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1.

 Es war schon später Nachmittag an einem sonnigen Herbsttag. Um genau zusein, es war Ende Oktober. Ricky fuhr mit seinem grünen Karmann Ghia über eine kleine Landstraße in der Fränkischen Schweiz. Wobei fahren das falsche Wort war. Sein armes Auto quälte sich im ersten Gang die Serpentinen hoch. Wenn die Straße es zuließ, wagte er einen Blick auf die Landschaft. Es war wirklich schön. Die dichten Wälder wurden von der untergehenden Sonne in leuchtend bunte Herbstfarben getaucht. Dazwischen ragten immer wieder Felsen aus den steilen Abhängen. Genießen konnte er es nicht, dafür war er zu besorgt. Neben ihm saß Michi. Seit fast 2 Jahren waren die beiden ein Paar und jetzt war es so weit. Ricky sollte die Familie seines Freundes kennenlernen. Dies war der Grund seiner Besorgnis. Während er selbst aus einer Großstadt kam, stammete Michi aus einem kleinen Kaff hier in der Nähe. In 15 km laut Navi. Ricky glaubte eher, dass es sich am Ende der Welt befand. Was ihn wieder zu seinen Ängsten zurückbrachte. Michi hatte bisher seiner Familie nichts von seiner Homosexualität erzählt und Ricky hatte deshalb die schlimmsten Befürchtungen. Schließlich war allgemein bekannt, dass die Landbevölkerung etwas rückständig war, vor allem wenn es um Schwule ging. Erst vor ein paar Tagen hatte Ricky im Internet gelesen, dass ein Mann in einer ländlichen Gegend der USA seinen schwulen Sohn erschossen hat. Hoffentlich hatte Michi´s Vater kein Gewehr. Endlich hatten sie den Anstieg hinter sich gelassen und ein Hochplateau erreicht.
„Da hinten ist es“, rief Michi freudestrahlend und zeige auf ein schmales Tal zwischen den nahen Hügeln. „In 15 Minuten sitzen wir bei einer schönen Tasse Kräutertee in Oma Gretels Küche.“
Oma Gretel war die Uroma von Michi und so etwas wie eine Kräuterhexe. Angeblich hatte sie Parkinson, den sie mit ihren Kräutertees behandelte.
Als frischgebackener Arzt und Sohn eines Professors der Inneren Medizin wusste Ricky genau, was er davon halten sollte, nämlich Garnichts. Wahrscheinlich hatte so ein uralter Landarzt eine Fehldiagnose gestellt. Bestimmt zitterten der guten Frau nur etwas die Hände und das bei einer 97 jährigen der Bewegungsapparat steif war, war auch nichts Ungewöhnliches. Die liebe Omi bildete sich ein, dass ihre Mittelchen halfen. Also sollte sie ihre Tees ruhig trinken. Schaden würden sie ihr nicht und so trank sie auch genug, was ältere Menschen oft nicht ausreichend taten. Natürlich glaube Michi auch daran. Ricky schüttelte innerlich den Kopf. Während er voll verkopft war, wie seine Freude immer behauptete, war Michi das komplette Gegenteil. Vielleicht klappte ihre Beziehung deshalb so gut. Eines wusste Ricky auf jeden Fall, er liebte Michi. Er war der erste Mann, mit dem Ricky sich vorstellen konnte alt zu werden.
„Die Nächste müssen wir links abbiegen“. Michis Stimme riss ihn aus den Gedanken. Jetzt war es bald so weit. Rickys Hände wurden vor Aufregung ganz feucht.
„Meine Familie ist sehr aufgeschlossen. Du brauchst keine Angst haben“, versuchte ihn Michi zu beruhigen. Der schien immer zu wissen, wie sich Ricky fühlte.
„Warum hast Du ihnen dann noch nichts von deiner Homosexualität erzählt?“
„Das habe ich Dir doch schon erklärt. Ich wollte es ihnen erst sagen, wenn ich in einer festen Beziehung bin. Da Du es bis jetzt geschafft hast, dich vor einen Besuch zu drücken, erfahren sie es halt erst jetzt.“
Mit den letzten Worten warf Michi ihm einen bösen Blick zu. Sein Freund hatte ja Recht. Ricky waren bis jetzt immer gute Ausreden eingefallen. Mal musste er für eine Klausur lernen, einanders mal war ein wichtiger Geburtstag der Grund, warum er ihn nicht zu seiner Familie begleiten konnte. Nur diesmal war ihm nichts eingefallen. Außerdem war es höchste Eisenbahn. Anlässlich seiner Approbation und Michis bestandenen Krankenpflegeexamen hatte Rick`s Vater ihnen eine Eigentumswohnung geschenkt. Für seine Eltern war Michi der perfekte Schwiegersohn. Hoffentlich war er für seine Familie nach seinem Outing auch noch der perfekte Sohn.
Jetzt war es zu spät zum Umdrehen, sie fuhren gerade in die Einfahrt des Bauernhofes. Eine alte Frau erschien an der Tür und bewegte sich für ihr Alter leicht füßig auf sie zu.
„Oma Gretel“, rief Michi, sprang aus dem Auto und nahm sie in die Arme.
Wenn das Oma Gretel war, dann hatte sie niemals Parkinson, diagnostizierte Ricky. Er betrachtete sie genauer, sie trug Pantoffeln, eine schwarze Strickstrumpfhose, einen grauen Wollrock dazu eine geblümte Bluse. Ihr graues Haar war zu einem Knoten im Nacken gebunden und sie sah aus wie anfang 80. Alles in allem entsprach sie Ricky´s Vorstellung von einer alten Bäuerin.
Er holte die Reisetasche aus dem Auto und ging auf die Beiden zu. Oma Gretel ließ nun von ihrem Urenkel ab. Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Ricky zu. Bevor er wusste, wie ihm geschah, drückte sie ihn fest an sich.
„Du bist also der Ricky. Schön, dass Du mal mit gekommen bist. Unser Michi spricht die ganze Zeit von Dir. Junge, bring doch schon mal die Tasche in dein Zimmer. Die anderen ziehen sich gerade um und dann gibt es Tee mit Kuchen. Meine Schwiegertochter und ich haben extra für euch gebacken.“
Während sie redete, zog sie Ricky mit sich ins Haus und in ein Zimmer. Ehe er sich versah, platzierte sie ihn auf einen Stuhl.
„Schenk Dir schon einmal eine Tasse ein. Ich muss noch etwas aus der Küche holen. Die anderen werden auch gleich hier sein.“
Schon war sie wieder weg und Ricky alleine. Eine Tasse Tee war keine schlechte Idee. Obwohl Ricky jetzt lieber ein Scotch gehabt hätte oder besser einen doppelten. Bestimmt war es besser so. Vielleicht mussten sie nach Michi´s Offenbarung fluchtartig das Haus verlassen. Ob die alte Dame immer noch so freundlich zu ihm währe, wenn sie wüsste, dass er ihren Urenkel fickte? Garantiert nicht!
Der Tee schmeckte ganz schön kräftig. Wer weiß was für Kräuter sie da hinein gemischt hatte. Aber er schien zu wirken, schon nach wenigen Schlucken fühlte Ricky sich entspannt und er goss sich noch eine Zweite ein. Die Augen wurden ihm schwer. Er erlaubte es sich so gar, sie kurz zu schließen. 

2.

  

Doch schon nach wenigen Augenblicken riss er sie wieder auf. Auf dem Flur war ein Tumult ausgebrochen. Noch ehe er an der Tür war, stürmte Michi herein.
„Sie wissen es! Sie wollen uns töten! Wir müssen verschwinden! Schnell!“
Gemeinsam rannten sie zur Haustür. Aber hier gab es kein Entkommen. Im Hof hatte sich ein wütenter Mob versammelt und versperrten ihnen den Weg zum Auto. Mindestens 30 Leute standen da mit Mistgabel, Sensen und Fackel bewaffnet.
„Verbrennt die Sodomiten!“, riefen sie im Chor.
Mit entsetzen starrte Ricky auf die Menschenansammlung. Wo waren die nur alle hergekommen? Das überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Michi zerrte ihn ins Haus zurück.
„Zur Hintertür! Durch die Küche!“, schrie Michi panisch.
Oma Gretel und eine andere ältere Frau blickten Ricky verwirrt an, als er Michi folgend durch die Küche rannte. Wahrscheinlich hatten sie noch nichts mitbekommen. Schade, dass sie fliehen mussten. Der Kuchen roch einfachverführerisch. Ricky hätte gerne das ein oder andere Stück gegessen.
Als sie ins Freie traten waren sie noch lange nicht in Sicherheit. Vor ihnen tat sich eine steile Felswand auf.
„Oh, Gott! Wir sind verloren!“, stöhnte Ricky.
„Nein! Da ist eine Treppe. Komm!“
Michi lief zielsicher zum Felsen und verschwand. In der Zwischenzeit war es Dunkel geworden und Ricky hatte zutun seinen Freund nicht aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich waren da grobe Stufen im Stein.
Wahrscheinlich hatte sie jemand schon vor Jahrhunderten in den Felsen geschlagen.
Sie waren ausgetreten und durch den einsetzenden Regen wurden sie auch noch glitschig. Bei ihrer hektischen Fluch hatte Ricky seine Jacke nicht mit genommen. Die Nässe und mit ihr die Kälte krochen durch das Hemd auf seine Haut und er froh bitterlich. Am Anfang ging es noch, hier bildete die Treppe eine Art Hohlweg und Ricky konnte sich an beiden Seiten festhalten. Trotzdem rutschte er mehr als einmal aus. Nach kurzer Zeit hatte er sich die Hosenbeine und die Hemdsärmel aufgerissen. Nun schrammten die spitzen Steine über seine nackte Haut. An mehreren Stellen blutete er schon. Aber es kam noch schlimmer. Auf der einen Seite hörte der Fels auf und es ging mindestens 20 Meter in die Tiefe. Die pure Verzweiflung überkam ihn. Am Liebsten hätte er sich in eine Ecke verzogen und hemmungslos geweint. Hätte er doch nur die Jacke mitgenommen, in ihr war sein Handy. So konnte er keine Hilfe rufen. Ob es ihnen gelang, ihren Verfolgern zu entgehen? Unter sich hörte er die Rufe und sah die Lichtkegeln der Taschenlampen. Ricky musste weiter. Es ging nicht nur um ihn, sondern auch um Michi, den Mann, den er so sehr liebte wie noch keinen vor ihm. Michi war sein Traummann. Seit er ihm kannte, gab es nur noch ihn. Vorbei waren die Jagten in den Clubs und die damit verbundenen One-Night-Stands.
Letztes Wochenende hatte Michi Spätdienst gehabt und Ricky hatte ihnen eine selbstgemachte Pizza gebacken. Dazu gab es Rotwein und auf den Tisch hatte er Kerzen gestellt. Wie Michis Augen gefunkelt hatten, als er nach Hause kam. Ricky hätte es fast das Herz vor Liebe zerrissen. Es war ein schöner Abend. Nach dem Essen hatten sie sich auf das Sofa gekuschelt und die `Rocky Horror Picture Show` auf DVD angesehen. Der Gedanke an das anschließende Verwöhnprogramm, welches er seinem Schatz angedeihen ließ, hätte normalerweise ausgereicht um ihn hart werden zu lassen. Bei bei der Kälte jedoch hatte sich sein bestes Stück zurückgezogen. Warum nur hatten sie die Sicherheit der Stadt hinter sich gelassen?
Es half nichts. Auf allen vieren kroch er weiter bergauf. Aufrichten traute er sich nicht, zu groß war die Angst abzustürzen. Kleine Kiesel bohrten sich in seine Handflächen. Mit den Füßen glitte er immer öfters ab und schlug sich auch noch das Knie auf. Dreck kam in seine offenen Wunden. Was für ein Glück, dass Ricky sich erst vor kurzen seine Tetanusimpfung hatte auffrischen lassen. Aber warum machte er sich darum jetzt Sorgen, die Treppe wollte kein Ende nehmen. Seine Arme und Beine zitterten schon vor Anstrengung. Die Lunge brannte ihm bei jedem Atemzug, sein Herz pochte wie verrückt. Bald würden ihn die Kräfte verlassen und seine Jäger würden ihn schnappen. Wahrscheinlich würden sie ihn töten, bevor Clostridium tetani* dies tat. Hastig blickte er sich um. Wo war Michi? Ihm war doch hoffentlich nichts passiert. War er in den Tod gestürzt? Aber dann hätte Ricky ihn doch Schreien hören, oder nicht. Hatte ihn das Pochen seines Blutes im Ohr taub für Michi´s Schrei gemacht? Nein, die Rufe seiner Häscher hörte er doch auch und sie kamen näher. Ricky mobilisierte seine letzten Kraftreserven und schaffte es endlich auf die Anhöhe.
Oben wartete schon sein Freund auf ihn.
„In der Burg brennt Licht. Hoffentlich helfen sie uns!“
Jetzt sah auch Ricky die Burg. Sie erinnerte ihn an die aus dem Frankensteinfilm, den er letztens bei seinem Kumpel Philipp gesehen hatte. Egal. Hinter den Mauern waren sie in Sicherheit und konnten Hilfe rufen. Ohne ein SEK- Team im Rücken würde er nicht auf dem Bauernhof zurückkehren um seine Sachen und das Auto holen.
Es war nicht weit, aber sie mussten über eine schlammige Wiese. Ricky hatte das Gefühl überhaupt nicht voranzukommen. Immer wieder glitt er aus und versank im Dreck. Er musste einen schönen Anblick ab geben, mit seiner zerrissenen und verdreckten Kleidung. Wenn man sie deshalb nun nicht in die Burg ließ? Gleich würde er es wissen. Neben der Holztür hing eine Schnur, an der Ricky wie ein Wahnsinniger zog. Wenige Augenblicke später öffnete ihnen ein uralter Mann in Butlerlivree und ließ sie eintreten.
„Wir werden verfolgt ... sie wollen uns töten ... wir brauchen ein Telefon“, stammelte Ricky atemlos.
Der Diener musterde sie mit hochgezogenen Augenbraun von oben bis unten.
„Die Herrschaften sind im Ballsaal. Bitte treten Sie durch diese Tür und überqueren den Hof.“
„Wir brauchen die Herrschaften nicht zu stören. Sie können uns doch bestimmt auch telefonieren lassen?“, flehte Ricky den Butler an.
„Die Herrschaften sind im Ballsaal. Bitte treten Sie durch diese Tür und überqueren den Hof“, wiederholte dieser mit der gleichen monotonen Stimme wie davor. Dann drehte er sich um und verschwand durch eine andere Tür.
Achselzuckend befolgte Ricky die Anweisungen.

* Erreger von Tetanus

Impressum

Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Micha

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