurz dachte sie daran die Emails zu öffnen, schob den Gedanken dann aber mit einem Stirnrunzeln beiseite und schwang beide Beine aus dem Bett.

Michael konnte heute etwas länger schlafen, er musste erst gegen zehn im Gericht sein. Mit ihrem Lieblingskleid über dem Arm betrat sie das Badzimmer, um sich den restlichen Schlaf aus dem Gesicht zu waschen und alles mit etwas Make-up zu beschönigen. Als Jugendliche hatte sie häufig starke Akne, doch das legte sich mit den Jahren und mittlerweile hatte sie eine ebenmäßige Haut, die fast kein Make-up benötigte. Sie schlüpfte in das schwarze Designerstück, dass ihre Figur optimal umschmeichelte. Der Stoff war edel und fiel in leichten Wellen bis zu den Knien. Zudem bildete das Schwarz des Kleides einen eleganten Kontrast zu ihrer hellen Haut. Zusammen mit ihren schwarz-goldenen Pumps sah es einfach hinreißend aus. Sie fühlte sich in diesem Kleid immer gleich etwas besser und genau das brauchte sie heute. Sie kombinierte das Outfit mit ihrer beigen Jacke, die mit Goldfäden durchzogen war und ihrem golden Schmuck. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk im großen Spiegel im Flur und zupfte noch die Halskette zu Recht. Perfekt!

Im Wohnzimmer klingelte das Telefon und ihr war klar, dass das nichts Gutes bedeutete. Mit ein paar großen Schritten war sie kurz nach dem zweiten Klingeln am Apparat.

„Hallo Amy! Süße ich wollte nur fragen, ob du es heute wirklich schaffst zu kommen? Nach allem was heute Morgen passiert ist.“ Es war Lisa und sofort war Amy alarmiert. Mist! Hätte sie nur ihre Mails gelesen.

„Update bitte! Mein Blackberry war über Nacht ausgeschaltet.“, erwiderte sie knapp, ohne weitere Zeit mit Höflichkeiten zu verschwenden.

„Ohh…, naja es gab wohl einen Nachahmungstäter vom Eaton Center-Amoklauf; heute Morgen erschoss ein Jugendlicher drei Menschen und dann sich selbst. Ich dachte, du wärst bereits in der Redaktion und…“

Amy unterbrach sie mitten im Satz: „Nein, ich bin noch zu Hause. Hör zu Süße, ich mach mich direkt auf den Weg ins Büro, aber ich verspreche dir, dass ich es heute pünktlich schaffen werde. Bis später… ach, und Süße… Happy Birthday!“, ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf, schnappte sich ihre Tasche und rannte ins Schlafzimmer.

„Michael! Schatz!“, versuchte sie ihn wach zu bekommen und rüttelte eher unsanft an seiner Schulter. Er drehte sich mit halb geöffneten Augen zu ihr um und strahle, als er ihr Gesicht sah. Im nächsten Moment änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig, als er in ihrem Gesicht las, dass etwas nicht stimmte und seine Augen weiteten sich.

„Was ist passiert?“, er war hellwach und setzte sich aufrecht ins Bett. Die Muskel auf seinem nackten Oberkörper waren angespannt.

„Hör zu, es gab einen Amoklauf im Einkaufscentrum an der Young Street. Ich habe noch nicht mit dem Büro telefoniert, dass mache ich von unterwegs aus. Ich nehm das Auto und fahr direkt hin. Sehen wir uns heute Abend bei Lisas Party? Ich ruf dich später vom Büro aus an.“, sprudelte es aus ihr heraus. Er nickte nur stumm und sie gab ihm einen flüchtigen Kuss-ein paar Sekunden später war sie zur Wohnung hinaus und die Tür fiel etwas zu schwungvoll ins Schloss.

Im Treppenhaus nahm sie zwei Stufen auf einmal, was mit ihren High Heels und dem Kleid nicht gerade einfach war, aber der Fahrstuhl brauchte zu lange. Sie hätte fast Ms Spancer umgerannt, die gerade mehrere große Tüten in den dritten Stock schleppte.

„Entschuldigung!“, rief sie im Vorbeirennen.

Sie kannte Amy bereits seit sie hier eingezogen waren und wusste wahrscheinlich aus den Nachrichten, was heute Morgen passiert war, denn sie schüttelte nur lächelnd den Kopf, als sie Amy hinterher blickte.

 

Amy und Michael hatten die Wohnung damals vor 4 Jahren besichtigt, als sie beschlossen zusammen zu ziehen. Es sollte in der Nähe der Arbeitsstellen liegen, damit man sich das Auto sparen konnte, denn der Verkehr in Toronto war zu den Hauptverkehrszeiten die Hölle. Direkt auf Anhieb hatte ihnen das 4-Zimmer Appartement im Wohnblock an der Scadding Avenue gefallen. Und auch das Gebäude sah von außen doch ganz ansehnlich aus. Die Nähe zum Wasser war für Amy entscheidend, Michael war der Parkplatz in der Tiefgarage wichtiger. Sie hatten sich noch weitere Wohnungen angesehen, aber sich schließlich für diese entschieden, da beide ihre wichtigsten Punkte darin vereint sahen.

 

Amys Parkplatz in der Tiefgarage war direkt am Eingang zum Treppenhaus und so saß sie bereits drei Minuten, nachdem sie das Telefonat mit Lisa beendet hatte, in ihrem schwarzen Audi Q5 und startete den Motor. Sie steuerte den Wagen aus der Tiefgarage und bog auf die Scadding Avenue.

Der Verkehr war bereits relativ dicht, denn die Rushhour hatte längst begonnen und so reihte sie sich auf der Hauptstraße in den langsam dahin fließenden Verkehr ein. Ihr Blackberry hatte sie in die Halterung im Auto geschoben und wählte nun die Büronummer von Belinda.

„Hallo Belinda, hier ist Amy. Ich habe es gerade gehört und sitze bereits im Auto. Wie ist der Stand?“, sie sprach sachlich und nüchtern über die Freisprecheinrichtung ihres Wagens.

Sie war diese Situationen gewöhnt. Früher war sie nervös geworden, doch nach so vielen Jahren im News-Blog, konnte so etwas ihrer Professionalität nichts anhaben. Bereits beim ersten Amoklauf im Eaton Center, damals im Juli 2012, war sie mit einem Kamerateam vor Ort gewesen. Im Restaurantbereich im Untergeschoss des riesigen Einkaufszentrums hatte ein Mann wild um sich geschossen, dabei war ein 25-jähriger tödlich getroffen worden. Amy hatte zu jener Zeit als eine der ersten Online Bloggerin darüber berichtet und die Nachricht lief auf allen Kanälen und Sendern. Ihre Freundin hatte von vier Toten, darunter der Schütze selbst, gesprochen- es würde also auch heute durch alle Kanäle gehen.

„Amy, gut das du anrufst. Karls Team ist auf dem Weg. Die müssten in 5 Minuten vor Ort sein. Der Dundas-Square ist gesperrt. Fahr von der City Hall aus an den Hintereingang auf der Westseite, dort wartet das Team auf dich.“, schon hatte sie wieder aufgelegt.

Belinda war ein „Alter Hase“ im Geschäft und kannte sich aus. Sie hatte bereits alles im Hintergrund perfekt organisiert und koordinierte alles von der Zentrale aus.

Sie schaltete das Autoradio ein, um vorab ein paar erste Infos zu erhalten. Der Sprecher berichtet gerade Live aus dem Eaton Center:

„…heute Morgen gegen halb acht. Es wird vermutet, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt. Die Polizei bestätigte vor ein paar Minuten, dass es sich bei den Opfern um Angestellte einer Reinigungsfirma handelte, die mit der Reinigung der Scheiben beauftragt waren, als der Täter gewaltsam in die Mall eindrang und gezielte Schüsse auf die Personen abgab. Der Täter soll ein Jugendlicher sein, was die Polizei allerdings…“

Amy dreht das Radio leiser und wählte die Nummer von Karls Handy, während sie an der Ampel vor der City Hall ungeduldig auf das Grünsignal wartete und mit ihren Fingern auf dem Lenkrad einen Takt trommelte. Gut, die Polizei hatte erste Infos bereits bestätigt, doch vieles schien noch nicht bekannt zu sein. Es war nun kurz vor acht und damit höchste Zeit, dass sie einen ersten Bericht und Bilder mit Fakten und den passenden Mutmaßungen online stellte. Die Leser wollten auch immer ein paar spekulative Details, die sich eventuell als falsch erwiesen, aber so war das Business.

Karl meldete sich nach dem ersten Klingeln und bestätigte ihr, dass er gerade am Westeingang vorgefahren war. Sie würden sich also gleich dort treffen. Sie legte auf und atmete hörbar aus. Es wurde grün und sie fuhr die letzten hundert Meter bis zum Westeingang. Ihren Wagen stoppte sie direkt neben dem schwarzen Transporter der Redaktion.

„Los geht´s!“, sagte sie zu sich selbst, bevor sie die Wagentür öffnete und auf Karl zusteuerte, der das nötige Equipment auslud, das teilweise von in schweren silbernen Metallkisten steckte. Karl war Familienvater und ein eher robuster Typ mit grauen Haaren und breiten Schultern. Er war ihr Fotograph für den heutigen Tag. Begleitet wurde er von zwei Technik-Assistenten. Amy mochte das Team um Karl und arbeitete gerne in Außeneinsätzen mit ihm zusammen, da er umgänglich und bodenständig war. Nun würden sie die nächsten paar Stunden gemeinsam versuchen eine Berichterstattung vom Ort des Geschehens aufzubauen und aufrecht zu erhalten.

 

Die Redaktion betrat sie erst gegen Nachmittag. Sie hatte ihren Laptop und den UMTS-Stick immer bei sich, so hatte sie die ersten Berichte veröffentlicht und Bilder auf die Homepage stellen können.

Der Schütze hatte sich gegen halb acht an diesem Morgen gewaltsam Zugang verschafft, indem er die Glastüren am Personaleingang mit zwei gezielten Schüssen zum Bersten brachte. An den Hauptzugängen waren die Glastüren seit einem Jahr aus kugelsicherem Glas. Somit konnte man davon ausgehen, dass es eine geplante Tat war, denn er hatte sich vorher informiert. So früh am Morgen befand sich nur das Reinigungspersonal im Einkaufszentrum und auf die ersten Personen, die er antraf, gab er insgesamt 14 gezielte Schüsse ab und schoss sich dann selbst in den Kopf. Der Täter war erst 19 Jahre alt und noch nicht einmal vorbestraft, wie Amy von einem befreundeten Polizisten erfahren hatte. Sie hatte ihre Kontakte in diesem Bereich und daran war Michael nicht ganz unbeteiligt. Er half ihr oft, so gut es eben ging, denn manchmal waren die Parallelen ihrer Fälle zu groß und er konnte nun schlecht die Strategie der Staatsanwaltschaft in einem Mordprozess direkt der Presse mitteilen. Sie hatten sich damit arrangiert und sie halfen sich wann immer es ging. Wenn Michael ihr keine Auskünfte geben konnte, bohrte sie auch nicht nach, denn sie wusste, wie schwierig es für ihn war, diese schmale Grenze stets  aufrecht zu erhalten.

 

Im Büro angekommen, stellte sie ihre Sachen ab und wählte seine Nummer. „Hallo Schatz, na wie war dein Tag bisher?“, fragte sie mit einem leicht sarkastischen Unterton, den ihrer war alles andere als entspannt gewesen.

„Besser als deiner, denke ich. Die Juri hatte ja bereits gestern auf schuldig plädiert und Richterin Wulf sprach heute das Urteil: 11 Jahre Haft. Das ist ein echter Erfolg.“, man hörte selbst durch das Telefon, dass er verdammt stolz war und dieser Fall würde seiner Karriere nochmals einen gewaltigen Schub geben, was ihn unheimlich freute.

Er war ehrgeizig in seinem Job und sein Ziel war der Posten des Bezirksstaatsanwaltes. „Glückwunsch! Ich freue mich für dich. Warum ich eigentlich anrufe, könntest du mir eventuell einen Gefallen tun? Ich wollte in der Mittagspause das Geschenk für Lisa in der Galerie abholen, leider werde ich es nicht mehr schaffen. Könntest du nach Yorkville fahren und es abholen und vor acht Uhr damit im SPIN sein? Lisa wird erst gegen acht da sein und ich möchte nicht, dass sie es vorher sieht. Emma, die Rothaarige vom Empfang, wird es für dich verwahren, bis ich da bin. Ich hoffe, ich schaffe es auf halb neun dort zu sein.“, antwortete sie. Er versicherte ihr, sich um alles zu kümmern, da er nun im Gericht fertig war und noch genügend Zeit blieb, alles zu erledigen. Erleichtert legte sie auf, um direkt die nächste Nummer zu wählen.

„Mum? Hallo, ich bin es, Amy.“, meldet sie sich.

„Hallo Sweetheart, schön, dass du anrufst. Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“, es tat gut die Stimme ihrer Mum zu hören, aber sie hatte nicht viel Zeit zum Reden.

„Mum, hier ist die Hölle los. Du hast es bestimmt in den Nachrichten gehört. Es gab einen Amoklauf im Eaton Center und ich bin jetzt erst ins Büro gekommen. Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass ich mich am Sonntag bei dir melde, dann habe ich Zeit zu reden. Okay?“, wie immer hatte ihre Mum Verständnis und gab ihr nur noch die besten Glückwünsche für Lisa mit auf den Weg. Amy legte den Hörer wieder auf und nahm an ihrem Schreibtisch Platz.

Der Computer war bereits hochgefahren und sie bearbeitet zuerst ihre Emails, um anschließend den Bericht für die Samstagsausgabe zu schreiben. Plötzlich stand Kevin neben ihr. Sie hatte ihn nicht bemerkt und erschrak, als er sie ansprach:

„Amy, gut, dass du da bist. Hast du den Bericht fertig? Belinda möchte ihn noch Korrektur lesen und freigeben, bevor sie ins Wochenende geht.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Wochenende, es ist erst drei Uhr nachmittags? Du kannst ihr sagen, der Bericht liegt in einer Stunde auf ihrem Schreibtisch.“, erwiderte sie knapp. Natürlich wollte Belinda ausgerechnet heute früher ins Wochenende. Und sie kannte Belinda gut genug, um zu wissen, dass sie davon auch dieser Amok-Läufer nicht abhalten würde.

Kevin wirkte nicht begeistert von ihrer Antwort und schaute sie skeptisch an.

„Amy, könntest du dann bitte danach nochmal raus fahren und die Berichterstattung vor Ort wieder übernehmen? Jennifer hat dich ja vorhin abgelöst, aber sie muss noch über den Simons-Fall schreiben und kann deshalb nicht ewig vor Ort bleiben.“

Sie schluckte kurz. Ein klares nein würde sie nicht über die Lippen bringen, dass wusste sie, aber sie wollte ihre guten Vorsätze von gestern jetzt nicht direkt wieder über Bord werfen.

„Ich kann schon, aber spätestens um halb acht muss mich jemand ablösen, ich habe einen wichtigen Termin, den ich nicht verschieben kann. Kevin, ich mache es nur wenn du mir versprichst, dass ich um halb acht abgelöst werde, klar?“, pokerte sie mit ihm um ihren Feierabend. Sie kam sich vor wie auf dem Bazar und man sah Kevin deutlich an, dass er damit nicht gerechnet hatte. Es lag nun an ihm, jemanden für die gehasste Nachtschicht zu besorgen, und das war bekanntlich schwierig. Kevin zog mit seinem neuen Problem im Gepäck ab und Amy konnte sich ihr Lächeln nicht mehr verkneifen. Sie war ziemlich stolz auf sich.

Kapitel 2

Die Musik dröhnte gedämpft durch die dunkle Seitenstraße, in der Bass verriet bereits das Lied. Vor dem Eingang zum Club standen zwei Frauen, die sich unterhielten und genüsslich an ihren Klimmstängeln zogen, der blaue Rauch stieg nur langsam nach oben, um sich schließlich aufzulösen. Amy hatte es fast pünktlich geschafft und das Geräusch ihrer goldenen Absätze hallte in der Gasse wieder, als sie kurz vor halb neun zügig auf den Club zusteuerte. Michael müsste bereits da sein und sie hoffte, dass mit dem Geschenk alles geklappt hatte. Die steile Steintreppe endete ein Stockwerk unter der Straße an einer große metallenen Tür, die Amy entgegenflog, als sie gerade die Hand auf den Türgriff legen wollte. Augenblicklich dröhnte ihr die Musik in voller Lautstärke entgegen und der junge Mann rannte sie beinahe um. „Ohhh, entschuldigen Sie!“, rief er aus, als er noch im letzten Moment die Richtung änderte und nur mit der Schulter an Amy vorbeistreifte. „Schon okay, nichts passiert.“, entgegnete Amy über ihre Schulter und betrat den Club.

Das SPIN war eine Mischung aus Club, Bar und Restaurant. Das Besondere war allerdings, dass man hier auch Tischtennis spielen konnte. Lisa hatte die Lounge gemietet, so konnten die Gäste ungestört in einem abgetrennten Bereich feiern und dort befand sich ebenfalls ein Tischtennistisch, was die Stimmung bekanntlich ungemein auflockerte. Amy hatte schon öfters einen Abend hier verbracht und auch schon ein paar Firmenfeiern hier organisiert.

„Hey Amy, wie geht es dir?“, begrüßte sie die Rothaarige hinter dem Tresen, als sie etwas außer Atem eintrat. Emma organisierte die Tischreservierungen, denn ohne eine Reservierung war es am Wochenende nahezu unmöglich einen Tisch zum Spielen zu bekommen.

„Hi Emma, danke und selbst? Sind die anderen denn schon da und hast du das Geschenk erhalten?“, Michael sollte es bei ihr abgeben, damit sie es Lisa später gemeinsam mit allen Freunden überreichen konnten. Sie nickte mit einem bereiten Lächeln im Gesicht und bedeutete Amy, ihr zu folgen.

Im Club war schon einiges los und an mehreren Tischen wurden lautstark die Bälle über die grüne Platten gejegt. In der Ecke am DJ-Pult erkannte Amy, dass Mary heute als DJ auflegte und hob kurz die Hand, um sie von Weitem zu grüßen.

Es gab 15 Tische zum Spielen und zwei Bars. Es war auch ein angesagter Club und viele Gäste kamen gerne, um etwas zu trinken und die gute Musik zu genießen.

Sie folgte der kleinen Rothaarigen in die Garderobe. Im Hinterzimmer stand es- das Geburtstagsgeschenk ihrer Freundin. Wunderschön mit einer riesigen farblich passenden Schleife versehen. „Wow!“, brachte Amy begeistert hervor, als sie es zum ersten Mal fertig sah.

„Ja, das dachte ich auch, als es dein Mann vorhin hereinbrachte. Gott sei Dank war eure Freundin noch nicht da. Es wird also eine echte Überraschung.“, fiepte Emma zufrieden mit ihrer hohen Stimme. Amy überging die Tatsache, dass Michael und sie nicht verheiratet waren und ließ ihren Zeigefinger leicht über die Strukturen der Ölfarbe wandern. Das Gemälde zeigte typisch für den Künstler eine in Nebel gehüllte Atmosphäre in hellen und dunklen Töne- es wirkte sehr lebendig, obwohl nichts als verschiedene farbige Wolken das Bild beherrschten.

„Wunderschön, ….okay, wir lassen es erst einmal noch hier. Ich werde es ihr später überreichen.“, erklärte sie Emma den Plan. Diese nickte nur und wollte sie bereits zur Lounge führen, doch Amy lehnte dankend ab. Den Weg zur Lounge würde sie alleine finden. Emma kehrte an den Tresen zurück, um die neu angekommenen Gäste zu bedienen und Amy ging in die entgegengesetzte Richtung, um die Spuren, die der Tag in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, in der Damentoilette etwas zu kaschieren.

 

Es waren fast alle Gäste da, als Amy die Lounge betrat und sie steuerte zielsicher auf die Hauptperson des heutigen Abends zu. Der dunkelblau schimmernde Seidenstoff des Cocktailkleids stand ihr hervorragend und passte perfekt zu ihren blonden Haaren. Sie hatte sie zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur am Hinterkopf befestigt und die Perlenkette um ihren zierlichen Hals rundete das Outfit ab.

„Lisa, Süße! Ich wünsche dir alles Liebe und Gute, viel Glück, Gesundheit und Erfolg und bleib so wie du bist!“, flüsterte sie Lisa ins Ohr, während sie sie eng an sich drückte. Ohne die Umarmung zu lösen, murmelte Lisa gerührt:

„Danke Amy, es ist so schön, dass du da bist und auch noch fast pünktlich. Ohne dich wäre der Abend nicht halb so schön geworden und ich hatte heute Morgen kurz Panik, dass du es nicht schaffen würdest.“

„Ich hab es dir doch versprochen, Lisa. Und für gewöhnlich halte ich meine Versprechen.“, Amy löste sich ein wenig aus der Umarmung, um ihr in die Augen zu schauen „Du bist doch meine beste Freundin, um nichts in der Welt würde ich deinen Geburtstag verpassen.“

Lisas Augen waren glasig und ihr Gesicht sprach Bände. Sie schien wirklich sehr glücklich zu sein, dass Amy es geschafft hatte. Michael trat neben die beiden und reichte ihnen jeweils ein Glas Prosecco.

„Hier Mädels, jetzt stoßen wir erst einmal an.“, sie nahmen die Gläser entgegen und lösten ihre Umarmung eher wiederwillig auf. Lisa richtete das Wort an ihre Gäste, um alle zu begrüßen und mit allen auf ihren Geburtstag anzustoßen. Alle prosteten ihr zu, als sie ihre kurze Ansprache beendet hatte und da kam auch schon Emma herein. Diese Frau hatte ein Timing, dachte sich Amy. Sie nahm ihr das Geschenk ab und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. Lisa war so mit den anderen Gästen beschäftigt, dass sie es noch nicht gesehen hatte. Amy stellte das etwas sperrige Geschenk verkehrt herum an die Wand und versuchte sich Gehör zu verschaffen.

„Also,… Lisa! Lisa! Emm… hättest du einen Augenblick. Könnt ihr kurz ruhig sein? ...danke! Also Lisa, du hast dich bestimmt schon gewundert, warum dir deine ganzen Freunde heute noch nichts zu deinem Geburtstag geschenkt haben.“ Ein kurzes Gekicher der herumstehenden Gäste ging durch den Raum. „Nun wir haben uns überlegt, dass es da etwas gibt, dass du dir sicherlich von ganzen Herzen wünschst, auch wenn du es vielleicht noch nicht weißt.“, alle lächelten und Amy fuhr fort „Wir haben alle zusammengelegt und ich denke, wir haben dir damit einen Traum erfüllt.“

Michael erkannte das Stichwort und nahm das Bild von der Wand und dreht es um, damit alle, und vor allem Lisa, es sehen konnten. Es war ein Gemälde ihre Lieblingskünstlers- Jay Hodgins, ein bekannter Maler aus Toronto- der es nur für Lisa in ihren Lieblingsfarben angefertigt hatte- helle blau Töne vermischten sich mit anthrazit und gingen fließend in weiße und grünliche Wolken über. Lisas Augen füllten sich mit Tränen, als sie realisierte, was das war.

„Das ist nicht euer…“, begann sie, doch ihre Stimme versagte.

„Bevor du losheulst… ich denke, du hast den Künstler des Gemäldes bereits erkannt. Ich hatte verschiedene Gespräche mit ihm und schließlich willigte er ein, ein Bild nur für dich zu malen. Ich gab ihm sämtliche Infos über dich, auch die peinlichen, und das ist dabei heraus gekommen. Happy Birthday, Lisa!“, Amy schmunzelte, als Michael ihr das Geschenk überreichte und nun brachen endgültig alle Dämme bei Lisa. Sie drückte Michael das Bild wieder in die Hand und schloss Amy in ihrem Arme, ganz so als ob sie sie nie wieder loslassen wollte und drückte sie fest an sich. Sie war so gerührt von dem Geschenk. Amy hatte sich gewünscht, dass es ihr gefallen würden, doch mit einer solch emotionsgeladenen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Und wie sie in den glücklichen und überwältigten Gesichtern der Anwesenden erkennen konnte, ging es den anderen Gästen ähnlich. Viele nickten ihr anerkennende zu, als sie ihren Blick über Lisas Schulter hinweg über die strahlenden Gesichert wandern ließ.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sie sich aus der Umarmung, doch Lisas Hände ruhten weiter auf Amys Unterarm.

„Danke, das ist das tollste Geschenk, dass ich jemals bekommen habe.“, sagte Lisa mit leicht zittriger Stimme. Amy wischte ihr die Tränen mit ihrem Daumen von der Wange und versuchte das verlaufene Make-up zu retten.

„Schon okay, Süße. Für dich doch immer. Jetzt hör auf zu heulen und bedank dich bei den anderen.“, mit diesen Worten entließ sie Lisa aus ihren Armen und drückte sie sanft von sich weg, damit sie sich auch bei allen anderen bedanken konnte. Klar, es war Amys Idee gewesen und sie hatte sie auch umgesetzt, aber ohne die anderen hätte sie das Ganze niemals realisieren können. Michael trat zu ihr und legte ihr seinem Arm um die Taille. Er hatte seinen dunkelblauen Anzug an, der ihm so gut stand. Liebevoll nahm er sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihre Arme schlangen sich um seine schlanke muskulöse Körpermitte und sie erlaubte sich, die Nähe für einen Moment zu genießen.

„Ich bin so stolz auf dich, Amy. Du bist echt eine wahre Freundin.“, er nahm ihr Gesicht in beide Hände und blickte ihr dabei tief in die Augen. Sie lächelte, angesichts seines Lobs und drohte sich in seinem liebevollen und anerkennenden Blick zu verlieren. Es tat so gut, diese Liebe und Wärme in seinen Worten und Gesten zu spüren. Sie küsste ihn etwas zu leidenschaftlich für diesen Anlass, doch das war ihr in diesem Moment egal. Und als sich ihre Münde wiederwillig von einander trennten, flüsterte sie mit brüchiger Stimme an sein Ohr:

„Ich liebe dich, Michael.“ Er lächelte sie an und reichte ihr das Prosecco Glas, das sie auf dem Stehtisch neben sich abgestellt hatte. Der Prosecco sprudelte noch etwas stärker, als sich die Gläser mit einem Klingen berührten und sie ließen sich nicht aus den Augen, als sie tranken. Die prickelnde, kalte Flüssigkeit tat ihrem Hals gut, denn erst jetzt bemerkte sie, wie kratzig dieser geworden war, und zudem schmeckte der Prosecco fantastisch.

 

Pflichtbewusst besann sie sich, auch die anderen Gäste zu begrüßen. Sie gab Michael einen Kuss auf die Wange und ging hinüber zu Lisas Eltern. Sie kannte beide schon fast so lange, wie sie auch Lisa kannte.

Als sie nach dem College nach Toronto kam, lernte sie durch ihren Job Michael kennen und schließlich fand sie in der Angestellten seiner Mutter Victoria ihre beste Freundin. Lisa hatte sie bei einem Empfang von Victoria kennen gelernt und sie waren sich auf Anhieb sympathisch. Sie verabredeten sich immer öfters in Cafés oder zum Shoppen und schließlich entwickelte sich diese tiefe Freundschaft. Kurz darauf traf Amy auch zum ersten Mal Bill und Nathalie, Lisas Eltern. Bill war Schuhverkäufer und Nathalie arbeitete in einem Büro in der Innenstadt. Mittlerweile verband sie sehr viel mit dem Ehepaar, das sich in den Mittfünfzigern befand, waren sie doch ihren eigenen Eltern so ähnlich. Sie waren bodenständig und sehr herzlich und Amy war jederzeit bei ihnen willkommen- fast wie eine zweite Tochter.

„Bill, Nathalie, wie geht es euch?“, grüßte sie die beiden, als sie auf das Pärchen zuging. Bills Augen sahen müde aber glücklich aus und er strahlte sie an, als sie ihn in eine kurze Umarmung schloss. Nathalie tätschelte ihr mütterlich die Wange, bevor sie ihr einen Kuss auf die andere gab. Es dauerte nicht lange und sie waren in ein langes Gespräch vertieft.

Bill hatte vor einiger Zeit eine Herz-OP und war nun wieder fast der Alte. Seit drei Wochen arbeitete er nun wieder und man merkte Nathalie an, dass sie das sehr zu beruhigen schien. Sie hatte sich wohl große Sorgen um ihren Mann gemacht. Amy bestellte sich beim vorbeihuschenden Kellner einen Weißwein, während die beiden von ihrem Urlaub auf Bali erzählten, und naschte ein paar Häppchen, die das Personal reichte.

Später am Abend fand sie auch noch Zeit für den Rest ihrer Freunde und spielte auch einigen Runden Tischtennis gegen eine Arbeitskollegin von Lisa. Amy war nicht besonders gut darin, konnte sie  den Schläger einfach nie im richtigen Winkel positionieren, doch das tat dem Spaß keinen Abbruch.

 

Michael hatte sich bereits zu Beginn mit Steve an einem Stehtisch gestellt und auch Sandra, seine Sekretärin vom Gericht, stand bei ihnen. Lisa und Amy schlenderten später am Abend zu ihnen hinüber und Lisa gesellte sich sofort zu Steve. Die beiden waren kein Paar, doch sie waren sich schon immer sehr sympathisch. Amy hatte aufgehört sich zu fragen, wann die beiden es endlichen schaffen würden, zusammen aus zu gehen, nachdem sie sich nun fast 5 Jahre kannten und wie zwei Teenager umeinander herumschlichen. Zu Beginn gab es eine Reihe von Doppeldates zusammen mit ihr und Michael und man konnte deutlich spüren, dass die beiden mehr verband, als nur eine platonische Beziehung. Trotzallem hatten sie nie eine Beziehung oder Affäre.

Steve war Michaels bester Freund und die beiden kannten sich bereits seit der Schulzeit. Er war Polizist und arbeitete in der Abteilung für Gewaltverbrechen. So hatten die vier auch immer ausreichend Gesprächsstoff, denn ihre Arbeitswelten überschnitten sich an so vielen Punkten.

Michael gab ihr einen Kuss und legte seinen Arm um ihre Schulter, als sie zu ihm trat. Sie begrüßte Sandra, die ihr Lächeln zwar erwiderte, doch es erreichte ihre Augen nicht und wirkte gezwungen. Was hatte sie nur gegen sie? Amy war  es schon öfters aufgefallen, dass sie sie nicht wirklich mochte. Das zeigte Sandra zwar nicht offen, aber wenn man darauf achtete, konnte man durchaus eine gewisse Feindseligkeit erkennen, die von ihr ausging.

 

„Wollen wir dann los? Steve hat uns ein Taxi bestellt, dass müsste jeden Moment da sein.“, Michael stand neben ihr und reichte ihr ihre Tasche, denn es war schon nach zwei Uhr und der Club würde bald schließen.

„Sicher Schatz, ich bin gleich soweit.“, sie lächelte ihn an, um ihn etwas zu besänftigen, denn sie würden noch einige Minuten brauchen, um sich von allen zu verabschieden.

„Lisa, wir gehen jetzt. Es war eine super schöne Party. Danke für die Einladung und wir sehen uns morgen, ja?“, verabschiedete sie sich von ihrer Freundin.

„Klar Süße, danke nochmal für das Geschenk und schön das ihr da wart. Bis morgen, Amy!“, erwiderte Lisa zum Abschied. Sie umarmten sich kurz und Amy ging weiter um sich von allen anderen Gästen, die noch hier waren, persönlich zu verabschieden.

 

„Sorry, Jungs, hat etwas länger gedauert.“, rief sie den beiden entgegen, als sie auf die dunkle Straße trat. Michael und Steve waren bereits vorgegangen und standen neben dem wartenden Taxi, das mit laufendem Motor in der Sackgasse stand und sich keine Minute später in den nächtlichen Verkehr auf der King Street einreite. Die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut und die Müdigkeit kroch ihr unaufhaltsam in die Glieder, als sie im Rücksitz das erste Mal an diesem Tag etwas zur Ruhe kam. Michael legte seinen Arm um sie und mit dem Kopf an seiner Brust, schlief sie sofort erschöpft ein.

Als das Taxi anhielt, erwachte Amy nur wiederwillig aus ihrem all zu kurzen Traum.

Sie war auf der Farm ihrer Eltern in Hay Lakes gewesen und hatte auf der großen Wiese hinter dem weißen Farmhaus im Gras gelegen. Sie konnte den Duft der Wiesenblumen und Kräuter noch schwach in ihrer Erinnerung wahrnehmen, als sie aus dem Taxi stieg und ein Lächeln umspielte ihre Lippen, nachdem die beide sich von Steve verabschiedet hatten. Oh wie sie es vermisste. Das Leben in der Großstadt war aufregend und schön. Sie liebte es hier mit Michael zu sein und doch vermisste sie die Freiheit und Ungezwungenheit, die das Landleben mit sich brachte. Die harte, ehrliche Arbeit hatte sie bereits als Kind gerne gemacht und am Abend kam man verschwitzt, staubig und erschöpft nach Hause. Selbstverständlich machte sie ihren Job als Journalistin gerne und doch vermisste sie das Landleben und die Arbeit mit den Tieren- ohne Stress, Hektik und Sonderschichten.

Sie hakte sich bei Michael unter, während sie im Foyer ihres Wohnblocks auf den Fahrstuhl warteten, und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Du bist eingeschlafen. Bist wohl ziemlich geschafft von der ganzen Aufregung heute?“, fragte er liebevoll und strich ihr eine Strähne aus der Stirn.

„Ja,  ich freue mich auf eine ausgiebige Dusche und mein Bett. Oh Gott, tun mir die Beine weh.“, jammerte sie, als sie den Fahrstuhl betraten. Heute Morgen war sie durchaus zufrieden gewesen mit der Wahl ihres Outfits, doch nun machten ihr die 10 cm Absätze zu schaffen.

„Ich mache dir einen Tee und du gehst erst einmal duschen. Wie hört sich das an?“, Michael hatte wohl Mitleid mit ihr und bemühte sich, ihr den restlichen Abend angenehm zu gestaltet.

„Perfekt, hört sich das an. Einfach nur perfekt.“, murmelte sie verschlafen, während sie die Wohnungstür aufschloss und direkt ins Badezimmer verschwand.

In der Küche konnte man Michael rumoren hören und sie drehte das Wasser der Dusche auf und stieg direkt unter den eiskalten Strahl. Das langsame wärmer werdende Wasser linderte ihre Müdigkeit etwas und auch das Ziehen in ihren Beinen ließ nach. Nach zwanzig Minuten trat sie mit ihrem Morgenmantel bekleidet und ihrer Teetasse in der Hand ins Wohnzimmer.

Michael war bereits im Schlafzimmer und würde wohl gleich zu Bett gehen, doch sie wollte noch ein paar Minuten hier sitzen und ihre Tasse Tee trinken. Sie setzte sich leicht schräg auf das dunkel-braune Sofa und zog ihre Beine eng an ihren Körper. Der beruhigende Geruch des dampfenden Getränks stieg in ihre Nase und sie sog ihn gierig ein. Es war noch viel zu heiß, um getrunken zu werden, doch schon jetzt entspannte sie sich.

Was für ein Tag. Noch heute Morgen dachte sie, es würde ein eher gewöhnlicher Arbeitstag werden, doch nun war er ganz anderes verlaufen als gedacht. Jennifer hatte sie heute Abend tatsächlich kurz vor acht abgelöst, nachdem sie den Bericht über den Simons-Fall druckfertig hatte. Nur so konnte Amy mit einem Taxi noch rechtzeitig in der King Street sein. Jennifer hatte sicherlich noch bis spät in die Nacht vom Eaton Center berichtet. Sie trank einen großen Schluck von ihrem Tee und ihre Gedanken wanderten zur Geburtstagsparty von Lisa. Ihr Geschenk hatte ihr sichtlich gefallen und das machte Amy glücklich. Morgen würden sie sich treffen, wie fast jeden Samstag, um gemeinsam etwas zu unternehmen.

Sie hörte, wie Michael das Licht im Schlafzimmer löschte und trank ihren Tee leer, um die leere Tasse in der Küche in die Spüle zu stellen. Es fröstelte sie, als ihre nackten Füße auf den Terrakottafließen der Küche schlagartig kalt wurden. Sie löschte alle Lichter und betrat im Dunkeln das Schlafzimmer. Michael hatte die Außenjalousie geschlossen, wodurch fast kein Licht der Großstadt von draußen herein schien und das Schlafzimmer war in ein Pechschwarz gehüllt. Sie fand sich im Dunkeln gut zu Recht und so trat sie ans Fenster, um es zu öffnen. Augenblicklich drang der nächtliche Lärm der Großstadt von der Straße zu ihr herauf. Es war fast drei Uhr, doch eine Großstadt wie Toronto schlief nie, denn von den über 6 Millionen Menschen, waren immer welche auf den Beinen. Ihre Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte Michaels Gesicht erkennen, als sie sich vom Fenster abwendete. Er lag zu ihr gewandt im Bett und sie lauschte seinen gleichmäßigen ruhigen Atemgeräuschen, er schien bereits zu schlafen. In ihrem Bauch bereitete sich eine wohlige Wärme aus und wie er so da lag, spürte sie die tiefe Liebe, die sie für ihn empfand. Amy kroch neben ihm ins Bett und er legte im Halbschlaf seinen Arm um sie und murmelte etwas, dass sie nicht verstand. Innerhalb von Minuten fand sie in einen traumlosen erholsamen Schlaf.

 

In der ganzen Wohnung duftete es nach frischem Kaffee und aus dem Radio dudelte leise ein Popsong. Amy saß am Küchentisch und biss genüsslich in ihr Brötchen, während sie die Samstagsausgabe des Toronto Star überflog. Wie jeden Samstag war sie beim Bäcker gewesen und ließ sich nun Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Auf der Titelseite prangerte das Bild der zerborstenen Glasscheibe, das Karl gestern gemacht hatte, daneben stand in großen Buchstaben die Schlagzeile: Erneuter Amoklauf im Eaton Center- vier Tote als traurige Bilanz. Darunter standen in einem kurzen Artikel die Fakten. Ihr Leitartikel zum Aufmacher der Samstagsausgabe war auf Seite drei und nahm die gesamte Seite ein.

Michael betrat nur mit seiner Jogginghose bekleidet die Küche und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Seine leicht definierten Bauchmuskeln und die spärliche Behaarung, die vom Bauchnabel aus abwärts verlief, ließen ihn ungemein sexy aussehen. Die Haare waren noch vom Schlaf zerwühlt und unterstrichen damit das Surferboy-Image zusätzlich.

„Guten Morgen Schatz, gut geschlafen?“, fragte sie ihn ohne von ihrer Lektüre aufzusehen. Er ging an ihr vorbei zur Küchenzeile und nahm sich seinen Kaffeebecher vom obersten Regalbrett. „Mhm, nur zu kurz. Wie kannst du nur schon wieder so munter sein?“, murmelte er, als er sich ihr gegenüber müde auf den Stuhl fallen ließ.

„Ach, keine Ahnung. Ich bin von ganz alleine wachgeworden und hatte Hunger. Du weißt, wenn ich Hunger habe, hält mich nichts mehr im Bett.“, sie blickte ihn über ihre Zeitung hinweg an und grinste breit. Der Dampf des Kaffees zog kleine Kreise, als er sich seine Tasse füllte und lustlos mit einem Kaffeelöffel darin herum rührte, um dem Zucker zu Leibe zu rücken.

„Eine Dusche ist das einzige, was jetzt noch helfen könnte.“, mit diesen Worten nahm er seinen Kaffeebecher und trottete in Richtung Badezimmer davon. Die wieder einkehrende morgendliche Stille verleitete Amy dazu, ihre Aufmerksamkeit noch eine Weile auf ihre Morgenlektüre zu richten. Nach der zweiten Tasse Kaffee ließ sie schließlich Laptop, Blackberry und ihren privaten Kram in der großen schwarzen Handtasche verschwinden. Auf dem Weg ins Badezimmer schnappte sie sich noch das U-Bahn-Ticket von der Ablage im Flur.

„Schatz? Ich gehe. Ich nehm die S-Bahn und treff mich mit Lisa. Gegen Nachmittag bin ich zurück. Auf dem Heimweg hole ich noch das Auto aus der Redaktion.“, teilte sie ihm ihren Plan für den heutigen Tag mit, als sie das Badezimmer betrat. Er stand nur mit einer Boxershort bekleidet vor dem Spiegel und drehte sich zu ihr um. Das gesamte Bad war feucht vom Dampf der heißen Dusche und selbst die Fließen schienen beschlagen zu sein. Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und legte seine Arme um ihre Mitte. Durch den dünnen Stoff ihres Sommerkleides spürte sie jede Faser seines Körpers, der sich eng an sie drückte.

„Du siehst heiß aus.“, hauchte der gegen ihre Lippen bevor er sie drängend küsste und mit seiner Zunge Einlass gewährte. Sein Bartschatten kitzelte sie leicht und  sdie öffnete ihren Mund. Augenblicklich befanden sich ihre Zungen in diesem eingeübten Spiel, dass sie schon so lange miteinander einstudiert hatten. Er stöhnte leicht gegen ihren Mund. Seine Hand wanderte langsam über ihren Rücken zu ihrem Nacken und hinterließ eine heiße Spur, an jeder Stelle der Berührung, während die andere auf ihrem Po ruhte. Sie spürte, wie auch sie erregt wurde, doch ohne den Kuss zu beenden murmelte sie:

„Schatz, ich kann jetzt nicht, ich bin doch verabredet.“ Schließlich löste sie ihre Lippen von seinen und blickte in mitleidig an.

„Es tut mir leid, aber ich muss wirklich los.“ und sofort konnte sie den enttäuschten Gesichtsausdruck in seinen Augen erkennen.

„Klar Sweety, ich wünsch dir viel Spaß. Ich verzieh mich in mein Büro. Was hältst du von Indisch fürs Abendessen?“, er fand sein Lächeln wieder. „Hört sich toll an. Reservier einfach einen Tisch“, erwiderte sie und verabschiedete sich endgültig mit einem weiteren flüchtigen Kuss.

 

Das sommerliche von der Hitze geplagte Toronto war staubig und die Abgase der Autos lagen schwer in der heißen Luft. Alt und klapprig näherte sich die rote Straßenbahn, als Amy an der Haltestelle in der gleißenden Sonne wartete. Die brechend volle Straßenbahn Richtung Stadtzentrum spuckte sie  nach ein paar Minuten völlig verschwitzt an der Ecke Spedina Avenue wieder aus und sie wünschte sich sofort wieder unter die Dusche.

Sie wollte mit Lisa auf der Queen Street etwas bummeln und später eine Kleinigkeit essen. Nach der nicht klimatisierten Straßenbahn reichte der kurze Fußweg bis zur nächsten Ecke, um ihren Körper auch den letzten Rest Flüssigkeit zu entziehen und zur Kühlung auf ihre Haut zu verteilen. Heute Morgen hatte sie sich für das leichte, gelbe Sommerkleid und flache Sandalen entschieden, beides war nun vom kurzen Weg hierher bereits von Schweiß und Staub gezeichnet. Von Weitem sah sie Lisa an der Kreuzung stehen und hob die Hand, um ihr zu winken.

„Hallo Süße, du siehst aus, als wärst du gerade in Sandalen einen Marathon gelaufen“, frotzelte Lisa über ihr Aussehen und umarmte sie kurz.

„Klar, das Training der letzten Monate hat sich ausgezahlt. Ich hab einen neuen Rekord aufgestellt. Von frisch geduscht zu komplett verschwitzt in unter 30 Minuten.“

„Das ist meine Freundin.“, kicherte Lisa, bevor sie wieder etwas ernster wurde und sich ihre große Tasche zurück auf die Schulter schob, „Trotzdem muss ich dir etwas beichten…mir ist da etwas dazwischen gekommen. Ich muss um zwölf wieder los. Aber bis dahin haben wir ja noch fast zwei Stunden. Du bist doch nicht sauer oder?“, fragte sie Amy kleinlaut. Amy benötigte keine Erklärung, sie wusste auch so, dass ihr die Arbeit dazwischen gekommen war. Genauer gesagt: Victoria!

Amy mochte Michaels Mutter nicht besonders und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Victoria war eine Person, die für ihre Ziele ihre Ellenbogen benutzte, egal wem sie damit schadete, und als Boss wollte sie sie nun wirklich nicht haben. Es war schlimm genug, dass sie vielleicht irgendwann ihre Schwiegermutter sein würde.

„Erde an Amy? Warum grinst du so? Freust du dich etwa, dass sich unsere Shoppingtour um die Hälfte reduziert hat?“, unterbrach Lisa ihren Gedanken.

„Nein, ich musste nur an mein, Vielleicht-Schwiegermonster-in-spe` denken. Sie ist doch der Grund, warum du früher weg musst, richtig?“, mit ihren Händen formte sie Anführungszeichen in die Luft bei dieser spontan neuerfunden Umschreibung für Victoria. Lisa kicherte los, als sie das hörte, lenkte dann aber das Thema in eine andere Richtung. Offensichtlich war sie hellhörig geworden- ihre Fähigkeit zwischen den Zeilen zu lesen wendete sie nicht nur im Job sondern auch allzu gerne bei Amy an.

„Du glaubst, er frägt dich bald? Wow, das wäre ja so aufregend…“, plapperte Lisa los und hakte sich bei ihr unter und gemeinsam schlenderten sie die Queen Street entlang, während Lisa nur noch ein Thema zu beschäftigen schien.

 

Viel früher als geplant, kam Amy wieder nach Hause. Sie hatte mit Lisa noch einen Kaffee getrunken. In der Redaktion hatte sie noch zwei Artikel für die Sonntagsausgabe verfasst und drei weitere für Jenny Korrektur gelesen. Nun war es erst kurz vor zwei und sie stand bereits wieder im Fahrstuhl, der sie zügig von der Tiefgarage in ihr Stockwerk beförderte. Vielleicht könnten sie und Michael noch am Wasser spazieren gehen oder zum Sugar Beach laufen, um etwas die Sonnen zu genießen. Sie nahm sich vor nicht locker zu lassen, bis sie ihn von seinem Schreibtisch weg hatte. Mit einem leisen Bing kam der Fahrstuhl im 6.Stock zum Stehen und die Türen öffneten sich. Eine der neuen Nachbarn stand vor ihr und sie nickte freundlich zur Begrüßung, als die Dame sie durch ließ und anschließend in den Fahrstuhl stieg, um den Tiefgaragen-Knopf zu betätigen. Amy begann in ihrer viel zu großen Tasche nach ihrem Wohnungsschlüssel zu suchen.

Mist, wo war er nur. Sie war sich sicher, dass sie ihn eingesteckt hatte. Kurz kam ihr der Gedanke, zu klopfen, da Michael ja zu Hause war, doch in diesem Moment hörte sie das leise, metallene Klirren des Schlüsselbundes und angelte ihn schließlich aus den Untiefen ihres schwarzen Handtaschenmonsters. Wenn diese riesigen Handtaschen den Müll verschlucken würden, statt der wichtigen Dinge, wäre jeder Frau geholfen.

Mit einem leisen Knacken sprang das Schloss der Wohnungstür auf. Augenblicklich vernahm sie die ungewöhnlichen Geräusche, die aus dem Büro kamen. Sie stellte ihre Tasche im Flur ab, ließ ihren Schlüssel auf dem Sideboard liegen und ging vorbei an dem Spiegelschrank der Garderobe Richtung Bürotür. Die Tür war nur angelehnt und plötzlich hörte sie, wie etwas mit einem dumpfen Schlag zu Boden fiel und Glas auf dem Holzboden des Büros zersplitterte. Jemand murmelte etwas und eine zweite Person gab eine unverständliche Antwort.

Amy stand wie erstarrt da. Das war die Stimme war eine weibliche Stimme- die Stimme von Sandra, Michaels Sekretärin. Tausende Gedanken rasten ihr durch den Kopf und sie spielte kurz mit dem Gedanken einfach die Hände vors Gesicht zu schlagen, wegzulaufen und zu ignorieren, was so offensichtlich gerade hinter dieser Tür passiert. Dann packte sie der Zorn und stieg in ihr auf, mit ihm die Tränen, die sich brennend in ihren Augenwinkeln sammelten. Mit einem Ruck stieß sie die Tür so hart auf, dass sie komplett ausflog und mit einem lauten Schlag ein Kuhle in der weißen Wand hinterließ.

Sie bekam keine Luft bei dem Anblick, der sich ihr bot und sie musste sich regelrecht zwingen weiter zu atmen. Michael war nur halb bekleidet und beugte sich über seinen Schreibtisch, auf dem Sandra lag und ihren nackten Oberkörper auf der Tischplatte räkelte. Sie war nur mit ihrem BH und einem grünen Minirock bekleidet, der bis zum Bauch hochgerutscht war. Der Boden war mit den restlichen Kleidungsstücken übersät, die die beiden so offensichtlich bei ihrem Vorhaben gestört hatten. Durch das Geräusch der Tür aufgeschreckt, sahen sie ihr beide nun entsetzt direkt in die Augen. Für einen kurzen Moment glaubte sie so etwas wie Genugtuung in Sandras Augen aufblitzen sehen zu können, bei Michael war es pure Panik.

„Schatz, das ist nicht das, wofür du es hältst. Lass es mich erklären….“, platze diese nichtssagende Standardfloskel aus Michael heraus. Amy stand regungslos in der Tür und konnte ihren Blick nicht von dem Szenario abwenden, dass sich in ihren Netzhaut einbrennen würde, während die Tränen stumm ihre Wagen hin abliefen und mit ihrem Mascara die Spuren der Enttäuschung auf ihre Wagen zeichneten. Michael hatte  wohl mit Wiederworten, einem Wutausbruch oder damit, dass sie einfach davon lief, gerechnet, doch ihre Beine versagten ihr ihren Dienst und ihr Körper gehorchte ihr nicht. Er war verstummt, da er doch keine Erklärung hatte und während sich Sandra anzog, kam Michael langsam auf sie zu und versuchte mit seiner ausgestreckten Hand ihren Arm zu berühren. Noch bevor er ihr zu nahe kam, kehrte Leben in ihren Körper und sie holte mit der rechten Hand weit aus, während sie scharf die Luft einzog. Es ließ einen schallenden Knall, als ihre flache Hand sein Gesicht traf und dort augenblicklich einen roten Abdruck hinterließ. Kurz taumelte er, da er nicht mit diesem Schlag gerechnet hatte. Sie nutze den Augenblick der Verwirrung, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort ins Schlafzimmer. Mit dem Rücken ließ sie sich an der verschlossenen Schlafzimmertür nach unten gleiten, bis sie mit angewinkelten Beinen auf dem weichen Boden saß. Die Tränen hörte nicht auf ungehindert ihre Wange hinab zu rollen und ihr Körper wurde von den Heulkrämpfen geschüttelt. Der Kopf dröhnte, als ihr Kopf begann zu arbeiten und schüttelte wiederwillig den Kopf, um die Gedanken, die sich langsam in ihrem Kopf zu einem Bild formten zu verdrängen.

Kapitel 3

Jemand berührte sie sanft am Arm und sie nahm die Kopfhörer ab, um den Störenfried anzuschauen.
„Den Fahrschein bitte.“, sprach sie der Zugbegleiter an, als sie auch ihre Kapuze herunter zog. Stumm reichte sie ihm ihr Ticket ohne nochmals aufzusehen und das Gerät in seiner Hand piepste kurz, als es den Barcode der Fahrkarte identifizierte.
„Vielen Dank und eine angenehme Reise!“, verabschiedete er sich höflich und sie ließ ihre Blick wieder zum Fenster wandern. Die Dunkelheit versperrte ihr die Sicht nach draußen. Stattdessen blickte sie in ihr eigenes Spiegelbild, das sie mit rotunterlaufenen Augen stumpf anstarrte. Nur vereinzelt sah sie in der Ferne kleine Lichtpunkte, die plötzlich in der Dunkelheit auftauchten und direkt wieder verschwanden, sie nahm sie als Abwechslung zum trostlosen Anblick ihrer selbst.

Bewegungslos hatte sie stundenlang auf dem Schlafzimmerboden verharrt. Ihr Körper schmerzte, doch alle physischen Belange schienen in ihrem Kopf keinen Platz zu haben und die Tränen flossen ihr ungehindert an den Wangen hinab und durchnässten ihr gelbes Kleid.
Er hatte sie betrogen! War es das das erste Mal? Warum hatte sie nichts gemerkt? War sie so blind und naiv? Es war doch alles in Ordnung. Er liebte sie doch? Oder dachte sie das nur? Sandra arbeitete bereits seit knapp zwei Jahren für ihn- sollte sie es wirklich zwei Jahre nicht bemerkt haben, dass er eine Affäre hatte?
Ihr Kopf schmerzte, denn seit die Tränen aufgehört hatten ungehindert ihre Wagen herab zu laufen, zermarterte sie sich den Kopf. Es dreht sich alles immer wieder um dieselben Fragen.
Sie hatte ihren Kopf geschüttelte und hatte versuchte ihre Gedanken zum Schweigen zu bringen. Langsam hatte sie begonnen ihre Beine zu strecken und ein stechender Schmerz durchfuhr sie, als die Muskeln sich gegen die unerwartete Bewegung wehrten. Sie hatte nicht gewusste, ob er die Wohnung verlassen hatte, da sie in diesen vergangenen Stunden nicht in der Lage gewesen war, Geräusche von außerhalb ihrer Blase, in der sie sich selbst eingeschlossen hatte, wahrzunehmen. Langsam und unter Schmerzen hatte sie sich erhoben und hatte versuchte sich Mut zu machen. Eines Tages würde sie dieses Zimmer verlassen müssen, also warum nicht jetzt gleich?
Sie hatte ihre Hand an den Türgriff gelegt, atmete nochmal tief durch und öffnete die Tür langsam einen Spalt. Alles war ruhig gewesen und so war sie in den Flur hinausgetreten. Ein Stechen hatte ihr Herz durchbohrt, als sie plötzlich Michael entdeckt hatte. Er hatte dort in der kleinen Nische zwischen der Badezimmer- und der Wohnzimmertür mit angewinkelten Knien auf dem Boden gesessen und hatte sein Gesicht in seinen Armbeugen vergraben. Sie wusste nicht, ob er schlief oder wach war, ob er sie bemerkt hatte oder nicht. Sie atmete nochmal leise bewusst ein und aus, um ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten und ging zügig direkt an ihm vorbei. Vom Flurboden nahm sie ihre Tasche, die noch immer dort gestanden hatte und ging ins Badezimmer. Die Tür ließ sie offen, denn sie konnte die Kraft, die sie zum Öffnen benötigten würde, in so kurze Zeit nicht noch einmal aufbringen. Im Bad hatte sie ihre wichtigsten Utensilien in ihren gelben Waschbeutel gepackt und sich zwei Handtücher aus dem Schrank genommen. Zurück im Flur, sah sie, dass sich Michael nicht bewegt hatte- keinen Millimeter. Er hatte unverändert dort gesessen, kraftlos, mutlos. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und packte all ihre Lieblingsklamotten, die im Schrank waren, in ihre bunten Reisetrolley. Nach nur zehn Minuten war sie fertig und stand mit ihrem Gepäck wieder im Flur, der wie zum Trotz der Situation in weiches helles Sonnenlicht gehüllt war.
Michael hatte sich immer noch nicht bewegt und er tat ihr fast leid, wie er da zusammen gekauert auf dem Boden ausharrte. Sie wollte etwas sagen und öffnete ihren Mund, doch sie blieb stumm und so schloss sie ihn wieder, ohne ein Wort. Nichts erschien ihr richtig in diesem Moment. Und die Fragen, die sie die letzten Stunden gequält hatten, wollte sie nicht beantwortet haben- sie wollte nichts hören und nichts sagen, einfach nur vergessen.
Die ganze Situation war grotesk, hatte sie doch nie gedacht, dass das ihr einmal passieren würde. Ihr Leben schien perfekt gewesen zu sein und dann kam dieser eine Moment und alles lag in Trümmern. Sie nahm ihre leichte Strickjacke von der Garderobe, löste den Wohnungsschlüssel von ihrem Schlüsselbund, um ihn auf das Schränkchen im Flur zu legen,  und verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort.

In der Tiefgarage packte sie die wenigen Habseligkeiten in den Kofferraum ihres Wagens und stieg ein. Wie hatte es nur soweit kommen können?
„Lisa?“, ihre Stimme zitterte, als Lisa den Hörer abnahm „bist du zu Hause?“ Lisa bemerkte bereits bei diesen wenigen Worten, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Alarmiert antwortete sie:
„Oh Gott Süße, was ist passiert?“
„Bist du zu Hause?“, hatte sie mechanisch die Frage wiederholt.
„Jaja, natürlich, aber was…“, sie hatte bereits aufgelegt und dreißig Minuten später war sie vor Lisas Tür gestanden.  Als diese, direkt nachdem sie die Klingel betätigt hatte, öffnete, fiel sie förmlich in Lisas Arme. Ihre Beine wurden schwach und hätte Lisa sie nicht gehalten, hätten ihre Beine wohl den Dienst verweigert. Lisa bot ihr an, erst mal bei ihr zu bleiben, doch sie hatte bereits einen Entschluss gefasst. Sie würde zu ihren Eltern nach Hay Lakes fahren. Sie hatte von Lisas Wohnung aus Kevin angerufen, ihm etwas von einem familiären Notfall erzählt und ihn um zwei Wochen Urlaub gebeten. Es passte ihm so gar nicht, doch sie ließ nicht locker, bis er zustimmte.
Lisa verbot ihr, in ihrem Zustand die über 30 Stunden mit dem Auto zu fahren. Also hatte sie ihren Wagen bei Lisa stehen lassen und stieg um zehn Uhr abends an der Central Station in Toronto in den Zug nach Edmonton. Sie würde erst am Dienstag dort ankommen- bis dahin hatte sie Zeit, ihren Eltern anzurufen, alles zu erklären und ihnen mitzuteilen, dass sie auf dem Weg zu ihnen war.

 

Am Montagnachmittag konnte sich Amy bei einem Stopp in Hornepayne die Beine vertreten. Als sie nach 30 Minuten wieder in ihr Einzelabteil zurückkehrte, ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen. Letzte Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Immer wenn sie ihre Augen schloss, sah sie das Büro und die beiden nackten Körper vor sich. Sie sah das Bild von ihr und Michael, das in Scherben auf dem Boden lag. Zerbrochen durch den Akt der alles zerstört hatte.

Sie starrte an die Decke und versuchte an rein Garnichts zu denken, doch ihr Kopf, und viel schlimmer ihr Herz, hörten nicht auf zu arbeiten. Sie kramte ihr Smartphone aus ihrer Jackentasche. Lisa hatte ihr mehrere Nachrichten hinterlassen, doch sie konnte sie noch nicht abhören. Auch Michael hatte versucht sie anzurufen, doch auch das hatte sie ignoriert. Sie konnte nicht mit ihm sprechen- nicht jetzt, nicht gleich.
Die Nummer ihrer Mutter hatte sie nicht gespeichert, das war nicht nötig, und so wählte sie auswendig die Zahlenfolge der Farm ihrer Eltern. Was sollte sie ihr sagen? Die ganze Wahrheit? Sie hatte Angst vor diesem Gespräch. Das war natürlich lächerlich, aber sie fühlte sich so erniedrigt und beschmutzt. Das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, war ihr vor ihren Eltern unangenehm. Sie betrachtete noch einige Sekunden das Display. Schließlich fand sie den Mut die Taste mit dem grünen Hörer zu betätigen und es begann nach einem kurzen Knacken zu tuten.
„Betty Morgan, hallo.", meldete sich die zarte Stimme ihrer Mum am anderen Ende. Amy schluckte und versuchte sich zu sammeln.

„Hallo, wer ist denn da?"
„Ähhmm…, Mum ich bin es.", reagierte sie endlich zaghaft und so leise, dass sie ihre Mum fast nicht hören konnte.
„Amy, bist du es? Was ist denn los? Ist etwas passiert?", wollte ihre Mum alamiert wissen. Nun musste sie damit rausrücken, es half ja nichts. Sie nahm allen Mut zusammen und räusperte sich:
„Ja, ich bin auf dem Weg zu euch. Ich sitze im Zug und werde am Dienstagmorgen in Edmonton ankommen. Könnt ihr mich am Bahnhof abholen?"
"Schatz, was ist denn passiert? Geht es dir gut? Natürlich holen wir dich ab.", ihre Mum war hörbar geschockt. Sie wusste sofort, dass es sich nicht um einen spontanen Überraschungsbesuch ihrer Tochter handelte.
„Ich habe mich von Michael getrennt und würde die nächsten zwei Wochen bei euch bleiben, wenn das keine Umstände macht. Den Rest würde ich euch gerne persönlich erzählen.", antwortete sie, bemüht sachlich zu wirken, da es ihr half nicht in Tränen auszubrechen.
Natürlich machte sie keine Umstände und ihre Mum versuchte noch kurz sie etwas zu trösten, dann beendete sie erleichtert das Telefonat. Sie entspannte sich etwas und blickte aus dem Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft. Die Nachmittagssonne schien weiterhin gnadenlos darauf herunter. Seit Wochen hatte es nicht geregnet und die Gräser und Bäume färbten sich langsam gelb. Es wirkte fast, als würde der Indian Summer bereits beginnen, dabei war es erst Anfang August. Auf der Farm gab es in diesem Monat viel zu tun, denn für die Pferdezucht, die ihre Eltern in der dritten Generation betrieben, wurde das Stroh für den Winter noch von den eigenen Feldern geerntet. Die meisten Farmer in der Gegend kauften dieses arbeitsintensive Gut zu, doch ihr Vater legte Wert auf Qualität und produzierte daher die Winternahrung seiner preisgekrönten Züchtungen lieber selbst.
Sie würde vielleicht bei der Ernte helfen, das würde sie ablenken. Ablenken von ihren Gedanken und dem Schmerz, der sich tief in ihre Brust gefressen hatte und dort wie ein Feuer tobte. Die seelischen Schmerzen, die ihr Michael angetan hatte, würde sie ihm wohl nicht verzeihen können. Und bereits beim Gedanken an ihn, liefen die Tränen als stumme Zeugen ihres Schmerzes wieder an ihren Wagen herab.

 

„Nächster Halt: Edmonton Bahnhof", dröhnte die gleichgültige Stimme über die Lautsprecher durch den gesamten Zug. Amy hatte ihre Sachen bereits gepackt und stand mit ihrem Gepäck und den anderen Fahrgästen auf dem Gang, als dieser langsamer wurde.
Die vergangenen drei Tage hatte sie, abgesehen von dem kurzen Telefonat mit ihrer Mutter und dem Zugpersonal, mit niemanden ein Wort gewechselt. Sie hatte sich darauf konzentriert ihre Gefühle und Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Die schmerzlichen Erinnerungen, die tiefe Enttäuschung und der reißende Schmerz in ihrem Herzen- sie konnte diese Gefühle nicht länger ertragen und nun ruhten sie irgendwo versteckt und unterdrückt in ihrem Herzen. Sie würde keine Tränenausbrüche mehr bekommen, denn das schmerzliche Feuer war zwar nicht gelöscht, aber sicher verschlossen im hintersten Teil ihres Herzens. Sie hatte es unter Kontrolle gebracht und nun war sie bereit. Bereit ihren Eltern gegenüber zu treten. Bereit ihren Gedanken und ihrem Verstand wieder die Kontrolle zu geben. Und irgendwann würde sie auch bereit sein über ihre Zukunft nachzudenken, dass wusste sie.

Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen. Viele Reisende verließen in Edmonton den Zug und Amy trat gemeinsam mit ihnen auf den schattigen Bahnsteig. Es war warm, obwohl es erst kurz vor sieben Uhr morgens war. Sie ließ ihren Blick über den Bahnsteig und die vielen Menschen schweifen und entdeckte ihren Vater, der sich suchend nach ihr umblickte. James Morgan war  groß und von stattlicher Statur. Sein grau-schwarzes Haar war, wie sooft, unter einem grauen, abgewetzten Cowboy-Hut versteckt und sein wettergegerbtes Gesicht, dass von seinem Leben in der Natur zeugte, hellte sich auf, als seine Augen Amys trafen. Mit großen Schritten bahnte er sich den Weg durch die vielen Menschen, die er größtenteils um einen ganzen Kopf überragte und schloss sie ohne ein Wort in seine Arme. Er war kein Mann der vielen Worte, sondern ließ seine Taten sprechen. Sie genoss die Nähe und Geborgenheit, die er ausstrahlte und drückte ihr Gesicht an sein weiches Baumwollhemd. Es roch nach Stroh und nach den Pferden und sie sog die beruhigenden Gerüche gierig ein. Das war jetzt genau das, was sie brauchte. Es war die richtige Entscheidung hierherzukommen- das wusste sie nun mit Sicherheit.
„Hallo meine Kleine!" Er entließ sie aus der väterlichen Umarmung und sofort vermisste sie die Geborgenheit, die seine Nähe ihr geschenkt hatte.
„Hallo Dad, danke fürs Abholen. Wie geht es dir?", begrüßte sie ihn zögerlich.
„Uns geht es gut. Lass uns fahren und dann erzählst du uns zu Hause in aller Ruhe, was passiert ist.", entschied er und nahm ihr das Gepäck ab. Sie atmete erleichtert aus und folgte dem riesigen Cowboy über den immer leerer werdenden Bahnsteig zum Ausgang. Sie würde es also nur einmal erzählen müssen.

Den Truck hatte ihr Vater direkt in der Nähe des Ausgangs geparkt und sie rutschte auf den ledernen Beifahrersitz, während er ihren Reisetrolly auf die Ladefläche hievte.
Bereits eine Stunde später erreichten sie die Farm ihrer Eltern. Sie lag nur ein paar Minuten von Hay Lakes entfernt- einem kleinen beschaulichen Ort mit 200 Einwohnern, einer Tankstelle, einem Postamt und einer Grundschule.
Das Haupthaus der Morgan Farm lag etwas erhöht auf einem kleinen Hügel und bereits als sie an den endlosen weißen Holzzäunen entlangfuhren, konnte sie erkennen, dass es ein gutes Zuchtjahr gewesen sein musste. Die Muttertiere waren noch nicht von den Fohlen getrennt worden und die Jungtiere genossen ihre Zeit auf den Koppeln vor dem Haus, einige von ihnen tobten ausgelassen herum.
Während der Fahrt hatten sie nicht viel gesprochen und so konnte Amy noch etwas ihren Gedanken nachhängen und sich ihre Rede etwas zu Recht legen. Nun stieg sie aus, als der Truck auf der Kiesauffahrt vor dem weißen Holzhaus zum stehen kam und ihre Mutter war direkt bei ihr und schloss sie in die Arme. Sie musste den Wagen bereits aus der Küche gehört haben. Amy unterdrückte ein Schluchzten und versuchte ihre Tränen zurück erhalten. Ihre Mum war eine wundervolle, liebenswürdige Person und man konnte ihr alles erzählen. Ihr braunes Haar hatte sie meist zu einem Zopf am Hinterkopf gebunden und karierte Bluse, Jeans und Cowboystiefel waren offensichtlich noch immer ihre Lieblingskleidung.

„Was für eine Überraschung. Komm rein, ich habe Limonade und Kekse gemacht. Oder möchtest du zuerst auf dein Zimmer?", begrüßte ihre Mutter sie mit ihrer fürsorglichen Art.

„Mum, danke das ich ein paar Tage bleiben kann. Lass uns in die Küche gehen.", Amy entließ sie aus der innigen Umarmung und hakte sich bei ihr unter. Gemeinsam betraten sie das große weiße Farmhaus. Hier drinnen war es angenehm kühl und Amy war froh der aufkommenden Hitze des Tages zu entkommen.

Das Haus war bereits seit fast 150 Jahren im Familienbesitz der Morgans und wurde nach dem typischen Stil der Häuser dieser Gegend errichtet. Es war aus Holz, hatte drei Stockwerke und war außen komplett weiß gestrichen. Im Innern führte eine große Treppe in den zweiten und dritten Stock, dort waren die Schlafzimmer der Familie. Im Erdgeschoss befanden sich auf der linken Seite die Küche und der Hauswirtschaftsraum. Das war Felicias Reich- sie war die gute Seele des Hauses und die Hauswirtschafterin ihrer Mutter. Auf der anderen Seite lag das Wohnzimmer mit dem großen steinernen Kamin und als Amy einen Blick hineingeworfen hatte, hörte sie, wie jemand die Küchentür öffnete.

Da stand er. Groß, braungebrannt und in denen für einen Cowboy typischen Klamotten. Seine grünen Augen musterten sie kritisch von oben bis unten und dann breitet sich ein breites Grinsen auf seinem scharf geschnittenen Gesicht aus.
„Amy! Schön das du da bist. Was verschafft uns die Ehre, Schwesterchen?", rief er aus, als er auf sie zu kam. Er nahm sie direkt in den Arm und wirbelte sie im Kreis und setzte sie erst wieder auf die Beine, nachdem ihnen beiden schwindelig geworden war.
„Ohh, Chris, es ist schön dich zu sehen!", Amys Gesicht strahlte. Sie hatte ihren Zwillingsbruder so sehr vermisst, das war ihr bisher nur noch nicht bewusst gewesen. Ihre Mutter betrachtete das Begrüßungsszenario der beiden und auch ihr Vater gesellte sich gerade mit ihrem Gepäck zu ihnen, als Amy wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Zusammen gingen sie in die Küche und Amy und Chris setzen sich an den Tresen, während ihre Eltern an der Küchenzeile lehnten. Nun war es also soweit. Sie müsste die Wiedersehensfreude ihrer Familien trüben, denn sie musste erzählen, was passiert war.

„Emm...", sie räusperte sich „... also ich glaube, ich bin euch eine Erklärung schuldig, warum ich einfach unangemeldet hier auftauche."
„Nicht doch, du bist immer willkommen, das weißt du. Das hier ist dein zu Hause!", erwiderte ihre Mutter und Amy wusste, dass sie das ernst meinte. Sie könnte auch hier sein ohne ein Wort zu erklären.
„Nein, Mum. Ich möchte, dass ihr es wisst. Es ändert ja nichts.", begann sie und holte tief Luft. „Michael hat mich betrogen- mit seiner Sekretärin. Ich habe die beiden am Samstag in unserer Wohnung erwischt. Ich wollte die Stadt verlassen, um dem ganzen zu entgehen und habe mich direkt auf den Weg zu euch gemacht. Ich weiß nicht wie lange das schon geht. Wir haben nicht mehr miteinander gesprochen, seitdem… naja, seitdem ich beiden inflagranti erwischt habe." Puh, jetzt war es raus. Es tat gut und sie fühlte sich sogar etwas erleichtert.
„Ich bringe ihn um! Wie kann er dir das nur antun?", Chris Stimme ließ keinen Zweifel. Er kochte vor Wut und wahrscheinlich malte er sich in Gedanken bereits aus, wie er ihn verprügelte, denn seine Hände waren zu Fäusten geballt und die Knöchel traten bereits weiß hervor. "Das wird er büßen! So ein Mistkerl!"
„Chris beruhige dich. Das bringt doch nichts.", Amy versuchte ihn etwas zu besänftigen, auch wenn sie nicht glaubte, dass er ihm ernsthaft etwas antun würde und legte ihm beruhigend ihre Hand auf den Unterarm.
„Wie geht es weiter?", ihr Vater sah es eher nüchtern und dachte wohl über ihre Zukunft nach. Er war schon immer der sachliche Problemlöser und so wunderte sich Amy nicht über die so sachliche und für Ihren Vater typische Frage.
"Ich weiß es nicht. Mein Plan endet mit diesem Gespräch, weiter konnte ich bisher nicht denken. Ich habe zwei Wochen Urlaub. Bis dahin muss ich es wissen.", sie blickte in die Gesichter ihrer Familie, in denen sie Zorn, Mitleid und Fassungslosigkeit erkennen konnte.
„Mhm.“, erwiderte ihr Dad und verließ die Küche, um ihr Gepäck nach oben zu bringen. Für ihn war bis hierhin alles gesagt, also konnte man auch mit seinen Aufgaben weitermachen.

 

Das Sonnenlicht flutete den gesamten Raum. Die in hellem gelb gestrichenen Wände und die weißen Holzmöbel ließen den Raum freundlich wirken. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Der Geruch nach Lavendel und Holz ließ Bilder ihrer Kindheit aufsteigen. Glückliche Erinnerungen an ein sorgenfreies Leben. Sie trat nun ganz in den Raum und schloss die Tür, die mit einem leisen Quietschen protestierte. Der Rest der Familie war beschäftigt und sie wollte sich nun erst einmal frisch machen. Zum ersten Mal seit Jahren betrat sie tatsächlich wieder ihr altes Zimmer. Nichts hatte sich verändert- außer der Bewohnerin.
Wann immer sie in den letzten Jahren zu Besuch war, schliefen sie und Michael in einem der zahlreichen Gästezimmer. Doch ihre Eltern hatten ihr ehemaliges Reich nie verändert. Sie wollte die nächsten zwei Wochen hier schlafen, denn der Raum gab ihr Geborgenheit und war voller guter Erinnerungen. Ihre Tasche warf sie achtlos auf das frisch bezogene Bett und trat an die breite Kommode heran, die an der Wand daneben stand. Die gläserne Kugel fesselte ihre Aufmerksamkeit und sie nahm sie vorsichtig hoch. Die Winterlandschaft im Inneren wirkte friedlich und seit Jahren unverändert. Lediglich die Farben an den kleinen Häuschen wirkten von der Sonne etwas verblasst. Es war ein Geschenk ihrer Mutter zu Weihnachten gewesen. Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt gewesen, erinnerte sie sich, und Sue hatte dieselbe bekommen. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihr Herz beim Gedanken an ihre große Schwester. Sie stellte die Glaskugel in einer ruckartigen Bewegung zurück und stieß dabei an einen Bilderrahmen, der mit einem Knall zu Boden ging. Mist! Sie bückte sich und hob ihn vom Holzdielenboden auf. Zum Glück war alles ganz geblieben.

Es war ein Bild von der ganzen Familie. Chris und sie hatten ihren 18. Geburtstag gefeiert, dabei war es entstanden. Sie stellte es vorsichtig zurück und wandte sich der gegenüberliegenden Seite des Zimmers zu.

Ihr alter Kleiderschrank- ob wohl noch all ihre Klamotten von damals darin waren? Mit einem leisen Knarren öffnete sie die Türen des weißen Holzschranks in Landhausoptik. Ihre gesamten Kleidungsstücke der High School Zeit waren feinsäuberlich eingeräumt und eine Mischung aus billigem Parfüm und Mottenkugeln drang an ihre Nase. Alles hatte seinen Platz und war fein säuberlich gefaltet. Als sie noch hier wohnte, sah der Schrank niemals so ordentlich aus, da war sie sich sicher. Sie schmunzelte bei dem Gedanken, was sie doch damals für eine rebellische Person gewesen war und griff nach dem kurzen Minirock in schwarz-pink, der an der Kleiderstange hing.

Ja, das war die sechzehnjährige Ausgabe von ihrem Ich: rebellische und viel zu freizügig.Sie ließ den Rock zurück in den Schrank wandern und schloss ihn wieder. Aus ihrem Reisetrolley, den ihr Vater bereits bei ihrer Ankunft hierherauf gebracht hatte, angelte sie sich eine kurze Hose und ein Top und betrat damit das angrenzende Badezimmer. Der kleine Raum konnte nur durch ihr Zimmer oder durch den an der anderen Seite angrenzenden Raum betreten werden, da er als En-Suite-Bad für die beiden Räume im obersten Stockwerk diente. Vor langer Zeit hatte sie sich diese Badezimmer mit ihrer großen Schwester geteilt, doch die Erinnerung daran schien wie aus einer anderen Zeit und war nur noch verblasst vorhanden. Sue war schon lange nicht mehr hier. Dieser Gedanke fraß sich bereits ein zweites Mal heute schmerzlich in ihre Brust. Sie schüttelte den Kopf und stieg unter die Dusche, nachdem sie ihr staubiges und von der Reise verschwitztes Leinenkleid achtlos auf den Boden fallen hatte lassen.

Das lauwarme Wasser schien die schmerzlichen Gedanken zu lindern, auch wenn es sie nicht wegwaschen konnte. Als sie mit noch tropfenden Haaren und frischer Kleidung wieder auf den Flur trat, hörte sie aus der Küche bereits Geschirrgeklapper, dass bis in den dritten Stock herauf wehte. Das Föhnen ihrer Haare hatte sie bei diesen Temperaturen schon gar nicht in Betracht gezogen, denn sie fühlte sich schon wieder etwas verschwitzt, dabei war sie erst vor ein paar Minuten unter der Dusche hervorgetreten. Sie ging zügig die große Treppe hinunter. Ihr schneller Schritt wurde unsanft gebremst und ihr Kopf kollidierte mit etwas hartem. Ehe sie sich versah, landete sie unsanft auf ihrem Allerwertesten. Die Kartoffeln, die Sally eben noch in einer kleinen Kiste vor sich getragen hatte, rollten über den gesamten Fußboden und auch sie war dem Fußboden unfreiwillig nahe gekommen.

„Au!“, entfuhr es ihr und sie blickte in das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Schwägerin, die sich ebenfalls an ihre schmerzende Stirn fasste. Augenblicklich mussten beide lachen und so saßen sie beiden kichernd auf dem Boden des Farmhauses ohne Anstalten zu machen, die Kartoffeln wieder einzusammeln oder sich vom kühlen Steinboden zu erheben.

„Ohh, entschuldige Sally!“, brachte Amy schließlich hervor. Sally schüttelte nur den Kopf und musste sich den Bauch vor Lachen heben.

„Schon….schon okay!“, krächzte sie schließlich und langsam beruhigte sich ihr Lachanfall.

„Schön, dass du da bist. Ich habe dich vermisst.“, konnte sie Sally endlich begrüßen. Sie erhoben sich und schlossen sich in die Arme, wie alte Freundinnen. Sally war seit über einem Jahr mit Chris verheiratet. Sie wohnten in dem kleinen Nebenhaus, das sich hinter dem Haus ihrer Eltern befand. Sie beide waren sich von Beginn an sympathisch gewesen und Amy liebte sie, wie eine Schwester. Vor einem Jahr wurde Sally schwanger und die Hochzeit der beiden im letzten Sommer war der Anlass, zu dem Amy das letzte Mal hier gewesen war- zusammen mit Michael. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und löste sich aus der Umarmung, um Sally von oben bis unten zu betrachten.

„Wow Sally, du siehst umwerfend aus. Wenn ein Kind so schön macht, dann werde ich jetzt auch schwanger.“, scherzte Amy noch immer überschwänglich und gut gelaunt. Sie war schon immer schlank und zierlich gewesen und auch nach der Schwangerschaft schien sie kein Gramm mehr zu wiegen. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als Amy und hatte die strohblonden Haare und die Sommersprossen ihrer Mutter geerbt. Ihre gesamten Vorfahren waren aus Schweden und lebten nun bereits in der zweiten Generation in Kanada. Sallys Gesichtszüge waren weich und sie hatte eine ebenmäßige Haut, was ihre natürliche Schönheit noch unterstrich.

„Ähm, naja ich muss doch gut aussehen für deinen Bruder.“, entgegnete Sally verlegten und bückte sich nun um die Kartoffeln aufzusammeln. Amy ging ihr zur Hand und gemeinsam betraten sie mit der Kiste voller Kartoffeln die Küche, in der ein reges Treiben herrschte.

Zur Erntezeit kochten Felicia und ihre Mutter zum Abend immer für die gesamte Belegschaft und die Erntehelfer, die zusätzlich für zwei Monate auf der Farm arbeiteten. Sally half ihnen dabei, solange Jason, ihr 6-Monate alter Sohn, seinen Mittagsschlaf hielt. Amy nahm sich vor später auch zur Hand zu gehen, doch zuerst wollte sie in den Stall. Sie schnappte sich einen Apfel, da ihr Magen ihr das ausgefallene Mittagessen und die spärliche Nahrung der letzten Tage scheinbar übel nahm und das auch lautstark bekundete, und verließ die Küche durch den Hinterausgang.

 

Seitlich vom Haupthaus befanden sie die Stallungen und sie schlenderte hinüber, um ihren Vater oder ihren Bruder zu suchen. Die Stallungen waren aus Holz gebaut und rechts und links zur Stallgasse reihten sich über 50 Pferdeboxen. Die meisten waren leer, da die Stuten mit ihren Fohlen auf den Weiden vor dem Farmhaus grasten. Nur ein Pferd hob seinen Kopf als es Amys Schritte hörte. Sie hatte sich die Stiefel ihrer Mutter geborgt und das Klackern ihrer Absätze hallte von den Wänden wieder, als sie die betonierte Stallgasse entlang ging. Es war weit und breit niemand zu sehen und so trat sie an die Boxentür zu dem Schimmel, der den Kopf gehoben hatte.

Es war ein Hengst von stattlicher Statur, der ungefähr zwei Jahre alt sein musste, schätze Amy. Seine graue Mähne war gelockt, was für die Rasse des Curly Horse ein Zuchtmerkmal war. Er blies seine Nüstern auf, um an Amys Hand zu schnüffeln und stieß die warme Luft seines Atems gegen ihre Handfläche. Sie hob ihre Hand etwas weiter und kraulte ihn zwischen seinen Ohren, was ihm offensichtlich gefiel. Im hinteren Teil des Stalles hörte sie Schritte und sie sah, wie ihr Bruder schnellen Schrittes auf sie zu kam. Der Hengst riss seinen Kopf hoch und drehte sich von ihr weg, als ihr Bruder näher kam und schließlich grinsend vor ihr stehen blieb.

„Habe ich das gerade richtig gesehen, du hast Nando gesteichelt?“, fragte er sie skeptisch und zog seine Augenbrauen zusammen.

„Ähm, ja, wenn der Schimmel hier Nando heißt, dann habe ich das wohl getan.“, sie verstand die Fragerei nicht ganz.

„Naja, Schwesterlein, damit bist du dann die Erste, die ihn angefasst hat, seit er auf der Welt ist. Glückwunsch! Er hat sich bisher von keinem anfassen lassen und es ist unmöglich ihm ein Halfter anzulegen. Der Hufschmid und unser Tierarzt verzweifeln regelmäßig an ihm und er hat bereits mehrere Angestellt gebissen. Keiner traut sich mehr an ihn ran, deshalb steht er hier alleine in der Box. Dad möchte ihn einschläfern lassen, da er so auch nicht für die Zucht zu gebrauchen ist. Schade um die guten Gene.“, er blickte sie anerkennend an.

„Er hat bestimmt nur einen guten Tag. Das war nur Glück.“, erwiderte Amy etwas verwirrt, da sie sich nicht erklären konnte, warum sich dieses Pferd ausgerechnet von ihr anfassen ließ, aber ihr Interesse war geweckt.

„Meinst du Dad erlaubt mit, dass ich mit ihm arbeite? Vielleicht kann ich ihm helfen und er kann doch noch zur Zucht oder vielleicht sogar als Reitpferd eingesetzt werden.“, sie wusste nicht, ob sie das wirklich schaffen würde, doch ein eigenes Projekt für die nächsten beiden Wochen erschien ihr sinnvoll. Es würde sie ablenken und vielleicht konnte sie wirklich helfen.

„Da spricht nichts dagegen, aber sei vorsichtig. Er hat schon öfters Menschen verletzt. Und vielleicht hilft es ja allen- dir, unserem Nando und auch Dad für die Zucht.“, er grinste breit, sicher hatte er denselben Gedanken. Wie ähnlich sie beide sich doch waren- nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Charakter.

„Gut, dann fang ich direkt damit an. Kann ich in die Reithalle mit ihm?“, Amy war nun Feuer und Flamme für die Idee, wenn auch ihr Bruder sie dabei unterstützen würde, konnte sie es schaffen und ihr Vorhaben beim Abendessen zu helfen war damit vergessen.

„Die Halle ist frei, ich glaube nur nicht, dass du ihn dort hin bekommst. Viel Glück und Amy?... Sei bitte vorsichtig!“, damit verließ er den Stall in die Richtung, aus der er gekommen war. Amy wandte sich wieder der Box zu.

„So, Nando heißt du also.“, sprach sie den jungen Hengst an und er wackelte mit seinen Ohren während sie sprach, hielt ihr aber weiterhin sein Hinterteil entgegen. Sie ging zur Futterkammer an der Seite des Stalls und füllte ihre Hand mit Hafer. Mal sehen, ob sie ihn damit bestechen konnte. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen und als sie wieder an seine Box trat, drehte er sich tatsächlich zu ihr um. Offensichtlich wusste er, was sie soeben in der Futterkammer geholt hatte.

„Hey Kleiner, hast du Lust ein bisschen mit mir zu arbeiten?“, mit sanfter Stimme sprach sie auf ihn ein. Er musste sich erst einmal an sie gewöhnen und  sie musste sein Vertrauen gewinnen.

„Hier für dich.“ Er fraß den Hafer aus ihrer flachen Hand und seine großen Augen beobachteten sie genau. Er schien sie zu taxieren und als der Hafer aufgefuttert war, ließ er sein Maul weiterhin in ihrer Hand ruhen. Sie hob ihre freie Hand an und begann ihn wieder zwischen den Ohren zu kraulen. Nach ein paar Minuten entspannte er sich sichtlich und seine Augen wurden kleiner. Er schien jeden Moment einzuschlafen. Ein Lächeln huschte über Amys Gesicht. Er begann ihr zu vertrauen, dass war ein guter Start.

Als zwei Mitarbeiter mit zwei Stuten am Halfter den Stall betraten. Beendete Amy ihre Streicheleinheiten und trat etwas von seiner Box zurück. Offensichtlich machte ihn das Geschehen nervös und er taxierte die Stuten. Amy grüßte die beiden Mitarbeiter. Sie kannte sie nicht, denn es war schon lange Zeit her, dass sie hier mitgeholfen hatte und alle Mitarbeiter auf der Farm gekannt hatte.

Da sich Nando angesichts der Unruhe, die die Stuten im Stall ausgelöst hatten, wieder von ihr weggedreht hatte, beschloss sie es für heute gut sein zu lassen und ging zurück in die Küche, während sie nun endlich ihren Apfel verspeiste. Sie wollte nun doch noch ihr Vorhaben umsetzten und bei der Zubereitung des Abendessens helfen, denn ihr Magen rebellierte. Bekanntlich gab es beim Kochen auch immer etwas zu naschen oder zum probieren. In der Küche herrschte noch immer reges Treiben und sie wusch sich schnell die Hände, bevor sie Felicia mit den Kartoffeln zur Hand ging zur Hand ging.

Zwei Stunden später, war alles vorbereitet. Ihre Mutter zog sich in ihr Zimmer zurück, um sich etwas auszuruhen, während Felicia das Wohnzimmer abstaubte und die Küche durchwischte. Amy machte sich auf den Weg zum Nebenhaus. Sie wollte Sally und vor allem Jason besuchen. Hoffentlich war der kleine Mann wach. Sie klopfte an die kleine rote Tür, nachdem sie die wenigen Holzstufen auf die Veranda hinaufgegangen war.

„Ja, ich komme, eine Sekunde!“, rief Sally von drinnen. Einen Augenblick später öffnete sie die  Tür und strahlte Amy an.

„Oh, hallo Amy. Welch hoher Besuch. Komm doch rein. Möchtest du einen Tee?“, begrüßte sie Amy freundlich und sie folgte ihr ins Haus. Sally hatte einen tollen Geschmack und das kleine Häuschen war wunderschön und geschmackvoll eingerichtet. Amy bejahte die Frage nach Tee und ließ sich am Küchentisch nieder, während Sally den Teekessel auf den Herd stellte.

„Was führt dich zu mir, Amy?“, Sally holte zwei Tasse aus dem oberen Schrank und ließ die beiden Teebeutel drin verschwinden.

„Ach ich wollte dich einfach besuchen und vor allem wollte ich den kleinen Mann kennen lernen.“, Amy nahm ihr die dampfende Tasse ab, die ihr Sally reichte.

„Zucker?“, Amy schüttelte den Kopf. „Jason schläft gerade, aber er müsste bald wach werden, da er um diese Zeit eigentlich schon isst.“, wie aufs Stichwort fing das Baby-Phone, dass auf dem Tisch stand, an zu krächzten. „Timing!“, meinte Sally nur und verließ die Küche Richtung Treppe, die in den zweiten Stock führte.

Amy sah sich in der Küche um und hört durch das Baby-Phone, dass noch immer an war, wie Sally beruhigend auf Jason einredete, während sie ihn aus dem Bettchen holte. Ihre Stimme klang so liebevoll- Amy war richtig berührt davon. Einige Augenblicke später betrat Sally mit Jason auf dem Arm die Küche. Er hatte die blonden Haare seiner Mutter und die grünen Augen seines Vaters geerbt. Friedlich lag er im Arm seiner Mutter und beäugte seine Umwelt, während Sally das Fläschchen vorbereitete.

„Wow, er ist ja so süß! Was für ein hübsches Kind.“, brach es schließlich aus Amy heraus. Sally lächelte wieder verlegt. Sie fühlte sich immer unwohl, wenn sie Komplimente erhielt, was bei ihrem Aussehen und einem so süßen Kind aber bestimmt öfters passierte, dachte sich Amy.

„Ja, er ist schon goldig. Und so lieb. Ich dachte immer, Kinder würden nur schreien oder schlafen, aber Jason ist ein wirklich ruhiges Kind. Manchmal liegt er stundenlang wach in seinem Bettchen ohne einen Mucks von sich zu geben und wartet geduldig, bis ihn jemand herausnimmt.“, Sally wirkte erleichtert- sie hatte sich augenscheinlich große Sorgen gemacht, dass sie eine dieser übermüdeten, gestressten Mütter wird, die mit ihrem ersten Kind überfordert sind.

„Er mag ein tolles Kind sein, aber du bist die beste Mutter, die er sich wünschen kann.“, Amy wusste nicht warum genau sie das gesagt hatte, aber Sally drehte sich zu ihr um, und lächelte erleichtert und zufrieden. Das hatte ihr wohl noch nicht so häufig jemand gesagt.

„Danke dir. Du wirst bestimmt auch mal eine ganz großartige Mutter.“, bei dem Satz verfinsterte sich Amys Gesicht und das Lächeln wich einem schmerzverzerrten Ausdruck.

„Oh, es tut mir leid, ich wollte nicht…“, Sally tat es offensichtlich leid, dass sie sie an Michael und an die Zukunftspläne erinnert hatte, die sie beiden gemeinsam hatten.

„Schon gut.“, unterbracht sie Amy. „Das ist doch nicht deine Schuld, dass mich mein Freund mit einer anderen betrogen hat.“

 

Amy blieb bis zum Abendessen bei Sally und sie spielten mit Jason auf dem großen bunten Teppich auf dem Wohnzimmerfußboden und unterhielten sich lange über das jeweilige Leben, das sie beide führten. Für Amy schien es fast so, als hätte sie in Sally eine mindestens genauso gute Freundin wie in Lisa gefunden, obwohl sie beide sich so selten sahen.

Beim Abendessen, dass auf der riesigen Terrasse hinter dem Haus stattfand, lernte Amy alle Mitarbeiter und Hilfsarbeiter kennen und es war das erste Mal seit Tagen, dass sie richtig Appetit hatte und sich den Magen vollschlug. Vielleicht lag es an der vielen frischen Luft oder der Tatsache, dass sie wieder zu Hause war- es war egal und ihre Mutter freute sich sichtlich, dass es ihr schmeckte.  Sie saßen noch lange zusammen und gegen zehn verabschiedete sich Amy und ging hinauf in ihr Zimmer. Sie war noch geschafft von der Reise und dem wenigen Schlaf der letzten Tage. Als sie in ihrem Bett lag und den vertrauten Geruch des Waschmittels vom Bettlaken wahrnahm, wusste sie, dass sie hier zu Hause war.

Kapitel 4

Sie wälzte sich unruhig im Bett herum und schlug ihr Bettlaken zur Seite. Es war viel zu heiß zum Schlafen und doch wäre sie gerne noch liegen geblieben und hätte sich nochmal diesem wunderbaren Traum hingegeben.

Sie rannte über die Wiese, die bunt gefleckt war von den vielen Wildblumen und Wiesenkräutern. Neben ihr rannte Nando und vollführte Luftsprünge vor Freude. Sie tobten gemeinsam über die Wiese bis sich Amy ins weiche Gras fallen ließ und Nando neben ihr zum Stehen kam. Er stupste sie mit seiner Nase an, als wollte er sie auffordern aufzustehen und weiter mit ihm zu spielen, doch sie war außer Atmen. He, lass das! Ich muss mich ausruhen, schließlich bin ich kein Pferd, dachte sie im Traum. Kaum hatte sie den Gedanken zu endegeführt, ließ Nando von ihr ab und legte sich neben sie ins Gras.

 

Sie dachte noch über den Traum nach, als sie bereits unter der Dusche stand. Es war erst sechs Uhr, aber sie schätze die Temperatur in ihrem Zimmer auf fast dreißig Grad und so hatte sie sich dem Schicksal ergeben und war aufgestanden. In ihrem Traum schien es, als hätte Nando ihre Gedanken gelesen und diese sogar verstanden. Ihr gefiel der Gedanke, dass dies Wirklichkeit sein könnte und so stand sie unter der eiskalten Dusche und stellte sich vor, wie einfach es wäre mit den Tieren zu arbeiten. Wie ein kleines Mädchen, dass von einem Schloss und einem Prinzen träumte, malte sie sich aus, was sie Nando alles mitteilen konnte. Sie kicherte, als sie feststellte, wie absurd dieser Gedanke doch war und stieg aus der Dusche.

In der Küche traf sie auf ihre Mutter. Sie hatte bereits gestern von ihrem Vorhaben erzählt und ihre Mutter und ihr Bruder unterstützen sie dabei. Ihr Vater war nicht begeistert von der Idee mit Nando zu arbeiten und hatte bereits gestern, während des Abendessens Gründe gesucht, warum sie es besser lassen sollte. Mit der Hilfe ihres Bruders, hatte sie ihn schließlich überzeugt, ihr zumindest eine Chance zu geben und er hatte eingewilligt, unter der Auflage, dass sie nichts überstürzten durfte und sich nicht in Gefahr begab. Sie versprach ihm vorsichtig zu sein und so würde sie nun heute Morgen damit beginnen, Nando zu trainieren.

„Schon wach? Hast du gut geschlafen, Schatz?“, ihre Mutter war bereits dabei das Geschirr vom Frühstück in den Geschirrspüler zu räumen. Ihr Dad stand immer gegen fünf Uhr auf und war um diese Zeit schon mit der Fütterung beschäftigt.

„Guten Morgen Mum. Ja, wie ein Stein. Ich konnte nur wegen der Hitze nicht länger schlafen.“, Amy nahm sich eine Tasse und goss sich Tee ein, der in der Kanne bereit stand.

„Ich fahre heute in die Stadt, dann kaufe ich dir einen Ventilator, der sollte es etwas erträglicher machen.“, es war einfach rührend, wie sich ihre Mum um sie kümmerte und sie trank ihren Tee, während ihre Mum von ihrem Plan für den Tag erzählte. Sie würde in die Stadt fahren und anschließend würde sie für den Abend kochen und einen Kuchen backen. Wie einfach ihr Leben doch war und, wie glücklich es sie machte, dachte sich Amy, während sie einen Apfel aus der Schale nahm und sich verabschiedete.

Ihr Weg führte sie direkt zu den Ställen und Nando hob den Kopf, als er sie kommen hörte. Sie trat an seine Box und er senkte ihr seinen Kopf entgegen, damit sie ihn kraulen konnte. „Na mein Kleiner. Hast du gut geschlafen?“, fragte sie ihn zärtlich und teilte den Apfel mit ihm.

„Aber klar, danke der Nachfrage!“, ertönte eine Männerstimme, die Amy nicht kannte und sie aufschrecken ließ, dachte sie doch, sie wäre alleine. Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet. Als sie sich umblickte erkannte sie auf der anderen Seite der Boxen einen jungen Mann. Er musste um die dreißig sein und grinste frech zu ihr herüber.

„Ähm, ich hatte nicht mit ihnen gesprochen.“, erwiderte Amy zaghaft.

 „Hätte ja sein können.“, entgegnete er forsch, als er zu ihr herüber kam.

„Ich bin Andy. Und sie müssen Amy sein. Die Frau mit dem Draht zu Nando.“, stellte er sich ihr vor und reichte ihr seine Hand. Er sah gut aus, dass musste Amy zweifelsohne zugeben. Seine Haut war sonnengebräunt und der Dreitagebart verlieh seinem Aussehen etwas Verwegenes. Das pechschwarze Haar war unordentlich und vom Wind zerzaust, was ihn noch verwegener wirken ließ. Unter seinem Hemd zeichneten sich deutlich die Muskeln ab, die sich ein Mann mit harter Arbeit verschafft. Sie hatte ihn gestern nicht beim Abendessen gesehen und fragte sich kurz, wie er ihr überhaupt entgangen sein konnte, so gut wie er aussah.

Schnell verdrängte sie die Gedanken, die gerade versuchten ihren Kopf zu erobern. Sie hatten nun wirklich keinen Nerv für so etwas. „Ähm, ja. Hat sich das denn schon rumgesprochen?“, stotterte sie verlegen und reichte ihm die Hand, um die Stille, die für einen Moment zwischen Ihnen geherrscht hatte, zu unterbrechen.

„Naja, wenn jemand Nando zähmen kann, dann ist das ja wohl ein Gesprächsthema wert.“, er lächelte sie direkt und ohne Schwarm an und musterte sie. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen schien direkt in sie hineinsehen zu wollten und ihr wurde heiß. Ihre Wagen glühten und sie senkte schüchtern den Blick in der Hoffnung, ihre Wagenfarbe würde sich normalisieren.

„Wie lange werden sie bleiben?“, mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet und als sie den Mund öffnete um eine Antwort zu geben, klang es mehr wie ein Krächzten.

„Zwei Wochen, denke ich. Danach muss ich zurück nach Toronto.“ Sie hob ihren Blick und schaute ihm ins Gesicht, als wollte sie darin lesen, ob er es gut oder schlecht fand.

Sofort ärgerte sie sich darüber. Was interessierte es sie überhaupt, was er davon hielt? Sie kannte ihn seit zwei Minuten!

„Das ist doch besser als Garnichts.“, mit diesem uneindeutigen Satz drehte er sich um und ging die Stallgassen entlang. Amy starrte ihm perplex hinterher und bemerkte, dass ihr Blick an seinem knackigen Po hängen geblieben war, den die Jeans so schön verpackt hatte. Sie zwang sich wegzuschauen und atmet tief durch, als er um die Ecke bog und damit außerhalb ihrer Sichtweite war.

Wow, war der arrogant? Und was hatte er damit gemeint „besser als Garnichts“? Stand er etwa auf sie? Sie schüttelte den Kopf um ihre Gedanken zu sortieren. Sie würde sich auf Nando konzentrieren und sich nicht von so einem dahergelaufenen Burschen den Kopf verdrehen lassen, von dem sie bis jetzt nicht mal den Nachnamen kannte.

Sie öffnete die Boxentür und Nando kam sofort auf sie zu. Er hatte sich während des Gesprächs mit Andy seinem Heu zugewandt, doch nun lag seine ganze Aufmerksamkeit auf der offenen Tür. Er hatte diese Box wahrscheinlich schon lange nicht mehr verlassen und nun, da er sich gegen die Tür und Amy drückte, um diese weitgenug zu öffnen, erkannte Amy, dass es wohl keine so gute Idee war. Wo war sie nur mit ihren Gedanken? Sie versuchte ihn nach hinten zu drücken, doch er war eindeutig zu stark. Mit einem weiteren Ruck hatte er bereits seinen ersten Fuß aus der Box heraus gestellt und ehe sich Amy versah, hatte er sie förmlich umgerannt. Er fiel in einen leichten Galopp und Amy sah nur noch, wie er am Ende der Stallgasse um die Ecke bog, während sie sich wieder aufrappelte. Ihr Hinterteil schmerzte, denn sie hatte sich nicht mit den Händen abgefangen, sondern war einfach auf ihren Hosenboden geplumpst, als er sich an ihr vorgedrückt hatte. So ein verdammter Mist! Das konnte ja was werden. Sie schnappte sich ein Halfter mit Strick und rannte hinter Nando aus der Stallgasse heraus. Als sie ins Sonnenlicht trat und ihre Hand schützend vor ihre Augen hielt, um sie von der Sonne abzuschirmen, sah sie, dass er weiter unten an einem der weißen Zäune stand und lautstark zwei Stuten anwiehrte. Bitte, sei lieb und komm einfach zurück. Mein Dad wird dich einschläfern, wenn du jetzt irgendwelchen Unsinn machst. Amy ging langsam auf ihn zu und plötzlich widmete er ihr seine Aufmerksamkeit. Erst sah es so aus, als ob er jeden Moment auf sie losrennen wollte, nur um ihr nochmal zu beweisen, dass er stärker war. Doch dann trat er ein paar langsame und zaghafte Schritte auf zu und blieb schließlich stehen. Sie näherte sich langsam und berührte mit der ausgestreckten Hand seine Nüstern. Er schnaubte dagegen, als ob er prüfen wollte, ob sie es wirklich ist. Bleib ganz ruhig. Ich tu dir nichts. In Gedanken sprach sie beruhigend auf ihn ein ohne, dass ein Wort ihre Lippen verließ. Er senkte den Kopf und ließ sich ohne Probleme das Halfter anlegen. Als sie den Strick dran befestigt hatte, hörte sie ein erstauntes „Wow!“ hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich langsam um, denn sie wollte Nando nicht erschrecken.

Da standen ihr Vater, ihr Bruder und einige Mitarbeiter, unter ihnen auch Andy und blickten erstaunt zu ihr herüber. Sie lächelte und die Anspannung fiel von ihr ab. Sie hatte gerade bewiesen, dass sie es durchaus mit Nando aufnehmen konnte und das auch noch unter Publikum, auch wenn sie sich fragte, wo denn alle plötzlich herkommen waren, denn als sie aus dem Stall kam, war der Hof doch leer gewesen.

Sie war stolz auf sich und vor allem auf Nando. Sie straffte den Strick etwas und ging los. Nando folgte ihr brav.

„Wie hast du das gemacht?“, wollte ihr Bruder sofort wissen, als sie die Gruppe erreicht hatte. Sie erntete zahlreiche bewundernde Blicke und Andy grinste über das ganze Gesicht, als sich ihre Blicke trafen.

„Ich weiß es nicht. Ich dachte erst, dass es das jetzt war. Dass wenn er Mist bauen würde, ihn Dad zum Schlachter geben würde. Und dann ließ er sich ganz einfach einfangen.“, erwiderte Amy unsicher.

„Aber du hast keinen Ton gesagt. Wie hast du ihn beruhigt?“, hakte ihr Vater nach. „Ich weiß es nicht Dad. Vielleicht durch meine Anwesenheit.“

 

 

Sie ließ sich erschöpft auf ihr Bett fallen. Das war mit Abstand einer der anstrengendsten Tage, die sie jemals hatte.  Sie war nach dem Vorfall mit Nando in die Halle gegangen und hatte ihn frei rennen lassen. Nachdem er sich ausgetobt hatte, kam er schließlich von alleine zu ihr und sie legte ihm das Halfter wieder an. Sie hatte den gesamten Vormittag damit verbracht, mit ihm leichte Bodenarbeit zu machen und er war sehr gehorsam. Gegen Mittag hatte sich ihr Magen bemerkbar gemacht und sie hatte Nando zurück in seine Box gebracht, um sich in der Küche ein Sandwich zu richten. Sie aß es auf dem Weg zu Sally und half ihr am Nachmittag während sie unerlässlich redeten im Garten. Sie hatte den kleinen Garten hinter ihrem Haus in ein wahres Paradies verwandelt. Der größte Teil wurde von den unterschiedlichsten Gemüse- und Kräutersorten vereinnahmt. In den restlichen Beeten tummelten sich viele Wildblumen und Sträucher. Das geerntete Gemüse hatte sie später in der Küche zusammen mit Betty fürs Abendessen zubereitet und Amy war in den Stall zurückgekehrt um Nando zu striegeln. Als sie diesmal die Tür öffnete, trat er zur Seite und ließ sie herein. Ganz der Gentleman, dachte sich Amy und musste schmunzeln. Als Nando staubfrei war, wollte sie gerade zurück ins Haupthaus, als Andy plötzlich vor der Box auftauchte. Sie unterhielten sie auf dem Weg zum Haus und sie erfuhr, dass er bereits seit zwei Jahren für ihre Eltern arbeitete. Er bildete die Jungpferde aus, die nicht für die Weiterzucht in Frage kamen, um sie als Reitpferde verkaufen zu können. Beim Essen hatte er sich neben Amy gesetzte und sie stellte fest, dass er nicht nur optisch eine angenehme Gesellschaft war. Sie hatte sich direkt nach dem Essen verabschiedet und Andy war darüber sichtlich enttäuscht. Doch die Müdigkeit und ihr schmutziger, verschwitzter Körper verlangten nach einer Dusche. Nun lag sie in Jogginghose und T-Shirt auf ihrem Bett und ihre Gedanken kreisten um den heutigen Tag. Als sie an die erste Begegnung mit Andy dachte, schmunzelte sie.

Ob er wohl Single ist? Sie schrak hoch. Wie konnte sie so etwas denken? Sie wurde gerade zu tiefst verletzt und das von der Liebe ihre Lebens. Hör sofort damit auf! Du hast genug Probleme!, mahnte sie sich selbst in Gedanken. Sie war nun wieder hell wach und entschloss sich den lauen Sommerabend noch etwas zu genießen.

 

Untern war alles still. Offenbar waren alle Mitarbeiter bereits in ihre Quartiere gegangen, die am Ende der Stutenkoppel lagen. Es waren einfach Holzhütten, in denen jeweils fünf Mann untergebracht waren. Jede Hütte hatte einen Gemeinschaftsraum mit Kochnische und ein Badezimmer, das voll ausgestattet war. Als kleines Kind hatte Amy oft bei den Cowboys am Lagerfeuer vor den Hütten gesessen und hatte den Geschichten gelauscht.

Sie schlich die Treppe hinunter und als sie tatsächlich geräuschlos unten ankam, fragte sie sich, warum sie sich wie ein Teenager verhielt, der sich nachts aus dem Haus schlicht. Sie war erwachsen und konnte gegen elf Uhr nachts durchaus das Haus verlassen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Etwas selbstsicherer öffnete sie die Hintertür in der Küche und trat in die Dunkelheit der Nacht.

Der Himmel war sternenklar und nicht weit entfernt heulte ein Kojote. Sie lief flink hinüber zu den Stallungen und sah, dass noch Licht brannte. Kurz spielte sie mit den Gedanken umzukehren, doch eigentlich war es ihr egal, wenn sie nun auf ihren Vater oder ihren Bruder treffen würde. Sie trat fast lautlos in die Stallgasse und sofort sah sie, wie Nando seinen Kopf hob und leise wieherte.

„Na noch wach mein Kleiner?“, fragte sie ihn, als sie an seine Box heran trat.

„Na klar, wenn man solch einen hübschen Besuch bekommt.“, schon wieder antwortete Andy auf eine Frage, die sie ganz klar Nando gestellt hatte und sie fuhr herum, und stand nun mit dem Rücken zur Boxentür. Er saß mit einem Buch in der Hand auf ein paar Strohballen, die gegenüber von Nandos Box aufgestapelt waren. Wie hatte ich ihn nur schon wieder übersehen können?, ärgerte sich Amy.

„Was lesen sie da?“, etwas Besseres fiel ihr gerade nicht ein.

„Moby Dick.“, antwortete er knapp.

„Und was machen sie noch so spät auf den Beinen. Wollten sie nicht zeitig schlafen gehen?“ Sie konnte ihm natürlich nicht erzählen, dass die Gedanken an ihn, sie wach hielten, also flüchtete sie sich ein eine plausible Ausrede:

„Ich wollte nochmal nach Nando schauen.“, und erst jetzt realisierte sie, dass sie mit feuchten Haaren und ungeschminkt in Jogginghosen vor ihm stand.

Er musterte sie, wohl um zu ergründen, ob das der Wahrheit entsprach. Sie konnte nicht erkennen, ob er ihr glaubte, als er aufstand und auf sie zu kam. Er ließ sie nicht aus den Augen und als er schließlich nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt stehen blieb, hörte sie auf zu atmen, denn die Luft zwischen ihnen schien zu knistern. Er lächelte sie an:

„Na da, kann er sich ja glücklich schätzen, dass du dir so viele Sorgen um ihn machst.“

Er hatte plötzlich in die vertraute Anrede gewechselt und sie musste ihren Blick senken um nicht in seinen Augen zu versinken. Seine Stimme war so zärtlich und verführerisch, dass es sich wie Musik in ihren Ohren anhörte. Nach einer unendlich langen Zeit, die sie regungslos da standen und die Luft um sie herum zu vibrieren schien, traute sie sich endlich wieder zu atmen und ihre Lunge schmerze, als sie die Luft hineinströmen ließ. Sie hob ihren Blick und schaute in seine Augen und ihr Herz schien kurz auszusetzen. In seinem Blick stand pures Verlangen. Er wollte sie, da war sie sich nun ganz sicher. Nur wollte sie es auch? Sie fand ihn attraktiv und die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, konnte sie nicht leugnen. Seine offene fast unverschämt selbstsichere Art konnte durchaus sexy sein. Ihre Augen konnten sich nicht von seinen lösen und die Luft zwischen ihnen schien zu knistern. Er hob langsam seine Hand. Wie in Zeitlupe sah sie im Augenwickel, wie sich seine Hand zu ihrer Wange hinbewegte. Immer näher und als er sie schließlich berührte, prickelte ihre Haut unter seiner Berührung. Sie schloss die Augen.

Das war nicht richtig! Das durfte nicht passieren. Immerhin war sie immer noch mit Michael zusammen. War sie das? Wie war ihr Beziehungsstatus eigentlich? Die Gedanken schossen durch ihre Kopf und richteten ein heilloses Durcheinander an. Sie hatte die Augen immer noch geschlossen, als sie plötzlich seine weichen Lippen auf ihren spürte. Seine freie Hand fuhr an ihren Nacken, während er mit der anderen liebevoll ihre Wange streichelte. Zärtlich liebkoste seine Zunge ihre Unterlippe und bat sanft um Einlass. Sie öffnete leicht ihren Mund und wollte den Kuss ihrerseits erwiedern, als ein dumpfer Schlag durch den Stall hallte.

Augenblicklich löste sie sich aus seinen Liebkosungen und zog scharf die Luft ein. Vor Schreck trat sie einen Schritt zur Seite, während sie die Augen öffnete. Nando hatte mit dem Huf gegen die Boxentür direkt hinter ihr geschlagen, als ob ihm nicht gefallen hatte, was hier soeben passiert war. Andy hatte sich auch erschrocken und stand nun seitlich vor ihr und lächelte sie an.

„Gute Nacht!“, sagte er sanft und verließ den Stall Richtung Stutenkoppel. Sie atmete hörbar aus, denn sie hatte schon wieder die Luft angehalten, als sie den Kopf von Nando auf ihrer rechten Schulter spürte. Minuten später konnte sie wieder den ersten klaren Gedanken fassen und ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten. War das eben die Realität gewesen? Kurz zweifelte sie, ob das alles real war, als sie gegenüber auf dem Strohballen den Schriftzug des Buches las: „Moby Dick“

Es war also Wirklichkeit gewesen. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Sie spürte das Gewicht von Nandos Kopf auf ihrer Schulter und hob ihre rechte Hand, um ihn am Kopf zu streicheln. Er schnaubte zufrieden unter der Berührung. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ach ja, stimmt, ich habe ja gar nicht gedacht! An irgendeinem Punkt hatte sie ihr Gehirn ausgeschaltet und es erst wieder zum Leben erweckt, nachdem sie Nando auf ihrer Schulter gespürt hatte. Ich habe mich einfach fallen lassen. War das denn so falsch? Oh, er ist ein wirklich guter Küsser. Aber was erlaubte er sich eigentlich? Er wusste nichts über sie und küsste sie einfach nachts im Stall- gut wahrscheinlich hatte sich bereits herum gesprochen, warum die Tochter des Chefs plötzlich aufgetaucht war und zwei Wochen blieb, aber er hätte sie zumindest fragen können!

Sie verabschiedete sich von Nando und lief zurück zum Haupthaus, nachdem sie das Licht im Stall gelöscht hatte und das große Tor verriegelt war. Nun fühlte sie sich tatsächlich wie ein Teenager. Es war so kindisch nachts heimlich im Stall zu knutschen. Sie öffnete leise die Hintertür einen Spalt bereit und schlüpfte hindurch in die dunkle Küche. Als sie am Tresen vorbeiging, blieb sie mit dem Zehen an einem der Barhocker hängen und hätte am liebsten laut aufgeschrien, als sich der pochende Schmerz in ihrem Zeh ausbreitete. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um den Laut der trotzdem ihrer Kehle entwich, zu dämpfen. Verdammt! Hätte sie nur ihre Sneakers angezogen, aber nein, sie musste ja in Flipflops in den Stall gehen. Sie humpelte langsam durch die Küche und zur Treppen, den Schmerz so gut es geht, ignorierend. Als sie am unteren Treppenabsatz stand, hörte sie plötzlich, wie jemand den Flur im oberen Stock entlang schlurfte und auf die Treppe zu kam. Sie dachte kurz nach und entschloss sich dann, sich zu verstecken. Im dunklen Flur war das kein Problem, solange derjenige das Licht nicht anschalten würde. Sie kroch unter die Treppe und rieb sich ihren schmerzenden Zeh als sie zusammengekauert auf dem kalten Steinboden saß. Wieso versteckte sie sich eigentlich? Ach ja richtig, sie verhielt sich wie ein Teenager und jetzt versteckt sie sich passend dazu auch noch! Sie schüttelte in der Dunkelheit ihren Kopf über sich selbst und wartete bis die Schritte in der Küche verstummten und sie das Quietschen der Kühlschranktür hörte. Den Geräuschen nach zu urteilen hatte ihr Dad Durst und holte sich ein Glas Wasser in der Küche. Sie schnellte unter der Treppe hervor und ging blitzschnell nach oben, gerade rechtzeitig, denn als sie ein weiteres Stockwerk nach oben stieg, ging die Schwingtür der Küche auf und ihr Vater schlurfte die Treppe in den ersten Stock hinauf. Vom Treppengeländer im zweiten Stock sah sie, wie er verschlafen eine Glas Wasser ins Schlafzimmer balancierte. Sie trat in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Was für ein Tag! Es war nun fast Mitternacht und sie ließ sich erschöpft in ihr Bett fallen. Ohne sich ihrer Kleider zu entledigen oder sich zuzudecken, schlief sie sofort ein.

 

„Tock, tock!“ Was war das? Konnte es nicht einfach aufhören? Sie erwachte, als jemand mehrmals ziemlich unsanft an ihre Tür hämmerte und sie sich nichts sehnlichster wünschte, als das es aufhört.

„Amy! Amy? Aufstehen du Schlafmütze!“, hörte sie Chris von draußen.

„Okay, ich komm rein, wenn du nicht augenblicklich aufstehst!“, drohte er ihr.

Sie ignorierte ihn, drehte sich auf den Bauch und versteckte ihren Kopf unter dem weichen Kissen.

„Geh weg! Ich bin müde!“, murmelte sie unter ihr Kopfkissen hervor.

„Das werde ich nicht tun. Es ist bereits elf Uhr und du bist kein Teenager mehr, der sich in seinem Bett versteckt.“, entgegnete er. Sie hob sofort alarmiert den Kopf, dabei fiel das Kissen zu Boden. Woher wusste er, dass sie sich verstecken wollte? Hatte er sie gesehen? Unmöglich, da war niemand im Stall gewesen außer ihr und Andy. Gut den hatte sie am Anfang auch übersehen, aber… nein das war unmöglich. Hatte Andy es ihm erzähl?

Sie ließ den Kopf wieder zurück auf ihre Bett sinken und ihre Stirn ruhte auf der Matratze.

Oh Gott, sie verhielt sich tatsächlich wie ein Teenager, dämmerte es ihr. Er wusste rein Garnichts, sie verhielt sich gerade total kindisch und er behandelte sie auch so. Ein erneutes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

„Okay, ich bin wach! Hör auf gegen die Tür zu hämmern. Ich geh duschen und bin in fünf Minuten unten. Versprochen!“, rief sie Richtung Tür während sie aufstand und lustlos ins Badezimmer stampfte. Ihr Zeh war blau und sie hatte noch immer die Jogginghose von heute Nacht an. Als in den Spiegel blickte, erschrak sie. Ihre Haare standen zu allen Seiten ab und sie hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen. Wie sie wohl heute Nacht ausgesehen hatte, als sie im Stall war? Sie wollte gar nicht daran denken und stieg in die Dusche.

 

„Morgen Mum!“, sie lächelte ihrer Mutter zu, als sie die Küche betrat.

„Wohl eher: Guten Tag!“, antwortete ihr stattdessen ihr Bruder, der am Küchentisch saß. „Guten Morgen, mein Schatz!“, entgegnete ihre Mutter mit einem Lächeln auf den Lippen und betonte dabei das „Guten Morgen“ ganz besonders. Sie gab ihrer Mum einen Kuss auf die Wange und setzte sich zu ihrem Bruder an den Küchentisch, um eine Tasse Tee zu trinken und die Zeitung zu lesen.

„Sommerfest in Leduc“, las Amy laut vor. „Chris, gehst du hin?“ Amy hatte die Anzeige zu dem Volksfest, das dieses Wochenende in der nächst größeren Stadt stattfand, entdeckt. Hier waren sie alle auch zur Schule gegangen und der Ort Hay Lakes war so klein, dass man alle Besorgungen im 30 Minuten entfernten Leduc erledigte. Er schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas von Familienpflichten. Jetzt wünschte sich Amy eine Freundin ohne Kleinkind, mit der sie das Wochenende genießen konnte. Ob sie Lisa mal anrufen sollte? Sie hatte ihr am Dienstag eine Nachricht geschickt, in der sie nur knapp erklärt hatte, dass sie gut in Hay Lakes angekommen war. Doch nun war es bereits Donnerstag und plötzlich meldet sich ihr schlechtes Gewissen. Ihr Bruder musterte sie von der Seite und schien in ihrem Gesicht zu lesen.

„Ja, du solltest dich dringend mal bei jemandem in Toronto melden. Ich denke, da gibt es ein paar Leute, die sich Sorgen machen.“, woher wusste er nur immer, was sie dachte.

„Ich bin mal draußen.“, sie nahm sich zwei Bananen und verließ das Haus.

 

Auf dem Weg zum Stall nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche ihrer Shorts und wähle Lisas Nummer.

„Hey Amy, Gott sei Dank! Geht es dir gut?“, Lisa hatte ihr Nummer auf dem Display gesehen.

„Ja, Lisa, es geht mir gut. Ich muss ehrlich zugeben, vielleicht sogar besser als gedacht.“, beruhigte sie ihre Freundin als in den Stall trat.

„Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Wann kommst du wieder heim?“, nun hatte sie tatsächlich die einzige Frage gestellt, auf die Amy gerade keine Antwort hatte.

„Ähm,… ja das ist so ein Ding.“, versuchte sie zu erklären. „Ich weiß es nicht! Ich weiß gar nicht, wie meine Zukunft aussieht, oder ob es überhaupt eine für mich in Toronto gibt.“, brach es plötzlich aus ihr heraus. Sie stand nun vor Nandos Box und er fraß genüsslich eine der beiden Bananen mit samt der Schale.

„Okay, hör zu Amy, nimm dir die Zeit die du brauchst. Denk in Ruhe darüber nach. Versprich mir das!“, forderte sie.

„Ja ich verspreche es.“, gab Amy zurück und Lisa verabschiedete sich direkt, denn Michaels Mutter kam gerade aus dem Gericht zurück ins Büro. Das letzte was Amy wollte, war ein Telefonat mit Victoria und so verabschiedeten sich die beiden schnell. Als sie das Handy zurück in ihre Taschen gleiten ließ, hörte sie wie in der Futterkammer ein Eimer zu Boden ging. Sie trat näher und als sie die halb offene Tür aufstieß stand da Andy und versuchte die angerichtete Unordnung, die der volle Hafereimer verursacht hatte, als er mit dem Boden kollidiert war, wieder in Ordnung zu bringen.

„Hast du mich belauscht?“, fragte sie vorwurfsvoll etwas zu streng. Er lächelte entschuldigend:

„Hör zu, es war keine Absicht. Ich war hier drin als du reinkamst und ich dachte, dass es ein eher unwichtiges Gespräch wäre. Als es dann tatsächlich persönlicher wurde, war es bereits zu spät und bevor ich mich hätte bemerkbar machen können, hast du bereits aufgelegt.“

Sie nickte nur und half ihm den Hafer, der zuvor in dem umgestoßenen Eimer gewesen war, wieder aufzusammeln. Er hatte ja Recht und eigentlich war es ihr auch egal, ob er das mit angehört hatte oder nicht. Ihr Hass war verfolgen, spätestens als sie sich gegenüber knieten und sich ihre Blicke trafen.

Seine braunen Augen funkelten sie an und sie konnte wieder einmal nicht wegschauen. Hätte sie nicht am Boden gekniet, wären ihre Knie vermutlich weich geworden. „Ähm, ich würde mit Nando in die Halle gehen, ist das okay?“, durchbrach sie die Stille. Sie musste sich irgendwie von diesem Blick ablenken und da kam ihr Nando gerade recht. Konzentrier dich! „Oder,… ähm willst du in die Halle?“, stammelte sie, als er keine Antwort gab. Er befand sich gedanklich gerade irgendwo, aber nicht auf diesem Planeten, dass konnte sie in seinem Blick sehen. Schließlich bitzelte er heftig und schaute dann auf die Karotten in seiner Hand.

„Ähm ja, also nein,… also du kannst gerne in die Halle. Ich wollte nur mit Stella trainieren, aber das kann ich auch auf der Koppel machen.“, stotterte er und sie erhob sich um etwas Raum zwischen sie zu bringen. Er war deutlich nervös. Und ich auch, schoss es ihr durch den Kopf, als ihr klar wurde, wie oft das Wörtchen ähm in den letzten Sekunden gefallen war.

„Gut, dann bis später!“, sie drehte sich um und ging zurück in den Stall und direkt zu Nandos Box. Sie trat in die Box und lehnte ihren Kopf an seine Schulter ohne die Tür hinter sich zu schließen. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals und eine ihrer Hände fand automatisch die Stelle zwischen seinen Ohren.

„Ach Nando. Warum ist nur alles so kompliziert?“, flüsterte sie an sein Fell. Er stupste sie mit seinem Kopf am Rücken. Als sie sein Halfter angelegt hatte, führte sie ihn aus der Box. Andy war weiterhinten im Stall mit Stella, der kleinen schwarzen Stute, beschäftigt. Sie ging direkt hinüber in der Reithalle und ließ Nando zunächst freilaufen. Unschlüssig stand sie an der Bande und kaute auf ihrer Unterlippe. Nando rannte durch die Halle und tobte sich aus, während sie ihren Gedanken nachhing. Sie müsste sich bald entscheiden, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Wollte sie überhaupt zurück nach Toronto. Sie hatte dort die letzten sechs Jahre verbracht, doch zu Hause fühlte sie sich nur hier. Sie liebte das Leben auf dieser Farm und das Arbeiten mit den Pferden- mit Nando. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, ihr ganzes Leben hier zu verbringen. Es war ein Traum von ihr gewesen, als sie noch jünger war, mit den Pferden zu arbeiten und die Zucht ihre Vaters weiterzuführen. Doch sollte so wirklich ihre Zukunft aussehen? Diese Träume schienen lange Vergangenheit zu sein, als wären sie verblasste Polaroid-Bilder, die irgendwann ganz verschwunden sein werden.

Sie hatte damals ihre guten Gründe Hay Lakes zu verlassen. Ihr kamen sofort die Bilder von ihrem College in den Sinn. Damals hatte sie sich geschämt. Heute wusste sie, dass sie etwas unternehmen hätte können, doch sie rannte weg- sie zog nach Toronto, direkt als sie das College beendet hatte.

Bei ihrer ersten eigenen Story für den Toronto Star lernte sie Michael kennen und schon zwei Monate später waren sie ein Paar. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie über all das nachdachte. Sie hatte eine Vergangenheit- doch was wollte sie eigentlich. Wollte sie diese Karriere und das Leben in einer Großstadt wirklich? Sie atmete tief durch und öffnete das Tor zur Halle. Nando kam direkt auf sie zu und lehnte sich einfach nur an sie.

Sie nahm die lange Gerte und begann Gedanken versunken mit der Bodenarbeit. Nando machte sich so gut, dass sie sich durchaus vorstellen konnte, dass man ihn als Reitpferd ausbilden konnte. Als sie gerade bei der Vertrauensübung war- Nando musste sich dazu hinlegen und sie stand über ihm- kam Andy in die Halle und beobachtete sie. Sie beendete das Training und ging zu ihm hinüber.

„Er macht sich gut. Ich denke, du könntest ihn sogar zureiten.“, schlug sie ihm vor, als sie vor ihm stand.

„Ja, das ist wirklich beeindruckend, wie du mit ihm arbeitest. Denkst du, du könntest mich in die Arbeit einbinden. Ich muss Vertrauen zu ihm aufbauen, wenn ich ihn zureiten will und ich denke, das geht nur über dich.“, er zwinkerte ihr zu. „Er lässt immer noch niemanden außer dir an sich heran.“

„Okay, lass uns gleich morgen früh beginnen. Sagen wir um acht?“, schlug sie ihm vor. Er nickte und lächelte ihr zu.

„Dann also Morgen um acht.“, sie wollte zu Nando gehen, doch er trappte bereits auf sie zu. Sie legte ihm das Halfter wieder an und führten ihn zurück in den Stall, Andy begleitete sie schweigend.

 

„Mum?... Mum?“, rief sie durch das Haus.

„Was ist denn los, Amy?“, antwortete diese aus irgendeiner Ecke des oberen Stockwerks.

„Mum, wann gibt es Abendessen?“, Amy wollte nochmal weg, doch das Abendessen sollte ihr nicht entgehen.

„So gegen sieben. Wir machen ein Barbecue. Wieso?“, wollte sie wissen.

„Ich bin nochmal weg. Ich nehme den Ford und bin so gegen sieben wieder da. Bis dann!“, erklärte sie ihrer Mum und war auch schon aus dem Haus.

Mit dem großen weißen Pickup fuhr sie die kleine Schotterstraße entlang und bog am Tor der Morgan-Farm nach links auf die Hauptstraße. Nach nur wenigen Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stoppte den Wagen, doch ihre Hände behielten sie am Lenkrad, auch der Rest ihres Körpers schien wie festgefroren und sie bewegte sich für einen kleinen Augenblick keinen Millimeter. Sie brauchte noch einen Moment, bevor sie aussteigen konnte. Sie straffte ihre Schultern und öffnete schließlich die Tür. Sie stand auf einer staubigen Straße mitten umringt von Bäumen und Sträuchern und das Sonnenlicht zeichnete tanzende Muster auf den Waldboden. Direkt vor ihr lang ein kleiner klarer See, der wunderbar in der Sonne glitzerte. Doch die Schönheit konnte sie nicht genießen, denn sie nahm sie gar nicht wahr.

Hier war sie das letzte Mal vor zwanzig Jahren gewesen- fast auf den Tag genau. Sie atmete tief durch und ging langsam auf den See zu. Vor ihr lag der Baumstamm, auf dem sie damals immer gesessen hatten, wenn sie hier waren. Sie bückte sich und ließ ihre Fingerkuppen über die Rinde streichen. Plötzlich waren die Bilder wieder in ihrem Kopf. Vor so langer Zeit hatte sie diese Bilder tief in ihrem Innern verschlossen. Dieser schreckliche Unfall, der ihr ganzes Leben ins Wanken gebracht hatte. Sie hatten damals Sommerferien und ihre große Schwester sollte nach dem Sommer auf die High School nach Leduc gehen. Bis dahin waren sie alle drei gemeinsam auf die Grundschule in Hay Lakes gegangen. Nun würde ihre große Schwester nicht mehr gemeinsam mit ihr und Chris dorthin gehen. Sie konnte das damals mit gerade einmal sieben Jahren nicht wirklich verstehen. Ihre Schwester war drei Jahre älter und hatte schon immer auf die beiden Zwillinge aufgepasst. An diesem Tag hatte dieser schreckliche Unfall alles verändert. Sie setzte sich auf den Baumstamm und ließ ihre Schultern hängen. Die Tränen flossen heiß über ihre Wangen.

Ihre große Schwester Sue war an diesem Tag hier in diesem See ertrunken und Chris und sie konnten ihr nicht helfen, denn sie waren damals noch zu klein. Am Montag würde ihr Todestag sein und Amy musste einfach hierher kommen. Sie musste das alleine machen, denn genau in diesen Momenten, wenn sie nicht wusste, was sie machen sollte, vermisste sie ihre große Schwester unendlich stark.

Kapitel 5

Pünktlich um sieben fuhr sie die staubige Auffahrt zum Haus hinauf und parkte den Pick-up in der Einfahrt. Sie betrachtete kurz ihr Gesicht im Rückspiegel und entschied, dass sie vor dem Essen noch ein paar Minuten für sich bräuchte und stieg aus. Sie hatte stundenlang an dem kleinen See gesessen und geweint. Die Tränen schienen nicht versiegen zu wollen und so hatte sie sich schließlich auf den Rückweg gemacht.

Unbemerkt von den anderen, die sich bereits auf der Terrasse hinter dem Haus versammelten und lautstark miteinander über die Farmarbeit diskutierten oder Anweisungen zum Barbecue gaben, trat sie in den Stall. Nando begrüßte sie, doch sie ging direkt in die Sattelkammer ohne ihn weiter zu beachten. Dort stellte sie sich vor das Waschbecken und ließ den kalten Wasserstrahl über ihre Hände laufen. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen lagen glasig in ihren Höhlen. Um die Spuren der letzten Stunden etwas zu mildern, spitzte sie sich mehrere Hände  ins Gesicht und ließ das Wasser langsam von selbst trocknen, während sie regungslos am Waschbecken stand und ihre Hände darauf abstütze. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch die Haare, um etwas Ordnung hineinzubringen.

Sie hatte sie heute Morgen offen gelassen, doch nun störten sie die langen Haare. Kurzerhand flocht sie sie zu einem dicken Zopf und fand in der Sattelkammer ein kurzes Lederband, mit dem sie den Zopf fivierte. Schon viel besser! Sie trat aus der Sattelkammer und ging hinüber zu Nandos Box. Morgen würden sie also mit dem Training mit Andy beginnen. Nando stupste sie an und sie begann ihn zu kraulen.

„Amy?Amy?“, sie hörte die Stimme von Sally schon von Weitem doch sie antwortete erst, als sie Sally am Ende der Stallgasse erblickte. „Ich bin hier bei Nando!“

Sie kam mit schnellen Schritten auf sie zu: „Was machst du denn hier? Das Essen ist fertig und trödelst hier herum?“

„Ja, ich weiß. Ich hab… ach egal, lass uns gehen. Ich hab einen Mords Hunger“, sie lächelte sie mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck an und verabschiedete sich von Nando. Gemeinsam schlenderten die beiden zurück zum Haupthaus. Das Stimmengewirr der vielen Menschen, die sich hinter dem Farmhaus auf der riesigen Terrasse versammelt hatten, drang gedämpft zu ihnen herüber.

„Also, Chris meinte, ihr geht nicht auf das Sommerfest nach Leduc?“, forschte Amy nach, denn aufgegeben hatte sie das Thema noch nicht. Sie musste sich dingend mal wieder amüsieren.

„Naja, da hat er wohl nur für sich gesprochen.“, Sally grinste frech.

„Ich hab ihn für Samstag zum Babysitten verdonnert, damit ich mit dir nach Leduc fahren kann. Was hältst du davon?“

„Da hat sich mein Bruder aber die passende Frau geangelt.“, die beiden kicherten ausgelassen, als sie die Terrasse beraten.

„Was ist denn so komisch?“, wollte Chris wissen, doch die Mädels winkten nur ab und begaben sich tuschelnd und kichernd zum Salatbuffet, dass an der Hauswand aufgebaut war. Die meisten hatten schon Platz genommen. Als sie ihre Teller mit gegrillten Köstlichkeiten und Salaten vollgeladen hatte, setzten sie sich an die lange Tafel. Amy goss sich Weißwein ein und reichte Sally die Wasserflasche. Sie stillte Jason noch, weshalb sie die Finger vom Alkohol ließ.

„Und wann gehen wir am Samstag los?“, fragte Amy, als sie den ersten Bissen gierig verschlungen hatte.

„Naja, ich würde sagen so gegen vier?“, Sally grinste breit, offensichtlich freute sie sich auf die Auszeit.

„Ja, vier hört sich wunderbar an.“

„Wo wollt ihr beiden denn hin?“, mischte sich Andy in das Gespräch ein. Er saß schräg gegenüber von ihnen und hatte augenscheinlich zugehört. Chris verdrehte nur die Augen. Doch Sally ignorierte ihn gekonnt.

„Zum Sommerfest nach Leduc“, gab sie bereitwillig Auskunft. Amy war dabei eher unwohl. Sie wollte nicht, dass er auf die Idee kam, er wäre bei ihrem Ausflug willkommen. Indessen nickte Andy nur und wandte sich seinem Sitznachbar zu, um über den morgigen Plan zu sprechen. Amy schnappe ein paar Gesprächsfetzen auf, während sie mit Sally quatschte. Es ging darum, wer morgen Andys Aufgaben übernehmen konnte, denn er wollte das Training mit ihr beginnen. Während des Essens schaute sie immer wieder zu ihm hinüber. Bemüht darum, dass es niemand mitbekam. Doch wenn sich ihre Blicke trafen, schaute sie schnell weg und tat völlig beschäftigt. Wie lächerlich sie sich verhielt und trotzdem konnte sie nicht damit aufhören. Er hatte etwas an sich, dass sie magisch anzog.

 

Sally und Chris verabschiedeten sich, als Jason durch das Babyphone quengelte und auch die Mitarbeiter suchten nach und nach ihr Nachtlager auf, denn es war spät geworden.

„Ich geh schlafen. Guten Nacht, Mum.“, sie nickte kurz in die Runde und verabschiedete sich. In der Küche nahm sie sich noch eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und gerade wollte sie wieder in den Flur treten, als sie jemand am Arm festhielt. Er musste durch die Küchentür hereingekommen sein. Es war dunkel, doch als sie dem Druck an ihrem Arm nachgab und sie umdrehte, konnte sie trotz der Dunkelheit seine braunen Augen schimmern sehen. Sie blieb regungslos stehen und hielt seinem Blick stand. Es schienen Minuten vergangen zu sein, als er seine Hand von ihrem Arm nahm und sich leise räusperte. Doch er blieb stumm. Amy blickte ihn fragend an und in seinem Blick konnte sie erkennen, dass er mit irgendetwas zu kämpfen schien. Sie wollte ihn fragen, doch in diesem Moment fand er seine Stimme wieder:

„Hör zu Amy. Ich weiß, ich habe dich geküsst…“, er verstummte wieder. Scheinbar fehlten ihm die richtigen Worte, wo er doch sonst so schlagfertig war. Sie stellte die Wasserflasche auf den Küchentresen und wandte ihren Blick ab.

„Andy, du musst mir nichts erklären. Lass es uns einfach vergessen, ja?“, versuchte Amy seine missliche Lage zu vereinfachen. Doch scheinbar hatte sie sie damit nur verkompliziert. Als sie aufblickte konnte sie in seinem Blick die Enttäuschung sehen und seine Mundwickel zuckten leicht, als er tief Luft holte und sich umwandte. Oh nein! Was hatte sie nur getan? Es dämmerte ihr. Er mochte sie und sie hatte ihn so plump abserviert, dabei dachte sie, dass er ihr sagen wollte, dass es ein Fehler war und sie wollte es ihm leicht machen. Er war bereits zur Tür raus, da beschloss sie ihm zu folgen.

„Warte! Andy, warte doch.“, er blieb tatsächlich auf halben Weg zwischen Haus und Stall stehen. Als sie bei ihm ankam, dreht er sich nicht um.

„Hört zu. Du bist ein netter Kerl, Andy. Wirklich, aber ich stecke da in etwas sehr kompliziertem fest und… ach, es könnte gerade einfach nicht ungünstiger sein. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen. Verstehst du?“, sie war von hinten an ihn herangetreten und legte ihre Hand auf seine Schulter. Sie hoffte, er würde damit klar kommen und sie hatte nicht allzu großen Schaden angerichtet. Er drehte sich langsam zu ihr um und blickte ihr direkt in die Augen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und auch sie begann zu lächeln.

„Was ist so komisch?“, fragte sie ihn. Doch er antwortete ihr nicht. Stattdessen trat er langsam näher bis sie nur noch ein paar Zentimeter trennten. Er legte seine Hand an ihre Wange. Sie wusste es- würde sie jetzt nichts unternehmen, würde er sie wieder küssen. Wollte sie das? Konnte sie das zulassen? Sie hörte auf zu denken. Ihr Kopf war leer. Sie wollte nicht mehr nachdenken, was richtig und was falsch war. Sie wollte sich einfach nur noch fallen lassen. Doch statt sie zu küssen, nahm er ihre Hand, als sie ihn verdutzt anschaute und zog sie mit sich Richtung Stall. Anders als erwartet, gingen sie nicht hinein, sondern liefen weiter auf die dahinter gelegene Wiese. Sie stieß mit ihm zusammen, so abrupt war er mitten auf der großen Freifläche wischen Wald und Stall stehen geblieben. Der Himmel war sternenklar und es roch nach Wildblumen. Sie schaute zum Himmel und war beeindruckt von der atemberaubenden Schönheit.

„Komm, leg dich hin.“, sie folgte seiner Anweisung und legte sich auf den Rücken ins Gras. Er legte sich neben sie und nahm ihre  Hand in seine.

„Wow!“, entwich es ihrem Mund. Über ihnen glitzerten abertausende Sterne und es schien als würden sie um die Wette funkeln. Die nächsten Städte waren meilenweit entfernt und so konnte man in dieser grenzenlosen Dunkelheit jeden noch so kleinen Stern leuchten sehen, wenn man sich von den häuslichen Lichtquellen entfernte. Den Blick gen Himmel gerichtet lagen sie Minuten lang nur da und betrachteten das wundervolle Spiel am Himmel.

„Ich komme oft hier her.“, brach er die Stille.

„Hm. Es ist wunderschön.“, sie drehte ihre Kopf und betrachtete ihn von der Seite. Er störte sich nicht daran und schaute weiter in den Himmel.

„Amy, ich mag dich. Aber ich weiß auch, dass du Gepäck dabei hast. Das ist okay für mich. Das haben wir alle. Lass uns einfach eine gute Zeit haben. Du brauchst mir nichts zu erklären und wenn du in einer Woche tatsächlich wieder abreist, dann hatten wir eben einen schönen gemeinsamen Sommer. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich werde dich auf andere Gedanken bringen, versprochen! Wir müssen deshalb ja nicht direkt heiraten, okay?“, sie schmunzelte, als er seinen kleinen Vortrag beendet hatte.

„Einverstanden!“, erwiderte sie und seufzte. „Ich würde es dir gerne erklären. Wäre das okay für dich?“ Er wandte seinen Kopf und blickte ihr direkt in die Augen.

„Sicher Amy, wenn dir das wichtig ist.“

„Ja, das ist es.“, sie lächelte ihn an.

In dieser Nacht erzählte sie Andy ihre Geschichte. Sie erzählte von ihrer Kindheit, wie sie auf der Farm aufgewachsen war. Sie erzählte ihm von Sues Unfall und der schwierigen Zeit danach. Den größten Teil vom College sparte sie aus und kam direkt auf ihr Leben in Toronto zu sprechen. Er hört ununterbrochen zu. Sprach kein Wort und ließ sie einfach nur reden. Es fühlte sich gut an, ihm das alles zu erzählen und als sie geendet hatte fühlte sie sich leichter, irgendwie befreit.

Er hob seinen Kopf und stützte sich auf seinen Ellenbogen ab, als er sich zu ihr herüber beugte. Er hielt in der Bewegung inne und betrachtete ihr Gesicht, als ob er prüfen wollte, ob sie einverstanden war. Gerade als sie Luft holte und ihn fragen wollte, was los war, verschlossen seine Lippen ihren Mund. Sie spürte seine Hand auf ihrem Bauch, während sie seinen Kuss erwiderte. Es war nicht wie mit Michael. Sie hatte keine tiefen Gefühle für ihn und doch fühlte sie sich zu ihm hingezogen. In den vergangenen Tagen hatte sie ihm mehr von sich preisgegeben, als viele ihre Freunde von ihr wussten und doch war er ein Fremder. Es war ein Abenteuer und es war aufregend.

Die Haut prickelte aufregend unter seinen Berührungen, während ihre Hand seinen Nacken streichelte. Er ließ von ihren Lippen ab und liebkoste ihren Hals, ihre Wangen und ihr Kinn. Er schien jeden Zentimeter ihres Gesichts mit seinen Lippen umspielen zu wollen und sie stöhnte leise unter den innigen Berührungen. Wollte sie das hier wirklich? Jetzt? Hier? Mit ihm? Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, denn ihr Körper hatte die Kontrolle übernommen. Sein Geruch benebelte sie. Er roch so gut. Sein Atem wurde schneller und auch sie spürte die Erregung, die seine Berührungen bei ihr auslösten. Ihr wurde heiß und ihre Wangen schienen zu glühen. Seine Hand streichelte ihren Bauch und erreichte den Saum ihres T-Shirts. Sie spürte wie er es langsam nach oben schon und seine Hand darunter die weiche nackte Haut berührte. Seine Hand erreichte ihren BH und begann ihre Brust zu liebkosen. Sie atmete stoßweise, während sie ihre Hände in seinem Haar vergrub und ihn näher an sich zog. Sie spürte seine Männlichkeit an ihrem Oberschenkel, was sie zusätzlich erregte und begann seinen Hals zu küssen. Als sie zärtlich an seinem Ohr knapperte, hielt er plötzlich inne. Sanft drückte er sie etwas von sich weg, um ihr ins Gesicht zu schauen. Er musterte sie und sie versuchte den Ausdruck in seinen Augen zu deuten. Es lag Unsicherheit darin.

„Was ist los?“, brachte sie stockend hervor, denn ihr Atem ging noch immer stoßweise und ihr Körper rebelliert gegen den viel zu großen Abstand, den er zwischen sie gebracht hatte. Er legte den Kopf leicht schief.

„Amy, willst du das hier wirklich? Sag mir, dass es wirklich das ist, was du möchtest.“

Sie hatte seit Tagen keine Ahnung mehr, was sie eigentlich wollte. Sie hatte sich diesem Moment, diesem einen Augenblick hingeben wollen, doch nun wollte er es von ihr hören- in Worten. Sie sollte aussprechen, dass sie das hier wirklich wollte.

Sie wusste es- in diesem Moment war ihr klar, dass er sie nicht mehr anrühren würde, wenn sie es ihm nicht mit Worten sagen konnte, dass sie es wirklich wollte. Ihr Hals wurde trocken und plötzlich sehnte sie sich nach einem Glas Wasser. Ihre Atmung hatte sich noch immer nicht normalisiert, denn aus Erregung wurde nun Unsicherheit und Wut. Wut über sich selbst. Sie war nicht ehrlich gewesen und die Wut über sich selbst ließ ihr die Tränen in die Augen steigen.

„Es tut mir leid.“, schluchzte sie und versuchte die Tränen zurück zu halten. „Es tut mir leid, aber das kann ich nicht, Andy.“

„Ich weiß.“, sagte er nur und nahm sie in den Arm. Sie ließ es geschehen und genoss die Nähe. Er wiegte sie leicht hin und her und versuchte sie zu beruhigen.

„Ist schon gut, Amy. Ist schon gut.“ Heiße Tränen rannen ihre Wagen hinab. Wie hatte es nur soweit kommen können. Vor ein paar Tagen hatte sie hunderte Tränen um einen Mann geweint, der ihr unendlich wehgetan hatte. Nun lag sie hier in den Armen eines anderen mit tränennassem Gesicht und versuchte herauszufinden, was sie eigentlich in ihrem Leben wollte. Seit sie hier angekommen war, hatte sie noch keinen klaren Gedanken an ihre Zukunft verschwendet. Sie hatte es nicht mal versucht. Voller Selbstvorwürfe blickte sie auf den Scherbenhaufen, den sie angerichtet hatte und plötzlich war ihr das Alles unendlich peinlich. Sie benahm sich wie ein Teenager, dabei war sie eine erwachsene Frau, die noch vor ein paar Tagen mit beiden Beinen fest im Leben gestanden hatte. Vorsichtig löste sie sich aus der Umarmung und setzte sich auf. Ohne Andy anzublicken begann sie zu sprechen:

„Andy hört zu. Ich bin eine Idiotin. Das weiß ich selbst und es tut mir leid. Mein Leben ist aus den Fugen geraten und anstatt es in Ordnung zu bringen, ziehe ich andere mit in den Schlamassel. Bitte verzeih mir.“, er blickte sie ruhig an und nickte nur.

„Komm ich bringe dich ins Haus.“, sagte er sanft und mit all seinem Verständnis, verstärkte er ihr Gefühl der Peinlichkeit. Auf dem Weg zum Haus, hielt er die ganze Zeit ihre Hand. Als sie an der Tür ankamen, küsste er sie nur kurz auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit ohne noch ein weiteres Wort darüber zu verlieren, was gerade geschehen oder nicht geschehen war. Amy seufzte und betrat mit hängenden Schultern die große Küche.

Das ganze Haus lag im Dunkel und sie tastete sich vorsichtig durch den Raum, um nicht wieder Bekanntschaft mit dem Barhocker zu machen und dann die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer ließ sie sich auf ihr Bett fallen, dass mit einem lauten Ächzen gegen die grobe Behandlung protestierte. Sie hatte das Licht nicht angemacht und so lag sie im Dunkel da und starrte an die weiße Holzdecke. Sie hatte Mist gebaut. Verdammt großen Mist sogar. Sie hätte sich dem Gefühl der Geborgenheit, der körperlichen Nähe und der Erregung, die sie verspürt hatte, fast hingegeben. Hätte er sie nicht gefragt, hätte sie wahrscheinlich mit ihm geschlafen. Mit einem fast Fremden, den sie seit drei Tagen kannte. Was war nur los mit ihr? Das war nicht die Amy, die Toronto verlassen hatte. Eher war es eine 15-jährige Ausgabe dessen, was sie noch vor einer Woche gewesen war. Sie war nicht sprunghaft und vor allem war sie treu. Genau das hatte sie von Michael erwartet und als er ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte, war sie davon gelaufen. Enttäuscht und verletzt war sie wieder zu einem kleinen Mädchen geworden, dass nicht wusste was es wollte und keine Konsequenzen fürchtete. Doch sie war kein kleines Mädchen, kein Teenager; sie war erwachsen und sie wollte sich nun endlich auch wieder so verhalten. Denn gerade war sie nicht viel besser als Michael.

 

Ihre Augen begannen zu flackern. Das Geräusch war unerträglich, doch sie konnte nicht ausmachen, was es war. Langsam gewöhnten sich ihre halb geöffneten Augen an die erbarmungslose Helligkeit. Natürlich- ihr Wecker verursachte dieses schreckliche Geräusch!

Sie drehte sich auf die Seite ohne den Kopf zu heben und schlug mit der Hand auf ihr kleines Nachtischchen. Nach mehreren kräftigen Schlägen traf sie den Wecker und er verstummte augenblicklich.

Diese Stille war himmlisch. Sie schloss ihre Augenlieder wieder vollständig und wollte sich nochmal diesem schönen Traum hingeben. Ihr vom Schlaf benebelter Kopf begann langsam zu arbeiten; was hatte sie denn gerade geträumt? Mit aller Mühe versuchte sie sich daran zu erinnern, denn es war nur das schöne Gefühl zurück geblieben. Die wunderbaren Bilder des Traums waren scheinbar unwiederbringlich verschwunden.

Hatte es etwas mit Nando zu tun? Oh Mist! Sie konnte nicht nochmal einschlafen. Sie musste aufstehen, denn sie hatte eine Verabredung mit Andy zum Training. Wiederwillig versuchte sie abermals ihre Augen zu öffnen. Schläfrig schob sie das gelbe Bettlaken zur Seite und richtete sich auf. Von der Bettkante aus durchsuchte ihr Blick das Zimmer.

Überall lagen Klamotten verstreut. Sie hatten ihren bunten Koffer nie vollständig ausgepackt und so hatte das Chaos unaufhaltsam seinen Lauf genommen. Nun konnte sie saubere und schmutzige Wäsche nur noch schwer auseinander trennen, weshalb sie sich zuerst einen Überblick verschaffen wollte, bevor sie sich widerwillig vom Bett erhob.

 

Zwanzig Minuten später lief sie frisch geduscht die große Holztreppen ins Erdgeschoss hinunter. Sie hatte noch eine einigermaßen saubere Jean gefunden und eine Bluse aus ihrem Schrank dazu angezogen. Die Sachen von früher passten ihr immer noch, doch heute Abend müsste sie auf jeden Fall waschen.

Die Schwingtür der Küche öffnete sich, als sie die letzten Stufen hinunterging.

„Guten Morgen Chris.“, begrüßte sie ihren Bruder. In seiner Arbeitskluft und mit seinem Hut in der Hand eilte an ihr vorbei.

„Du bist ja schon früh auf den Beinen. Ich muss zu Ricky auf die Willsen-Farm, bis später!“, im Vorbeigehen nahm er seinen Autoschlüssel mit dem Ford Zeichen darauf von der Ablage in der Diele und dann war er schon aus der Haustür, die schwungvoll und mit einem Rums ins Schloss krachte. Sie betrachtete noch einen Augenblick die geschlossene Haustür. Es musste etwas Wichtiges sein, wenn er es so eilig hatte. Sie wandte sich der Küchentür zu. Felicia war mit dem Abwasch vom gestrigen Barbecue beschäftigt.

„Guten Morgen, Felicia.“, Amy nahm sich eine Tasse vom Regal und schenkte sich Kaffee ein. Sie war noch müde und brauchte zuerst einen Muntermacher.

„Guten Morgen, Amy. Hast du gut geschlafen?“, Felicia schaute kurz von dem fettigen, verkrusteten Grillrost auf, den sie gerade im Spülbecken mit einem silbernen Schwämmchen bearbeitete.

„Naja, nur zu kurz, würde ich sagen. Weißt du was mit Chris los ist? Er hatte es gerade so eilig. Ist etwas vorgefallen?“, fragte Amy während sie begann am heißen Kaffee zu nippen, den sie mit Milch verfeinert hatte.

„Die Trockenheit und die ständige anhaltende Hitze der letzten Wochen machen wohl nicht nur uns Menschen zu schaffen. Die Farmer wollen sich beraten, wegen den Wasserreserven.“, erklärte sie mit ihrem leichten mexikanischen Akzent, den man auch noch nach all den Jahren heraushören konnte, dann hatte sie sich wieder dem Rost zugewandt.

„Ist Dad auch dorthin?“, Amy wollte mit ihm sprechen. Vielleicht konnte sie irgendwie helfen oder sich nützlich machen.

„Nein, er müsste im Stall sein. Er bereitet wohl die Pferde vor. Die Jährlinge sollen heute von der Südweide geholt werden. Möchtest du einen Blaubeer-Muffin? Ich habe gestern welche gebacken. Sie sind im Kühlschrank im unteren Fach.“

„Gerne, danke dir Felicia.“, sie ging zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie zum Kühlschrank ging. Im unteren Fach lagen mindestens dreißig Muffins in einer großen Box. Sie nahm sich zwei davon heraus und stellte die Box zurück.

Felicia war schon immer wie eine zweite Mum für sie gewesen. Wann immer ihre eigene Mum verhindert und gerade nicht da war, umsorgte Felicia die Kinder der Morgans, als ob es ihre eigenen wären. Sie war bereits seit über zwanzig Jahren bei ihnen und  hatte ein Zimmer im zweiten Stock. Da sie ihr ganzes Leben dieser Familie geopfert hatte, gab es wohl nie den Zeitpunkt eine eigene zu gründen. Amy wusste nicht, ob sie das bereute, denn darüber hatte sie nie mit Felicia gesprochen. Sie hatte ihr so viel zu verdanken und doch wusste sie fast nichts über Felicia- über ihre Träume oder Wünsche. Spontan hatte sie das Bedürfnis ihr zeigen zu wollen, wie viel sie ihr bedeutete. Sie ging hinüber und nahm sie einfach in den Arm.

„Felicia, danke für Alles!“, flüsterte sie, während sie sie eng an sich drückte.

„Oh, für was ist das denn? Das ist doch nicht das erste Mal, dass ich Muffins gemacht habe.“, sie war überrascht, erwiderte die Umarmung aber trotz ihrer schaumigen Hände. Amy spürte die Nässe der Spülschütze und ihrer Hände, die langsam ihre Kleider klamm werden ließ. Doch das war ihr egal.

„Für einfach Alles! Du bist wie eine Mutter für mich und ich habe dir nie danke gesagt, dafür, dass du immer für uns da bist. Das hätte ich schon lange tun sollen.“, sie löste die Umarmung und als sie in Felicias Gesicht sah, konnte sie den Glanz in ihren Augen erkennen. Offensichtlich war sie gerührt von dieser Geste- genau was sie erreichen wollte. Sie lächelte sie an und Felicia erwiderte das Lächeln, als sich schließlich eine kleine Träne aus ihrem Augenwickel löste und langsam ihre Wage hinab kullerte.

„Nicht weinen!“, Amy strich ihr die Träne mit ihrem Daumen weg.

„Naja, dann darfst du eben nicht solche Sachen sagen. Denn meistens weine ich nicht beim Geschirrspülen.“, sie grinste Amy frech an und diese begann zu kichern.

Das war die Felicia die sie kannte und so sehr mochte. Mit einer weiteren Umarmung verabschiedete sie sich und Felicia begann wieder den Rost mit dem Schwamm zu bearbeiten, während Amy hinüber zum Stall schlenderte. Auf dem Weg aß sie den süßen Blaubeer-Muffin und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

 

Es war erst kurz vor acht Uhr und schon fast dreißig Grad. Die Sonne hatte schon so früh am Morgen eine unheimliche Kraft, dass sie die Luft innerhalb von wenigen Stunden, die seit dem Sonnenaufgang vergangen waren, auf Saunatemperaturen brachte.

„Morgen Dad“, rief sie durch die Stallgasse, als sie ihren Vater entdeckte. Er stand bei seinem braunen Quarter-Horse-Wallach Apollo und richtete den Sattelgurt.

Ihr Vater hatte sich vor Jahren auf die Zucht der Curly Horse spezialisiert, da sie besonders für Allergiker geeignet sind, doch als zusätzliche Reitpferde hatte er außerdem ein paar Quarter Horses gezüchtet und ausgebildet, die auch ihre Vorzüge hatten.

Ohne sich umzublicken erwiderte er ihren Gruß: „Guten Morgen Amy. Willst du mit uns kommen? Wir reiten raus auf die Südkoppel um die Jährlinge einzutreiben und herzubringen. Wir könnten Hilfe gebrauchen, dein Bruder ist nicht da.“

„Gerne, ich muss nur Andy Bescheid geben, dass wir das Training mit Nando verschieben müssen. Weißt du wo er ist?“, Amy hatte ihn erreicht und half ihm mit dem Sattelgurt.

„Er müsste in der Reithalle sein. Ich glaube er reitet Stella zu. Er kann ja auch mitkommen.“, er blickte sie kurz an und zwinkerte ihr zu. Er hatte es also bemerkt.

„Ich komme gleich wieder, welches Pferd kann ich denn nehmen?“, sie lächelte ihn nur an und ignorierte seine Anspielung, um sich dann direkt zum gehen zu wenden.

„Ich mach dir Splash fertig. Und beeil dich, die anderen warten.“, rief er ihr hinterher, als sie bereits Richtung Halle lief. Sie hatte sich wirklich auf das Training gefreut, doch das konnten sie auch noch morgen beginnen. Ihr Dad konnte ihre Hilfe gebrauchen und der Ausritt war eine gute Möglichkeit sich etwas mit ihm zu unterhalten und vielleicht auch mehr über das Wasserproblem zu erfahren. Vielleicht würde sie später noch Zeit haben, Nando in der Halle laufen zu lassen, damit er morgen etwas entspannter sein würde.

„Andy?“, rief sie bereits einige Schritte, bevor sie die Halle erreicht hatte. Er stand in der Mitte des Zirkels und longierte Stella, die gerade seiner Anweisung folgte und in den Galopp fiel.

„Ja?... Ach Amy du bist schon da. Ich bin gleich fertig, dann können wir loslegen.“

„Naja Andy, es tut mir leid, aber ich bin eigentlich hier um das Training auf morgen zu verschieben. Mein Dad braucht meine Hilfe mit den Jährlingen und wir reiten direkt los zur Südkoppel. Würde es dir auch morgen passen? Gleiche Uhrzeit?“, sie hatte ihr süßestes Lächeln aufgelegt, als sie an der Bande stand und auf seine Antwort wartete.

„Ach so! Ja klar, dann arbeite ich heute mit Stella. Wann seid ihr zurück?“, gab er ihr die Antwort, die sie hören wollte. Glück gehabt, er war nicht sauer, was auch sein Gesichtsausdruck verriet.

„Ich weiß es nicht. Ich denke gegen Nachmittag, vielleicht später. Ich werde Nando noch in der Halle laufen lassen, damit er morgen etwas ruhiger ist. Ich hab dir einen Muffin mitgebracht. Felicia hat gestern gebacken. Ich leg ihn auf die Bande, dann kannst du ihn später essen. Bis dann!“, sie wandte sich um und hörte seinen Abschiedsgruß, als sie gerade  die Halle verließ. Das war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Nach gestern Nacht, hatte sie erwartet, dass es irgendwie komisch sein würde, zwischen ihnen. Doch sie hatte sich kein bisschen unwohl gefühlt, auch wenn sie wusste, sie würde nochmal mit ihm über gestern sprechen müssen.

 

Schnellen Schrittes ging sie die wenigen Meter zurück zum Stall. Ihr Dad hatte ihre Stute  bereits gesattelt und als sie ihn erreichte, nahm sie die Trense und legte sie ihr an. Splash war eine junge braun-weiße Pinto-Stute, wobei das dunkle Schokobraun klar überwiegte und im Licht wie flüssige Schokolade aussah. Amy schätzte sie auf maximal drei Jahre, was bedeutete, dass sie noch nicht lange unter dem Sattel ging. Doch sie schien sich benehmen zu können, denn sie stand entspannt und still da, während die beiden an ihr herum werkten.

„Fertig?“, sprach sie ihr Dad an, als der Sattel fest saß.

„Fertig!“, erwiderte sie freudig. Sie war etwas nervös, denn sie war seit fast drei Jahren nicht mehr geritten. Bei ihren letzten Besuchen hatte es sich nie ergeben, da Michael nicht reiten konnte und Angst vor Pferden hatte. Sie hatte meist wenig Zeit im Stall verbracht, wenn sie gemeinsam hier zu Besuch gewesen waren.

Sie führten ihre Pferde am langen Zügel nach draußen. Dort standen bereits ein Dutzend Mitarbeiter fertig zum Abmarsch. Auf das Zeichen ihres Vaters setzten alle auf und auch Amy schwang sich in den Westernsattel. Splash schnaubte unruhig, sie konnte es wohl nicht erwarten und war etwas nervös und deutlich angespannter als eben im Stall. Ob das wohl gut ging? Amy war eine sehr gute Reiterin gewesen, aber mit einer Dreijährigen Quarter-Horse-Stute im Gelände konnte man auch als guter Reiter etwas zappelig werden.

Ihr Vater übernahm mit Apollo die Führung und trappte direkt an. Alle folgten ihm und Amy versuchte sich direkt nach vorne zu ihrem Vater durch zu schlängeln. Schließlich wollte sie mit ihm reden.

„Dad?“, sprach sie ihn an, als sie schließlich einen halben Meter hinter ihm trappte. Splash machte sich gut und schien sich deutlich zu entspannen, als sie in der Nähe von Apollo war.

„Hm? Was gibt es Amy?“, ihr Dad hatte sich leicht im Sattel umgedreht.

„Chris ist doch heute zu der Nachbarsfarm gefahren. Felicias sagte, es hätte etwas mit dem Wasser zu tun. Gibt es denn Probleme?“, neugierig musterte sie sein Gesicht. Er sah besorgt aus und sie konnte erkennen, wie sich Ratlosigkeit in seinen Blick mischte, als sie das Wasserprobelm ansprach.

„Naja, die Vorräte gehen zu neige und die meisten Tümpel und Seen in der Gegend sind fast ausgetrocknet. Wenn es nicht bald regnet, haben wir ein Problem, doch bis dahin wollen die Farmer versuchen mit dem verbliebenen Wasser bestmöglich zu haushalten. Deshalb ist Chris heute Morgen zur Willsen-Farm. Dort treffen sich alle Farmer um zu beraten.“, erklärte er die ungünstige Lage, in der sich gerade alle Farmer der Region befanden.

„Die meisten anderen Farmer benötigen doch wahrscheinlich mehr Wasser als wir, oder?“, hakte sie nach.

„Ja, die meisten bauen Gemüse und Getreide an. Es gibt außer uns nur zwei weitere Bauern, die eine Tierzucht betreiben. Wir werden unsere Felder nicht bewässern, da wir nur Stroh ernten und das wird in den nächsten Wochen eingebracht sein. Aber die andern Bauern müssen bewässern, wenn sie nicht ihre Ernte verlieren möchten. Die Vorräte aus den Seen sind fast zu neige und bei vielen hängt daran die Existenz.“, er wirkte mitfühlend, als er ihr die missliche Lage der anderen Farmer schilderte.

„Und gibt es schon Lösungsansätze? Weiß man denn wann es wieder regnen soll?“

„Die Farmer wollen nun gemeinsam über den Wasservorrat aller beraten und diesen dann nach einem Plan verteilen. Mal sehen, was dabei herauskommt, wo wir doch wahrscheinlich die meisten Vorräte auf unserm Land haben und mit am wenigsten benötigen. Vor allem wird es eine Logistische Meisterleistung das Wasser über die meilenweiten Strecken zu verteilen und auf die Felder zu bringen. Mit Regen rechnen wir frühestens in ein paar Wochen und bis dahin kann es schon für viele zu spät sein.“, sagte er mutlos. Für Amys Geschmack etwas zu mutlos. Er war sonst der Mann der Taten und Lösungen, doch hier schien ihm die passende Idee zu fehlen, wodurch ihm die Lage wohl aussichtslos erschien.

Ihr Vater wandte sich den andere zu, denn sie würden bald die Koppel erreichen und es gab Anweisungen zu erteilen und Aufgaben zu vergeben. Er hatte ihr kurz zugenickt und hatte Apollo gezügelt, um neben Matthew seinen Vorarbeiter zu reiten, mit dem er den Ablauf besprach.

Amy dachte über das Gespräch nach und nahm sich vor später zu recherchieren, wie in solchen Situationen gehandelt wurde. Sie wollte helfen und vielleicht wären ihr Organisationstalend und ihre Quellen von Nützen. Splash warf plötzlich nervös den Kopf nach oben und zog direkt danach stark am Zügel, indem sie ihren Hals ruckartig lang streckte. Amy hatte sich den Gedanken hingegeben und überhaupt nicht mehr auf ihr Pferd geachtet. Mist, sie musste sich besser konzentrieren, wenn sie sich nicht komplett blamieren wollte, weil ihr Pferd sie im Gelände ablud. Sie nahm die Zügel etwas mehr auf und korrigierte ihre Sitz und ihre Beinhaltung. Mit einem leichten Druck, den sie mit ihren Unterschenkel gegen Splashs Flacke ausübte, und dem korrigierten Sitz, wurde Splash augenblicklich ruhiger und gehorchte ihren Befehlen.

„Sie verzeiht es einem nicht, wenn man sie nicht beachtet. Sie ist einfach eine kleine Diva.“, rief ihr Matthew zu und grinste breit. Ja, das war sie wohl, dachte sich Amy und kicherte, da sie den Vergleich besonders hier draußen in der wilden Natur durchaus amüsant fand.

Kapitel 6

Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Müde rieb sie sich über die Augen und schaute weiter aus dem Fenster. Die Sonne schien immer noch erbarmungslos vom Himmel. Es stand keine Wolke am Himmel und kein Windhauch regte sich; kein Vogel zwitscherte und auch sonst konnte sie kein Lebewesen entdecken- alles lag ruhig und verlassen in der späten Nachmittagssonne.  Es war eine gespenstische Szenerie und doch wirkte es friedlich und beruhigte sie in einer befremdlichen Art. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie da am Fenster gestanden hatte und einfach nur hinausblickte, ohne eine klaren Gedanken zu fassen oder sich zu rühren.

Die Sonne stand schon tiefer am Horizont als langsam Leben in das Bild vor ihrem Fenster kam. Hinter den Stallungen erblickte sie eine kleine Gruppe von Arbeitern, die sich wohl auf den Weg zum Abendessen machten. Die Mitarbeiter hatten sich über den Mittag irgendwo ein Plätzchen im Schatten gesucht und warteten bis die Temperaturen am Abend wieder körperliche Arbeit zuließen. Ein Schwarm kleiner Spatzen flog weiter hinten über das Feld und aus dem Augenwinkel sah sie auf einer der Koppel zu ihrer linken zwei Fohlen herumtollen. Und plötzlich schien alles zum Leben erwachten.

Auch dem Haus schien man wieder Leben eingehaucht zu haben. Es mischten sich die verschiedensten Geräusche dazu. In der Küche hörte man Geschirr klappern und es erhob sich nach und nach ein Stimmengewirr. Türen wurden geöffnet und fielen wieder ins Schloss.

 

Sie straffte ihre Schultern und wandte ihren Blick ab. Die Haut auf ihrem Gesicht spannte unangenehm und glänzte rot. Trotz der Creme, die ihr Felicia gegen den Sonnenbrand gegeben hatte, brannte ihre Haut wie Feuer. Natürlich hatte sie heute Morgen nicht daran gedacht, Sonnencreme aufzutragen und so hatte sie sich beim Ausritt das Gesicht und die Schultern verbrannt. Zwei weiße Streifen zierten nun ihren Rücken, denn das Tank Top hatte sie vor der Sonne geschützt. Splash hatte sich gut gemacht und sie konnte den Arbeitern beim Zusammentreiben der Jährlinge helfen. Am Nachmittag waren sie zurück und Amy hatte zuerst die Pferde versorgt. Nando hatte unruhig in seiner Box gescharrt, doch sie hatte etwas Dringenderes zu erledigen und so hatte sie sich schließlich mit ihrem Laptop an ihren alten Schreibtisch gesetzt und hatte begonnen zu recherchieren. Sie wollte noch ihre Wäsche waschen, doch all ihre sauberen Kleider lagen gefaltet in ihrem geöffneten Koffer und der Rest war verschwunden. Felicia musste hier gewesen sein und vermutlich würde sie morgen wieder frische Kleidung zum anziehen haben.

 

„Amy? Kommst du zum Abendessen?“, hörte sie ihre Mum von unten rufen.

„Ja Mum, ich bin gleich da.“, gab sie müde zurück.

Sie war nicht wirklich weit gekommen und irgendwann hatte sie sich einfach ans Fenster gestellt, um eine Pause zu machen. Nur ein Projekt hatte sie gefunden, dass interessant klang und ihre Aufmerksamkeit für mehr als zwei Minuten fesseln konnte. Es war in Südafrika- in einem Ort in der Nähe von Port Elisabeth arbeitete man seit mehreren Jahren an einem neuen Bewässerungssystem. Sie war über eine Naturschutzorganisation auf die Homepage gestoßen, doch es gab keine ausreichenden Informationen darüber und sie müsste morgen telefonisch weiterrecherchieren.

Sie klappte ihren Laptop zu, der noch immer auf ihrem Schreibtisch im Standby-Modus summte und ging in das kleine Badezimmer. Die kalten dunklen Fließen kühlten ihre Füße und sie beschloss sich eine kurze Dusche zu gönnen. Sie roch immer noch nach Pferd und Schweiß und es würde ihren ausgelaugten Gliedern und ihrer verbrannten Haut gut tun. Körperliche Arbeit war sie nicht gewohnt und die paar Stunden auf dem Rücken eines Pferdes würden ihr morgen einen höllischen Muskelkater bescheren. Mit den Haaren zu einem Dutt gebunden, stieg sie unter den kalten nassen Wasserstrahl und schruppte sich Staub und Dreck von den Gliedern. Sie fröstelte als sie das Wasser abstellte, doch sie wiederstand der Versuchung sich abzutrocknen. Ein paar Minuten später waren auch die letzten kühlenden Wassertropfen von ihrem Körper verschwunden und sie begann bereits wieder zu schwitzen, als sie in ihrem Zimmer in eine Jeans-Hotpant und ein blaues Shirt schlüpfte, nachdem sie nochmals von der kühlenden Salbe aufgetragen hatte. Die Kilos, die sie in den paar Tagen verloren hatten, machten sich bereits bemerkbar, denn nichts passte mehr richtig. Sie würde wieder regalmäßiger essen müssen, war es doch sonst immer so gewesen, dass sie ohne Essen unerträglich war.

 

Es war Freitag und viele der Arbeiter gönnen sich einen Abend in der Stadt, um ein kühles Bier zu trinken- so waren sie nur wenige zum Abendessen. Als Amy die Terrasse betrat, kam ihr Sally mit dem kleinen Jason auf dem Arm entgegen.

„Wow, das nenn ich mal einen Sonnenbrand. Tut es arg weh?“, Sally musterte sie besorgt.

„Nein, es geht schon“, log sie. „Hallo Jason, na wie geht es uns?“, begann sie in Babysprache mit Jason zu reden und hielt dabei seine kleine Hand und strich mit ihrem Zeigefinger sanft über seine winzigen Finger.

„Ich bringe ihn gerade ins Bett, er ist müde.“, erklärte Sally, als Jason begann zu quengeln.

„Na dann, guten Nacht Jason, schlaf gut!“, Amy gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, bevor Sally mit ihm ins Haus ging.

„Hallo Mum, kann ich noch etwas helfen?“, Amy hatte wieder in die normale Erwachsenen-Sprache gewechselt, als sie ihre Mutter ansprach, die gerade den Salat auf den Tisch stellte.

„Nein, schon okay. Setzt dich einfach. Felicia bringt gerade das Fleisch und dann haben wir alles.“, ihre Mum wies ihr den Platz neben Andy zu und Amy hielt es nicht für einen Zufall.

„Na, wie lief es mit Splash?“, sprach Andy sie an, als sie sich setzte und nach der Weinflasche griff.

„Sie ist toll. Man merkt, dass sie noch sehr jung ist, aber sie ist schlau und orientiert sich an den erfahreneren Pferden. Matthew meinte, manchmal wäre sie eine Diva. Damit hat er wohl Recht, denn wenn man ihr nicht alle seine Aufmerksamkeit schenkt, kann es problematisch werden.“, lachte Amy.

„Ja, ich denke, dass wir sie ganz gut hinbekommen haben. Du kannst sie öfter reiten, dann bekommt sie noch etwas Erfahrung.“, erwiderte Andy und lächelte sie an. „Bohnen?“

„Nein danke,… also nein, ich möchte keine Bohnen. Reiten tu ich Splash gerne nochmal, wenn ich dazu komme.“, stammelte sie und richtete ihren Blick auf ihren Teller, damit niemand sah, dass ihre Wagen rot geworden waren. Im nächsten Gedanken realisierte sie, dass es mit ihrem Sonnenbrand sowieso unmöglich sein würde, ihre vor Schwarm rotgewordenen Wagen zu entdecken.

„Amy, hast du heute was erreicht? Dad hat mir erzählt, dass du ein paar Nachforschungen anstellen wolltest bezüglich unseres Wasserproblems“, Chris wechselte das Thema und das kam ihr sehr gelegten. Sie sammelte sich kurz und räusperte sich.

„Erreicht vielleicht nicht, aber ich möchte morgen noch ein paar Anrufe tätigen. Vielleicht kann ich euch dann schon mehr erzählen. Es gibt ein Projekt in Südafrika, dass ich mir genauer anschauen möchte.“, erzählte sie von ihren Nachforschungen. „Was wurde denn heute bei der Versammlung beschlossen?“, wollte sie von Chris wissen.

„Wie Dad befürchtet hatte, müssen wir wohl einen erheblichen Teil unseres Wasservorkommens für die anderen Farmer zur Verfügung stellen. Die meisten haben bereits große Probleme.“, gab ihr Chris die erwartete Antwort, während er Dad die Salatschüssel reichte. Sie hatte sich so etwas bereits gedacht und hoffte nun noch mehr, dass sie morgen etwas erreichen würde. Mit einem tiefen Seufzer widmete sie sich dem Rinderbraten, der bisher unberührt auf ihrem Teller gelegen hatte. Er schmeckte vorzügliche und sie wusste, dass dies Felicias Werk war und nickte ihr anerkennend zu, als sich ihre Blicke trafen.

Nach dem Essen nahm sie sich ihr halb volles Glas Weißwein und ging wieder nach oben zu ihrem Laptop. Sie wollte noch einen Artikel lesen, den sie vorhin gefunden hatte. Es ging um eine Grundwasserbohrung in Deutschland bei der ein neuartiges Verfahren zum Einsatz gekommen war. Sie schlüpfte in die bequemen plüschigen Schlaf-Hotpants und das passende weite T-Shirt, auf dem Snoopy prangerte und ließ sich mit ihrem Laptop auf das Bett fallen. Als sie gerade den Artikel beendet hatte und sich ein paar Notizen machen wollte, klopfte es an der Tür.

„Ja!“, erwiderte sie auf das zaghafte Klopfen, dachte sie doch es wäre ihre Mutter, die nochmal nach ihr sehen wollte. Sie griff nach ihrem Weinglas und nahm einen großen Schluck, während sie weiter ihre Notizen studierte.

Es dauerte einen Moment, bis die weiße Tür langsam geöffnet wurde und sie blickte von ihren Notizen auf und direkt in Andys Gesicht.

„Ach, du bist es. Komm rein!“, forderte sie ihn auf, legte ihre Notizen beiseite und stellte das Weinglas auf den Nachttisch. Irgendetwas schien ihm unangenehm zu sein und als Amy sah, wie er sie musterte, wurde ihr klar, dass es wohl an ihrem Outfit liegen musste. Sie stand auf und während sie ins Badezimmer ging, bat sie ihn Platz zu nehmen. Als sie das Zimmer mit ihrem kurzen rosa Seidenmorgenmantel wieder betrat, hatte er sich seitlich auf dem Holzstuhl vor ihrem Schreibtisch niedergelassen und lehnte sich mit einem Arm auf der Rückenlehne auf.

„Was gibt es denn?“, hakte sie ruhig nach, als er keine Anstalten machte, etwas zu sagen und blieb mitten im Zimmer stehen.

„ Ich wollte nur kurz fragen, ob unser Termin zum Training morgen früh noch steht. Du hast morgen ja doch einiges vor, da dachte ich, du würdest es vielleicht lieber verschieben.“, erklärte er seinen ungewöhnlichen Besuch.

„Nein, das ist kein Problem. Durch die Zeitverschiebung werde ich die Anrufe direkt morgen früh erledigen und dann haben wir bis ungefähr drei Uhr nachmittags Zeit. Also… außer du möchtest es verschieben. Wenn es dir morgen nicht passt, kein Problem!“, sie hoffte, er würde nicht absagen, denn sie freute sich nun seit zwei Tagen darauf und Nando würde das Training gut tun.

„Nein, ich habe Zeit. Also dann sehen wir uns morgen früh um acht im Stall?“, er stand auf und ging zur Tür.

„Ja. Bis morgen und schlaf gut.“, sie lächelte ihm zu, als er sich an der Tür nochmals umdrehte. Er nickte nur, dann war er weg und sie war wieder alleine in ihrem Zimmer. Sie hatte deutlich gespürt, wie nervös er gewesen war. Er betrat „feindliches“ Gebiet und wahrscheinlich war es das erst mal, dass er überhaupt in den oberen Stockwerken des Hauses seines Chefs gewesen war.

Das Erdgeschoss des Hauses war ein Bereich, in dem sich auch die Mitarbeiter schon immer frei bewegt hatten. Im Winter wurde im riesigen Esszimmer, dass fast über die gesamte Breite des Hause zur Terrasse hin lag, das Abendessen gemeinsam eingenommen und nicht selten verirrte sich tagsüber ein hungriger Arbeiter zu Felicia in die Küche. Im Wohnzimmer und im Büro ihres Vaters fanden regelmäßig Unterredungen statt oder es wurden Karten gespielt. Somit war es kein Tabu, wenn sich ein Arbeiter überall in diesen Räumlichkeiten frei bewegte. Doch ab dem unteren Treppenabsatz begann die Privatsphäre der Familie Morgan und obwohl es nie thematisiert wurde, war doch jedem klar, dass man hier nicht einfach so hinauf spazierte. Wahrscheinlich hatte er sogar ihren Dad gefragt, ob er kurz zu ihr hoch gehen dürfte. Sie schmunzelte bei dem Gedanken. Wenn man als Erwachsener im Haus der Eltern wohnte, dann gab es immer wieder Situationen, in denen man sich wie ein Teenager fühlte, ob man nun wollte oder nicht.

 

Es wurde gerade dunkel und sie trat an das offene Fenster neben ihrem Bett. Im Hintergrund summte ihr Ventilator und die Temperatur war fast erträglich. In der Dämmerung sah sie hinüber zu den Stallungen. Morgen würden sie endlich beginnen. Doch sie müsste früh aufstehen, denn sie wollte alle Telefonate vor halb acht erledigt haben.

Ein summendes Geräusch störte ihre Gedanken. Ihr Handy vibrierte sich langsam über ihren Nachtisch und drohte jeden Moment herunter zu fallen. Sie trat näher und ihr Display verriet den Anrufer: Michael.

Sie atmete tief durch und nahm das Handy in die Hand. Weiterhin betrachtete sie nur die leuchtende Anzeige. Er hatte am Montag zuletzt versucht sie anzurufen und sie hatte ihn ignoriert. Doch das konnte sie nicht ewig tun.  Sie wollte sich doch wieder wie eine Erwachsene verhalten- mit einem Seufzer nahm sie ab ohne etwas zu sagen.

„Amy? Hallo, ich bin es.“, meldete sich Michael. Es war still im Hintergrund. Wahrscheinlich saß er zu Hause in ihrer Wohnung im Büro…. Wut kam in ihr auf, als die Bilder wieder in ihr hochkamen, denn sie hatten sich für immer in ihr Gedächtnis gebrannt.

„Hallo Michael, was gibt es?“, fragte sie schnippischer als gewollt. Das war nicht der Plan gewesen und sie versuchte ihr Gemüt zu beruhigen.

„Amy, es tut mir leid. Glaub mir bitte. Es war ein riesengroßer Fehler und so etwas wird nie wieder vorkommen. Bitte komm…“

„Nein, hör auf.“, unterbrach sie ihn. Seine Ausreden klangen für sie, wie aus einer schlechten Soap. „Michael, ich will das nicht hören.“

„Heißt das, das war´s? Du machst Schluss? Nach all der Zeit!“, er schien fassungslos zu sein und Amy hörte, wie er schwer atmete.

„Michael, nicht ich habe einen Fehler gemacht, sondern du. Jetzt musst du auch mit den Konsequenzen leben. Ich weiß nicht, ob ich dir jemals wieder vertrauen kann. Ob ich jemals wieder diese Wohnung betreten kann, ohne diese Bilder in meinem Kopf zu haben und ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in deinen Armen liegen kann, ohne an sie zu denken. Versteh das doch bitte.“, erklärte sie sich und sie spürte wie die Tränen in ihr hochstiegen, denn als sie die Worte gesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie es wusste- sie würde all dies niemals wieder können; nicht mit ihm. Sie hatte es ihm nur noch nicht sagen können. Vielleicht auch deshalb, weil es ihr selbst gerade eben erst bewusste geworden war.

„Aber Amy, das kannst du doch nicht machen. Amy, ich liebe dich. Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht. Aber es war eine einmalige Sache und es wird…“

„Stopp! Hört auf!“, schrie Amy dazwischen, denn wieder hatte sie sich gefühlt, als hätte er die Zeilen aus einem schlechten Drehbuch. Sie schloss mit einem Ruck das offene Fenster, um ungewollte Zuhörer auszuschließen.

Sie wusste, dass er sie zurück wollte, aber den Rest konnte sie ihm nicht abnehmen. Sie hörte die Worte zwar, aber sie schienen leer und ohne Bedeutung zu sein und das machte sie wütend. Und plötzlich fand sie den Mut, das zu sagen, was ihr gerade eben erst selbst bewusst geworden war.

„Ich werde nicht zu dir zurück kommen, Michael. Niemals! Bitte ruf mich nicht mehr an. Mach´s gut!“, sie legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten und schmiss das Handy weg. Es landete auf dem Boden, doch das war ihr egal. Vorwärts ließ sie sich auf ihr durchwühltes Bett fallen und ließ den Tränen freien Lauf. Das war es also. Sie hatte „NEIN“ gesagt, nein zu ihm, nein zu einer gemeinsamen Zukunft. Es war vorbei- für immer!

 

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Körper und sie schlug die Augen auf. Es war dunkel im Zimmer und sie lag immer noch auf dem Bauch, das Gesicht im Bettlaken vergraben. Die Sonne war lange untergegangen. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Die stundenlange Bewegungslosigkeit und der Muskelkater hatten aus dieser unbequemen Lage eine schmerzliche Angelegenheit gemacht. Vorsichtig dreht sich sie auf den Rücken und versuchte den Laut zu unterdrücken, der ihrem Mund vor Schmerz entweichen wollte. Ihre Augen brannten, als sie an die hölzerne Decke ihres Zimmers starrte. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es drei Uhr morgens war, doch trotz der Uhrzeit begann ihr Kopf an zu arbeiten.

Die Gedanken wanderten zurück zu dem Telefonat mit Michael. Sie hatte es beendet. Am Telefon. Ohne sich eine Erklärung von ihm anzuhören. Doch was sollte es schon für eine plausible Erklärung geben, die es rechtfertigte, dass man jemanden betrog.

 

Vor ihrem geistigen Auge tauchte ihre erste Begegnung mit ihm auf, ihr erster Kuss, das erste Date, das gemeinsame Wochenende im Cottage seiner Eltern… sie schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt nicht daran denken. Es waren gute Erinnerungen an bessere Zeiten, doch sie musste sie wegsperren und aus ihrem Kopf verbannen, damit sie den Neustart für sich wagen konnte. Sollte sie zurückkehren nach Toronto? Ihre Job machen und so tun, als wäre nichts passiert; sich eine Wohnung suchen und ein neues Leben alleine beginnen? Sie konnte nicht ewig bei ihren Eltern wohnen und sie brauchte etwas, dass sie ablenken würde. Sie schloss erschöpft ihre Augen, ihr Atem wurde langsamer und schließlich fiel sie in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

 

Amy atmete tief durch und wählte die Nummer der Farm in Afrika. Nach dem zweiten Klingeln ging jemand ran.

„Hallo, mein Name ist Amy Morgan. Ich rufe aus Kanada an. Wer könnte mir denn weiterhelfen, wenn ich Frage zu Ihrem Projekt zur Bewässerung und Grundwassergewinnung habe?“, sie saß im Büro ihres Dads. Der schwere Eichenschreibtisch dominierte den kleinen Raum, dessen Wände mit dunklem Holz verkleidet waren. Sie hatte ihren Kopf auf ihre Hand abgestützt und wartete, bis der junge Mann am anderen Ende wieder ans Telefon kam. Er hatte sich kurz entschuldigt um nachzufragen, wer ihr weiterhelfen konnte.

„Warten Sie einen Moment, sie kommt gleich.“, meldete sich der junge Mann wieder. „Tschüss!“, weg war er und Amy wartete geduldig in der Leitung, während sie an ihrem Tee nippte. Nach mehreren Minuten legte sie genervt auf. Offensichtlich hatte man sie vergessen. Sie wählte die Nummer erneut und wieder meldete sich der junge Mann.

„Wildcare Reservat, Jake am Apparat. “

„Ja, hallo Jake. Hier ist nochmal Amy. Sie wollten mich mit jemandem verbinden.”, sagte sie mürrisch und verdrehte genervt die Augen.

„Ach, sie schon wieder.“, antwortete er nicht minder genervt.

Wie unhöflich! Immerhin hatte er sie vergessen und dafür war doch zumindest eine Entschuldigung fällig.

„Hören sie, Jake. Ich hätte nicht nochmal angerufen…“, er ließ sie nicht aussprechen.

„Ja, ist ja gut. Einen Moment bitte.“, nuschelte er missmutig in den Hörer.

Er war so unhöflich- Amy ärgerte sich darüber, aber schließlich hatte sie das Ziel Informationen zu bekommen und dafür würde sie auch zu diesem Rüpel höflich sein. Ein paar Sekunden später meldete sich eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Hallo, hier ist Maren.“, trällerte sie fröhlich ins Telefon.

„Hallo Maren, hier ist Amy Morgan. Ich rufe aus Kanada an und hätte Fragen zu ihrem Projekt.“, erklärte Amy ihren Anruf mit einem freundlicheren Unterton.

Maren war sehr hilfsbereit und sie konnte auch viele  von Amys Fragen beantworten. Die Firma Clean Sea hatte ein Forschungsteam auf der Farm damit beauftragt, das Projekt umzusetzen und Maren war als Leiterin der Farm über fast alles informiert worden. Die übrigen Fragen sollte Amy mit Tom klären. Er war der technische Leiter des Projekts, aber leider war er gerade in der Stadt und sie würde ihn erst morgen wieder erreichen. Maren schlug ihr sogar vor, dass Amy persönlich vorbeikommen sollte, um das Verfahren live zu sehen. Sie bedankte sich für das angenehme Telefonat und legte schließlich auf. Morgen früh würde sie Tom anrufen und dann hatte sie vielleicht bald alle relevanten Daten zusammen. Mit ihrem Laptop unter dem Arm ging sie in die Küche und stellte ihre leere Teetasse in das Spülbecken. Ein Blick auf die rote Küchenuhr, die über der Tür hing, verriet ihr, dass es Zeit war. Eigentlich hatte sie sich noch bei Felicia bedanken wollen, denn tatsächlich stand heute Morgen ein Wäschekorb mit all ihren Sachen vor ihrer Zimmertür. Doch wenn sie nicht zu spät kommen wollte, müsste sie jetzt los. Sie legte ihren kleinen schwarzen Laptop auf den Küchentisch und schrieb eine kleine Notiz mit einem Dankeschön. Sie klebte den Zettel an den Kühlschrank und machte sich auf den Weg in den Stall, nachdem sie in ihre Stiefel geschlüpft war.

 

„Morgen Andy“, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. Er stand in der Stallgasse und reinigte gerade eine Trense.

„Guten Morgen! Und bist du bereit für das erste Training?“, er legte die Trense weg und kam auf sie zu.

„Natürlich, ich hatte ja auch lange genug Zeit mich darauf vorzubereiten.“, lachte sie und trat an Nandos Box. Erwartungsgemäß hob er den Kopf, als er ihre Stimme hörte. Ihr Körper schmerzte vor Muskelkater und auch ihr Kopf pochte noch dumpf, trotz der Schmerztablette, die sie zum Frühstück genommen hatte. Doch sie wollte das alles ignorieren- für Nando.

„Morgen mein Junge.“, begrüßte sie ihn und kraulte seinen Kopf, während er zufrieden schnaubte.

„Ich würde vorschlagen, ich bringe ihn in die Halle und lasse ihn erst einmal etwas frei laufen, damit er sich austoben kann.“, sie öffnete die Box und Nando ließ sich das Halfter ohne Probleme anlegen. Sie tätschelte ihm den Hals und führte ihn auf die Stallgasse. Andy beobachtete sie genau und unter seinem durchdringenden Blick wurde sie leicht nervös.

„Kann es los gehen?“, fragte sie ihn und er nickte und folgte ihr mit einigem Abstand aus der Stallgasse.

Sobald ihm Andy näher kam, konnte man deutlich Nandos Nervosität spüren und Amy machte sich kurz Sorgen, ob das überhaupt gutgehen konnte. Sie atmete mehrmals tief durch, denn sie musste die Ruhe und Zuversicht ausstrahlen, damit sich auch Nando beruhigen konnte. Bleib ganz ruhig, Nando. Er will dir nur helfen und vielleicht werdet ihr mal richtig gute Freunde., dachte sie, während sie Nando in die Halle führte. Andy hatte das Tor geschlossen und Amy löste das Halfter, um ihn laufen zu lassen, doch er blieb bei ihr stehen und rührte sich keinen Schritt. Nur seine gelockten Ohren wackelten nervös hin und her.

„Was hast du denn? Keine Lust zu laufen?“, sie legte ihre Hand auf seinen Widerrist und streichelte ihn beruhigend. Andy stand in der Halle am Rand und beobachtete die Szene ohne ein Wort zu sprechen.

„Andy, kannst du vielleicht außen an der Bande warten?“, Amy hatte so ein Gefühl, dass es vielleicht helfen konnte, wenn sie ganz alleine mit ihm in der Halle war.

„Klar, kein Problem.“, Andy verließ die Halle und nahm seinen Beobachterposten an der Seitenbande ein.

„Schau, Nando, jetzt sind wir ganz alleine. Entspann dich. Es ist alles okay.“

Noch immer zuckten seine Ohren, doch er schnaubte und ging ein paar Schritte. Na los, tob dich aus! Er warf den Kopf herum und galoppierte los. Amy blieb in der Mitte der Halle stehen und schüttelte den Kopf mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Was ist los?“, fragte Andy sie vom Rand.

„Das kann ich nicht wirklich erklären. Das ist so absurd, du würdest es mir nicht glauben.”

„Versuch es doch.“, erwiderte er.

„Naja, das ist nun schon öfters passiert. Manchmal rede ich mit ihm und ich habe das Gefühl, er hört mich zwar, aber meine Worte oder meine Stimmlage haben keinen Einfluss auf ihn. Wenn ich den gleichen Satz einfach in meinen Gedanken wiederhole, scheint er es irgendwie… zu spüren.“, erklärte sie ihre Beobachtungen der letzten Tagen vorsichtig. In der ganzen Zeit, selbst ihn ihrem Traum, hatte sie dieses Gefühl gehabt, doch sie hatte diese Gedanken nie in Worte gefasst, waren sie doch so paradox. Während sie weiter in der Mitte stand und Nando beobachtete, wie er ausgelassen durch die Halle fegte und sich schließlich auf dem Hallenboden wälzte, schielte sie zu Andy hinüber. Seine Gesichtszüge hatten sich nicht verändert. Er dachte wohl, sie sei verrückt. Sie hätte ihm das nie erzählen sollen. Es war sicher nur in ihrem Kopf und hatte nichts mit der Realität zu tun.

„Jetzt denkst du sicher ich habe einen an der Klatsche oder?“, hakte sie nach, denn er schien nichts dazu sagen zu wollen.

„Naja, wenn du verrückt bist, dann bin ich es auch.“, er lächelte ihr zu und fuhr fort. „Schon das erste Mal, als ich euch beiden zusammen gesehen habe, habe ich mir so etwas gedacht. Du hast ihn eingefangen, ohne ein Wort mit ihm zu reden. Das konnte kein Zufall oder Glück sein. Spätestens, als wir uns…naja, als wir vor seiner Box geküsst haben und er uns unsanft unterbrach, war ich mir sicher, dass er sehr stark auf die reagierte. Es scheint, als reagiere er auf deine Gedanken und Gefühle. Hast du es denn schon mal bewusste ausprobiert?“

Darauf war sie noch nicht gekommen, hatte sie es doch bisher, im Gegensatz zu Andy, eher als Zufälle abgetan. Sie schüttelte mit dem Kopf. Nie hatte sie geglaubt, dass es funktionieren könnte, aber einen Versuch war es allemal wert.

„Dann probier es aus. Denk doch einfach mal, dass er zu dir kommen soll. Mal sehen was passiert.“, schlug Andy ihr eine einfache Übung vor.

Amy blickte ihn skeptisch an. Dachte er wirklich, dass das hier klappen konnte, oder machte er sich in Wirklichkeit über sie lustig? Eigentlich spielte das gar keine Rolle, entschied sie. Wenn es klappen würde, wäre es ein kleiner Beweis, dass es etwas zwischen Nando und ihr gab, das über die normale Mensch-Pferd-Beziehung hinaus ging. Wenn nicht, hätte sie sich schlimmsten Falls vor Andy zum Trottel gemacht- und das wäre ja nicht das erste Mal.

 

Komm zu mir, Nando. Sie schaute ihn an und versuchte den Gedanken immer wieder zu wiederholen. Seine Augen beobachteten sie, aber er lief weiter im leichten Trapp durch die Halle und machte keine Anstalten sein Tempo zu verringern. Sie versuchte den Gedanken zu visualisieren. Nach ein paar Sekunden entfuhr ihr ein enttäuschter Seufzer. Nando schien zwar zu spüren, dass sie etwas von ihm erwartete, denn er ließ sie nicht aus den Augen, aber er blieb schließlich in der hinten Ecke der Halle stehen und beschnüffelte den Boden.

„Ich glaube, dass war der Beweis, dass es ein Hirngespinst oder ganz einfach Zufall war.“, Amy drehte sich um und ging zur Bande, an der Andy stand.

„Gib nicht so schnell auf. Lass es uns einfach nochmal versuchen. Denk an irgendetwas, dass du von ihm möchtest.“

Sie stand noch immer mit dem Rücken zur Halle und schaute Andy an. Sie wusste nicht, wo sich Nando aktuell aufhielt, doch er konnte noch nicht weit von der Ecke entfernt sein, denn sie hörte nur leichtes Hufscharren aus dem hinteren Teil der Halle. In Gedanken stellte sich Amy vor, wie sie Nando zwischen den Ohren kraulte und er sie sanft mit seinem Kopf an stupste, nur damit sie nicht aufhörte. Andys Gesicht erhellte sich augenblicklich und er lächelte sie bereit an. Es musste also irgendetwas passiert sein.

Sie hörte leichtes Hufgetrappel hinter sich und dann spürte sie, dass er sie am Arm an stupste. „Aua.“, entfuhr es ihr, denn die Berührung auf ihrem Sonnenbrand schmerzte. Ihr Gesicht strahlte trotz des Schmerzes, denn es hatte geklappt. Mit ihrer Hand begann sie ihn am Kopf zu kraulen und er schnaubte zufrieden. Das Halfter und den Strick hatte sie in der Mitte auf den Hallenboden gelegt. Sie senkte ihre Hand und ging ein paar Schritte Richtung Mitte. Nando dreht sich sofort um, und folgte ihr und blieb hinter ihr stehen. Sie ging noch ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Er tat es ihr gleich. Wieder ging sie ein paar Schritte und tatsächlich folgte er ihr auch diesmal. Sie ging zügig zur Mitte und hob das Halfter auf, als sie sich umdrehte, stand er direkt hinter ihr und hob den Kopf. Sie legte ihm das Halfter an und lobte ihn, indem sie ihm den Hals tätschelte.

„Andy, kommst du mal bitte in die Halle?“, forderte sie ihn auf, denn sie hatte das Gefühl, das Nando soweit war. Er öffnete das Tor und augenblicklich konnte Amy die Anspannung spüren, die von Nando ausging. Sie beruhigte ihn und vor allem sich selbst, denn offensichtlich ließ sich Nando von ihrem Gemütszustand „anstecken“ und forderte Andy auf, sich langsam zu nähern.

 

An diesem Vormittag hatten sie es geschafft, dass Nando völlig ruhig blieb, wenn Andy in der Nähe war und er konnte sogar kurz seinen Kopf berühren. Amy hatte nun wirklich die Hoffnung, dass die beiden einmal zusammen ohne ihre Hilfe trainieren konnten. Vielleicht wurde aus Nando tatsächlich noch ein zuverlässiges Reit- und Arbeitspferd werden.

Sie stand unter der Dusche und wusch sie den Staub des Hallenbodens ab, der an ihrer Haut klebte. Die Vorfreude auf den heutigen Nachmittag war riesig und natürlich war sie gut gelaunt, wegen des Erfolgs mit Nando. Dank Andy hatte sie den Mut gehabt, ihre Vorahnung zu beweisen und jetzt wusste sie, dass sie Nando durch ihre Gedanken durchaus beeinflussen konnte.

Sie stieg aus der Dusche und trocknete sich zügig ab. Es blieb ihr nicht mehr allzu viel Zeit- es war bereits nach halb vier. Das dunkelgraue Sommerkleid lag auf ihrem Bett und die passenden Schuhe hatte sie auch dazugestellt. Sie legte ein dezentes Abend-Makeup auf und steckte ihre dunkelbraunen Locken leger nach oben. Ein paar Strähnen zog sie heraus und sie umspielten weich ihr Gesicht, was sie jünger aussehen ließ. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel verließ sie das Badezimmer und zog in ihrem Zimmer das Kleid und die passenden Schuhe an. Es waren hellgraue Ballerinas mit einer Stoffblume, die seitlich vorne am Schuh befestig war. Das Kleid hatte breite Träger, so sah man die Spuren, die der Sonnenbrand auf ihren Schultern hinterlassen hatte, nicht sehen konnte und war aus einem leichten Leinenstoff. Es betonte ihre Figur an den richtigen Stellen und so betrachtete sie sich gerade zufrieden im großen Spiegel, der an der Rückseite der Tür befestigt war, als Sally klopfte.

„Herein!“, rief sie vergnügt und augenblicklich öffnete Sally die Tür. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem losen Dutt gebunden und das lange Pony geflochten, was ihr wunderbar stand. Ihre zierliche Figur umschmeichelte ein dunkelblaues schulterfreies Chiffonkleid, das ihre Augen schön zur Geltung brachte.

„Wow, Sally, du sieht´s toll aus.“

„Danke, das kann ich nur zurückgeben.“, lächelte sie Sally an.

„Warte, ich habe da noch etwas für dich.“, Amy dreht sich um und begann in ihrem Koffer zu wühlen. Aus den Tiefen des Kleiderbergs förderte sie eine kleine königsblaue Clutch, mit einem goldenen Kettchen zum umhängen, empor und reichte sie Sally. Dann ging sie zu dem kleinen Regal an der Wand und kramte in einer Schmuckdose. Sie reichte Sally ein paar goldene Federohrringe und einen goldenen Armreif. Sie legte beides an und betrachtete sich im Spiegel.

„Perfekt!“, rief sie freudig aus und nahm Amy in den Arm, „Ich danke dir!“

„Immer wieder gerne!“, Amy war froh ihr damit eine Freude machen zu können und legte noch kurz ihren Perlenschmuck an und nahm ihre beige Handtasche vom Bett, als sie Sally aus der Umarmung entlassen hatte. Sally hatte derweilen ihre Handtasche umgeräumt und nun fand alles in der blauen Clutch seinen Platz. Sie waren startklar.

 

Eine halbe Stunde später parkte Sally den weißen SUV auf dem großen Parkplatz vor dem Leduc Recreation Center und sie stiegen aus. Der Parkplatz war bereits gut gefüllt und sie strömten gemeinsam mit der Menge Richtung Haupteingang. Der Eintritt war frei und das Publikum war bunt gemischt; Eltern mit ihren Kindern, Jungendliche in kleineren und größeren Gruppen, Singles auf der Suche, Junggesellinnenabschiede, Männer auf Sauftour. Amy war das letzte Mal vor fast zehn Jahren hier gewesen. Sie hatte sich gerade für das College in Edmonton eingeschrieben und in ihrem letzten Sommer in Hay Lakes war sie mit ihrem damaligen Freund Aaron hier gewesen. Er war ein richtiger Chaot gewesen, der Klassenclown der Abschlussklasse der Senior-High in Leduc. Sie hatte sich schließlich von ihm getrennt, als sie ins Studentenwohnheim nach Edmonton gezogen war, denn er ging aufs College nach Calgary. Für eine Fernbeziehung war sie damals noch nicht bereit und sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie sie als Teenager war- wild und aufgedreht, beschrieb es wohl am besten.

 

Sie hakte sich bei Sally unter und gemeinsam schlenderten sie vorbei an zahlreichen Fahrgeschäften. Der Geruch von Zuckerwatte und anderen Süßigkeiten lag in der Luft. Das Lachen der Kinder drang von überall her an ihre Ohren und die Luft schien voll von Freude und Ausgelassenheit zu sein. Es regte sich kein Windhauch und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis sie unterging und die Nacht etwas Linderung von der Hitze bringen würde. Amy steuerte auf einen Getränkestand zu und bestellte zwei Flusheis in den Geschmacksrichtungen Apfel und Himbeere, um ihnen eine Abkühlung zu gönnen. Die Verkäuferin reichte ihr die beiden Becher und sie gab den roten direkt weiter an Sally.

„Das ist eine wirklich gute Idee. Danke!“, Sally zog an ihrem Strohhalm und hielt Amy dann ihren Becher hin. Diese tat es ihr gleich und sie tauschten, um auch die zweite Geschmacksrichtung zu probieren.

Etwas abseits des Trubels ließen sich die beiden schließlich auf einer Bank im angrenzenden Park nieder. Sie waren eine große Runde über das gesamte Volksfest gelaufen. Es gab über zwanzig Fahrgeschäfte und Amy schätzte, dass es mindestens fünfzig weitere Stände mit Essen, Getränken und anderen Attraktionen gab.

„Es tut so gut mal raus zu kommen.“, seufzte Sally, als sie sich gesetzt hatte.

„Ich kann mir vorstellen, dass das Leben auf einer Farm und mit einem Kleinkind ziemlich anstrengend ist.“, Amy stellte ihre Becher neben sich ab. Ihre Finger waren bereits halb gefroren und sie rieb sie aneinander, um sie wieder zum Leben zu erwecken.

„Naja, es ist eben alles ein Fulltime-Job. Die Farm kennt kein Wochenende und Jason leider auch nicht. Aber ich würde um nichts in der Welt tauschen.“, ihre Augen funkelten und sie dachte wohl an Chris und Jason.

„Ja, das Leben in Hay Lakes hat etwas…“, begann Amy.

„Möchtest du denn für länger bleiben? Was ist denn mit deinem Leben und deinem Job in Toronto?“, fragte sie Sally neugierig. Chris hatte ihr erzählt, warum Amy plötzlich auf der Farm aufgetaucht war, aber bisher waren die Gespräche der beiden darüber eher oberflächlich gewesen.

„Ich denke nicht, dass ich auf Dauer in Hay Lakes bleiben werde. Ich mag das Leben auf der Farm und es ist wieder wie früher, aber ich bin nichtmehr das kleine Mädchen von damals. Ich sollte meinen eigenen Weg gehen und dafür werde ich Hay Lakes verlassen müssen. Toronto ist da nicht gerade die erste Wahl.“, sie lächelte gequält.

„Das heißt, du wirst nicht zu Michael zurückkehren?“, fragte sie Sally gerade heraus und augenscheinlich tat ihr ihre Neugierde direkt danach leid, als sie in Amys schmerzverzerrtes Gesicht blickte.

„Es tut mir leid. Das geht mich nichts an. Entschuldige bitte, manchmal geht meine Neugier mit mir durch. Lass uns einfach über etwas anderes sprechen.“, versuchte sie die Situation zu retten.

„Nein, schon okay. Du bist nur die Erste, mit der ich darüber rede. Ich habe ihm gestern gesagt, dass ich nicht wieder zu ihm zurückkommen werde. Er hat angerufen und erst wollte ich ihn einfach nur hinhalten. Doch während des Telefonats wurde mit klar, dass ich es bereits entschieden hatte. Also machte ich Schluss mit ihm… Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll. Ich habe einen Job in Toronto, doch ein Leben habe ich dort nicht mehr. Spätestens in einer Woche muss ich zurück oder ich werde wohl gefeuert werden.“, Amy presste ihre Lippen zusammen und blickte stumm gerade aus.

„Und was wäre so schlimm daran?“, fragte sie Sally. Ihre offene Art war eine Erfrischung und Amys Gedanken begannen zu arbeiten.

„Ich weiß es nicht, ich will diesen Job eigentlich auch gar nicht mehr machen. Aber wenn ich nicht nach Toronto gehöre und auch nicht auf Dauer hier bleiben will, wo ist denn dann mein Platz?“, aufgewühlt blickte Amy in Sallys Augen in der Hoffnung sie würde eine Antwort darin erkennen. Sie hatte sich bisher an ihren Job in Toronto geklammert, denn er schien ihre Daseinsberechtigung zu sein, wieder nach Toronto zurück zu kehren. Er war ihr einziger Strohhalm gewesen.

„Das kannst nur du alleine herausfinden, Amy. Jeder hat seinen Platz, aber es ist bereits an Anfang zu wissen, wo dieser Platz nicht ist.“, munterte Sally sie auf und nahm sie in den Arm. Es tat gut und es tröstete sie etwas. „Du sollest deine Freunde in Toronto bitten, deine Sachen aus seiner Wohnung zu holen und sie hier her zu schicken. Vielleicht ergibt sich ja doch noch ein Grund, der dich hier hält.“, sie grinste verschmitzt.

„Wie meinst du das?“, Amy wusste nicht direkt auf was sie anspielte.

„Naja, ich habe dich und Andy beobachtet und ich bin nicht die Einzige, die gemerkt hat, wie gut ihr euch versteht.“, Sally schaute sie an und wartete eine Reaktion ab, doch bevor Amy etwas erwidern konnte, riss das Summen ihres Handys sie aus ihren Gedanken. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Blackberry. Das leuchtende Display verriet ihr, dass es das Festnetztelefon der Farm ihrer Eltern war. Hoffentlich ist nichts passiert, schoss es ihr durch den Kopf und sie drückte auf den grünen Hörer und meldete sich.

„Hallo Amy, hier ist Chris.“, meldet sich ihr Bruder, und die Gelassenheit in seiner Stimme, beruhigte sie.

„Chris, was gibt es denn.“, Sally schaute sie fragend an, als sie den Namen ihren Mannes hörte, doch Amy zuckte nur mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht.

„Ich wollte nur hören, wie es euch geht. Wir sind früher mit der Arbeit fertig und wollten vielleicht auch noch vorbeischauen. Mum würde Jason nehmen. Oder stören wir euch bei Mädchengesprächen?“

Amy bat Chris kurz zu warten und hob ihre Hand auf den Lautsprecher des kleinen Geräts.

„Sally, die Männer wollen noch kommen und Mum würde Jason nehmen. Ist das okay für dich?“, Amy wollte zuerst Sallys Meinung hören, immerhin war es wahrscheinlich ihr erster Männer-freie-Nachmittag seit fast zwei Jahren. Sie überlegte kurz, nickte dann aber.

„Chris, kein Problem. Treffen wir uns in einer Stunde beim Riesenrad?“

Chris bestätigte den Treffpunkt und legte auf. Nachdem Amy das Handy wieder in der Tasche verstaut hatte, fragte sie sich, ob Andy wohl auch mitkommen würde.

„Was ist?“, wollte Sally wissen, die ihren Gesichtsausdruck versuchte zu deuten.

„Nichts, alles gut. Was willst du machen, bevor die Männer kommen?“

„Jetzt lenk ja nicht ab.“, warnte sie Sally. „Was ist da nun zwischen dir und Andy?“, fragte sie gerade heraus und zog die Augenbrauen hoch.

„Es ist kompliziert. Du hast ja recht, wir sind uns sympathisch, aber ich steckte bis gestern in einer sechsjährigen Beziehung, die eher unsanft beendet wurde. Ich denke, es ist einfach der falsche Zeitpunkt für uns. Hätten wir uns in einem anderen Leben kennengelernt, hätten wir uns vielleicht sogar ineinander verliebt, aber so ist es einfach nur ein schöner Sommer, den wir gemeinsam genießen.“, Amy hatte es genau auf den Punkt gebracht und war selbst überrascht, wie gut und klar sie die Gedanken und Gefühle in Worte gefasst hatte. Sally nickte nur und lächelte sie an.

„Komm lass uns was trinken gehen, ich habe Durst!“, schlug sie vor und stand auf.

 

 

„Schau mal, da kommen sie.“, sagte Sally, als sie die Männer zwischen den Menschenmassen auf dem Platz vor dem Riesenrad entdeckte. Amy saß mit dem Rücken zu dem Punkt auf den Sally deutete und drehte sich jetzt mit einem suchenden Blick um. Sie sah Matthew und ein Stück dahinter lief Chris. Er unterhielt sich mit jemandem und als sie noch ein paar Schritte auf das Riesenrad zugegangen waren, erkannte sie Andy. Die Männer hatten sich offensichtlich schick gemacht, denn alle drei trugen saubere Jeans und hatten sich sogar rasiert.

„Nach schau mal einer an. Die haben sich ja richtig raus geputzt.“, lachte Sally und Amy musste grinsen. Sally winkte ihnen zu und sie kamen auf den Stehtisch zugeschlendert an dem Amy und Sally auf Barhockern saßen und alkoholfreie Sommer-Cocktails schlürften, die sie am viel zu kitschig geschmückten Stand um die Ecke gekauft hatten.

„Guten Abend die Damen. Was für ein schöner Anblick!“, schmeichelte Chris ihnen. Er begrüßte Sally und wandte sich dann an Amy. Der Kuss auf die Wange diente nur als Mittel zum Zweck, denn er flüsterte ihr etwas ins Ohr:

„Na, für wen hast du dich denn so hübsch gemacht?“

Amy verzog das Gesicht und boxte ihm auf den Oberarm.

„Auf jeden Fall nicht für dich!“, gab sie patzig zurück, lächelte aber direkt danach wieder, als Chris sich spielend die schmerzende Schulter rieb und übertrieben jammerte.

So zogen sie nun also zu fünft los und ihr Ziel war das riesige weiß-rote Festzelt, das in der Mitte des Platzes thronte. Es war brechend voll und sie hatten Mühe noch einen Platz zu ergattern. Bei der Bedienung bestellen sie Bier, Wein und Wasser, nachdem sie sich auf den unbequemen Holzbänken niedergelassen hatten.

„Warum wart ihr denn heute schon so früh fertig?“, wollte Sally neugierig wissen und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, als sie ihre Getränke bekamen.

„Gestern lief es gut mit den Jährlingen und wir mussten heute keine Ausreiser mehr einfangen. Es waren tatsächlich alle da, als wir sie heute Morgen gezählt haben. Das hat uns einiges an Zeit gespart.“, klärte Matthew sie auf und nippte an seinem kühlen Bier, dass im einen weißen Schnurrbart zauberte, den seine Zunge genüsslich abschleckte.

Sally schenkte sich und Amy Wasser ein. Amy hatte sich noch ein Glas Pinot Grigio bestellt und prostete damit den anderen zu. Drei Gläser Weißwein später bemerkte Amy, dass ihre Zunge schwer wurde und ihr das sprechen etwas schwerer viel, als es ihr lieb war.

„Sally, kommst du mit?“, fragte sie ihre Freundin. Sie wollte nicht alleine auf die Toilette gehen und Sally verstand sofort, was sie meinte und nickte. Gott sei Dank musste sie wegen Jason nüchtern bleiben. so konnte sich Amy bei ihr einhaken und sie machten sich auf den Weg durch die Menschenmassen. Die Toiletten waren am hinteren Ende des Zelts und es dauert eine ganze Weile, bis sie dort ankamen.

„Sally, ich glaube, ich sollte nichts mehr trinken.“, lachte Amy, als sie die Tür ihrer Toilette schloss. Sally kicherte nur und betrat den Abort neben ihrem.

„Ich werde dich schon sicher nach Hause bringen. Vertrau mir!“, Sally zwinkerte ihr zu, als sie gemeinsam vor dem Waschbecken standen. Im Spiegel prüften sie ihr Makeup und Sally zupfte noch an ihren Haaren herum, um ein paar wildgewordene Strähnen zu bändigen. Als sie beide mit ihrem Spielbild zufrieden waren, verließen sie den Raum und traten wider in das laute Getümmel des Festzelts. Die Musik hatte abermals eingesetzt und man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Es spielte eine Band aus Calgary, die anscheinend ziemlich beliebt war, denn vor der Bühne hatte sich eine große Menschentraube gebildet. Amy kannte sie nicht, doch Country-Musik war auch nicht ihr Stil.

„Ach sieh an, die Damen sind zurück!“, kommentierte Matthew ihr Erscheinen am Tisch und augenblicklich verstummte das Gespräch zwischen Chris und Andy. Sie hatten bis vor einer Sekunde, noch die Köpfe zusammen gesteckt und hatten sich angeregt unterhalten.

„Was gibt es denn da zu tuscheln?“, hakte Sally nach, doch sie erwartete keine Antwort und nahm wieder Platz, um sich ihr Wasserglas erneut zu füllen.

„Sollen wir dann gehen?“, fragte Chris stattdessen und Andy nickte direkt.

„Ja, gerne“, sagten Sally und Amy wie aus einem Mund und alle mussten lachen. Bestens gelaunt verließen sie das Zelt und suchten auf dem viel zu großen Parkplatz ihren Wagen. Es war gegen Mitternacht und der Parkplatz war nur spärlich beleuchtet. Das machte die Suche nicht gerade einfacher. Sie fanden Matthews Wagen zuerst und so fuhren sie zu fünft in seinem Truck nach Hause. Sallys Dodge würde sie morgen holen müssen, denn außer Sally konnte keiner mehr einen Wagen steuern.

Sie parkte Matthews Truck in der dunklen Einfahrt und der Scheinwerfer mit Bewegungsmelder tauchte augenblicklich alles in ein grelles Licht. Chris legte seinen Arm um seine Frau als sie ausgestiegen waren und sie schlenderte gemeinsam Richtung Nebenhaus. Jason würde heute Nacht bei seiner Oma bleiben und so zog es die beiden unübersehbar schnell ins Bett. Sie verabschiedeten sich kurz und Sally gab Amy einen Kuss auf die Wange und murmelte ihr dabei etwas Unverständliches ins Ohr. Amy hatte nur „Viel Spaß!“ verstanden, doch Sallys Zwinkern und das Grinsen auf ihrem Gesicht, machten Amy die Raterei nicht schwer. Matthew verabschiedete sich auch direkt und verschwand leicht schwankend Richtung Stall. Amy hatte gar nicht bemerkt, dass er so viel getrunken hatte, doch sein Gang sprach Bände. Auch in Amys Kopf summte es und sie musste sich konzentrieren, damit sie nicht lallte.

„Bist du müde?“, fragte sie Andy gerade heraus.

„Nein, nicht wirklich.“, antwortete er.

„Gut, ich auch nicht. Hast du Lust mich zu begleiten? Ich möchte noch nach Nando sehen.“

Er nickte und zusammen schlenderten sie zum Stall. Andy machte das Licht an und die Neonröhren begannten zu flackern, bis sie schließlich mit einem leisen Klacksen ganz an gingen. Ein paar Pferde hoben die Köpfe, andere schliefen und ließen sich auch nicht stören. Sie gingen zu Nandos Box und Amy begann einfach zu erzählen, der Alkohol hatte ihre Zunge gelockert:

„Gestern Nacht habe ich mit meinem Freund Schluss gemacht. Er hat mich angerufen und ich wollte eigentlich nur noch mehr Bedenkzeit, aber dann habe ich es doch irgendwie beendet. Und weißt du was? Mir geht es gar nicht mal so schlecht. Okay, ich hatte eine furchtbare Nacht.“, sie verzog das Gesicht. Andy blickt sie voller Mitleid an, blieb aber stumm. „Aber heute war eigentlich ein ganz guter Tag, für die Tatsache, dass ich vor 24 Stunden die letzten 6 Jahre meines Lebens über den Haufen geworfen habe.“, sie lachte.

„Das stimmt nicht, er hat sie über den Haufen geworfen- vor einer Woche schon.“, wiedersprach Andy ruhig und Amy konnte sehen, dass es ihm unendlich leid tat, was ihr passiert war. In seinem Blick standen Trauer und Mitgefühl und er tat ihr leid, dass er sich wegen ihr so zu quälen schien. Sie hätte ihm das nicht erzählen sollen- das Alles. Es waren ihre Problem und nun steckte er so tief mit drin, dass es ihn verletzte. Das war nicht fair.

„Es tut mir leid!“, sagte Amy und als sie Nandos Box erreichten, lehnte sie sich an und ließ sie langsam auf den Boden gleiten, bis sie auf dem kalten Stein saß. Die Beine hatte sie angewinkelt und ihr Kleid war bereits voll mit dem Stroh, das auf dem Boden lag. Sie begann es einzeln abzuzupfen und schien völlig darauf konzentriert zu sein.

„Was tut dir leid?“, zerbrach er die wunderbare Stille, die für einen Augenblick geherrscht hatte.

„Alles, Andy, Alles!“, war das einzige was sie sagen konnte und er setzte sich neben sie auf den Boden.

„Weißt du, manchmal braucht man viel Mut. Mut neue Wege zu gehen oder den Mut Entscheidungen zu treffen. Oft haben wir den Mut nicht selbst. Tragen ihn nicht einfach so mit uns herum. Aber wir treffen andere Menschen, die uns helfen können und wenn wir es zulassen, können wir daraus neuen Mut schöpfen. Den Mut am Ende das Richtige zu tun, egal wie schmerzhaft es für alle scheint.“, er seufzte und beugte sich zu ihr herüber. Seine Lippen berührten für einen kurzen Moment ihre Wange, dann stand er auf.

„Gute Nacht, Amy! Schlaf gut.“, er ging die Stallgasse entlang ohne sich noch einmal umzusehen.

Kapitel 7

Sie trat ans Fenster und wählte die Nummer ihrer besten Freundin.

„Amy, schön von dir zu hören.“, meldete sich Lisa aufgeregt. „Wann kommst du nach Hause?“

„Hallo Lisa, wie geht es dir?“, versuchte Amy sie abzulenken.

„Was ist los?“, fragte Lisa misstrauisch.

Mist, sie hatte es gemerkt. Amy setzte sich an ihren Schreibtisch, um nicht nervös im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Nichts!“, behauptete sie schnell. Sie atmete nochmal durch und spielte nervös mit dem Bleistift, der auf ihrem Schreibtisch lag „…. naja, also ich muss dich um einen Gefallen bitten.“, irgendwann musste sie es ihre schließlich sagen.

„Okay, raus mit der Sprache. Ich bin ganz Ohr“, hakte Lisa nach.

„Hör zu, ich werde vorerst nicht nach Toronto zurückkehren. Ich habe mich von Michael getrennt, endgültig.“, sie seufzte- nun war es raus. Lisa sagte nichts und wartete wohl auf eine weitere Erklärung.

„Kannst du mit meinem Ersatzschlüssel zu meiner Wohnung fahren und ein paar Sachen zusammenpacken?“, fragte Amy zaghaft. Sie wusste, dass sie sich auf Lisa verlassen konnte und dennoch war es ihr unangenehm, sie um diesen Gefallen zu bitten.

„Ist es so ernst?“, erkundigte sich Lisa und Amy nickte, wohl wissend, dass Lisa sie nicht sehen konnte, doch sie deutete das Schweigen ihrer Freundin richtig.

„Okay, Süße. Schick mir eine Liste per Mail, mit den wichtigsten Dingen. Ich fahr morgen hin und erledige das für dich. Ich packe alles ein und dann schick ich dir das Wichtigste direkt nach Hay Lakes. Der Rest kommt erst mal in meinen Keller.“

„Danke dir, Lisa. Du weißt, wie viel mir das bedeutet.“, erleichtert ließ Amy die Luft aus ihrer Lunge strömen, die sie offensichtlich angehalten hatte.

„Amy, kann ich dich etwas fragen?“

„Mhm.“, erwiderte Amy.

„Was ist mit deinem Job? Hast du Kevin schon angerufen?“, Lisa flüsterte fast nur noch.

„…nein, ich… naja, das steht auf meiner Liste. Ich werde ihn morgen anrufen. Ich werde wohl kündigen müssen, denn er wird mich nicht noch länger beurlauben.“, Amy wusste, dass es das Ende ihrer Karriere beim Toronto Star bedeutete, doch das war ihr egal. Sie hatte nie das Ziel im Job so erfolgreich zu sein. Es war eben so passiert und nun tat es ihr nicht wirklich leid, das alles hinter sich zu lassen. Nach dem Gespräch mit Sally hatte sie erkannt, dass auch ihr Job das Leben in Toronto nicht lebenswerter machen würde, also hatte sie diesen kleinen Strohholm auch noch losgelassen. Nun würde sie wirklich alle Brücken hinter ihr abreisen.

„Oh, okay. Bist du dir ganz sicher?“, fragte Lisa mit erstickter Stimme und Amy stiegen Tränen in die Augen. Sie wusste, dass sie ihre Freundin für längere Zeit nicht wieder sehen würde und es zerriss ihr das Herz. Sie verließ nicht nur Michael- nein, sie hatte ihr Leben, ihre Freunde verlassen. Und so brachte sie es auch nicht übers Herz Lisa direkt die ganze Wahrheit zu erzählen. Sie hatte heute Morgen einen Entschluss gefasst, doch sie wollte es zuerst in Ruhe mit ihrer Familie besprechen.

„Ja, Lisa, ich bin mir sicher. Ich werde mir einen neuen Job suchen. Ich weiß noch nicht, wo, aber ich melde mich, versprochen!“, ihre Stimme zitterte und die Tränen flossen über ihre Wagen. Sie hatte gelogen, doch es ging nicht anders. Lisa schluchzte- ihre Stimme hatte wohl versagt.

„Ich melde mich, wenn ich deine Sachen gepackt habe. Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst und melde dich, wenn es was Neues gibt, ja?“, rang ihre Lisa ein weiteres Versprechen ab.

„Ja, mach ich. Bis bald, Lisa!“, Amy wollte gerade auflegen.

„Ach, und Amy! Viel Kraft für Morgen, ich bin in Gedanken bei dir, das weißt du.“

„Ja, das weiß ich. Danke!“, sie legte auf. Sie wusste nicht, ob Lisa das Telefonat mit Kevin oder den Todestag ihrer Schwester meinte. Oder vielleicht beides. Doch das spielte keine Rolle, es bewies nur, wie gut Lisa sie kannte und was für eine tolle Freundin sie war.

 Amy saß noch eine Weile an ihrem Schreibtisch und starrte auf das Display ihres Handys. Es zeigte 78 ungelesene Emails und etliche neue Nachrichten an. Sie ignorierte sie und legte das Blackberry schließlich in die Schublade ihres Schreibtisches.

Das war´s also. Lisa würde das, was von ihrem alten Leben noch übrig war, in Kisten packen. Sie würde ihr die wichtigsten Dinge nach Hay Lakes schicken. Doch Amy hatte noch mehr Dinge zu erledigen. Ihr Auto musste abgemeldet und verkauft werden. Versicherungen und Bankkonten, die sie gemeinsam mit Michael hatte, mussten aufgelöst werden. Sie würde in den nächsten Tagen einiges organisieren müssen, wenn sie ihren Plan tatsächlich in die Tat umsetzten wollte und so nahm sie voller Tatendrang ihren Laptop und ihren Notizblock und ging nach unten. Es war bereits zehn Uhr und außer Felicia war niemand mehr im Haus. Sie setzte sich mit einer Tasse Tee auf die Terrasse unter den großen gelben Sonnenschirm und begann diverse Emails zu verschicken und Telefonnummern herauszusuchen. Morgen müsste sie noch mehrere Telefonate führen, denn nicht alles ließ sich an einem Sonntag per Mail erledigen.

 

Zwei Stunden später klappte sie den Computer zu und atmete mehrmals tief durch. Sie hatte damit gerechnet, dass es ihr viel schwerer fallen würde, doch nun schien es sie eher zu befreien. Sie fühlte sich leichter- als ob jemand eine schwere Last von ihr genommen hätte. Der Ballast, von dessen Existenz sie nichts wusste, schien verschwunden und sie fühlte sich frei. Ihr Plan nahm immer genauere Formen an und das fühlte sich gut an. Sie gestaltete ihre persönliche Zukunft ohne Rücksicht auf jemand anderen nehmen zu müssen, auch wenn sie diesen Weg alleine gehen würde.

Ihren Laptop ließ sie in der Küche liegen und machte sich sofort auf den Weg in den Stall. Sie würde ausreiten gehen, vielleicht konnte sie jemand für die Idee begeistern, sie zu begleiten.

„Hey Dad!“, rief sie, als sie Stallgasse erreichte und ihren Dad erblickte. Er fegte gerade den grauen Betonboden vor den Boxen.

„Hallo Amy. Na alles in Ordnung bei dir?“, er stellte den Besen zur Seite und kam auf sie zu.

„Ja, ich denke schon. Hast du Lust auszureiten?“, fragte sie ihn freudig und lächelte. Sie würde ihm noch nichts von ihren Plänen verraten, dass musste warten, bis die ganze Familie zusammen war.

„Lust schon, Kleines, aber die Zeit fehlt mir leider. Frag doch deine Mum oder Chris.“, schlug er vor und machte ein entschuldigendes Gesicht.

„Okay, mach ich. Bis dann!“, Amy machte kehrt und begab sich auf die Suche nach Chris. In der Reithalle wurde sie fündig und war erstaunt von dem Anblick, der sich ihr bot.

Chris stand an der Bande und beobachtete das Schauspiel in der Mitte gespannt. Andy befand sich im Zentrum der Halle und um ihn herum tollten zwei junge Pferde: Stella und Nando. Amy traute ihren Augen nicht und postwendend strahlte sie über das ganze Gesicht.

„Was ist denn hier los?“, richtete sie leise ihre Frage an Chris und trat neben ihn an die Bande. Sie lehnte ihre braunen Unterarme darauf und beobachtete ebenfalls die beiden Pferde.

„Das frägst du am besten Andy. Ich bin gerade erst dazugekommen und bin genauso überrascht wie du.“, erklärte ihr Chris. Amy nickte und beiden schwiegen eine Weile und betrachteten stumm die Pferde in der Halle.

„Ich habe übrigens Tom erreicht. Er konnte mir einiges zu dem Projekt erzählen.“, berichtete Amy von dem einen Teil ihres morgendlichen Telefonats, ohne die Augen von den tobenden Pferden zu nehmen.

„Lass uns später darüber reden, wenn Mum und Dad auch Zeit haben, ja?“, schlug sie Chris vor, der ebenfalls nur Augen für das Schauspiel vor sich hatte.

„Mhm.“, murmelte sie nur und Amy hätte sich bei den guten Nachrichten etwas mehr Enthusiasmus gewünscht. Sie zog ihre Augenbrauen leicht zusammen, doch in diesem Moment entdeckte Nando sie und trabte direkt zu ihr, was ihre Lauen wieder deutlich hob und ihre Gesichtszüge entspannen ließ. Er wieherte freudig und streckte ihr direkt seinen Kopf über die Absperrung entgegen.

„Na mein Hübscher, hast du eine neue Freundin?“, begrüßte ihn Amy und begann ihr Kraulritual.

„Naja, es war mehr ein Experiment und ich habe wirklich gehofft, dass es klappt. Ich wusste ja, dass du zu Hause bist und notfalls hätte ich dich um Hilfe bitten müssen.“, Andy trat näher und auch Stella folgte ihm.

„Wie hast du das hinbekommen?“, wollte Amy sofort wissen.

„Ich habe heute Morgen Stella aus der Box geholt und Nando hat sich lautstark darüber beschwert- er wollt offensichtlich auch nach draußen. Ich hatte erst Bedenken, aber ich wusste, dass ich ihn mit deiner Hilfe auch wieder einfangen könnte, also riskierte ich es. Ich band Stella vor seiner Box an und ließ die beiden ein paar Minuten alleine. Sie haben sich wohl kennen und lieben gelernt  und als ich zurückkam, ließ sich Nando von mir sogar das Halfter anlegen. Seine Box darf ich zwar noch nicht betreten, aber das schaffen wir auch noch. Ich ging mit Stella voraus in die Halle und er folgte uns brav. Ich konnte es selbst nicht ganz glauben, aber vielleicht kann  ich es euch zeigen, wenn wir gleich wieder den Rückweg antreten.“, erzählt er stolz von seinem geglückten Versuch das Vertrauen des stolzen Hengstes zu gewinnen

„Lässt er dich an sich ran?“, hakte Amy gespannt nach. Er war ein tolles Tier, das stand außer Frage.

„Nein, er lässt sich nicht anfassen, außer ich lege ihm das Halfter an.“, lachte er.

„Dann zeig uns mal was du kannst. Jetzt bin ich ja richtig neugierig geworden.“, fordert ihn Chris auf und Andy machte sich sofort an die Arbeit. Das ließ er sich nicht zweimal sagen, wobei Amy daran zweifelte, ob er es schaffen konnte, wenn Chris und sie die Pferde mit ihrer Anwesenheit ablenken würden. Andy legte Stella den Strick an und öffnete langsam das Tor, darauf bedacht keine hektischen Bewegungen zu machen. Die schwarze Stute ließ sich problemlos hinaus führen, doch Nando blieb unverändert an der Bande bei Amy stehen. Sie stoppte ihre Streicheleinheit, um es Andy etwas leichter zu machen, doch noch immer rührte er sich keine Schritt. Amy wünschte sich so sehr, dass es klappte, würde es doch die Zusammenarbeit der beiden für die Zukunft so viel einfacher machen. Plötzlich setzte sich der Hengst in Bewegung in Richtung des offenen Tors. Statt sich aber hinter Stella Richtung Stall zu bewegen, schlug er direkt einen Haken und lief an der Bande entlang zu Amy. Sie strahle ihn an und er stupste sie zur Begrüßung, als er genau vor ihr zum Stehen kam.

„Ich dachte mir, dass es bei der Konkurrenz schwer sein würde.“, lachte Andy, als er sah, wie sein Schützling aus der Reihe tanzte und auch Chris und Amy musste lachen.

Amy ging ohne ein Wort zu Andy und der Stute und wie erwartet folgte er ihr, als sie hinter Andy und Stella die Reithalle verließ. Auch Chris folgte ihnen zu den Stallungen.

„Das war ja wohl Scheitern mit Ansage.“, Andy schmunzelte, als sie im Stall ankamen. Er nahm es mit Humor, dass sein zweiter Versuch durch Amys Anwesenheit sabotiert wurde.

 „Was hältst du von einem Ausritt?“, erkundigte sie sich bei Andy, als sich Chris zu seinem Schreibkram ins Büro verabschiedete und dieser nickte. Er schien es für eine gute Idee zu halten und so sattelten sie Splash und Apollo, nachdem sie die beiden anderen versorgt hatten und der Schimmel zufrieden in seiner Box auf seinem Stroh herumkaute. Amy spürte beim Aufsteigen ihren Muskelkater wieder sehr deutlich und sie musste sich zusammen reißen, um das Gesicht nicht zu eine schmerzverzerrten Fratze zu verzeihen. Ihre Beine und ihre Rücken schmerzten nun sein zwei Tagen bei jeder Bewegung, doch bei der ungewöhnlichen Bewegung die man beim Aufsteigen vollführte, war es besonders schlimm. Sie riss sich zusammen und als sie endlich saß, wurde der Schmerz langsam erträglicher.

Im Schritt verließen sie die Farm Richtung Norden und Amy wollte die Zeit nutzen mehr über Andy zu erfahren. Das hatte sie sich bereits seit Tagen fest vorgenommen.

„Wo hast du denn eigentlich gearbeitet, bevor du hier her kamst?“, horchte sie ihn aus, als sie durch den nahe gelegenen Buchenwald ritten. Die Sonne zeichnete Muster auf den Waldboden, die bei jedem Luftzug im Rhythmus des Windes zu tanzen schienen. Außer dem Wind war kein Geräusch zu vernehmen, denn in der Mittagshitze schien es sogar den Vögeln zu heiß zum singen. Andy ließ sich Zeit mit der Antwort und erst als er Apollo neben ihr etwas zügelte, begann er zu sprechen:

„Ich bin auf der Farm meiner Tante aufgewachsen. Sie züchtet Rinder und Bisons auf einer Farm eine Stunde nördlich von Edmonton in der Nähe von Westlock. Dort hab ich gelernt mit Pferden zu arbeiten. Naja, und irgendwann bin ich dann hier gelandet und seitdem bilde ich die Pferde deines Vaters aus.“

„Warum bist du weg aus Westlock?“, hakte Amy nach. Sie nahm die Zügel etwas enger, denn sie wollte nicht, dass Splash nervös wurde, wenn sie abgelenkt war.

„Das Typische eben- Familienstreitigkeiten. Wir haben fast keinen Kontakt mehr und ehrlich gesagt stört mich das nicht weiter. Ich habe eine neue Familie gefunden- hier auf der Farm.“, er zwinkerte ihr zu.

„Warum bist du nicht bei denen Eltern aufgewachsen?“, nun wurde sie wirklich persönlich, aber Andy wusste so viel von ihr, da wollte sie auch ihn etwas besser kennenlernen. Außerdem war ihr Journalisten-Instinkt geweckt.

„Alte Geschichte. Mein Dad hat uns verlassen, da war ich ein Jahr alt und meine Mum war mit mir und meinem Bruder überfordert, also hat sie uns bei ihren Schwestern abgeladen. So bin ich bei Tante Rose gelandet und Dave bei unserer Tante in Vancouver.“, erklärte er knapp. Offensichtlich war es ihm unangenehm, darüber zu reden.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht so ausquetschen. Du brauchst mir das nicht zu erzählen, wenn du nicht möchtest.“, versuchte Amy die Situation zu retten und lächelte ihn versöhnlich an.

Bevor Andy etwas antworten konnte, rannte plötzlich ein kleines Grauhörnchen direkt vor ihnen quer über den Weg und verschwand so schnell im Dickicht, wie es aufgetaucht war. Splash erschreckte sich fürchterlich und riss den Kopf nach oben. Amy war unvorbereitet und die Zügel glitten ihr durch die Hände. Im selben Moment wurde Amy mehrere Zentimeter aus dem Sattel geschleudert, als Splash einen Luftsprung machte. Ehe sie sich versah, setzte die schwarze Stute zu einem weiteren Satz an und Amy verlor endgültig das Gleichgewicht. Mit beiden Händen versuchte sie sich noch an den Zügeln festzuhalten- ohne Erfolg. Sie fiel seitlich aus dem Sattel und landete auf ihrem Hosenboden im Gestrüpp. Splash vollführte noch einen weiteren Satz und riss ihren Kopf hoch, dann blieb sie einige Meter entfernt stehen und schnaubte noch immer aufgeregt. Sie schaute Amy ruhig an, als wollte sie fragen, was sie eigentlich da auf der Erde tat.

„Amy, alles okay?“, fragte sie Andy geschockt. Er starrte sie an und in seinem Blick sah Amy, dass er sich Sorgen um sie machte. Es war so schnell gegangen, dass er nicht wirklich etwas hatte unternehmen können und auch Amy war noch recht geschockt von dem eben Geschehenen.

„Äh, ja… ich denke schon. Aua, mein Po tut weh.“, stammelte sie und begann zu jammern als sich das schmerzende Hinterteil rieb. Andy prustete augenblicklich los, als er erkannte, dass ihr nicht Schlimmeres passiert war.

„Was gibt es denn da zu lachen?“, entgegnete ihm Amy schmollend. Sie stand auf und trottete zu Splash hinüber. „Und du brauchst auch nicht so zu schauen.“, maulte sie sie an und nahm die Zügel in die Hand, die auf den Boden hingen. Der Knauf des Westernsattels hatte ihr beim zweiten Luftsprung einen heftigen Stoß verpasst. Das würde einen wunderschönen blauen Fleck an einer sehr ungünstigen Stelle geben. Ihre Hände waren leicht aufgeschürfte und sie begann die kleinen Steinchen und den Dreck des Waldbodens vorsichtig heraus puhlen. Andy war abgestiegen und band Apollo an einen Baum.

„Alles okay? Tut mir leid, dass ich gelacht habe, aber das hättest du sehen müssen.“, er kicherte erneut los, allein beim Gedanken daran. Als er zu Amy trat nahm er ihre Hand in seine und entfernte behutsam die restlichen Steine. Seine Berührungen ließen ihre Haut prickeln und für einen Augenblick konnte sie ihr schmerzendes Hinterteil und das Brennen ihrer offenen Hände völlig vergessen Er hob seinen Kopf und sein Kichern verstummte direkt, als ihre Blicke sich trafen. Sie machte einen Schmollmund und funkelte ihn böse an, nur um klarzustellen, dass sie wenig von seiner Schadenfreude hielt.

„Ich will gar nicht wissen, wie das ausgesehen hat. Elegant auf jeden Fall nicht.“, bemerkte sie noch immer beleidigt.

„Das Wichtigste ist, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist und du wieder aufsitzen kannst.“, sagte er sachlich und bemühte sich um eine ernste Miene- offensichtlich fiel ihm das ziemlich schwer.

Sie boxte ihm an den Oberarm und ihre Miene hellte sich etwas auf. „Es geht schon und ich hätte wahrscheinlich auch gelacht, wenn dich diese kleine Diva abgeschmissen hätte.“, kicherte sie und Andy begann wieder zu lächeln. Ihre Hand war einigermaßen gesäubert und Andy ließ sie wieder los. Sofort vermisste ihre Hand seine zarte Berührung und sie musste sich zurückhalten, um ihrem Gefühl nicht nachzugeben, seine Hand wieder ihn ihre zu nehmen. Sie sollte aufhören ihm irgendwelche Anlässe zu liefern, ihr näher zu kommen, denn sie wusste, sie würde die Farm bald für lange Zeit verlassen.

Andy hatte ihr beim Aufsitzen geholfen. Sie ließ es zwar nur widerwillig zu, aber mit ihrem Muskelkater und den neuen Blessuren des Sturzes, kam sie nicht mehr alleine aufs Pferd und laufen wollte sie nun wirklich nicht. Als sie wieder im Sattel saß, erlaubten ihr die Schmerzen fast nicht mehr normal im Sattel zu sitzen oder  Splash mit ihrem Körper zu lenken, wie sie es gewöhnt war. So verkürzten sie den geplanten Ausritt und kehrten früher als beabsichtigt auf die Farm zurück.

 

Am frühen Nachmittag humpelte sie dann über den Hof hinüber zu Haupthaus. Sie wollte ihre Familie im Arbeitszimmer versammeln, denn sie hatte etwas Wichtiges mit ihnen zu besprechen- ihre Zukunft.

„Also, Amy. Was gibt es denn so Wichtiges?“, fragte ihr Vater, als sie alle im Arbeitszimmer versammelt waren. Chris und ihr Dad waren bereits hier gewesen und ihre Mum kam gerade aus der Küche. Sie schloss die schwere Eichentür hinter sich und stelle das Tablett mit den Gläsern und der selbstgemachte Limonade auf den Tisch.

„Setz euch erst Mal. Ich möchte euch gerne von dem Telefonat mit Tom erzählen.“, sie setzte sich auf einen der beiden grünen gepolsterten Sessel vor dem Schreibtisch. Ihre Mum nahm neben ihr Platz und Chris ließ sich halb stehend, halb sitzen an der Kante des Schreibtisches nieder. Sie wartete, bis sich auch ihr Vater in seinem Schreibtischstuhl niedergelassen hatte und atmete hörbar aus, bevor sie mit ihrer zuvor zu Recht gelegten Rede begann.

„Wie ihr wisst, habe ich genauere Nachforschungen über das Projekt in Afrika angestellt. Ich habe nun alle Informationen zusammen und möchte euch die Einzelheiten kurz erklären, denn ich denke, es könnte sehr interessant sein.“, sie machte eine Pause und blickte in die Gesichter ihrer Familie. Sie wirkten alle sehr gespannt, doch bei ihrer Mutter konnte sie auch Sorgenfalten auf ihrer Stirn sehen. Offensichtlich ahnte sie etwas, wie sie es schon immer getan hatte. Amy konnte noch nie etwas lange vor ihre geheim halten.

Sie stand auf und nahm die Karaffe. Als sie begann die Gläser mit der selbstgemachten Zitronenlimonade zu füllen, fuhr sie fort:

„Tom ist der Projektleiter der englischen Firma Clean Sea. Er ist seit einem Jahr in Afrika auf dieser Farm und arbeitet dort zusammen mit Maren, der Farmleiterin des Wildcare Reservats, an einer Wasseraufbereitungsanlage. Es wurden von einer deutschen Firma verschiedene Bohrungen durchgeführt, bis in 85 Meter Tiefe Grundwasser gefunden wurde. Das Grundwasser wird nun mit speziellen Pumpen nach oben gefördert. Die Besonderheit liegt in der Art der Förderung und Reinigung des Wassers.“, sie reichte jedem ein Glas und nahm wieder Platz. „Tom hat für seine Firma ein Verfahren entwickelt, bei dem bereits bei der Beförderung die Aufbereitung durchgeführt wird. Einfach erklärt, bedient man sich der natürlichen Filter der Gesteinsschichten, das heißt das Wasser kommt fertig aufbereitet oben an und kann sogar als Trinkwasser benutzt werden. Diese Art der Förderung ist nur möglich, wenn die unterschiedlichen Gesteinsschichten, die zur Filtration benötigt werden, vorhanden sind. Hierzu werden Probebohrungen durchgeführt. Tom hat sich bereits mit den veröffentlichten Arbeiten einiger kanadischen Geologen befasst und würde gerne sein nächstes Projekt hier beginnen. Auch die deutsche Bohrfirma hat bereits Interesse bekundet. Da es sich um ein Forschungsprojekt handelt, würden die gesamten Kosten von der Firma in London getragen werden, für die Tom arbeitet. Er sucht nur noch nach jemandem, der sein Land hierfür unentgeltlich zur Verfügung stellt.“ Amy endete mit ihrem Vortrag und blickte von einem zum andern. In ihren Gesichtern konnte sie nicht viel lesen, denn jeder schien seine Gedanken zu sortieren.

Ihr Bruder ergriff als erster das Wort: „Okay, und wo ist der Haken?“

Amy seufzte: „Es gibt einiges an Papierkram und Tom empfiehlt, dass man einen Rechtsanwalt beauftragen sollte, der sich darum kümmert. Hier würden also Kosten auf den Farmer zukommen. Die Arbeiten werden in der Nähe der Farm durchgeführt, da man das Trinkwasser, wenn möglich ja nicht meilenweit entfernt fördern will, um sich später die Kosten für eine Pipeline zu sparen. Das heißt es kommt sicherlich zu Beeinträchtigungen des täglichen Lebens. Das Team um Tom umfasst ungefähr dreißig Leute, die auf dem Gelände leben werden, und selbstverständlich auch einen entsprechenden Maschinenpark mit Equipment. Die Probebohrungen werden vorab von einem kleinen Team erledigt. Das ist in ein paar Stunden passiert, aber sollte der Boden geeignet sein, werdet ihr hier für circa drei Monate ziemlichen Trubel haben. Tom sagt, dass er sich vorstellen könnte, dass bereits in zwei Wochen das erste Grundwasser gefördert werden könnte.“, sie nippte an ihrem Glas und stellte es auf den Schreibtisch.

„Was meinst du mit IHR?“, forschte ihre Mutter nach. Sie war misstrauisch geworden und betonte das Wort deutlich. Genau das hatte Amy befürchtet, doch so war es nicht geplant gewesen. Sie hatte zuerst alles, was das Projekt betrifft, besprechen wollen, bevor sie das nächste Thema anschneiden würde. Nun verwarf sie diesen Plan und räusperte sich.

„Ich werde in dieser Zeit nicht hier sein.“, begann sie.

„Du geht’s zurück nach Toronto?“, fragte ihr Vater und wirkte dabei schockiert. Die Idee gefiel ihm offensichtlich nicht.

„Nein.“, gab Amy entschieden zur Antwort. „ich habe mich endgültig von Michael getrennt. Ich kann ihm nicht mehr vertrauen und daran wird auch die Zeit nichts ändern können. Es gibt keine Zukunft mehr für uns und unter diesen Bedingungen werde ich nicht nach Toronto zurückkehren.“

„Oh Schatz, das tut mir so leid!“, ihre Mum kam zu ihr und schlang ihre Arme um sie. Sie zog sie tröstend an sich und streichelte ihre behutsam über den Kopf. Amy ließ es zu, denn sie wusste, dass die Geste mehr ihrer Mutter half, als ihr selbst.

„Schon okay, Mum.“, flüsterte Amy an ihren Hals. „Mir geht es gut, glaub mir!“ Betty lockerte die Umarmung und nahm ihr Gesicht in ihre Hände, die sich von der vielen Arbeit rau und rissig anfühlten.

„Du weißt, dass du hier bleiben kannst, wenn du das möchtest.“, sie schaute Amy direkt in die Augen und es schien als wollte sie eine Antwort darin lesen.

„Ich weiß, Mum. Und es gefällt mir hier. Du weißt, dass es immer mein Zuhause sein wird. Aber ich werde nicht hier bleiben.“, sie senkte den Blick und versuchte sich zu sammeln. Die liebevolle Geste ihrer Mum und die harten Worte, die sie nun gebrauchte, können gegensätzlich nicht sein. Es wühlte sie innerlich auf und ihr Magen krampfte sich zusammen.

 

War es wirklich richtig? Heute Morgen war sie sich ihrer Sache noch so sicher gewesen und nun ließ diese Herzlichkeit ihrer Mum bereits Zweifel in ihr aufkommen. Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals los zu werden. Sie hatte sich entschieden! Sie hob den Kopf und schaute ihrer Mutter wieder in die Augen, dann suchte sie den Blickkontakt mit ihrem Dad.

„Ich habe einen Job angenommen…. in Afrika.“, brachte sie schließlich stockend hervor.

„Was? Was willst du denn alleine in Afrika? Weißt du, wie weit das weg ist? Da gibt es hunderte von tödlichen Tieren, weißt du das?“, begann ihr Bruder geschockt, ihre Eltern schienen sprachlos. Chris stellte sein Glas so heftig auf dem Tisch ab, dass ein Teil der Limonade heraus geschwappte und sich auf dem dunklen Echtholzschreibtisch verteilte.

„Chris, ich weiß. Meinst du, ich hätte das alles nicht bedacht. Maren hat mir einen Job angeboten, als Tierpflegerin in der Aufzucht-Station ihrer Farm für ein Jahr und ich habe zugesagt. Ich möchte einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Ein Job in einem Büro war noch nie mein Traum, aber es fühlte sich nach dem College richtig an. Man braucht eine gute Ausbildung und mir hat mein Job wirklich Spaß gemacht. Doch meine Wurzeln liegen hier, in der Farmarbeit…“, Chris unterbrach sie aufgeregt,

„Ja, genau! Deine Wurzeln sind HIER in Hay Lakes. Du kannst doch auch hier auf unserer Farm arbeiten und dann wäre es auch noch dein Zuhause, ohne wilde Tier und keine tausende Kilometer entfernt!“, argumentierte er lautstark und lief dabei nervös im Zimmer auf und ab.

„Chris hat Recht, warum willst du denn soweit fort? Warum muss es ausgerechnet ein anderer Kontinent sein?“, pflichtete Betty ihm bei, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte.

„Betty, Chris, hört auf. Ich glaube Amy hat eine Entscheidung getroffen. Sie ist erwachsen und vielleicht sollten wir alle diese Entscheidung akzeptieren und sie dabei unterstützen.“, ihr Vater war ruhig und seine Stimme spiegelte seine Gelassenheit wieder. Nur tief in seinen Augen konnte man den Schmerz sehen, den diese Entscheidung verursachte.

„Danke Dad!“, mischte sich nun auch Amy wieder in das Gespräch ein, denn sie hatte noch mehr zu erzählen, und nickte ihrem Dad zu. „Ich werde am Freitag direkt nach Afrika fliegen. Lisa schickt mir noch die wichtigsten Sachen aus Toronto und meinen Arbeitsvertrag bekomme ich per Mail. Nächste Woche Montag wird mein erster Arbeitstag sein.“, sie machte eine Pause.

„Ich weiß, dass es nicht einfach ist und alles sehr schnell geht. Aber, ob ich nun in Afrika oder Toronto bin, ändert nichts daran, dass ich zu Besuch kommen werde. Ich bin nicht aus der Welt, nur auf einem anderen Kontinent. Wir werden telefonieren und glaubt mir, dass ist das was ich wirklich machen möchte. Ich werde mir damit einen Traum erfüllen und ich hoffe, dass ihr mich dabei unterstützt.“, hoffnungsvoll blickte sie in die Gesichter ihrer Familie.

Ihr Bruder blieb schließlich vor ihr stehen und nickt ihr zu.

„Okay, Amy, mir gefällt die Idee zwar nicht und ich hätte dich lieber hier in der Nähe gewusst, aber ich kann dich auch verstehen. Manchmal muss man einfach etwas wagen, um sein Glück zu finden. Und du weißt, was auch immer passiert, du kannst jederzeit nach Hause kommen!“, Amy war aufgestanden und Chris nahm sie in den Arm.

„Danke!“, murmelte sie an seine Brust. Auf Zehenspitzen stehend gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. Als er seine Umarmung löste, trat ihre Mutter neben sie.

„Schatz, ich stehe hinter dir.“, sagte sie knapp. Sie kämpfte mit den Tränen und Amy schloss auch sie in ihre Arme. Es bedeutete ihr unheimlich viel, dass ihre Mutter das gesagt hatte, wusste sie doch wie schwer es ihr fallen musste. Schon als sie damals direkt nach dem College überstürzt nach Toronto gegangen war, hatte ihre Mutter damit am meisten zu kämpfen. Doch sie hielt sie nicht auf und auch heute würde sie das nicht tun.

„Danke Mum, ich verspreche dir, ich bin vorsichtig und ich werde jede Woche anrufen.“ Amy löste die Umarmung, denn nun kam auch ihr Dad um den Schreibtisch herum und gesellte sich zu der Runde.

Sie standen nun alle eng bei einander und Amy wusste, so fühlte sich Familie an. Sie schöpfte Zuversicht und Vertrauen aus dieser Geborgenheit, die sie einhüllte. Ihr Dad legte die Arme um sie und zog sie an seine Brust. Keiner sagte etwas. Es bedurfte keiner Worte, denn ihr Vater und sie wussten, was sie dachten und das genügte. Sie standen einfach nur da und hielten sich in den Armen, während ihre Mum sich die Tränen abwischte. Chris nahm ihre Hand und drückte sie leicht, was Bettys Miene etwas aufhellte, wusste sie doch, dass ihr Sohn immer hier in ihrer Nähe bleiben würde.

Amy löste sich aus der Umarmung ihres Vaters und lächelte in die Runde.

„Genug trübsinne Gesichter für heute. Lasst uns feiern, dass mein neues Leben bereits in einer Woche beginnt.“, rief sie aus.

„Was haltet ihr von einem Glas Sekt zur Feier des Tages?“, ihr Dad zwinkerte ihr zu und versuchte damit die Stimmung etwas aufzulockern.

Super Idee, Dad. Chris würdest du Sally kurz anrufen, ich hätte sie gerne auch dabei.“, fragte sie Chris und dieser kramte nach seinen Handy um Sallys Nummer zu wählen.

Auch ihr Mum hatte ihr Lächeln wieder gefunden und schien sich bereits mit dem Gedanken anzufreunden, als Amy wenig später den Korken der Sektflasche knallen ließ. Sie füllte die Gläser und schenkte Sally einen Orangensaft ein. 

„Lasst uns anstoßen! Auf uns und die Zukunft!“, Amy hob ihr Glas und alle prosteten ihr zu. Mit einem Lächeln auf den Lippen trank sie einen Schluck und genoss es, wie die sprudelnde, kalte Flüssigkeit ihren Rachen hinab rann.

Kaiptel 8

Die langsam untergehende Sonne tauchte die Umgebung in ein diffuses Licht. Sie spiegelte sich leicht rötlich in der Wasseroberfläche, auf der zwei Blätter langsam umhertrieben und in der leichten Abendbrise eine Art Tanz vollführten. Die Bäume wiegten sich gemächlich im Takt, zu dem auch die Vögel leise zu singen schienen. Hier am Wasser war die Hitze des Tages erträglich und bald würde die untergehende Sonne diesen heißen Tag in einen warmen Sommerabend verwandeln. Schon seit ihrer Kindheit liebte sie das Wasser. Der Unfall hatte daran nichts geändert. Gerne verbrachte sie so viel Zeit als möglich am Wasser, und so war sie auch mit Michael öfters ans Meer gefahren oder sie hatten Ausflüge entlang des Ontario Sees gemacht. Nur eine Sache hatte sich geändert- nie wieder in ihrem Leben würde sie baden gehen.

Sie bückte sich und hob einen kleinen flachen Kieselstein vom Ufer auf, der an der Unterseite vom Uferschlamm leicht feucht und sandig war. Barfuß stand sie am Rand des kleinen Sees, weit genug vom Wasser entfernt, um keine Gänsehaut zu bekommen. Unter ihren Zehen spürte sie die runden Steine und den feinen Staub, der bei jeder Bewegung zwischen ihre Zehen kroch. Der Stein in ihrer Hand war fast schneeweiß und hatte die Form eines Halbmonds. Sie ließ ihn in ihren Finger umherwandern, als sie von Weitem ein Auto hörte, dass die Ruhe dieser friedlichen Natur mit seinen Geräuschen wie ein Messer durchschnitt. Es kam näher und hielt schließlich ein paar Meter vom Ufer entfernt. Die Motorengeräusche stoppten und die friedliche Stille legte sich wieder über das Wasser. Sie hörte die Schritte, die langsam und fast unsicher näher kamen, doch sie drehte sich nicht um und blickte nur stumm auf das Wasser vor ihr.

Sie hatte jegliches Zeitgefühl vergessen, doch die Zeit, die sie hier alleine gestanden hatte, kam ihr zu kurz vor. Flüchtig kam ihr der Gedanke, ihn wegzuschicken, doch sie verwarf ihn. Das wäre nicht fair, das wusste sie. Er hatte ein Recht darauf hier zu sein- genau wie sie.

Er stand nun stumm neben ihr und blickte auf das gleiche Schauspiel, das auch sie betrachtete. Sie wusste, er würde es mit denselben Augen sehen, denn sie kannte ihren Zwillingsbruder. Auch ihm würden die beiden Blätter auffallen, die noch immer wie ein Liebenspaar über die schimmernde Wasseroberfläche schaukelten; auch er würde die leichte Brise bemerken und den Rhythmus, den die Natur dazu spielte, wahrnehmen. Niemals würde er diese Stille zerstören, denn er wusste, wie sehr sie es genoss. Lange Zeit standen sie einfach nur dort am Ufer und genossen die Geborgenheit und den Frieden, der hier herrschte.

 

„Sie fehlt mir.“, Amy senkte den Blick und betrachtete den Stein in ihrer Hand. Er war vollkommen und ebenmäßig. Fast zu perfekt.

Er nickte kaum merklich und nahm ihre freie Hand in seine. Beruhigend streichelte sein Daumen über ihren Handrücken, als sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel stahl und ihre gerötete Wange hinab lief. Sie malte sich das Bild ihrer liebsten Erinnerung aus. Weihnachten 1992- sie waren eingeschneit gewesen und es war ein weiterer Schneesturm für Neujahr angekündigt. Es war ihre letztes Weihnachten zu fünft und Amy erinnerte sich gerne daran, denn in dieser Erinnerung konnte sie ihr Lachen hören, ihre Freude spüren. Sie sah die vor Freude geröteten Wangen der kleinen Sue, als Dad ihr neues Fahrrad ins Wohnzimmer schob, an dem eine riesige bunte Schleife befestigt war. Mit diesem Bild vor ihrem inneren Auge, warf sie den Stein ins Wasser. Die eben noch ruhige Wasseroberfläche schlug hunderte kleine Wellen, die sich in immer größer werdenden Kreisen über den See ausbreiteten. Die beiden Blätter wurden davon erfasst und begannen wild zu schaukeln.

„Ich dachte, es würde einfacher werden. Doch ich fühle noch immer denselben tiefen Schmerz wie damals.“, sie drehte ihren Kopf und beobachtete ihn von der Seite. Er blickte stumm aufs Wasser und betrachtete das Schauspiel der immer kleiner werdenden Wellen, die sich schließlich in großen Kreisen verloren. Sein Gesichtsausdruck war leer und sie konnte nichts darin lesen.

Es schienen viele Minuten vergangen zu sein, als er etwas erwiderte. „Manchmal komme ich hier her. Alleine… es hilft mir, auch wenn es schmerzt. Aber es wird leichter- mit der Zeit…“ Seine Stimme war brüchig und in seinen Augen konnte sie den unendlichen Schmerz sehen. Er hatte ihre Hand nicht losgelassen und sein Daumen streichelte noch immer ihren Handrücken.  Sie legte ihre freie Hand in seinen Nacken und zog ihn in ihre Umarmung. Er senkte seinen Kopf auf ihre Schulter und durch ihr T-Shirt spürte sie die Tränen- die stummen Zeugen seiner Trauer. Er rührte sich nicht, gab auch keinen Laut von sich und so standen sie noch eine ganze Weile regungslos am Ufer des Sees, in dem vor genau zehn Jahren ihre große Schwester Sue ertrunken war. Bis heute machte sie sich Vorwürfe, denn sie fühlte sich für das, was hier geschehen war, verantwortlich. Die Schuldgefühle plagten sie beide, dass wusste Amy.

 

Apollos Schnaupen war das Erste, das Amy wieder von der Welt um sich herum wahrnahm. Sie hatte ihn gänzlich vergessen, hatte alles um sich herum ausgeblendet. Ganz langsam kehrte sie zurück in die Gegenwart. Sie nahm die Wärme und das Licht der noch immer untergehenden Sonne war und hörte Apollos Hufe über den staubigen Waldboden scharren, als ihr Blick sich klärte. Ihre Füße fühlten sich taub an, als würden sie nicht zu ihrem Körper gehören, denn die kleinen runden Steine hatten sich ungleichmäßig in ihre Fußsohlen gepresst. Sie bewegte ihre Zehen und schleichend hielt das Leben wieder Einzug in ihrem Körper; auch ihr Verstand begann wieder zu arbeiten. Chris hob seinen Kopf von ihrer Schulter und blickte ihr in die Augen. Auch er schien wieder in der Realität anzukommen, doch sein Blick war noch trüb von den vielen vergossenen Tränen und seine Wagen glänzten rötlich.

„Lass uns nach Hause gehen.“, sagte er und sie nickte. Noch immer hielt er ihre Hand und sie fühlte den Schweiß, der sich zwischen ihren Händen gebildet hatte. Sie folgte ihm und erst als er sich am Sattel von Apollo zu schaffen machte, löste er den Griff um ihre Hand. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, während Chris Apollo den Sattel abnahm. Er verstaute ihn auf der Ladefläche seines Pick-Ups. Sie sprachen kein Wort, denn Worte schienen ihnen überflüssig zu sein. Chris schwang sich auf Apollos Rücken und zog Amy hinter sich hoch. Mit ihren Armen umschlag sie seinen Bauch und lehnte ihren Körper an seinen. An ihrer Wange spürte sie den weichen Stoff des karierten Hemds, während Chris Apollo in einen gemächlichen Schritt versetzte.

Die sanften Bewegungen des Pferdekörpers wirkten beruhigend. Nach einer Weile fiel Apollo in einen flotten Galopp. Ihren Kopf weiterhin an Chris Rücken gebettet, blickte sie auf die Felder, Sträucher und Wiesen, die an ihr vorbeizogen. Die Gräser wiegten sich braun und verdorrt in der endlosen Ebene, die nur von ein paar niedrigen Sträuchern durchzogen wurde. Trotz der Hitze des Tages ließ der leichte Wind, der ihre Locken zerzauste, sie frösteln. Sie schmiegte sich noch enger an ihren Bruder und schloss die Augen, während ihre Gedanken um den sich zu Ende neigenden Tag kreisten.

 

Es war noch dämmrig gewesen, als sie an diesem Morgen bereits wach in ihrem Bett gelegen hatte. Ihre Augen wollten sich einfach nicht mehr schließen lassen und so hatte sie an ihre Zimmerdecke gestarrt und fuhr in Gedanken die Maserung der weißen Holzpanelen nach. Erst als die Sonne vollständig aufgegangen war, hatte sie sich aus dem Bett gewälzt. Geistesabwesend hatte sie sich angezogen und hatte sich ohne ein Frühstück direkt an die Arbeit gemacht, denn ihr Magen rebellierte zu sehr, als dass sie an Essen denken konnte. Das Telefonat mit Kevin war der schwerste Teil. Sie mochte Kevin als Chef und sie hatten immer gut zusammen gearbeitet, doch über die normale Geschäftsbeziehung hinaus, ging ihre Verbundenheit nie. Umso schwerer viel es ihr, ihm nun die Situation zu erklären, ohne ihr Privatleben vor ihm auszubreiten. So hatte sie sich durch das Gespräch geschlängelt, immer darauf bedacht keine Details zu erwähnen. Bis zum Schluss, war es ihr wichtig, dass Kevin ihre Entscheidung nachvollziehen konnte. Sie hatte sich bemüht, doch am Ende blieb das dumpfe Gefühl, dass er ihre Entscheidung für falsch hielt und sie nicht verstand, da er nicht die ganze Geschichte kannte. Aus irgendeinem Grund störte sie das, auch wenn sie wusste, dass es ihr eigentlich egal sein sollte.

Ihr Leben in Toronto war vorerst vorbei. Sie ging in eine neue ungewisse Zukunft und trotz des Schmerzes, den sie noch immer in ihrer Brust spürte, wenn sie an Michael dachte, versuchte sie das Geschehene positiv zu sehen. Die ganze Situation wirkte für sie wie ein Wachrüttler. Es gab Pflichten im Leben zu erfüllen- natürlich, die gab es immer. Und doch gab es tausend Wege sein Geld zum Leben zu verdienen. Warum sollte sie nun nicht damit beginnen, dies endlich auf ihre Weise zu tun?

 

Die rhythmischen Bewegungen des Pferdekörpers unter ihr wurden langsamer und als sie blinzelnd ihre Augen wieder öffnete, hob sich vor ihr der Stall als dunkles, schwarzes Gebilde gegen den roten Abendhimmel ab. Davor erkannte sie zwei Silhouetten, die ihr vertraut waren.

„Komm, ich helfe dir herunter.“, bot ihr Dad ihr an, als Chris direkt vor ihnen hielt. Er streckte ihr seine breiten Arme entgegen ohne Fragen zu stellen.

Ihre Mum strich ihr sanft über das zerzauste Haar, als ihre Füße wieder den festen Boden erreicht hatten. Amy konnte die Sorgenfalten auf ihrer Stirn sehen und sofort schaltete sich ihr schlechtes Gewissen ein. Sie machte ihren Eltern seit Tagen nur Kummer. Das musste nun aufhören. Es war schlimm genug, dass der baldige Abschied auf der gesamten Familie lastete. Sie straffte ihren Rücken und bemühte sich, ihre Mum anzulächeln.

„Mir geht es gut, Mum. Ehrlich!“

„Schon okay, Amy. Lass uns ins Haus gehen. Felicia macht uns einen Tee.“, erwiderte sie sanft und führte Amy zum Haus. Chris folgte ihnen, während Dad sich um seinen vom Ausritt verschwitzten Hengst kümmerte.

Im Haus empfing sie Felicia mit einer dampfenden Kanne Tee. Amy zog ihre Beine an ihren Körper, nachdem sie sich in einem der gepolsterten Sessel im Wohnzimmer niedergelassen hatte. Der Geruch des Tees und der warme Dampf, der ihr ins Gesicht stieg, ließen sie sofort ruhiger atmen. Ihr Körper entspannte sich und ihre Gedanken wurden wieder klarer. Die letzten Stunden hatte sie hinter einem grauen Schleier der Erinnerung und Schuld verbracht. Doch nun hob sich dieser Schleier allmählich und sie fand zurück in die Gegenwart.

„Was habt ihr denn da draußen gemacht?“, in der Stimme ihrer Mutter konnte sie Besorgnis hören, aber auch einen Hauch von Vorwurf. Sie hatten ihr beiden nicht gesagt, wo sie hingegangen waren. Ihr Bruder kam ihr mit seiner Entschuldigung zuvor.

„Es tut uns Leid, Mum. Wir hätten dir Bescheid sagen sollen. Wir waren am See.“

Betty nickte verständnisvoll, wusste sie doch, was für ein Tag heute war. Sie konnte erahnen, wie wichtig es für sie beide war.

„Habt ihr Hunger? Ihr habt das Abendessen verpasst. Felicia kann euch noch Sandwiches machen.“, ihre Stimme war Zeuge davon, dass sie wieder zur Normalität zurück gefunden hatte. Seit Sues Tod wurde innerhalb der Familie nicht viel über den Unfall gesprochen. Als Amy noch kleiner war, vermutete sie, dass ihre Eltern ihnen die Schuld gaben, und das Thema deshalb mieden. Erst später begann sie zu begreifen, dass sie beide nie über den Verlust hinweg gekommen waren. Dad war kein Mann der großen Gefühle und so erstickte er seine Trauer in Arbeit und bette alles unter den Mantel des Schweigens. Es war seine Art damit klar zu kommen. Ihre Mum wusste das und respektierte seine Entscheidung- so war das Thema bis heute ein Tabu im Hause Morgan. Amy hatte oft das Gefühl gehabt, dass ihre Mum ihre Trauer nie richtig verarbeitet hatte, doch seit heute wusste sie, dass sie selbst das auch nie getan hatte.

„Ich habe keinen Hunger, danke!“, antworte Chris und sah Amy fragend an. Sie schüttelte nur den Kopf und starrte weiter an die gegenüberliegende Wand. Die Bilder auf dem Kaminsims zeigten Hochzeiten, Geburtstage und besondere Momente der Familie Morgan, doch es war kein einziges von Sue dabei. Ob Chris noch ein Bild von ihr hatte? So wie sie immer eines bei sich trug, das bereits abgewetzt war, von den hunderten Male, die sie es auf- und wieder zusammen gefaltet hatte. Es zeigte Sue auf ihrem ersten eigenen Pony- eine schwarze Stute namens Angel- und langsam verblassten die Farben des Bildes, wie auch ihre Erinnerungen verblassten.

„Amy, geht es dir gut?“

„Ja Mum, ich bin nur etwas müde. Der Tag war anstrengend. Ich geh schlafen.“ Amy erhob sich und gab ihrer Mum, die auf dem brauen Sofa saß, einen Kuss auf die Stirn. Chris trat zu ihr und nahm sie in den Arm. Er drückte sie mit seinen starken Armen an sich und sie genoss die Zuversicht, die diese Geste ausstrahlte. Chris würde immer für sie da sein; sie würde immer mit ihm reden oder schweigen können- das wusste sie.

„Danke!“, hauchte sie kaum hörbar an seine Brust.

 

Ihre Lunge schmerzte und ein immer größer werdender Druck umgab ihren ganzen Körper. Ihr Kopf raste und tausende Gedanken und Erinnerungen flogen an ihr vorbei. Ihre alte Schule, der Garten hinter Sallys Haus, das Gesicht von Michael, Sues Lachen, der Geruch  nach Zimtsternen, das Zerbersten von Glas. Der Schmerz in ihrer Luge wurde unerträglich und der Druck auf ihren Oberkörper fühlte sich wie ein zu eng geschnürtes Korsett an, das jemand in jede Sekunde noch enger zog. Sie wollte nach Luft schnappen, aber ihre Mund ließ keine Bewegung zu. Die Bilder verschwanden und machten einem schimmernden Hellblau Platz, dass kein Ende und keinen Anfang zu haben schien. Alles um sie herum war darin eingehüllt und sie konnte nur schemenhafte Umrisse von grauen Gestaltet darin wahrnehmen. Sie bewegten sich geschmeidig wie Elfen. Als sie näher kamen, erkannte sie, dass sie keine Gesichter hatten und sie erschrak. Innerlich bäumte sie sich auf und kämpfte gegen die Machtlosigkeit, die sich in ihr ausbreitet, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Weder ihre Arme und Beine noch ihre Lunge schienen ihr zu gehorchen. Pure Panik kroch in ihr hoch, als sie die Ausweglosigkeit erkannte. Sie würde ersticken. Sie würde sterben, wenn sie nicht sofort begann zu atmen. Sah so der Tod aus? War das das Ende? Sie begann zu fallen, ohne Halt, ins schier Endlose und das Blau wich allmählich einen nichts durchdringenden Schwarz. Sie ließ es zu, entspannte sich und bemerkte, wie sich der Schmerz von ihrem Körper löste. Wie ein aus einem Kokon befreiter Schmetterling streifen sie ihn ab und spürte plötzlich gar nichts mehr. Sie gab ihren Kampf auf und entließ ihre Körper in diese schmerzfreie Stille. Alles um sie herum war pechschwarz und sie hörte nur ein dumpfes Rauschen in ihren Ohren, das weit weg zu sein schien und langsam näher kam. Aus dem immer lauter werdenden Rauschen erkannte sie bald einzelne Worte von einer ihr fremden Stimme gesprochen. Doch die Worte machten keinen Sinn und sie wollte auch nicht darüber nachdenken, sie wollte nicht, dass sie zu ihr kamen. Sie wollte allein sein, hier in ihrer schmerzfreien Zone. „Geht weg! Lasst mich in Ruhe!“, wollte sie schreien, doch ihrem Mund entwich kein Laut. Augenblicklich spürte sie einen Druck an ihrer Schulter, dann an ihrem Arm. „Nein! Lasst mich!“, versuchte sie zu schreien- vergebens. Im Dunkel das sie umgab tauchten Bilder auf. Nein, es waren Gesichter. Sie tanzen vor ihren Augen, so schnell, sie konnte keine Details erkennen. „Amy! Amy!“, hörte sie von weither ihren Namen und plötzlich beendeten die Gesichter ihren Tanz. Vor sich sah sie das Gesicht eines Jungen. Er hatte blondes Haar und war braun gebrannt. Das Gesicht veränderte sich und nach und nach erkannte sie, dass es ihr Bruder war. „Chris!“, stammelte sie und ihre eigene Stimme schallte laut in ihren Ohren wieder. Ihre Lungen schienen zu bersten, als sie sich mit Luft füllten und sie begann trotz des schier unerträglichen Schmerzes, ruckartig nach Luft zu schnappen. Sie konnte nicht genug davon bekommen und ignorierte das Stechen in ihrer Brust vehement.

„Amy, wach auf! Bitte!“, wieder war es die Stimme ihre Bruders und diesmal holte sie sie endgültig in die Wirklichkeit zurück. Sie schrak hoch und fand sich aufrecht sitzend und schweißgebadet in ihrem Bett wieder. Chris saß an der Bettkante. Sein Gesicht war kreidebleich und schmerzverzerrt. Er hatte seine Hände noch immer an ihren Schultern. Verstört blickte sie durch den Raum. Alles war dunkel, sie konnte nur die Umrisse ihrer Möbelstücke erkennen. Chris zog sie zu sich und schloss sie in seine Arme.

„Alles gut, Amy! Du hast nur geträumt.“, redete er beruhigend auf sie ein. „Jag mir nie wieder einen solchen Schrecken ein, hörst du!“, er drückte sie etwas weg von sich, um in ihre Augen blicken zu können und sie sah den Vorwurf in seinen, trotz der Dunkelheit, die sie beide umgab. Sie nickte stumm, denn ihr Hals war völlig ausgetrocknet und tausend kleine Nadeln schienen darin zu stecken.

„Geht es wieder?“, besorgt blickte er sie an und wieder gab sie ihm ein Kopfnicken zur Antwort. „Ich hol dir ein Glas Wasser, warte kurz.“, mit diesem Satz verließ er das Zimmer und kam wenige Sekunden später aus dem Badezimmer zurück. Er reichte es ihr und sein Blick war voll von Mitleid. So viele Emotionen hatte sie noch nie in so kurzer Zeit in Chris Gesicht gesehen. Dankbar nahm sie das Glas entgegen und trank gierig einen großen Schluck. Sofort bereute sie es, denn ihr Rachen wehrte sich gegen die plötzliche Kälte und sie begann zu husten.

„Langsam. Nicht so hastig.“, mahnte sie ihr Bruder. Er schaltete ihre Nachtischlampe an, die durch den gelben Lampenschirm den Raum in ein weiches Licht hüllte. Unter seinen beobachtenden Augen begann sie langsam kleine Schlucke zu trinken, als ihr Hustenanfall abgeebbt war.

„Was ist passiert?“, fragte sie ihn, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. Sie reichte ihm das leere Glas und ließ sich erschöpft in ihr Kissen sinken. Noch immer standen ihr Schweißperlen auf der Stirn und ihre Körper fühlten sich an, als hätte sie gerade einen Marathon bestritten.

„Ich wollte gerade nach Hause gehen, da hörte ich Lärm in deinem Zimmer. Du musst im Traum wohl deine Teetasse von deinem Nachtisch gestoßen haben.“, er blickte auf den Scherbenhaufen aus weißem Porzellan zu seinen Füßen. „Du reagiertest nicht auf mein Klopfen und als ich dann ins Zimmer kam, lagst du mit weit aufgerissenen Augen ganz still im Bett. Du hast mir nicht geantwortet und als ich näher trat, bemerkte ich, dass du nicht geatmet hast. Du hast mir echt einen Schrecken eingejagt. Ich schüttelte dich und rief deinen Namen, da ich dachte, du wärst ….“, seine Stimme brach ab und er senkte den Blick. „Dann begannen deine Augenlieder zu flackern und ich vermutete, du bist in einer Art Schock Starre.“

Was war nur los mit ihr? Nahm sie das alles wirklich so sehr mit? Sie dachte immer, sie sei taff und würde mit allem fertig werden, doch scheinbar war ihr Gemütszustand schlechter, als sie sich eingestehen wollte. Sie kannte den Traum, denn in ihrer Kindheit war er ein ständiger Begleiter und doch hatte sie ihn noch nie so intensiv geträumt und körperlich miterlebt.

„Das muss unter uns bleiben, ja? Ich möchte Mum und Dad nicht noch mehr Sorgen bereiten.“. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sie noch mehr Kummer in den Augen ihrer Mum sehen musste. Doch sie wusste, sie konnte sich auf ihren Bruder verlassen. Schon als Kinder hatten sie zwar oft Streitereien, die es unter Geschwistern eben gab, aber sie petzten nie- das war eine Art Ehrenkodex zwischen ihnen. Nun war die Situation ähnlich und natürlich nickte ihr Bruder und versicherte ihr, dass sie nichts davon erfahren würden.

Sie begann ihm von ihrem Traum zu erzählen. Wie sie keine Luft mehr bekam und wie wild darum kämpfte wieder atmen zu können- dabei musste die Tasse zu Bruch gegangen sein. Sie sparte auch den Teil nicht aus, in dem sie sich entschieden hatte, nicht weiter zu kämpfen und sich dem Schicksal ergeben hatte. Genau in diesem Moment musste Chris aufgetaucht sein.

„Amy, ich mache mir wirklich Sorgen. Ein Albtraum, indem du offensichtlich fast ertrunken wärst, ist eine Sache, aber sich bewusst zu entscheiden, nicht mehr leben zu wollen, eine völlig andere. Ich möchte gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn ich nicht dazu gekommen wäre…“, er hob seine Hand und strich ihr sanft über die Wage.

„Ich weiß Chris. Aber es ist ja nichts passiert. Und mir geht es schon wieder besser. Ich denke, der heutige Tag war etwas viel. Ich habe heute innerhalb von ein paar Stunden mein altes Leben am Telefon abgewickelt, als wäre ich tatsächlich gestorben. Ich glaube der Tod war heute viel präsenter, als es gut für mich gewesen wäre.“, sie seufzte und nahm seine Hand von ihre Wange, um sie in ihrer Hand zu halten.

„Die Situation mag außergewöhnlich sein, aber ich denke trotzdem, du solltest etwas zur Ruhe kommen. Verstehst du? Vielleicht solltest du mit jemandem darüber reden…jemandem der dir helfen kann.“

Oh nein! Wollte er tatsächlich, dass sie die Afrika-Sache absagte und sich in Behandlung begab? Ja, es war eine merkwürdige und heftige Reaktion, doch in ihren Augen verarbeitete sie nur den Verlust und die Selbstvorwürfe, die sie plagten. Sie verzog missmutig das Gesicht und blickte ihn prüfend an. Im Licht der Nachtischlampe konnte sie die tiefen Ringe unter seinen Augen sehen und als sie aus dem Augenwickel einen Blick auf ihren Wecker warf, erkannte sie, dass es gegen halb drei Uhr nachts war. Er musste noch lange im Büro gearbeitet haben, nur so konnte er das hier alles mitbekommen.

„Chris, hör zu. ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Die würde ich mir an deiner Stelle auch machen. Aber mein Entschluss mit Afrika steht fest und ich denke, dass ich das auch gut ohne fremde Hilfe hinbekomme. Es hilft schon, dass du da bist. Ich werde am Freitag fliegen, denn ich brauche dringend diesen Neuanfang.“, versuchte sie ihn milde zu stimmen und begann nervös auf ihrer Unterlippe zu kauen. Sie konnte sehen, wie unwohl Chris bei dem Gedanken war, dass er sie nicht zum Bleiben überreden konnte. Gestern Nachmittag wirkte er eher verärgert über ihre Entscheidung, Hay Lakes zu verlassen. Doch nun sah man die Furcht- die Zwillingsschwester so weit weg zu wissen, machte ihm offensichtlich große Sorgen und sie wusste, dass er sich hilflos vorkam.

„Schau mal, wo liegt denn der Unterschied. Ich war die letzten Jahre in Toronto und da hättest du innerhalb von einem Tag bei mir sein können. Und doch hast du mich nie besucht- weil es keinen Anlass gab. Nun wirst du vielleicht zwei Tage unterwegs sein, aber das ändert nichts daran, dass ich weiß, dass du immer sofort kommen würdest, wenn mir etwas zustoßen würde oder ich deine Hilfe benötigen würde. So wie es schon immer war.“

Chris nickte, wusste er doch, dass sie rein rational gedacht völlig Recht hatte. In den letzten 6 Jahren gab es nie einem Anlass für einen Besuch. Und wenn es Amy wirklich schlecht ging, dann würde sie heim kommen, dass wusste er. Doch nicht immer kann man als Bruder rational denken, wenn es um die eigene Schwester geht.

Amy rückte ein bisschen zur Seite, um ihm Platz zu machen und er ließ sich bereitwillig neben ihr in die Kissen sinken. Sie wollte nun nicht alleine sein und an schlafen war nicht zu denken, hatte sie doch insgeheim Angst, dass sich alles wiederholen konnte. Gemeinsam lagen sie noch lange so da und starrten an die weiße Holzdecke. Sie redeten über die Zukunft, die Vergangenheit und über ihre Träume. Auch wenn sie in ihren Lebensweise unterschiedlicher nicht sein konnten und jeder von beiden seine ganz eigenen Talente besaß, so waren sie doch aus dem gleichen Holz geschnitzt und verstanden den jeweils anderen nur zu gut.

Erst als die Morgendämmerung begann, erhob sich Chris. Sally machte sich bestimmt bereits Sorgen.

„Ich sehe dich zum Frühstück.“, verabschiedete er sich mit einem Lächeln und öffnete die Zimmertür.

„Chris… Danke! Für Alles!“ Er drehte sich zu ihr um und nickte kaum merklich. Sie erwiderte sein Lächeln, das noch immer seine Lippen umspielte, dann war er weg und sie blieb alleine zurück. Mit beiden Armen umschlag sie ihren Körper. Sie wollte noch nicht aufstehen. Man würde ihr die nahezu schlaflose Nacht ansehen und die tiefen Ränder unter ihren Augen würden Fragen heraufbeschwören, denen sie sich noch eine Weile entziehen wollte. So blieb sie zusammengekauert in ihrem Bett liegen und beobachtete die aufgehende Sonne, die alles in ein warmes rötliches Licht tauchte.

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      „Reichst du mir mal bitte die Trense?“ Geistesabwesend bückte sich Amy, um Andys Bitte nach zu kommen.

„Bist du dir sicher, dass die beiden schon bereit dafür sind?“, sie reichte ihm die Trense und blickte fragend zwischen Nando und Stella hin und her.

„Wir werden es sehen. Lass es uns einfach versuchen, ja?“, aufmunternd lächelte Andy ihr zu. Sie blieb dennoch skeptisch. Erst vor einer Woche, hatte Nando sich das erste Mal von jemand anfassen lassen und heute wollte er mit ihm und Stella das Satteln üben. Er hatte bereits gestern mit Stella stundenlang die Grundübungen gemacht, doch Nando würde heute das erste Mal etwas auf seinem Rücken spüren und Amy beschlich ein ungutes Gefühl.

„Lass das!“, mahnte sie Andy und nur sein sanfter Blick milderten den Vorwurf in seiner Stimme. „Wenn du hier solche negativen Gedanken verbreitest, haben wir nicht wirklich eine Chance. Also wenn du möchtest, dass das heute klappt, dann musst du schon ein bisschen Zuversicht ausstrahlen, ja?“ Sie nickte und blickte etwas schuldbewusst zu Boden.

„Tut mir leid. Ich bin…“, begann sie zaghaft und er schaute sie fragend an, „…ach schon okay! Ich besser mich, versprochen.“ Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Andy ihre etwas betrübte Laune zu erklären. Nein, das war keine gute Idee! mahnte sie sich und beschloss ihre dunklen Gedanken für ein paar Stunden beiseite zu schieben. Mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen, nahm sie Nandos Trense und betrat seine Box. Er schnaubte kurz nervös und begann mit den Ohren zu wackeln. Um ihn zu beruhigen, blieb sie ruhig stehen und wartete geduldig, bis er zu ihr kam. Er schien unschlüssig und es dauerte ein paar Minuten bis er ein paar Schritte auf sie zuging. Ihre Hand fuhr an seinem Hals hinauf, langsam bis zu seinem Kopf und als ihre Finger schließlich zwischen seinen Ohren waren, begann sie ihn sanft zu kraulen. Sein Kopf senkte sich und tatsächlich hatte sie es kurz darauf geschafft, ihm die Trense anzulegen. Seine Zunge wehrte sich gegen den ungewöhnlichen metallenen Geschmack und sie blickte in seine braunen, vor Scheu geweiteten Augen.

„Hm…“, seufzte sie und wandte sich zu Andy um, der direkt hinter ihr an der Boxentür  stand. Irgendwann würde sie es ihm erzählen müssen, warum also nicht hier und jetzt. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend straffte sie ihre Schultern und versuchte ein zuversichtliches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.

„Was hast du ausgefressen?“

„Nichts,… also nicht wirklich. Andy, es ist kompliziert und ich wollte es dir schon früher sagen, aber ich musste doch zuerst meine Familie informieren und dann war gestern wirklich kein guter Tag. Ich hätte es früher erwähnen sollen, aber ich war mir doch selbst noch nicht sicher und jetzt sind es nur noch zwei Tage und das ist doch viel zu kurz…“, begann sie ohne Punkt und Komma all ihre wirren Gedanken in Worte zu fassen, ohne dass sie für ihn einen Sinn ergaben.

„Stopp, langsam Amy. Was genau willst du mir sagen, ich habe nämlich rein gar nichts verstanden.“, unterbrach er ihren nicht enden wollenden Redefluss und legte ihr seine Hand auf den Oberarm ohne seinen Blick von ihren Augen abzuwenden.

„Tut mir leid. Ich wusste nur nicht wie ich es sagen sollte und ich wollte dir die Situation erklären.“, mit einem Dackelblick senkte sie langsamen den Kopf, um seinem prüfenden Blick zu entgehen, der ihr Gesicht nach einer Erklärung abzusuchen schien.

„Was willst du mir denn sagen? Und keine unnötigen Erklärungen- sag es einfach!“, forderte er sie direkt auf und man konnte die Neugierde in seinen Augen sehen.

„Ich werde am Freitag nach Afrika fliegen. Ich habe dort einen Job angenommen und ich hätte es dir gern früher gesagt, dass ich schon wieder abreise, aber …“, sie verstummte, als sie die leichten Zuckungen um seine Mundwinkel und Backen wahrnahm, die mit einem Dreitagebart überzogen waren. Sein Gesicht hatte plötzlich den Glanz verloren und seine Augen wirkten trüb. Er ließ ihren Arm los und räusperte sich kurz, bevor er aus der Box trat und im Weggehen etwas von einem Sattel murmelte. Sie hatte ihn verletzt- und es tat ihr unendlich leid. Doch es waren seine Worte gewesen, die sie ermutigt hatten, einfach die gemeinsame Zeit zu genießen, ohne sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Er hatte sie quasi dazu aufgefordert es so locker wie möglich zu sehen und jetzt wollte er beleidigt oder gar sauer auf sie sein? Zorn stieg in ihr hoch und bildete einen Glos in ihrem Hals, der sie Husten ließ. Sie hatte nichts falsch gemacht, zumindest nicht als einzige. Er war genauso beteiligt und er glaubte ja wohl nicht ernsthaft, dass es ihr leicht fiel zu gehen! In Gedanken redete sie sich in ihrem innerlichen Zwiegespräch immer mehr in Rasche und Nando stampfte nervös mit den Vorderhufen auf dem Einstreu seiner Box auf. „Idiot!“, entfuhr es ihr laut und Nando hob rückartig den Kopf und zog ihre die Zügel der Trense aus der Hand, was ein schmerzhaftes Brennen in ihrer Handfläche verursachte, dass sie ihre Konzentration wieder auf Nando lenken ließ. „Ruhig, Nando. Es ist alles in Ordnung. Tut mir leid, dass ich dich da auch noch mit reinziehe. So wie es aussieht, hast du soeben deinen Trainer verloren.“

 

Andy ging ihr aus dem Weg, wo es nur ging. In den nächsten beiden Tagen kam er weder zum Abendessen, noch ließ er sich bei Stella oder Nando blicken. Ihr Vater hatte ihn auf seine Bitte hin für einige Aufgaben an der Südkoppel eingeteilt und dank dieser Aufgaben konnte er sich ihrer Person entziehen. Ihre Gefühle schwankten ständig zwischen Selbstvorwürfen, zu denen sich auch immer Mitleid mischte und einer ausgeprägten Form von Zorn, die mit Wutausbrüchen einherging. Er hatte sich der Hoffnung hingegeben, sie würde bleiben, zumindest für eine Weile und nun war sie diejenige, die die Freundschaft mit Potenzial schneller beendete, als sie beginnen konnte. Doch sie wollte sich ihr Leben nicht länger von Erwartungen und Vorstellungen anderer anpassen und es war Zeit endlich das zu tun, was sie wirklich wollte: Ein Abenteuer auf einem anderen Kontinent! Sie hatte sich entschieden ohne eine Sekunde an Freunde oder Familie zu denken. Ihre Entscheidung gehörte ganz allein ihr, mit den Konsequenzen, die sie mit sich brachte, musste sie nun leben. Auch wenn das bedeutete, dass sie jemanden vor den Kopf stoßen musste oder sogar riskierte einen Freund zu verlieren- sie wusste, dass es richtig war und das sie es tun musste- JETZT!

Kapitel 9

Die Sonne stand schon tief am Horizont und es war still auf der Farm- fast zu still. Amy konnte sich nicht erinnern, dass sie hier je eine solche unheimliche Stille erlebt hatte, die sich wie ein drückender, schwerer Vorhang über alles zu legen schien. Vor allem in der Erntezeit gab es immer einen Arbeiter, der die Pferde versorgte, Wasser das irgendwo in einen Trog plätscherte oder Erntemaschinen, deren monotone Motorengeräusche zum Farmhaus hinauf geweht wurden, das über all dem stets wie ein Monument thronte, dem nichts etwas anzuhaben schien. Selbst die Vögel schienen sich an dieser Stille zu beteiligen, die bleiern über der gesamten Farm lag, als Amy vor dem Haus stand und den Blick über die gespenstische Szenerie schweifen ließ. Es duftete nach Heu und Pferden, was zumindest einem ihrer Sinne bewies, dass sie sich das geschäftige Farmleben nicht eingebildet hatte, und der Wind spielte leicht mit den Zweigen der alten Buche, die neben dem Stall stand. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein orangenes Licht, was dem Anblick etwas Beruhigendes verlieh und das weiße Holz der Fassade in warmen Tönen schimmern ließ. Ihr weißes Sommerkleid wurde von einem leichten Lufthauch verwirbelt, als sie den Kies der Auffahrt hinter ihr knirschen hörte. Langsam kamen die Schritte näher und zauberten ihr ein Lächeln aufs Gesicht, kannte sie diese Schritte doch bereits zu gut. Sie spürte seine Anwesenheit und ihr gesamter Körper spannte sich in freudiger Erwartung an, eine völlig automatisch ablaufende Reaktion, die sie nicht kontrollieren konnte, doch es störte sie nicht weiter.

„Ich habe gehofft, dass du kommen würdest.“, ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als sie sich zu ihm umdrehte, um ihm in die gräulich schimmernden Augen zu schauen. Sein Hemd und seine verwaschene Jeans waren staubig und mit den klobigen Stiefeln wirbelte er mit jedem Schritt den Staub zwischen den Kieselsteinen auf. Sein dunkles Haar war verstrubbelt und ein paar Strähnen hingen wirr in sein vom Schweiß glänzendes Gesicht. Er blieb erst stehen, als ihre Gesichter sich fast berührten und sie konnte seinen männlichen Duft nur all zu deutlich wahrnehmen. Eine Mischung aus Holz, Stroh und Pferdegeruch kitzelte ihre Nase und ließ die Bilder der vergangenen Tage in ihrem Innen ablaufen. Amy hätte ihre Hand nur ein kleines Stück bewegen müssen, um ihn zu berühren, doch sie blieb regungslos stehen. Ihr Körper war angespannt und auch ihr Geist schien sich von dieser Spannung anstecken zu lassen. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten, nur in seinen Augen konnte man die Traurigkeit erkennen, die tief darin verankert zu sein schien. Als er seine Hand hob, hielt sie unbewussten den Atem an, abwartend, was als nächstes passieren würde. Er verwischte die Tränen, die trotz ihrem Lächeln, dass ihre Mundwinkel umspielte, heiß aus ihren Augenwinkeln flossen, mit seinem staubigen Daumen und ließ seine Hand an ihrem Kinn ruhen.

„Es ist kein Abschied für immer.“, seine Stimme war brüchig und heißer, und erst jetzt erlaubte sie sich wieder zu atmen. „Es war einfach nicht der richtige Moment für uns. In einem anderen Leben hätten wir vielleicht eine Chance gehabt.“

Sie überbrückte die letzten Millimeter, die ihre Lippen trennten und küsste ihn sanft auf den Mund, ohne Hast, ohne Versprechen- es war ihre Art ohne Worte danke zu sagen für das was war und eine Entschuldigung für das was nicht sein konnte. Als sie ihre Augen wieder öffnete und ihn anlächelte, wanderten auch seine Mundwinkel scheinbar wie von selbst ein Stück nach oben, doch die Traurigkeit, die nur sie sehen konnte, wich nicht aus seinen Augen. Sie kannten sich erst ein paar Tage, doch der Abschied schien wie zwischen zwei Menschen, die sich schon lange sehr nahe standen.

„Vielleicht, wer weiß das schon.“, sie lächelte verschmitzt und löste sich langsam aus seinen Armen. „Andy, ich wünsche dir alles erdenklich Gute und ich sage `Auf Wiedersehen`, denn ich bin mir sicher, dass wir uns in diesem Leben noch einmal begegnen werden.“

Mit diesen Worten trat sie ein Stück zurück und drehte sich wie in Zeitlupe um. Der Weg zum Haus kam ihr viel zu kurz vor, denn sie wollte dieses Gefühl, das gerade jede Faser ihre Körpers beherrschte, noch etwas in sich tragen, bevor sie sich von ihrer Familie verabschiedete und so verlangsamte sie ihren Schritt. Sie hatte losgelassen und auch Andy schien damit klar zu kommen. Die Zuversicht, die sie nun spürte, weil sie wusste, dass sie das Richtige tat und er es verstehen würde, sollte sie bis nach Afrika tragen. An der Tür drehte sich noch einmal zu ihm um, er hob die Hand und wandte sich dann um. Schnellen Schrittes ging er auf den Stall zu bis seine Siluette mit dem großen schwarzen Gebäude zu verschmelzen schien. Ein Seufzer entrang ihrer Kehle und sie straffte die Schultern, bevor sie die Tür öffnete und das Haus, dass sie lange Zeit ihr zu Hause genannt hatte, sie mit einer angenehmen Kühle empfing.

 

„Amy, da bist du ja. Hast du dein Gepäck und die Tickets, dein Reisepass, deine Visum…“, begann ihre Mum augenblicklich, die Packliste herunter zu rattern, als würde sie auf einen Schulausflug der siebten Klasse gehen, als sie in die Küche trat. Ihre Stimme war unangenehm hoch und viel zu unsicher, was nicht zu dem sonst ruhigen und ausgeglichenen Gemüt ihrer Mutter passte. Es war der Angst und der Nervosität geschuldet, die Angst vor dem Abschied.

„Mum! Bitte, ich habe alles.“, unterbrach sie den Redefluss mit dem immer noch selben Lächeln im Gesicht und versuchte ihre Stimme sanft aber bestimmt klingen zu lassen. Sie wollte ihre Mum beruhigen und ihr etwas ihrer Zuversicht abgeben, die noch immer ihr Herz erfüllte und ihren ganzen Körper zu wärmen schien.

„Was ist daran so komisch. Ich mache mir eben Sorgen und wollte nur noch mal alles mit dir durchgehen.“, schmollte Betty, als sie das breite Grinsen im Gesicht ihrer Tochter entdeckte und packte die beiden Schokomuffins, die auf der Theke gelegen hatten, etwas zu grob in Amys Handgepäck.

„Ich weiß, Mum. Aber ich versichere dir, dass ich alles gewissenhaft gepackt hab. Und ich mache mich nicht lustig, ich bin nur gerade gut gelaunt.“ Mit ein paar Schritten war sie bei ihr und schloss sie in die Arme. Sofort begannen die Tränen ungehindert ihre Wagen herabzufließen und sie hielt sich schluchzend an Amy fest.

„Ich…ich dachte eben nur, dass … du vielleicht länger bleiben würdest. Stattdessen… verlässt du sogar den Kontinent.“, brachte sie zwischen den Schluchzern hervor.

„Ich weiß, Mum, Ich weiß, es war alles etwas viel die letzten beiden Wochen…“, beruhigend streichelte sie ihr über den Rücken, „aber ich muss das für mich tun und ich verspreche dir, dass ich auf mich aufpassen werde, ja?“ Zwei Wochen hatte sie die gesamte Farm mit ihrer Anwesenheit und nun mit ihrem schlagartigen Aufbruch durcheinander gewirbelt. Wie ein Sturm war sie ohne Vorwarnung in diese heile Welt hinein gerauscht und verließ sie nun wieder nicht ohne Schaden zu hinterlassen.

Bettys schlanker, drahtiger Körper zitterte unter den Tränen, die sich ungehindert auf der Schulter ihrer Tochter ausbreiteten und das leichte Sommerklein durchnässten. In ihrer Kindheit waren die Rollen immer umgekehrt gewesen, nun war es an ihr, ihre Mum zu trösten.

Sie schob sie sanft von sich und blickte in ihr tränennasses Gesicht. Die blauen Augen lagen glasig in ihren Höhlen und die Augenringe zeichneten die Erschöpfung in ihr fahles Gesicht.

„Versprochen!“, unterstrich Amy ihre Aussage und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, der locker im Nacken lag. Betty nickte nur stumm und begann die Suche nach einem Taschentuch in einer der unzähligen Schubladen der Küchenzeile. Ihre Hände wanderten fahrig durch mehrere überfüllte Schubladen, bevor sie fündig wurde und das kleine Plastikpäckchen mit einem Ruck öffnete.

„Amy, wann musst du los?“, vernahm sie die angenehm raue Stimme ihres Bruders, der wohl gerade eben hinter ihr die Küche betreten haben musste.

„In zwanzig Minuten sollten wir los. Wo ist Sally? Und Jason?“

„Drüben bei uns. Komm mit, dann kannst du dich verabschieden.“, schlug ihr Chris vor und sie folgte ihm, nachdem sie nochmals einen besorgten Blick auf ihre Mutter geworfen hatte, die nur nickte und sich das Taschentuch vor den Mund hielt.

 

Der Abschied von Sally, Chris und ihrem kleinen Neffen war nicht einfach gewesen und es wurden unzählige Tränen vergossen. Selbst ihr Bruder hatte seine emotionale Seite gezeigt und sich schließlich ein Taschentuch geben lassen. Er würde sie nicht nur vermissen, er machte sich auch ernsthaft Sorgen um sie- Sorgen eines großen Bruders, dessen Schwester in ein Abenteuer aufbrach, das er nicht zu kontrollieren wusste. Die Art von Sorgen, die einen des Nachts nicht ruhig schlafen ließen und einem tagsüber ein Stirnrunzeln auf das Gesicht zeichneten. Wenn es 100 Gründe gab zu bleiben, hatte sie mindestens 100 und einen gefunden, warum sie dieses Abenteuer wagen musste. Viel zu lange hatte sie diese Seite in sich verborgen- weggeschlossen in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins. Bis sie sie tatsächlich selbst vergessen hatte. Ein angenehmes Vergessen, dass es einfacher machte in ein vorgefertigtes Bild zu passen. Doch dieses Bild hatte sie nicht selbst entworfen und mitgestaltet. Die gradlinigen Pinselstriche wurden für sie gezeichnet, die zielstrebigen Wege vorbestimmt und sie hatte lediglich den Pinsel gehalten, über die Leinwand hatte eine fremde Kraft geführt. Die Kraft einer Gesellschaft, in der Konventionen etwas wert waren und in der von einer Frau in ihrem Alter gewisse Dinge erwartet wurden. Erwartungen, die sie die letzten Jahre nur zu gut erfüllt hatte, ohne sich dabei falsch zu fühlen, im Gegenteil, es gab ihr die Sicherheit, nach der sie so sehr verlangte und ihr half die Bilder ihrer Vergangenheit tief in ihrem Innern wegzuschließen.

Doch sie hatte sich selbst belogen, war den einfachen Weg gegangen- einen Weg, über den man nicht nachdenken musste und der ohne schwierige Entscheidungen zu bewältigen war. In den vergangenen Tagen hatte sie nun miterlebt, wie schwer es war unkonventionelle Entscheidungen zu treffen, denn der Geist war nicht darauf vorbreitet. Wie ein Sprung ins kalte Wasser hatte sie sich gezwungen ihren Geist zu öffnen und auch der Schmerz der mit Entscheidungen einherging, die man nur für sich, gewürzt mit einer guten Prise Egoismus, traf, war ihr nun ein Begriff. Ihr neuer Lebensweg, den sie nun für sich eingeschlagen hatte, kam ihr gerade wie ein Drahtseilakt vor, bei dem man nur ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte. Der Körper ist angespannt, alle Sinne geschärft, um keinen falschen Schritt zu machen. Das Adrenalin verschaffte einem Glücksgefühle, doch es gab auch die Momente in denen man eine winzige Kleinigkeit übersah und am Ende mit aufgeschürften Knien auf dem Boden landete. Keine dramatische Verletzungen, kein gebrochenes Herz und doch konnte es ganz schön wehtun; nach ein paar Sekunden hatte man den Schock überstanden und kletterte wieder auf das Seil.

Als Kind hatte sie Träume von langen Ausritten am Strand, Träume von ihrer eigenen kleinen Farm. Sie wollte schon seit sie denken konnte mit Tieren arbeiten, auf dem Land leben und doch hatte sie es nie richtig getan. Nun war es nicht an der Zeit, sich zu fragen warum, sie es nie getan hatte. Es war nun an der Zeit, es einfach zu tun.

Ihr ganzer Körper kribbelte unter der Vorfreude, als sie in der Dunkelheit beobachtete, wie die Lichter der Farm immer kleiner wurden. Die Nacht war sternenklar und sie konnte am Horizont bereits den hell erleuchteten Nachthimmel sehen. Dort lag Edmonton mit seinen riesigen hellerleuchteten Industrieanlagen, die wie stählerne Ungeheuer Rauch und Feuer in den Nachthimmel stießen, und damit ihr erstes Etappenziel: der Flughafen. Nervös rutschte sie auf dem durchgesessenen Beifahrersitz des in die Jahre gekommenen Ford Pick-ups herum. Ihr Vater musterte sie mit einem kritischen Seitenblick, um dann seinen Gesicht wieder dem Highway zuzuwenden, der sich vor ihnen endlos in die Länge zu ziehen schien.

„Das letzte Mal, dass du so nervös auf meinem Beifahrersitz herumgezappelt hast, habe ich dich auch zum Flughafen gefahren.“, erinnerte er sie an eine Situation, die schon eine kleine Ewigkeit zurück zu liegen schien. Amy kam es vor wie eine verschwommene Erinnerung aus einem anderen Leben, ein Leben, dass nicht wie ihr eigenes schien, so verschwommen und ungenau waren die Gefühle und Erinnerungen.

Sie war damals gerade mit dem College fertig und konnte es nicht abwarten die Stadt zu verlassen. Alles in ihr hatte damals nach einem Ausbruch aus dieser Welt geschrien und als sie endlich im Flieger nach Toronto saß, fiel ein riesiger Ballast von ihr ab. Es war eine Flucht, minuziös über Monate geplant und perfekt ausgeführt. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an den wahren Grund dieser Flucht dachte, und sie musste die Übelkeit bekämpfen, die langsam in ihr empor kroch. Dunkle Schleier legten sich über sie, doch sie begann mit aller Macht gegen diese Erinnerungen, die sie in der Dunkelheit zu verschlingen drohten, anzukämpfen. Sie drängte die Bilder zurück in den Hintergrund, versuchte sie mit anderen Erinnerungen zu überlagern, ihr Gehirn auszutricksen und abzulenken.

„Keine Sorge, wir werden rechtzeitig am Flughafen sein.“, ihr Vater hatte ihre plötzliche Anspannung und Bewegungslosigkeit falsch gedeutet, dachte er doch, dass sie sich Sorgen wegen des Flugs machte, da sie ihren ersten Flug damals nach Toronto fast verpasst hätte.

„Mhm.“, brachte sie nach einer gefühlten Ewigkeit hervor, als sie es schaffte die Bilder der Vergangenheit wieder sicher in der hintersten Ecke des kleinen Tresors zu verschließen, in dem so viele schlechte Erinnerungen wohnten. Ihr Vater hatte gerade unabsichtlich den Schlüssel gefunden und auch noch im Schloss herumgedreht und damit die dunklen Dämonen ihrer Vergangenheit frei gelassen, ahnte er doch nichts von dieser unschönen Episode ihre Lebens und das sollte auch so bleiben. Sie hatte sich zu jener Zeit dieses Versprechen abgerungen, dass es nie irgendjemand erfahren würde und daran hatte sich nichts geändert. Amy schluckte schwer, bemüht darum das warme Gefühl der Zuversicht heraufzubeschwören, dass noch vor ein paar Minuten ihren Körper hibbelig herumzappeln ließ. Sie dachte an Andy und die letzten Worte, die sie zu ihm gesagte hatte, sie beschwor den Geruch herauf, den sie damit unwiderruflich verbunden hatte und allmählich wich die Anspannung aus ihrem Gesicht und schließlich auch aus ihrem Körper.

Mit festen Armen umschloss ihr Vater sie, als sie sich endgültig vor dem großen grauen Flughafengebäude verabschiedeten. Er drückte sie fest an sich und sie ließ es gerne geschehen, atmete den unverkennbaren Geruch der Farm ein und füllte damit ihre Lungen, wie eine Ertrinkende. Es war der Geruch nach ihrem zu Hause, das sie nun schon wieder verlassen hatte.

„Du kennst die Floskeln. Pass auf dich auf. Melde dich, wenn du angekommen bist. Sei vorsichtig und vergiss uns nicht. Vielleicht in einer anderen Reihenfolge, aber als pflichtbewusster Vater sollte man genau das zu seiner Tochter sagen.“, in seinen Augen stand der Schalk und Amy begann unwillkürlich zu kichern, als er sie leicht von sie wegschob und ihr in die Augen sah.

„Mhm, wahrscheinlich hast du Recht. Als pflichtbewusste Tochter sollte man sich dann wohl auch an die gut gemeinten Ratschläge halten.“

Sein Blick wurde ernst und die grauen Augen blickten sie prüfend an: „Amy, ich wünsche dir, dass du das findest, wonach du so dringend suchst und ich wünsche mir, dass du irgendwann wieder nach Hause zurück kehrst.“, mit diesen Worten entließ er sie endgültig aus seiner liebevollen Umarmung und ging schnell die paar Schritte zurück zu seinem Wagen. Die Tränen ließen das Bild verschwimmen, als sie dem weißen Pick-up hinterher sah und den Arm zu einem letzten Abschiedsgruß hob. Hastig wischte sie die erste Träne weg, die sich aus ihrem Augenwickel gelöst hatte und nun ihre Wange hinab rann, und griff nach ihrem viel zu bunten Gepäckstück.

Die Zeit, die sie hier verbracht hatte, kam ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Nur zwei Wochen waren vergangen und doch hatte sich alles verändert. An Lisas Geburtstag schien ihr Leben noch in Ordnung, und jetzt würde sie die nächsten 24 Stunden in einem Flugzeug verbringen, um ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Der Gedanke an Lisa, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Das gemeinsame Lachen und Tratschen fehlte ihr genauso sehr, wie die Meinung, die Unterstützung und das offene Ohr ihrer besten Freundin. Dank ihr hatte sie sich damals schnell in Toronto zurechtgefunden. Sie hatte ihr den Einstieg in das neue Leben damals einfacher gemacht. Nun war sie im Begriff, einen ähnlich großen, vielleicht noch größeren Schritt in ein neues Leben zu machen- allein! Als sie von der schick gekleideten Dame, deren Frisur und Make-up perfekt zu sein schienen, am Schalter nach Ihren Papieren gefragt wurde, bekam sie das erste Mal Zweifel und ein nervöses Kribbeln befiel ihren Magen. Würde sie es diesmal alleine schaffen?

 

Die gesamte Flugzeugkabine war nahezu in Dunkelheit getaucht, nur vereinzelt flimmerten Bildschirme in den Rückenlehnen des Vordermanns und die schwache Notausgangbeleuchtung ließ schemenhaft die Umrisse der anderen Passagiere erkennen. Das röchelnde Schnarchen des übergewichtigen Mannes vor ihr, ließ sie genervt ausatmen. An Schlaf war nicht zu denken, dafür war sie zu nervös. Mit den bunten Schaumstoffstöpseln hatte sie vergebens versucht die störende Geräuschkulisse des Nachtflugs nach London zu dämmen. Genervt über ihre innere Unruhe griff sie zu den Kopfhörern und als die sanften Klänge von Lindsey Stirling auch die restlichen Nebengeräusche aus ihrem Kopf fernhielten, konnte sie sich etwas in ihrem Sitz entspannen.

“Bitte stellen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position und klappen Sie die Tische zurück. Wir werden in Kürze mit dem Landeanflug auf Kapstadt beginnen.”, routiniert seuselte die Stewardess die immer gleichen Sicherheitshinweise in das Mikrophon. Für sie war es der immer gleiche Ablauf, für Amy war es der Beginn einer ungewissen Zukunft. Ihr Umstieg in London hatte reibungslos geklappt und ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie- der unendlich scheinende Flug nahm nun ein Ende. Doch auch die Erleichterung konnte die Nervosität nicht gänzlich vertreiben. Sie zwang sich zur inneren Ruhe, als das Flugzeug in der Parkposition zum stehend kam. Das geschäftige Treiben um sie herum blendete sie aus, denn keiner der Passagiere würde schneller heraus kommen, nur weil er bereits minutenlang im Gang stand. Das Flugzeug leerte sich gemächlich, nachdem die Türen nach einer gefühlten Ewigkeit geöffnet wurden und Amy verließ als eine der letzten das Transportmittel, in Gedanken spielte sie ihre Ankunft auf der Farm durch.

 

Drei Stunden später wünschte sie sich die Klimaanlage des Flugzeugs in das stickige Fahrzeug. Die Staubwolke hinter dem Jeep zog sich viele Meter dahin, während der Fahrer kein Wort mit Amy geredet hatte, seit er sie am Flughafen knapp begrüßt hatte. Sein wuscheliges Haar fiel im in den typischen kleinen schwarzen Kauselocke in die Stirn, während er den Schweiß mit einem Tuch von seinem Gesicht wischte Sie wusste nicht, ob er lediglich ein Fahrer oder ein Angesteller der Farm und damit ein künftiger Kollege war. Er schien keinerlei Interesse an ihrer Person zu haben und so beobachtete sie faszinierende Landschaft um sie herum, während der Jeep rasand über die Schotterpisten donnerte. 

Impressum

Texte: Nadja Müller
Bildmaterialien: Nadja Müller
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Petra

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