Cover

Autor: NaBi

 

 

Bestienhandbuch für Anfänger

 

Prolog:

 

Herzlichen Glückwunsch!

 

Sie haben sich dazu entschieden Ihre eigene Bestie züchten zu lassen. Nach der Bestimmung der genetischen Zusammensetzung ist es nun wichtig für die richtige Erziehung Ihrer Bestie zu sorgen.

In diesem Handbuch finden Sie eine kurze Zusammenfassung, wie Sie am besten mit ihrer neuen Rolle als Master zurechtkommen. Hier erhalten Sie auch Anregungen für ein erfolgreiches Training, sowie wertvolle Hinweise zu dem strukturellen Aufbau von unserer Einrichtung.

Sollten Sie trotz unserer Leitfäden noch Fragen haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an Ihren zuständigen Züchter oder dem verantwortlichen Trainer. Beide werden Ihnen täglich zur Verfügung stehen, um eine optimale Ausbildung der Bestie zu garantieren.

 

Viel Erfolg wünscht Ihnen

Gimini International Cooperation.

Inhaltsverzeichnis

 Lektion 1 - Wie erziehe ich meine Bestie?

 

Kapitel 1 - Die ersten Wochen

           1.1 Erste Kontaktaufnahme      

           1.2 Das Territorium                  

           1.3 Vertrauen                         

           1.4 Erste Trainingseinheiten      

  

Kapitel 2 - Die Verhaltensentwicklung

           2.1 Beschützerinstinkt             

           2.2 Abwechslung    

           2.3 Grenzen     

                 2.3.1 Sanktionen

                 2.3.2 Verstärkte Sanktionen      

           2.4 Selbständigkeit

           2.5 Eifersucht

 

Kapitel 3 - Ausbildung zum Master

          3.1 Das Labor

          3.2 Trainingshalle

          3.3 Trainingseinheiten

          3.4 Züchter

                3.4.1 Gegenseitiger Austausch

                3.4.1 Andere Züchter

          3.5 Teamwork

 

Kapitel 4 - Hintergrundinformationen zum

                   Allgemeinwissen

          4.1 Generationsunterschied

          4.2 Aufträge

          4.3 Freizeit

          4.4 Regelverstoß

          4.5 Krankenstation

 

Kapitel 5 - Reflexion

          5.1 Eigenreflexion

          5.2 Reflexion mit Hilfe von Außenstehenden

          5.3 Intensive Pflege als Reflexionsmittel

                    

Kapitel 6 - Grundkenntnisse über den Rat

          6.1 Der Hüter der Regeln

          6.2 Der Aufbau des Rates

          6.3 Mitgliedschaft im Rat

          6.4 Rangordnung

          6.5 weltweiter Einfluss

          6.6 Wachstum

          6.7 Die Ratsbibliothek

 

Kapitel 7 - Das Team

          7.1 Beziehungen

          7.2 Züchter als Partner

          7.3 Freunde im Rat

          7.4 andere Master als Unterstützung

          7.5 Trainer als unerlässliche Stütze

          7.6 Teamwork

 

Nachwort zu Lektion 1 - Wie erziehe ich meine Bestie

 

 

 

Epilog

Lektion 1 - Wie erziehe ich meine Bestie?

 

 

In dieser Lektion erhalten Sie alle nötigen Informationen,

die Sie brauchen werden, um Ihre Bestie optimal auszubilden.

Sie werden feststellen, dass die Ausbildung nicht nur von der

Qualität Ihres Trainings abhängt, sondern auch von Ihrem eigenen

Fachwissen.

Deshalb erhalten Sie neben dem ausgewählten Unterricht,

auch wichtige Tipps und Hinweise, wie sie sich in Ihrer Rolle

als Master zurecht finden können.Dieses Buch soll Ihnen dabei als

Stütze und Nachschlagewerk dienen.

Zu Ihrer praktischen Ausbildung gehört auch die theoretische

Grundbildung über die Zusammensetzung unserer Organisation,

sowie gewisse Hintergrundinformationen zu Ihren eigenen

Möglichkeiten, die Ihnen als Master offenstehen könnten, um Ihre

eigne Position weiterzuentwickeln.

Darum legen wir Ihnen zu Herzen, diese Lektion besonders sorgfältig

und gewissenhaft zu studieren. Tauschen Sie sich in Diskussionsrunden

mit eingeweihten Familienmitgliedern, Trainern, Züchtern und andern

Mastern über die Inhalte und Möglichkeiten aus.

 

Kapitel 1 - die erste Woche

Kapitel 1.1 erste Kontaktaufnahme

 

Die erste Kontaktaufnahme findet meistens kurz nach

der Geburt der Bestie statt, um im optimalem Falle

eine Prägung hervor zu rufen.

Nutzen Sie jede Gelegenheit und verbringen Sie in den

ersten Lebenswochen viel Zeit wie möglich mit Ihrer Bestie.

Es ist wichtig ihr jetzt schon gewisse Grenzen deutlich

zu machen. Suchen Sie sich hierfür einen geeigneten

Trainer und lassen Sie sich in diesem Prozess

von ihm fachlich unterweisen.

 

Sollte Ihre Bestie aus irgendeinem Grund außerhalb

der sicheren Zone aufwachsen, wird eine Einschläferung dringend

empfohlen. Verwilderte Bestien sind nicht mehr zu zähmen und

gelten als sehr gefährlich.

Wenden Sie sich in diesem Falle vertrauensvoll an den Rat.“

 

 

 

 

Kinderlärm durchtränkt die Luft und verschiedenste Emotionen schwirren im Raum umher. Von lautem Gelächter über Gezicke bis hin zu kleinen Heulkrämpfen, vermischt mit Wutanfällen ist alles mit an Board. Diese enorme Farbpalette an Gefühlen schwirrt in dem beengten Raum umher und erschwert einem manchmal das Atmen. Ein Bus voller Kinder könnte den einen oder anderen seine Nerven und Haare kosten. Aber nicht bei mir. Das ist mein Job und ich liebe ihn.

Trotzdem gibt es Grenzen des Ertragbaren!

 

Ich arbeite nun schon seit vier Jahren in einem Kinder- und Jugendclub für reiche Sprösslinge. Einige Eltern dachten sich, dass sie ihr Geld dazu verwenden könnten ihre verwöhnten Söhne und Töchter von ein paar Pädagogen wieder gerade biegen zu lassen. Also wurde kurzerhand ein altes Bürogebäude saniert und für entsprechendes Personal gesorgt. Das war vor etwa sechs Jahren. Ich kann mich über diesen Job nun wirklich nicht beschweren. Das Gehalt ist mehr als üppig. Die Kinder sind mit etwas Geduld und Einfühlungsvermögen ertragbar und es gibt obendrein so einige extra Ausflüge.

So verreisen wir mindestens einmal im Jahr mit unseren Schützlingen, wollen so die Bindung zu ihnen stärken und ihnen einige neue Erfahrungen verschaffen, außerhalb der schützenden Glocke namens: Mama & Papa.

So weit so gut.

Letztes Jahr waren wir in Italien. Davor in England. So macht Reisen Spaß. Großstadtflair, Restaurants, Sightseeing. Für Groß und klein war immer das Passende dabei. Wenn ich nur an die ausgedehnten Shoppingtouren, das Sightseeing und die interessanten Bekanntschaften denke komme ich wieder ins Schwärmen. Zu hause habe ich einige Fotoalben mit den Erinnerungen der vergangenen Reisen gefüllt.

Auch dieses Jahr hatte ich gehofft ein neues anlegen zu können und damit vor meinem Cousin anzugeben, der seit seiner Jugend nur Wasser und Marineschiffe zu Gesicht bekommt. Ich dachte, dass wir ja vielleicht mal das alte China erkunden könnten oder nach Österreich fahren … doch dieses Jahr sollte ganz anders werden, als erwartet.

 

Meine Chefin hatte die glorreiche Idee, dass wir uns ja mal der freien Natur widmen könnten.

Also schickte sie kurzerhand meine Kollegen, die Kinder und mich in ein kleines, namenloses Dörfchen am Waldrand. Irgendwo in der Pampa. Unsere Begeisterung kann man sich da wohl nur zu gut vorstellen.

Immer noch denke ich bedauernd an das leere Fotoalbum bei mir zu hause auf dem Schreibtisch. Was soll ich hier denn auch für mein Album fotografieren? Bäume? Steine? Ach ja, noch mehr Bäume! Vielleicht auch noch ein paar getrocknete Insekten zum verzieren?

Laut unserer Chefin sollen wir uns der freien und fast unberührten Natur wieder nähern. Viel Zeit im Wald verbringen und den Kindern zeigen, dass man auch mal ohne Freibad und Medienwelt über die Runden kommt. Aber mal ehrlich? Wie soll ich ohne Freibad, den Medien oder einer vernünftigen Kaufhalle auskommen? Das ist doch Menschenquälerei!

 

Seufzend lasse ich meinen Blick schweifen. Jeder ist aufgeregt und nervös. Nicht nur unsere Schützlinge, sondern auch wir Erwachsenen sind leicht ruhelos. Ständig gehe ich in meinem Kopf die Bestandsliste meiner Reisetasche durch und wippe dabei unruhig mit dem Fuß. Insektenspray, Zeckenspray, Sanitasche, Mitternachtssnack. Ich will ja nichts vergessen haben was wichtig sein könnte, denn bei unserem Reiseziel gibt es leider keine einzige Möglichkeit einzukaufen. Obwohl wir uns offiziell in einem Dorf aufhalten, gibt es hier nichts anderes als Wald und Natur. Selbst Google Maps hatte Probleme mir diesen Ort anzuzeigen. Genauso wie es sich unsere Chefin vorgestellt hat: mitten in der unberührten Natur. Na prima. Da hätte sie doch lieber persönlich mitkommen sollen, wenn sie die Natur so liebt und ohne Fernseher überleben kann.

Ich starre stur aus dem Fenster. Inmitten dieser idyllischen Landschaft soll sich unsere geschichtsreiche Jugendherberge befinden. Vor vielen Jahren soll hier einmal eine sehr wohlhabende Grafenfamilie gelebt haben. Sie soll sich von ihrer Umgebung abgeschottet haben und nur im engsten Kreise der Adelsfamilien verkehrt haben. Was die Familie wohl in die Isolation getrieben hat? Wie sie es hier wohl mitten im Wald ausgehalten hat?

Ich gebe zu, dass ich auf so alte Gemäuer mit einer geheimnisvollen Vorgeschichte stehe. Manchmal laufe ich in meiner Heimatstadt die Straßen entlang und betrachte die alten Villen, die dort aufgereiht vor sich hin gammeln. Dabei stelle ich mir die Menschen vor, die einmal dort gelebt haben, wie die Villa wohl erbaut wurde und wie viele Familien wohl dort gewohnt haben. Was sie erlebt haben und wie sie gestorben sein könnten.

Heutzutage gewährt unsere Jugendherberge laut ihrem kunterbunten Flyer nur noch Reisegruppen einen gemütlichen Unterschlupf, nachdem die alte Grafenfamilie ohne weitere Erben das zeitliche gesegnet hat.

Seufzend blicke ich wieder einmal auf meine Uhr. Insgesamt sind wir nun schon fünf Stunden unterwegs. Erst mit dem Zug, jetzt mit dem Bus. In unserem Zeitalter braucht man schon etwas länger, um in ein naturbelassenes Gebiet zu gelangen, bei dem es auch noch eine einigermaßen zivilisierte Unterkunft gibt.

 

Der Bus schlägt eine harte Rechtskurve ein. Dabei quieken die Kinder vor lauter Freude und schnattern wie wild vor sich hin. Von 10 bis 18 Jahren ist alles vertreten. Unser Jugendclub ist reich bestückt. Es gibt immer mehr Eltern die von unserem guten Ruf gehört haben und sich dazu entscheiden ihre Kinder unserer Obhut anzuvertrauen.

Den Kindern ist es frei gestellt an welchen Tagen sie zu uns kommen möchten. Es gibt aber feste zeitliche Regelungen und jeder sollte, je nach Alter, eine bestimmte Anzahl von Stunden bei uns verbringen. Auf diese Weise können sie ihre Hobbys ausleben, haben aber dennoch einen geregelten Tagesablauf und einen Anlegepunkt für ihre Probleme und Sorgen.

Noch eine Kurve. Noch mehr Gelächter. Dieses Mal bin ich mir unsicher, ob unsere Chefin das richtige Reiseziel gewählt hat. Seit wir vom Zug aus in den Bus umgestiegen sind, habe ich kein einziges Auto gesehen. Nur Wald und Sträucher, Insekten und anderes Krabbeltier. Und die Jugendlichen sind von dieser Aussicht nicht gerade begeistert.

„Tamara, was glaubst du, wann wir ankommen werden?“ Susi, meine engste Kollegin, die ich fast schon als Freundin bezeichnen kann, sieht mich besorgt an. Dabei spielt sie mit einer ihrer blonden Locken und zieht die Lippen kraus. Sie selbst hält ebenso wenig von der unberührten Natur wie ich. Vor allem dann nicht, wenn es nur noch Grünzeug zu sehen gibt und die Gefahr besteht Wildschweinen über den Weg zu laufen oder mit den Highheels im Schlamm stecken zu bleiben.

Ich zucke leicht mit den Achseln und blicke kurz zu Andrea hinüber. Diese ist gerade in ein Gespräch mit einem unserer ältesten Kinder vertieft. Sie versucht ihm scheinbar irgendetwas zu erklären, was er wohl nicht einsehen möchte. Wild gestikuliert sie mit den Armen in der Luft. Vor Anstrengung läuft ihr bereits der Schweiß von der Stirn.

„Frag am besten Andrea. Sie hat doch alles mit unserer Chefin organisiert.“ Susi blickt trübsinnig aus dem Fenster. Die Sonne hat sich seit unserem Aufbruch nicht mehr blicken lassen und das schlägt aufs Gemüt. Ich hoffe nur, dass sich das bald wieder ändert. Denn wer hat schon große Lust ständig im Regen durch den Wald zu stiefeln?

Weiter hinten im Bus gibt es plötzlich lautes Gekreische. Erschrocken zucke ich zusammen und springe gleich auf. Mit schnellen Schritten durchquere ich das fahrende Ungetüm und begebe mich seufzend zum Schlachtfeld. Auch die Kinder haben es langsam satt nur stille zu halten und abzuwarten. Da ist es kein Wunder, wenn einige von ihnen anfangen für Ärger zu sorgen, um sich zu beschäftigten.

„Anne was ist denn los?“ frage ich leicht entnervt die Zehnjährige. Gerade vor ein paar Minuten hatte ich für Ruhe gesorgt. Nun schien sich Anne einem neuen Problem gegenübergestellt. Ich beuge mich leicht nach vorne um ihr in die Augen sehen zu können.

„Sophia hat mich geschubbst!!“ lispelt mir die Kleine mit pinker Zahnspange empört entgegen.

„Gar nich waar.“ kontert ihre Sitznachbarin. Ihre zwei Pferdeschwänze hüpfen dabei wie wild hin und her.

„Ich weiß dass es hier sehr eng ist und ihr durch die Kurven oft aneinander gestoßen werdet“, versuche ich den unerwünschten Körperkontakt zu erklären, „Stellt euch einfach vor, dass ihr in der Achterbahn sitzt, dann ist es nicht mehr so schlimm.“ Die Augen der beiden leichten begeistert. Sofort entwickelt sich um ihnen herum eine neue kleine Phantasiewelt und der Streit ist vergessen.

Der Bus fährt plötzlich eine Linkskurve. Geradeso gelingt es mir mich an einem Sitz festzuhalten. Heimlich verfluche ich den Fahrer mit seiner rabiaten Fahrtechnik. Plötzlich macht sich Unruhe unter den Kindern breit. Einige der Jungs hüpfen auf ihren Sitzen umher und rufen aufgeregt: „Wir sind da!!“

Na endlich. Wird aber auch Zeit.

 

Andrea kümmert sich um das Bezahlen, während Susi, Birgit, Tanja und Heike die Kinder aus dem Bus führen. Sie zählen routinemäßig durch. Ich kümmere mich um das Gepäck.

Die Villa vor der wir gelandet sind wirkt schon um einiges älter als in den Prospekten. Da ich aber erkennen kann, dass es scheinbar mehrere Besuchergruppen gibt denke ich, dass dieser Ort ja vielleicht doch nicht so schlecht sein kann. Überall laufen schwatzende Menschen herum. Sie scheinen alle sehr gute Laune zu haben. Ein beruhigendes Zeichen.

Es dauert nochmal eine halbe Ewigkeit bis jeder Koffer seinen Besitzer gefunden hat. Doch auch dieses kleine Drama von Drängeleien und Gehässigkeiten zieht vorüber. Gemeinsam folgen wir Frau Winter, die uns mit einem breiten Lächeln begrüßt. Sie ist die offizielle Leiterin der Jugendherberge. Mit ihren grauen Haaren, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hat und der viel zu großen Brille wirkt sie auf mich wie die nette, alte Dame von nebenan.

Sie führt uns flinken Schrittes durch einen ziemlich großen Hof mit hauseigenem Spielplatz. Alles wirkt modern und ordentlich. Frau Winter erklärt uns nebenbei die Hausregeln. Sie zeigt in diverse Richtungen und beschreibt die Wege zur Küche, den Aufenthaltsräumen und dem Sanitätsraum.

Wow. Es gibt hier also sogar einen Sanitätsraum mit eigener Krankenschwester. Das ist mal Luxus. Ich glaube ich muss meine Meinung etwas ändern. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wie wir an einen Arzt gelangen, falls einem unserer Kids etwas zustoßen sollte. Bei dieser wilden Zusammensetzung weiß man ja nie.

Frau Winter erklärt uns Erziehern auch, dass diese Herberge über einen Kleintransporter verfüge mit dem man innerhalb einer Stunde in die Stadt gelangen könne.

Der Trupp marschiert ohne besondere Vorfälle in die alte Villa ein. Große Holztüren empfangen uns Neuankömmlinge. Von Innen dringen verschiedene Stimmen zu uns heran. Ja. diese Herberge scheint wirklich sehr gut besucht zu sein. Kein Wunder dass Andrea Engelszungen anwenden musste, um für uns noch genügend freie Plätze zu finden. Mit 38 Kindern und 6 Erziehern ist das in der Sommerhochsaison keine leichte Aufgabe.

Der Boden ist weiß gefliest. Die Empfangshalle wirkt sehr groß und geräumig. Vereinzelt weisen bunt bemalte Säulen in Richtung Decke. Als ich einer dieser Säulen fasziniert folge, bemerke ich die große Venus an der Decke. Nackt und anmutig steht sie in ihrer Muschel und blickt von oben auf uns herab. Ich werfe verstohlene Blicke in die Runde unserer Kinder. Wie es mir scheint hat noch keines unserer Schützlinge die Venus entdeckt. Ich kenne unsere Spezialisten zu gut. Einige vor pubertierende Jungen würden uns ganz schön blamieren, wenn sie sich lauthals über die nicht vorhandene Bekleidung der Venus lustig machten. Ich nehme mir vor mich schon einmal innerlich dafür zu wappnen und Ablenkungsmanöver zu entwerfen. Da wir erst einmal angekommen sind wette ich, dass wir spätestens ab morgen nie wieder ohne großes Aufsehen durch diese Halle gehen werden.

Andrea verteilt die Schlüssel an uns, die sie von Frau Winter überreicht bekommen hat. Gemeinsam machen wir uns an den Aufstieg.

Obwohl hier einiges Modern erscheint, gibt es keinen Fahrstuhl. Also erklimmen wir den Berg an Treppen um in die 4. Etage zu gelangen. Das Treppenhaus wirkt gut gepflegt. Die Wände sind von Dankeszeichnungen der vorherigen Besucher bepflastert, dadurch entsteht eine sehr gemütliche Atmosphäre. Schnaufend und meckernd kommen unsere Kinder mit ihrem schweren Gepäck an. Da wir gut vorbereitet sind weiß jedes Kind mit wem es sich ein Zimmer teilt. So geht die Schlüsselübergabe und die Zimmereinteilung recht rasch von statten. Ich ziehe mich mit Susi erst einmal in unser gemeinsames Quartier zurück.

Zwei Betten stehen in der Mitte und machen einen recht gemütlichen Eindruck. Ein Tisch und zwei Stühle warten vor dem Fenster darauf benutzt zu werden. Zum Glück gibt es hier in jedem Zimmer eine eigene Toilette und Dusche. Das erleichtert die Abendsequenz ungemein. So müssen wir die Kinder nicht grüppchenweise im Akkord duschen schicken, sondern können uns Zeit lassen.

Das kleine Badezimmer ist sehr sauber. Weiße Fliesen zieren den Boden und die Wände. Auch Toilette und Duschkabine sind sehr gut gereinigt. Das findet man leider nur in den seltensten Fällen vor. Ich nehme an, dass diese Jugendherberge sehr gut besucht wird. Nur so erkläre ich mir diese fast aufdringliche Sauberkeit. Frau Winter scheint sich einiges an Personal leisten zu können. Ein weiterer Pluspunkt.

In Lichtgeschwindigkeit packe ich meinen Koffer aus und beziehe mein Bett. Ich dekoriere meinen Nachtschrank mit Süßigkeiten für zwischendurch und freue mich über die Geräumigkeit in den Schränken.

Susi lässt sich etwas mehr Zeit. Sie ist für Gruppe von Mädchen verantwortlich Die schon relativ selbständig sind und ihre Betten alleine beziehen können. Ich hingegen habe eine ADHS geplagte Jungentruppe vor mir. Ja, auch wohlhabende Familien sind nicht vor dem Virus ADHS geschützt. Die Zehn- bis Zwölfjährigen hüpfen lieber in der Gegend herum, als dass sie für Ordnung sorgen.

Also auf in den Kampf!

Schon von weitem höre ich lautes Gepolter und Streitereien. Das Zimmer 407 steht weit offen. Kissen fliegen auf den Gang und ein Junge mit strubbeligem Haar rennt hinterher. Laut lachend schnappt er es sich und schmeißt es wieder in das Zimmer zurück. Irgendetwas geht polternd zu Boden.

„Justin!“ rufe ich warnend. Der kleine Lausebengel dreht sich um und klimpert mit seinen braunen Augen. Ganz in der Manier: „kleiner Unschuldsengel“. Lächelnd streiche ich ihm liebevoll über den Kopf und betrete das Schlachtfeld. Ja, ich hatte es mir schon gedacht. Überall verstreut liegen Decken und Kissen herum. Einer dieser Spaßvögel hatte wohl begonnen seinen Koffer auszupacken, nur leider hat es seine Kleidung nicht bis in den Schrank geschafft.

Ich raffe meine Ärmel hoch und teile die sechs Jungs in zwei Gruppen ein. Sebastian, Justin und Leon sollen erst einmal das Bettzeug wieder einsammeln, währenddessen widme ich mich mit Steven, Karli und Leon 2 den Koffern. Mit Teamarbeit und viel gutem Zureden schaffen wir es gerade noch rechtzeitig bis zum Mittagessen.

Nudeln und Tomatensoße, des Kindes Leibgericht. Auch hier habe ich eigentlich etwas anderes erwartet. Aber das Essen schmeckt einfach nur gut, demnach gibt es nichts zu meckern. Der einzige Nachteil an dieser Essenshalle ist wohl, dass zu geräumig ist. Hier haben über zweihundert Gäste Platz und heute sind alle Tische besetzt. Der Lärm klingelt mir in den Ohren und leichte Kopfschmerzen machen sich breit. Dennoch tröstet mich die Deckenmalerei des alten Ballsaales. Alles wirkt auf mich sehr glamourös. Langsam bekomme ich eine Ahnung von dem architektonischen Geschmack der alten Grafenfamilie.

Nach dem Essen schlängelt sich unsere Gruppe durch die Menge. Die Kinder fühlen sich satt und zufrieden. Einige der Jüngeren sehen schläfrig aus und ziehen sich zum Spielen in ihre Betten zurück. Auch wir Erzieher gönnen uns eine kleine Verschnaufpause. Wir setzten uns zusammen und Andrea beginnt mit uns den Tagesplan durchzugehen.

Wir wollen uns in zwei Gruppen aufteilen um dem großen Altersunterschied gerecht zu werden. Andrea, Susi und Tanja werden mit den fünfzehn bis achtzehnjährigen zum Fußball gehen, während ich mit Birgit und Heike in den Wald ziehe. Um zwei wollen wir uns auf den Weg machen. Bis dahin heißt es für alle Mittagsruhe. Natürlich müssen nicht alle, wie im Kindergarten, schlafen gehen. Das wäre dann wohl doch etwas zu viel verlangt. Sie sollen sich einfach nur in Ruhe auf ihren Zimmern beschäftigen und das Mittagessen verdauen. Dafür haben wir eine reichliche Auswahl an Spielen mitgebracht, die sie sich bei uns abholen können.

Nur leider sieht mein Zimmer 407 die Sache ganz anders. Bei zwei der Kindern lassen die Tabletten zunehmend nach und leider war es das auch dann für heute. Justin bekommt später noch eine Dosis Risperidon, aber irgendwie kommt es mir so vor, als ob der kleine Kinderkörper resistent gegen dieses Beruhigungsmittelchen ist.

Immer wieder kommen meine Zöglinge auf mich zu gerannt und fragen alle zehn Minuten nach einem neuen Spiel oder haben ein dringendes Problem, dass meinen Beistand bedarf. Auf Dauer kann das ziemlich nervig werden. Aber da heißt es nur geduldig sein .... auch wenn es manchmal tierisch schwer fällt.

 

Endlich ist es so weit. Freigang für die kleinen Monster. Die Gruppe teilt sich schnell auf und wir marschieren direkt in den Wald hinein. Ich habe mich vorher mit Heike bei Frau Winter über einen geeigneten Pfad informiert. Wir laufen ungefähr eine Viertelstunde geradeaus in den Wald hinein und biegen dann rechts ab. Dort soll es eine große Lichtung mit Bach und vielen Baumstämmen geben.

Zum Glück sind Heike und Birgit an meiner Seite. Mein Orientierungssinn ist gleich null. Ich würde den Rückweg ganz sicher nie wieder finden.

Das erinnert mich an die letzten Herbstferien. Da hatte ich einen Waldausflug zu einem bestimmten Spielplatz geplant. Ich bin sogar einen Tag vorher nochmal mit meiner Mutter die gesamte Strecke abgelaufen. Trotzdem habe ich am nächsten Tag die Abbiegung verpasst und bin mit den Kindern im Nirgendwo gelandet. Zum Glück trafen wir auf zwei Jogger die mir den rechten Weg weisen konnten. Für die Kinder war es ein Riesenspaß mich schwitzen zu sehen. Obwohl einige sehr herum genölt haben, weil sie so viel laufen mussten. Am Ende sind wir dann am Spielplatz angekommen und all das vorhergehende Chaos war vergessen. Der Rückweg war um einiges leichter. Gott sei Dank.

Hier in diesem Wald gibt es nur einen Pfad. Das gestaltet die ganze Sache einfacher. Die Bäume sind mit einem saftigen Grün bedacht. Überall erkennt man verschiedene Moose und Sträucher. In den Wipfeln der Bäume springen Vögel und Eichhörnchen um die Wette. Eine sehr idyllische Gegend muss ich schon sagen. Trotzdem muss ich an die vielen Zecken denken, die sich hier überall verstecken. Dabei überkommt mich eine Gänsehaut. Ich habe mich vorsichtshalber vorher impfen lassen. Heute Abend werde ich mich und die Kinder wohl gründlich absuchen müssen.

Am Ziel angekommen verteilen sich die Kinder im Halbkreis um uns herum. Zur Aufwärmung machen wir kleine Gleichgewichtsübungen. Dann starten wir einen Baumstamm-balanciere-Wettbewerb. Die Kinder haben sehr viel Spaß. Justin und die beiden Leons genießen dieses Erlebnis. Ich weiß von ihren Berichten her, dass diese drei Jungs nur sehr selten in den Wald kommen.

Nach dem kleinen Wettbewerb entlassen wir die Kinder in die Natur. Sie dürfen toben, Stöcke sammeln und einfach nur frei spielen. Auch das genießen sie mit voller Freude. Natürlich landet der eine oder andere in dem flachen Bach. Doch da es recht warm ist und die Sonne sich doch endlich blicken gelassen hat, habe ich keine Bedenken was das Trocknen angeht. Die reine Luft spült meine Kopfschmerzen davon und ich kann mich selbst wieder entspannen.

Heike und Birgit sind beide Mitte vierzig und unterhalten sich aufgeregt über ihr alltägliches Leben mit Kind und Kegel. Leider kann ich da nicht mithalten. Mit 27 bin ich immer noch Single und manchmal nervt mich dieser Umstand. Mein Cousin zieht mich deshalb sehr oft auf. Aber was will ich von einem Dauer Casanova auch anderes erwarten. Ich habe mich jedenfalls so sehr ans alleinsein gewöhnt, dass es mir langsam egal wird. Immerhin bin ich so unabhängiger und brauche nur auf meine Bedürfnisse zu achten, ohne Rücksicht auf Verluste.

 

Gegen vier Uhr machen wir uns langsam auf den Rückweg. Ich lasse mir viel Zeit mit den Bummlern. Einige der Kinder bedauern es schon gehen zu müssen und trödeln mit Absicht. Andere langweilen sich schon wieder. Die letztere Gruppe ist die Fernsehfraktion. Ohne technische Mittel und ihre tägliche Dosis Spongebobe kommen sie nur sehr schwer durch den Tagesablauf. Ich kann sie völlig verstehen und habe Mitleid mit ihnen.

Birgit entschließt sich kurzerhand beim Fußballplatz vorbei zu sehen. Das ruft große Begeisterung bei unseren Fußballprofis hervor. Schon sind sie wieder schneller unterwegs und können es kaum erwarten auf dem Spielfeld dem Ball hinterher zu jagen.

Angekommen beobachte ich wie Andrea den Ball in der Luft hält und scheinbar eine Auseinandersetzung mit Maike und Roland hat. Ein heißes Wortgefecht wird ausgetragen und die beiden Jugendlichen fuchteln abenteuerlich mit ihren Armen durch die Luft, um ihrer Aussage mehr Kraft zu verleihen. Ich geselle mich zu Susi und frage nach den Ereignissen.

„Das übliche nur“, erwidert sie recht gelangweilt, „Roland und Maike können beide nicht verlieren und streiten sich bis aufs Blut. Oh. Sieht so aus als ob Maike wiedermal den Kürzeren zieht.“

Das scheint zu stimmen. Sie stapft wutschnaubend davon, während Roland triumphierend den Ball entgegennimmt und zurück zum Spielfeld trottet.

Unsere Fußballprofis gesellen sich mit auf das Spielfeld. Und schon sind sie wieder am herum rennen. Woher nehmen die bloß diese ganze Energie?

Vom Rand aus beobachten wir das Geschehen. Die Kinder, die nicht mitspielen wollen, vergnügen sich auf dem Spielplatz. Alles wirkt so friedlich und beruhigend. Ich genieße den lauwarmen Wind, der mir den Schweiß auf dem Gesicht trocknet.

Susi, Heike und ich plaudern in aller Ruhe über die vorangegangenen Ferienlager. Wir vergleichen die dortigen Bedingungen mit denen hier und sind eindeutig der Meinung, dass es uns hier richtig gut geht. Selbst die Billigabstiege in London konnte mit dieser Villa nicht mithalten. Vielleicht hatte unsere Chefin ja doch nicht so unrecht mit der Wahl unseres Ferienlagers.

Plötzlich ist ein lautes Stöhnen zu hören. Der Ball fliegt im hohen Bogen Richtung Wald. Justin. Wer sonst. Zum Glück kennen wir unsere Spezialisten und Andrea hat schnell einen Ersatzball parat. So verhindern wir, dass die gesamte Kinderschar in den Wald stürmt, um ihn lautstark zu suchen. Ich mache mich auf den Weg den Ball wieder ein zu sammeln. Susi und Andrea begleiten mich. Wir teilen uns an der Stelle auf, an der wir glauben den Ball landen gesehen zu haben. Sehr weit kann er ja nicht gekommen sein.

 

Diesen Teil des Waldes finde ich echt unheimlich. Die Bäume sehen irgendwie sehr alt und ausgetrocknet aus. Es gibt nur wenige grüne Blätter. Trotzdem scheint das Sonnenlicht seine Mühen zu haben durch das spärliche Blätterdach zu dringen. Ich finde den Boden ziemlich ausgetrocknet und leblos. Äste knirschen unter meinen Turnschuhen. Kein Moos ist zu sehen. Seltsam. Dieser Ort fühlt sich so Tod an. Mir kommt es so vor, als ob ich mich in einer anderen Welt befände.

Von weitem höre ich den Lärm unserer Kinder. Das holt mich aus meiner gruseligen Fantasie wieder heraus. Susi und Andrea kann ich nicht sehen. Von dem Ball gibt es auch keinerlei Spuren.

Plötzlich höre ich ein überraschtes Quieken. Es kommt aus der Richtung in der Andrea verschwunden ist. Wahrscheinlich ist sie gestolpert. Ich entscheide mich mal nach zu sehen. Man weiß ja nie. Langsam schiebe ich mich durch das Gestrüpp, um nirgends hängen zu bleiben. Bei den vielen Wurzeln ist das ein wahrer Akt.

Als ich aber bei Andrea ankomme, traue ich meinen Augen kaum. Sie steht stocksteif an einen Baum gedrückt, mit schreckgeweiteten Augen. Ich versuche zu erkennen, was sie so sehr in Angst versetzt. Als mein Gehirn den Anblick anfängt zu verarbeiten verschlägt es mir den Atem.

Ein Wolf! Nein. Ein Puma! Oder ... doch ein Bär? Was ist das? So ein Tier habe ich noch nie gesehen. Es fletscht seine Zähne und knurrt kehlig und leise in unsere Richtung. Sein Speichel tropft auf den Boden. Die Augen schimmern grau und hungrig. Und sein Schwanz peitscht angriffslustig durch die Luft. Es hockt geduckt im Schatten und stiert zu uns herüber.

Ich versuche gerade zu begreifen was hier geschehen ist und mein Gehirn rattert bei dem Versuch die Eindrücke zu verarbeiten. Scheinbar ist dieses Tier aus dem Nichts aufgetaucht und hat Andrea eiskalt erwischt. Oder anders herum?

Von weitem ist schwer zu sagen wie groß es ist. Jedenfalls wirkt es katzenhaft mit wölfichen Zügen. Aber gleichzeitig bullig wie ein Bär. Seltsam. Fasziniert studiere ich es. Mir kommt es so vor als ob es das gleiche mit uns täte. Seine Augen wirken auf mich irgendwie klug und neugierig. Das muss ich mir einbilden. Oder doch nicht?

Ein Rascheln lenkt unsere Aufmerksamkeit in Richtung Gestrüpp. Susi kommt zu uns gestolpert. Sie erblickt gleich das Tier und kreischt wie am Spieß. Alles geht plötzlich so schnell. Das Tier setzt mit einem fauch-knurr Laut zum Sprung an. Ich schnappe mir einen Ast und werfe ihn. Ich versuche seine Aufmerksamkeit von Susi abzulenken. Sie flieht panisch in die entgegengesetzte Richtung. Das wilde Tier wird von meinem Ast am Rücken getroffen und dreht sich zu mir um. Andrea steht immer noch wie angewurzelt am Baum. Ich brülle das Tier an. Es reagiert und sprintet auf mich zu. Ich muss hier unbedingt weg. Weg von Andrea. Weg von den Kindern!

Also nehme ich die Beine in die Hand und renne was das Zeug hält tiefer in den Wald hinein. Meine Füße fliegen über den Boden. Ich höre meinen rasselnden Atem. Mein Herz pumpt das Adrenalin durch meine Blutgefäße und verleiht mir so mehr Ausdauer als ich eigentlich besitze. Das Tier verfolgt mich. Ich höre seine Schritte im Hintergrund, die immer näher und näher kommen.

Eine bösartige Wurzel vereitelt meine Flucht und bringt mich zu Fall. Ich fliege mit der Nase in den Dreck. Panisch versuche ich mich aufzurichten, aber etwas Schweres drückt mich zu Boden. Ich wühle mit den Fingern im Dreck um Halt zu finden und mich nach oben zu hieven, aber es hilft nichts.

Ein leises Zischen dringt an mein Ohr und ich fühle wie eine schwere Pranke auf meinem Rücken mich an den Boden nagelt. Steinchen rutschen mir unter mein T-Shirt und ritzen mir die Haut auf. Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, was man tun sollte, wenn man einem wilden Tier begegnet:

 

  1. Leise sein

  1. Nicht fluchtartig davon laufen

 

Na prima. Diese beiden Überlebensstrategien habe ich nun vergeigt.

 

  1. Sich tot stellen

 

Ja das könnte noch gehen. Ich lege mich flach auf den Boden und schließe meine Augen. Ich versuche meinen Atem zu beruhigen und befehle meinem Herzen langsamer zu schlagen. Ich gebe mir alle Mühe mich zu entspannen.

Das Tier beginnt mir über den Rücken zu schaben. Ich fühle seine Krallen auf meiner Haut, als es mein T-Shirt zerfetzt. Meine Lippen pressen sich aufeinander um jeden Ton, der zu fliehen versucht, zu versiegeln. Ich versuche mit aller Macht meinen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Bloß nicht auffallen. Tot stellen!

Es saugt geräuschvoll meinen Geruch ein und gibt ein leises Brummen von sich. Es schnüffelt sich seinen Weg über meinen Rücken und zu meinen Beinen. Dabei weicht die dicke Pranke nicht einen Millimeter. Das Blut wird von meinem Shirt aufgesaugt. Ich fühle wie es sich klebrig an meinen Rücken schmiegt.

Eine halbe Ewigkeit vergeht. Ich atme mittlerweile etwas ruhiger, aber mein Herz hämmert noch immer in meiner Brust. Die Kratzspuren auf meinem Rücken brennen wie Feuer. In diesem Moment durchzuckt mich eine nie gekannte Todesangst. Was ist, wenn ich hier sterbe? In diesem Teil des Waldes. Von einem wilden Tier verspeist.

Ich habe eigentlich mehr von meinem Leben erwartet. Irgendwann wollte ich meinem Junggesellendasein vielleicht doch ein Ende bereiten, sofern ich auf den Richtigen treffe. Ja vielleicht sogar Kinder bekommen.

Auf einmal fühle ich, wie sich das Gewicht auf meinem Rücken auflöst. Ich nehme einen leichten Luftzug wahr und kann es kaum glauben. Das Tier ist verschwunden. Noch immer traue ich mich nicht aufzustehen. Was ist, wenn es hört wie ich mich bewege?

Also bleibe ich einfach noch ein wenig länger liegen. Ich merke wie die Sonne langsam untergeht. Der Wald wird in noch mehr Dunkelheit gehüllt und der Wind frischt auf. Die Stunden scheinen vorbei zu schlendern. Was gäbe ich nicht alles für mein Handy, dass in meiner Handtasche Däumchen dreht.

Vorsichtig hebe ich den Kopf und starre in die Dunkelheit. Nichts zu erkennen. Ein gutes Zeichen, oder? Wie in Zeitlupe richte ich mich auf und drehe mich kurz im Kreis. Na prima. Aus welcher Richtung bin ich eigentlich gekommen? Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ja keine unnötigen Geräusche von mir geben. Ich entscheide mich erst einmal geradeaus zu gehen. Nur nicht hier bleiben, falls dieses Tier zurückkommt.

Vor meiner Nase hängt ein halb abgebrochener Ast herab der mir die Sicht versperrt. Ich schiebe ihn behutsam beiseite und höre ein leises Knurren. Ich ahne nichts Gutes und fange bereits an wieder innerlich zu zittern. Ängstlich hebe ich meinen Blick.

Da ist es. Genau über mir hockt das Tier und scheint auf mein Erwachen gewartet zu haben. Irgendwie komme ich mir gerade blöd vor.

Es lässt sich mit leisen Pfoten herabfallen und landet genau zu meinen Füßen. Das Vieh ist ja riesig! Es sitzt in Augenhöhe, mit gekrümmten Rücken vor mir. Seine dunklen Augen sehen mir tief in die Seele. So scheint es mir jedenfalls. Eine Gänsehaut überkommt mich. Langsam weiche ich einige Schritte zurück. Es beobachtet mich scheinbar belustigt. Sein Schwanz peitscht gelassen hin und her.

Ich atme tief durch und versuche seitlich auszuweichen. Es bleibt still sitzen und spitzt lediglich seine Ohren. Studiert es mich? Seltsam. Leicht dreht es seinen Kopf zur Seite als ich mich näher an das Gestrüpp heranschiebe. Noch ein Stück. Und noch ein Stück. Es bleibt sitzen.

Auf einmal höre ich von weitem lautes Stimmengewirr. Erst verstehe ich nicht was gesagt wird, aber dann erkenne ich meinen Namen. Sie suchen nach mir. Gott sei Dank! Männerstimmen sind auch zu hören. Scheinbar haben sie sich Verstärkung geholt, in dem Bewusstsein, dass eine wilde Kreatur herumläuft.

Vorsichtig schiebe ich mich in Richtung der Stimmen. Das Tier scheint nicht beunruhigt. Es beobachtet weiter meine Bewegungen. Meine Retter kommen immer näher. Ich habe das Gefühl, dass sie jeden Moment um die Ecke kommen müssten. Ich wage es. Entweder gelingt mir die Flucht oder ich sterbe. Aber kampflos werde ich mich nicht ergeben!

Ich drehe mich Blitzschnell um und will laut um Hilfe rufen. Doch plötzlich wird alles schwarz und mein Hilfeschrei bleibt mir in der Kehle stecken.

Kapitel 1.2 - Das Territorium

 

Nach dem Kennenlernen sollten sich Master und Bestie dem

Territorium widmen. Es ist wichtig der Bestie schon von Anfang an

einen speziell errichteten Rückzugsort zur Verfügung zu stellen,

damit sie sich ihren Bedürfnissen entsprechend erholen kann.

Allein am Verhalten innerhalb des Reviers kann man erkennen

ob die Bestie ihren Master akzeptiert oder ablehnt.

Manchmal kommt es vor, dass die neugeborene Bestie noch

aggressive Züge an den Tag legt. Keine Angst, dass ist normal.

Hier sollten Sie ihren Trainer informieren und sich über

spezielle Trainingseinheiten erkundigen.“

 

 

Der Schädel brummt wie verrückt, der Rücken brennt und meine Glieder fühlen sich an wie durch den Dreck gezogen. Im Großen und Ganzen fühle ich mich also beschissen. Ende der Bestandsaufnahme.

Aber wo bin ich überhaupt? Der harte Untergrund versichert mir, dass ich nicht in meinem Bett liege. Verwirrt horche ich in mich hinein. Schemenhaft erinnere ich mich an unsere Ankunft, dann an ein Fußballspiel. Das wilde Tier. Genau. Ich habe es von Andrea abgelenkt und wurde verfolgt. Wurde ich gerettet? Liege ich vielleicht auf einem dieser ungemütlichen Krankenhaustische die man im Fernsehen immer sieht?

Langsam öffne ich meine Augen einen Spaltbreit. Dunkelheit. Ein Klicken in unmittelbarer Nähe erschreckt mich und ich kneife meine Augen schnell wieder zusammen. Der muffige Geruch nach Schimmel und Abfall beißt mir in die Nase. Also dieser Gestank kann nicht von einem Krankenhaus kommen. Das hoffe ich jedenfalls.

Wieder dieses Klicken. Ansonsten kann ich nichts hören. Vorsichtig starte ich einen zweiten Versuch und öffne wieder meine Augen. Immer noch Dunkelheit. Ich kann lediglich ein paar undeutliche Umrisse im Schatten erahnen. Meine Beine schimpfen lauthals, als ich mich erhebe, doch ewig kann ich ja nicht nur herumliegen. Beim aufstehen schießt ein heißer Schmerz in meine Schulter. Kurz dreht sich alles, aber zum Glück verfliegt das gleich wieder. Abermals versuche ich meine Umgebung einzuschätzen.

Also das hier ist definitiv nicht der Wald. Aber wo bin ich denn dann? Ich breite meine Arme aus, um mein Umfeld zu ertasten. Wie ein Blinder fuchtle ich mit meinen Gliedmaßen in der Luft herum und schiebe meine Füße unbeholfen nach vorne. Und schon stoße ich mit meinem Schienbein an einen harten Gegenstand.

Ich reibe es mir fluchend und versuche den Schmerz zu lindern. Das wird ein schöner, blauer Fleck! Den kann ich jetzt gerade besonders gut gebrauchen! Ich taste mich dieses Mal vorsichtiger voran um weitere Auffahrunfälle zu vermeiden. Ganz langsam. Wie im Schneckentempo.

Bevor ich meine Geduld verliere und mein Tempo wieder anziehe gelange ich an einen Tisch, dann an eine Wand. Ich streiche an ihr entlang und komme endlich zu einer Tür. Angewidert ertaste ich den schleimigen Türgriff, um sie zu öffnen. Wie eklig. Gänsehaut macht sich auf mir breit. Wie ich solchen Gruselmist hasse! Hastig drücke ich die Klinke nach unten und die Tür schwingt auf. Ich hoffe auf etwas mehr Frischluft und Helligkeit. Aber alles was mich erwartet ist ein wenig Dämmerlicht und die buchstäbliche Hölle.

Ich atme tief durch um nicht die Nerven zu verlieren. Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn so sauge ich sämtliche Keime und Dreckpartikel direkt in meine Lunge. Hustend ringe ich nach Sauerstoff und mir kommen die Tränen. Ich weiß nicht, ob sie mir aus Verzweiflung oder wegen des Reizhustens die Wangen hinab laufen. Tapfer wische ich sie weg und schaue nochmal genau hin.

Meine Tür führt auf eine Art Absatz, der früher wohl einmal von einem Geländer gesichert worden war. Jetzt ragen nur noch vereinzelte Metallstreben am Rande aus dem Beton und scheinen ihre gekrümmten Finder nach mir auszustrecken. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Mit zitternden Knien mache ich einen Schritt nach draußen. Hoffentlich bricht hier nicht alles zusammen.

Meine Füße wirbeln Staub auf und tragen mich zum Glück sicher nach draußen. Zuerst blicke ich zur Decke hinauf. Ich bin sehr schlecht im Schätzen, aber ich würde meinen, dass sich das Dach ca. 100m über mir befindet.

Die Decke jedenfalls verläuft halbkugelförmig nach oben, wie die Kuppel des Berliner Reichstags. In ihr sind mehrere Fensterfronten eingelassen, die eigentlich mehr Licht reinlassen sollten als hier unten ankommt. Das Glas ist bereits an vielen Stellen zersplittert und unzählige Pflanzenranken hängen herab und verschlucken so die Sonne, beziehungsweise den Mond. Durch einige der Blätter hindurch kann ich den sternlosen Nachthimmel erkennen. Seufzend wende ich mich von der Sackgasse ab.

Wenn ich meinen Blick gerade aus richte und an der Wand über mir entlang schaue erkenne ich weitere Absätze die ringförmig an den Wänden entlanglaufen. Das Ganze erinnert mich an eine Spirale die in einem zylinderförmigem Gebäude nach oben führt. Einige sind mit teilweise zerstörten Treppen verbunden. Ich schätze mal, dass das hier ein mehrstöckiges Gebäude war und man früher leicht von einer Etage zur nächsten gehen konnte. Aber jetzt verfällt alles stückchenweise.

Ich taste mich vorsichtig weiter an den Rand heran und werfe einen Blick nach unten. Ein tiefer Abgrund lacht mir höhnisch entgegen. Ich kann nicht einmal den Boden erkennen. Liegt das an der Dunkelheit oder daran, dass ich viel zu weit oben bin? Ein flaues Gefühl macht sich in meinem Magen breit und ich ergreife schnell den Rückzug. Diese Ruine ist derartig geräumig, dass locker ein Helikopter landen und ohne Probleme wieder starten könnte.

Wenn ich nach links blicke kann ich meine Etage weiter verfolgen. Auch sie führt ringförmig an der Wand entlang. Eigentlich könnte man einfach los laufen und so mit Hilfe der Treppen ganz schnell nach oben gelangen. Nur leider versperrt ein tiefer Abgrund meinen Weg. Scheinbar ist ein Stück von meiner Etage einfach abgefallen. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche den Abstand einzuschätzen, muss aber leider feststellen, dass es zu weit ist, als dass ich einfach rüber springen könnte.

Von hier aus kann ich vier Türen erkennen die in die Außenwand eingelassen sind und an die ich ohne große Probleme heran kommen könnte. Hinter dem Abgrund erkenne ich Schemen weiterer Türen. Was sich wohl alles dahinter verbirgt? Ein Ausgang vielleicht. Hoffnung keimt in mir auf.

Nach der genauen Musterung widme ich mich der rechten Seite. Das gleiche in Grün. Wieder vier Türen. Nur kann ich hier deutlich erkennen, dass eigentlich eine Treppe nach oben geführt hätte. Doch diese fehlt komplett. Noch ein Abgrund. Ich lasse meinen Blick nochmal gerade aus schweifen. Sehr viele Meter von mir entfernt, kann ich den Rest meiner Etage auf der gegenüberliegenden Seite erahnen. Das frustrierende an der ganzen Sache ist, dass ich leider feststellen muss, dass die Treppen mir gegenüber noch intakt zu sein scheinen. Dort könnte man ohne Probleme bis zur Glaskuppel gelangen. Warum musste ich ausgerechnet auf dieser Seite der Ruine stranden?

Also, welchen der acht anderen Räume werde ich zuerst untersuchen? Wenn ich es recht bedenke, habe ich schlechte Karten bei der Erkundung, wenn keines der anderen Zimmer ein Fenster vorweisen kann oder sogar eine Ausgangstür besitzt. Ich entscheide mich trotzdem erst einmal für die rechte Seite.

Als ich die erste Türklinke nach unten drücken will, breche ich sie gleich ab. Was für ein gut gelungener Start. Die Tür lässt sich nun nicht mehr öffnen. Seufzend mache ich mich an die nächste.

Dieses Mal untersuche ich die Klinke vorher gründlich, kann aber keinen Rost erkennen. Also drücke ich sie zart nach unten. Verschlossen. Auch nach mehrmaligem Rütteln kann ich sie nicht öffnen. Das gleiche geschieht mir mit der nächsten. Nun bleibt mir nur noch die letzte Tür kurz vor dem Abgrund. Vorsichtig mache ich einen Schritt auf sie zu. Der Boden unter meinen Füßen wirkt sehr instabil. Aber zum Glück scheint er meine 70kg auszuhalten.

Endlich. Diese Tür lässt sich öffnen. Eine Wolke fauligen Atems kommt mir entgegen und zerstört meine Hoffnung auf ein Fenster. Ich kann Umrisse von alten, vollgestopften Regalen erkennen. Das alles wirkt eher wie eine Abstellkammer, als wie ein Ausgang. Ich ahne nichts Gutes. Alles was sich hier noch verbergen kann sind verschimmelte Handtücher und lebendige Wischlappen. Ich ekel mich so sehr, dass ich die Tür gleich wieder verschließe. Aus Reflex wische ich mir die Hände an meiner Khakihose ab, um mir wenigstens ein kleines Gefühl an Sauberkeit zu vermitteln.

Von meinen Erfahrungen geprägt, traue ich mich kaum die verbliebenen Türen zu öffnen. Unschlüssig bleibe ich stehen. Was für ein Horrortrip. Wie bin ich nur hierher gelangt? Seufzend schüttle ich meinen Kopf. Aufgeben kommt für mich nicht in Frage. Ich rede mir neuen Mut zu und wähle die erste linke Tür neben meinem Aufwach-Raum.

Ich drücke die Klinke nach unten und die Tür schwingt auf. Dieser Raum wirkt einsam und verlassen. Ich kann kaum etwas erkennen. Ob sich hier ein Weg nach draußen verbirgt? Ich bleibe auf der Hut und wage mich hinein. Meine Augen gewöhnen sich nun doch langsam an die Dunkelheit und ich kann die Umrisse der Tische und Stühle erkennen. Sie stehen kreuz und quer im Zimmer verteilt. Einige von ihnen liegen auch umgekippt auf dem Boden.

Ich untersuche einen der Tische genauer und erkenne mehrere Einkerbungen. Ganz so als ob etwas mit langen Krallen daran herum geschabt hätte. Bei den Spuren fängt mein Rücken sofort an zu brennen und eine Ahnung macht sich in mir breit.

Was ist, wenn dieses Tier mich hier her verschleppt hat um mich später aufzufressen? Nervös reibe ich mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. Das würde meinen unweigerlichen Tod bedeuten. Ich glaube, ich habe mal in einer Tierdoku gesehen, wie manche Tierarten ihre Beute mit nach hause nehmen, um sie an ihre Jungen zu verfüttern. Ob es hier noch mehr Riesen-Katzen-Bären-Wölfe gibt?

Angst kommt wieder in mir auf und meine Nackenhaare stehen wie eine Eins. Wie betäubt erstarre ich auf der Stelle. Irgendetwas hatte sich doch gerade im Hintergrund bewegt. Oder bilde ich mir das nur ein? Mein Herz fängt wieder an wie wild zu hämmern. Meine Knie erzittern. Hastig lasse ich meinen Blick umherschweifen, kann aber einfach nichts erkennen. Langsam drehe ich mich um und blicke in zwei dunkle Augen.

Vor lauter Schreck schreie ich auf und falle zu Boden. Das Tier brüllt mir entgegen. Dabei reißt es sein Maul weit auf. Ich kann seine Zähne nur allzu deutlich erkennen. Rasiermesserscharf blitzen sie mir entgegen. Speichelfäden fliegen mir ins Gesicht. Wird es mich jetzt fressen? Tränen kullern meine Wange herunter und ich kann mein Schluchzen nicht unterdrücken. Meine Knie zittern wie Espenlaub und Panik macht sich in mir breit. Das Brennen in meiner Schulter wird immer unerträglicher. Ich habe Angst. Verzweifelt und Schutz suchend rolle mich zu einer Kugel zusammen und ergebe mich meinen Gefühlen. Das wird mir alles viel zu viel. Ich schluchze lauthals und weine all meine Angst und Verzweiflung heraus, beiße mir auf die Lippen und schmecke mein eigenes Blut. Wie ein erbärmliches Bündel zittere ich und wimmere um mein Leben. So will ich einfach nicht sterben. Ich wollte doch nur mit den Kindern eine schöne Woche in der freien Natur verbringen und mich am Samstag zu hause wieder auf die Couch schmeißen.

Die Kreatur tobt im Hintergrund und springt von Tisch zu Tisch. Sie schlägt ihre Klauen in das Holz und brüllt dabei immer wieder auf.

 

Ich merke nicht wie die Zeit vergeht. Auch bemerke ich nicht, wie es langsam wieder ruhiger wird. Meine Gedanken haben sich verabschiedet. Ich kauere auf dem Boden und bin vollkommen erstarrt. Irgendwann versiegen meine Tränen und mir fällt die unheimliche Stille auf, die sich plötzlich wie ein zähe Decke über mir ausgebreitet hat. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und blicke mich um. Das Tier sitzt mir genau gegenüber und sieht mich an. Seine Augen fixieren mich. Irgendwie fühle ich mich absolut nackt, ganz so als ob es tief in meine Seele blicken würde. Scham keimt in mir auf. Ich komme mir dumm und lächerlich vor, dennoch traue ich mich nicht auch nur einen meiner Muskeln zu bewegen. Also rolle ich mich fester zusammen und versuche die Kälte zu verdrängen. Langsam verfalle ich in einen leichten Dämmerschlaf, da die Erschöpfung an mit zehrt.

 

Keine Ahnung wie lange ich so dagelegen habe. Aber als sich meine Augen wieder öffne, kann ich die Kreatur nirgends sehen. Diese Tatsache beruhigt mich ungemein. Langsam quäle ich mich in eine sitzende Position. Ich spüre jeden Muskel in meinem Körper viel zu deutlich und zu allem Überfluss macht sich meine Blase auch noch bemerkbar.

Mein Gehirn arbeitet bereits an einer Lösung, denn lange halte ich das nicht mehr aus. Ich nehme mal nicht an, dass ich hinter einer der noch nicht erkundeten Türen eine Toilette finde die man noch benutzen kann. Ich versuche mich zusammenzureißen, doch wenn man sich Mühe gibt an etwas nicht zu denken, dann tritt es nur noch stärker in den Vordergrund. Ich zwinge mich aufzustehen und meine tauben Beine zu bewegen. Ich kann ja nicht ewig in neugeborenen Stellung auf dem Boden liegen. Ich sollte die Gunst der Stunde nutzen und mich beeilen. Immer wieder schaue ich mich um, kann aber keine Spur des Tieres erkennen. Meine Panikattacke hat sich auch wieder gelegt.

Etwas mutiger geworden wage ich mich zur offenstehenden Tür und horche nach draußen. Nichts. Was will dieses Tier nur von mir? Warum macht es sich die Mühe mich hier her zu schleppen? Und wo zum Henker ist dieses Hier?

Sachte schleiche ich nach draußen. Die Luft scheint rein zu sein. Vielleicht sollte ich mich beeilen. Schnelle nehme ich mir die nächste Tür vor. Natürlich könnte sich hinter Tor Nummer 6 wieder dieses Tier befinden, aber ich habe keine Lust mich in die Ecke zu hocken und auf meinen Tod zu warten. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Also drücke ich die Klinke nach unten. Ich staune nicht schlecht als ich den Anblick vor mir in mich aufnehmen.

Eine Art Schlafzimmer. Zwei Betten mit gammeligen Bettzeug und Matratze stehen sich an den Wänden gegenüber. Ein Schrank mit aus den Angeln gerissenen Türen präsentiert mir seine gähnende Leere. Der Raum scheint mir schon vor dem Verfall nicht mehr bewohnt worden zu sein. Er ist kahl und abweisend. Keine Bilder an der Wand und auch sonst kann ich keine persönlichen Gegenständige des früheren Bewohners entdecken. Mir fällt die Lampe mit kaputter Glühbirne an der Decke auf. Scheinbar gab es hier mal Strom. An der Wand neben mir kann ich sogar einen alten Lichtschalter entdecken. Auch der hat schon mal bessere Tage gesehen.

Diese ganze Umgebung hier wirkt auf mich wie eine einzige Ruine. Vielleicht waren ja hier wirklich mal Menschen. Aber warum hat sich dann dieses Tier hier eingenistet? Und wo sind alle hin? Als ich mich umdrehe, um zum Ausgang zu gehen, überkommt mich plötzlich ein Schwindelgefühl. Alles dreht sich in meinem Kopf und mir bricht der Schweiß aus. Ich brauche ein paar Minuten um mich wieder zu sammeln. Verwirrt treibe ich meine Beine voran. Ich könnte schon wieder schlafen, obwohl ich gerade erst aufgewacht bin. Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Mir ist warm. Zu warm. Und mein Rücken brennt wie Feuer. Haben sich die Kratzer entzündet?

Ich versuche mich zusammenzureißen. Dieses Problem sollte ich später genauer unter die Lupe nehmen. Bloß nicht darüber nachdenken, sonst wird es nur noch schlimmer.

Ich verlasse den Raum und wähle die nächste Tür. Hier lässt sich die Klinke gleich gar nicht herunterdrücken. Der Rost scheint sie bewegungsunfähig gemacht zu haben. Meine Finger sind verschwitzt und ich fühle mich echt mies. Aber es hilft nichts, ich muss mich erst einmal um meine zu volle Blase kümmern.

Ich komme mit meiner Erkundungstour am Ende an. Die letzte Tür wirkt anders, als seine Umgebung. Das Metall ist dicker und robuster. Es strahlt eine gefährliche Kälte aus und jagt mir Angst ein. Ein wenig erinnert sie mich an eine mittelalterliche Brandschutztür. Merkwürdig. Viel merkwürdiger als das ist die Tatsache, dass es keine Klinke gibt. Ärgerlicherweise zieht es unten durch die Türe hindurch. Wenn das hier mein Ausgang ist, dann muss ich mir wirklich was einfallen lassen.

Wenn ich meine Erfolge mal zusammenfasse, dann muss ich leider feststellen, dass fünf der neun Türen wohl verschlossen bleiben. In einem Raum hatte sich das wilde Tier eingenistet und vielleicht auch die ganzen Stühle umgeworfen. Dann war da noch die Abstellkammer, ein Schlafzimmer und zum Schluss der Raum in dem ich aufgewacht bin.

Meine Blase erinnert mich penetrant daran, dass ich dringend eine Lösung brauche. Ratlos blicke ich mich um. Einen der offenen Räume muss ich mir wohl vorübergehen als Toilette einrichten.

Kurzerhand entscheide ich mich für diese gammelige Abstellkammer. Als ich den Raum nochmal betrete kommt mir gleich wieder dieser muffige Geruch entgegen. Der Schimmel scheint in jeder Ritze zu kleben. Angewidert traue ich mich kaum einen Fuß in den Raum zu setzten, doch mir bleibt keine andere Wahl. Ich suche nach einer geeigneten Ecke und muss zu meinem Glück sagen, dass es hier eine Art Abflussgitter gibt. Wozu das wohl mal gut war? Egal. Ich verrichte in Rekordzeit mein Geschäft und verschwinde schnell wieder. Geschafft.

Mein Schädel droht zu zerspringen und mich überkommt ein starkes Zittern. Irgendetwas stimmt hier wirklich ganz und gar nicht mit mir. Dann gäbe es auch noch ein zusätzliches Problem. Ich habe Hunger. Ich glaube kaum, dass ich hier was Essbares finden, geschweige denn Wasser auftreiben kann. Bei dem Gedanken klebt meine Zunge bereits am Gaumen fest. Wenn mich dieses Tier also nicht auffrisst, werde ich hier elendig verhungern, verdursten oder an irgend einer Krankheit sterben. Tolle Aussichten. Das hat man davon, wenn man unbedingt den Helden spielen muss.

Ich hoffe nur, dass man mich nicht vergessen hat und meine Kollegen mich überall suchen werden, damit mir ein solches Ende erspart bleibt. Aber wie sollen sie mich hier finden?

Ich frage mich was Susi und die anderen jetzt gerade machen? Ein Blick zur Kuppel verrät mir, dass es mittlerweile Tag geworden ist. Vereinzelte Sonnenstrahlen kämpfen sich herein und ringen um die Vorherrschaft mit der Dunkelheit. Das Dämmerlicht erhellt gerade genug von meiner Umgebung, damit ich alles etwas genauer unter die Lupe nehmen kann. Jetzt erkenne ich, dass meine Lage schlimmer ist als angenommen falls eine Steigerung überhaupt noch möglich ist.

Dieser Ort hier ist total riesig! Die Abstände zwischen den einzelnen Absätzen sind viel zu groß, als dass ein normaler Mensch irgendwohin springen könnte. Außer natürlich in den sicheren Tod. Würde ich jetzt laut rufen, so bin ich mir sicher, dass mein Echo antworten würde.

Ich mache auf dem Absatz kehrt und ziehe mich in den Raum zurück, in dem ich das erste Mal aufgewacht bin. Wenn ich ihn jetzt bei dem Licht betrachte, dass durch die Tür hereinkommt, wirkt er für mich plötzlich viel geräumiger.

Regale, weiße Tische und gepolsterte Stühle stehen an den Wänden. Alles wirkt so, als ob jemand schnell viel Platz machen wollte. Der Boden ist grau gefliest. Die einzelnen Kacheln sind teilweise geplatzt. An manchen Stellen kann ich sogar den Beton erkennen, weil dort eine ganze Reihe des Bodenbelages fehlt. Auch hier finde ich überall Krallenspuren.

Die Wände sind hingegen vollgekritzelt. Die Schrift ist zwar verblasst, doch kann ich Formeln und Zahlen erkennen. Ich versuche mir meine alten Mathekenntnisse ins Gedächtnis zu rufen, doch leider ohne Erfolg. Mathe war noch nie meine Stärke. Außerdem verschwimmt alles zusehends vor meinen Augen.

Eine Weile lang betrachte ich einfach nur die Wände. Das stete Klicken weckt wieder meine Aufmerksamkeit. Ich schaue mich suchend um, aber die Quelle des Geräusches kann ich nicht bestimmen. Schulterzuckend nehme ich es einfach hin.

Resigniert suche ich mir einen der Tische aus und setzte mich darunter. Was könnte ich auch anderes machen? Die gammeligen Betten reizen mich viel weniger, als der nackte, einigermaßen saubere Boden.

Ich bin gefangen. Es gibt einfach keinen Ausweg. Erschöpft rolle mich zu einer Kugel zusammen und spüre eine tiefe Müdigkeit. Mein Rücken brennt wie Feuer. Ich nehme an, da ich die Wunde nicht desinfizieren konnte, dass sie sich tatsächlich entzündet hat. Die ganze Zeit schon habe ich mich viel zu verschwitzt gefühlt. Eine warme Flüssigkeit verteilt sich langsam auf meinem T-Shirt. Ich bemerke bereits die ersten Vorboten des Fiebers. Ohne Wasser oder Nahrung habe ich wirklich schlechte Karten.

Seufzend schließe ich die Augen und lasse mich von dem stetigen Klicken in den Schlaf wiegen.

Kapitel 1.3 - Vertrauen

 

 

 

Es ist wichtig das Vertrauen Ihrer Bestie zu gewinnen,

so steigt die Erfolgschance bei Ihren Aufträgen.

Also nachdem Sie sich mit dem Territorium vertraut gemacht

haben, ist es wichtig die Bestie an Ihre Präsens zu gewöhnen.

Dies können Sie mit kleineren Leckereien als

Verstärkung positiven Verhaltens unterstützen.

Wichtig ist auch, dass Sie keine Parfüms oder

Aftershaves tragen, da die Bestien einen sehr empfindlichen

Geruchssinn haben. Nehmen sie kleine Geschenke ihrer Bestie

an, um ihr zu zeigen, dass Sie sie würdigen.“

 

 

 

Irgendetwas zerrt an mir. Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Kraftlos wedle ich mit der Hand und murmle schwach vor mich hin. Doch schon diese kleine Bewegung kostet mich eine menge Kraft. Innerlich scheine ich zu verbrennen, gleichzeitig friere ich wie verrückt. Das Fieber erreicht seinen Höhepunkt und zerrt an mir mit der Kraft eines wütenden Ungeheuers.

Eine andere Art von Ungeheuer zerrt ohne Rücksicht auf meinen Zustand weiterhin an meiner Kleidung. Seufzend gebe ich auf und werde gleich unsanft aus meinem Unterschlupf gezerrt. Es schnüffelt an meinem Gesicht und gibt eigenartige Grunzlaute von sich. Solche Geräusche habe ich noch nie gehört. Ich versuche sie zu enträtseln, aber da mein Kopf sich anfühlt, als ob jemand mit einer Abrissbirne darin herum experimentiert, kann ich dieses Rätsel einfach nicht lösen.

Eine feuchte Nase wandert über meine Stirn, meinen Hals und verweilt dann an meinem Bauch. Ich versuche den schweren Kopf wegzuschieben, aber meine Arme wollen sich einfach nicht bewegen. Frisst es mich jetzt?

Es beginnt mich mit der Schnauze anzustupsen. Erst vorsichtig, dann härter. Knurrend wird es immer ungeduldiger. Was will es nur von mir? Mit meiner allerletzten Kraft richte ich mich qualvoll auf. Hustend komme ich in eine halb sitzende Position. Das Tier sieht mich scheinbar zufrieden an und platziert sich genau neben meine Beine. Keine Ahnung was es will. Der Schweiß rinnt mir in Wasserfällen über den Körper, mein Rücken ist ein einziges Flammenmeer und mein Kopf steht kurz vor der Explosion. Da kann ich eine nervige, undefinierbare Kreatur erst recht nicht gebrauchen. Was gäbe ich nicht für ein paar fiebersenkende Mittel oder einen einzigen Tropfen Wasser.

Erschöpft atme ich stoßweise. Ich kann nicht länger sitzen, will einfach nur schlafen. Behutsam lasse ich mich nach hinten sinken, doch sofort fängt das Tier wieder an zu knurren. Mir ist im Moment alles egal, also lasse ich mich auf meine linke Seite plumpsen, da mich meine Kraft wieder verlässt und rolle mich zusammen. Ich drehe meinem Entführer eiskalt den Rücken zu.

Sofort spüre ich die feuchte Nase an meinem Nacken. Zähne packen mich und ziehen vorsichtig an meinem Hals. Ein Wimmern entweicht meiner Kehle. Kann das Vieh mich nicht in Ruhe lassen? Meine Augen brennen, doch keine Träne findet ihren Weg ins Freie. Mein Körper hat sämtliche Flüssigkeiten aufgebraucht. Ein Schüttelfrost kommt und lässt mich erbeben. Immer wieder knurrt das Wesen hinter mir. Seine Stimme vibriert in meinen Knochen.

Ich nehme nur noch schwach im Hintergrund wahr, wie sich die Zähne von meinem Nacken lösen und die Nase wieder auf Wanderschaft geht. Eine feuchte Zunge leckt über meinen heißen Rücken und verschafft etwas Kühlung. Wird es mich jetzt endlich fressen? Habe ich es bald hinter mir? Momentan ist mir alles egal. Ich lasse mich einfach wieder in die wohlige Dunkelheit sinken und umarme den Schlaf.

 

Dieses Klicken raubt mir wirklich noch den letzten Nerv. Wütend setze ich mich auf und suche die Ursache für den Lärm. Kann Susi nicht endlich für Ruhe sorgen? Ich hoffe nur, dass nicht wieder mein Zimmer 407 für Stimmung sorgt. Ich taste nach der Nachttischlampe neben meinem Bett und fühle nur kalten Boden. Erschrocken zucke ich zurück.

Langsam klären sich meine Gedanken. Der Nebel zieht ab. Es war doch kein Alptraum. Ich wurde tatsächlich von einem wilden Tier entführt. Wenn ich mich aber richtig erinnere, müsste ich doch im Fieberdelirium am Boden liegen. Mein Rücken fühlt sich normal an. Kein Brennen oder jucken, ganz so als ob nie etwas gewesen sei. Ich rudere mit den Armen, um auf Nummer sicher zu gehen. Kein Schmerz. Das ist äußerst seltsam und gruselig.

Ich untersuche die Gegend darf aber feststellen, dass ich alleine bin. Meine Knochen meckern als ich aufstehe, aber ich sehne mich nach Bewegung. Als ich sachte nach vorne humple trete ich dabei auf etwas sehr weiches. Ich bücke mich um das Objekt genauer unter die Lupe zu nehmen und bekomme beinahe einen Herzinfarkt. Ein totes Tier! Wie kommt das her? Schnell trete ich es in die Ecke und stoße damit an einen besonders harten Gegenstand. Verwundert runzle ich die Stirn und begutachte das seltsame Ding. Es wirkt wie ein übergroßes Fossil, dass hier liegen gelassen wurde

Ein kehliges Knurren kommt mir entgegen und ich zucke zurück. Dieses seltsame Tier liegt zusammengerollt auf dem Boden und hebt empört seinen Kopf. Wenn es still daliegt und sich nicht bewegt wirkt es eher wie ein lebloser Stein. Doch nun kommt leben in das Vieh.

Fasziniert beobachte ich, wie es sich aufrichtet und den Kadaver beschnüffelt. Ich lasse mich wieder in die Hocke sinken, um es nicht zu provozieren und halte still.

Ich dachte, dass sein Fell schwarz wäre, aber hier im Dämmerlicht wirkt es irgendwie metallisch glänzend. Seltsam, gerade eben erschien es mir eher stumpf und grau. Fast leblos. So etwas habe ich noch nie gesehen.

Das Wesen glänzt und schimmert leicht obwohl es hier im Raum eigentlich ziemlich düster ist. Sein Maul und seine Zähne erinnern mich an die eines Wolfes. Der Körper ist grazil und katzenhaft. Das Tier erhebt sich anmutig und schnappt sich seine Beute. Langsam kommt es auf mich zu bis es kurz vor mir zum stehen kommt. Das tote Frettchen baumelt direkt vor meiner Nase. Mein Würgereflex setzt schlagartig ein. Galle steigt in mir hoch. Nur mühsam gelingt es mir sie wieder herunter zu schlucken. Der eklige Geschmack bleibt aber.

Ich weiche dem Tier aus und lasse mich auf den Rücken fallen, doch es denkt gar nicht daran mich in Ruhe zu lassen. Es steigt einfach über mich und hält mir seine Beute wieder genau vor das Gesicht. Will es mich etwa füttern? Wozu? Will es mich mästen bevor ich selber gefressen werde? Ich versuche nicht zu reagieren und drehe meinen Kopf weg. Es knurrt.

Wenn ich nur wüsste was ich machen soll. Zaghaft wage ich es unter ihm hervor zu kriechen, doch es verfolgt mich einfach und wedelt weiter mit dem stinkenden Geschenk vor meiner Nase herum. Langsam reicht es mir. Mit Hilfe des Ekels und der angestauten Wut über meine Entführung kann ich meine Angst überwinden. Ich packe die Beute und schleudere sie gegen die Wand. Sofort ernte ich ein lautes Fauchen. Mein Entführer springt hinter der Beute her und holt sie zurück, wie ein Hund der seinem Herrn sein Stöckchen bringt. Ich nutze die Gelegenheit und stehe auf. Panisch renne ich auf den Absatz und bleibe vor dem Abgrund schlitternd stehen.

Als ich mich umdrehe wartet natürlich das aufdringliche Vieh mit seiner Beute hinter mir. Angeekelt weiche ich zurück. Plötzlich lässt es das Frettchen fallen und macht einen Schritt auf mich zu. Zaghaft. Herantastend. Es beginnt zu fauchen und zu knurren. Was für seltsame Laute. Man könnte meinen man hätte es nicht nur mit einem, sondern mit mehreren Tieren gleichzeitig zu tun. Wahrscheinlich spielt mir meine Fantasie einen Streich, aber ich bilde mir ein, dass dieses Tier versucht mit mir zu kommunizieren. Seine Ohren sind wachsam aufgestellt und das Fauchen wird mal beruhigender, dann wieder drängender. Als ich nicht reagiere klingt es frustriert.

Es duckt sich und lauert, schleicht sich weiter heran. Ich weiche zurück. Eine Metallstrebe bohrt sich mir in den Rücken. Diese Situation ist so Bizarr. Als ich mich umdrehe setzt mein Gehirn für einen Sekundenbruchteil aus. Ein frischer Luftzug weht mir ins Gesicht und ich schließe meine Augen, um dem Alptraum zu entkommen. Ich höre hinter mir ein ohrenbetäubendes brüllen, als ich mich einfach fallen lasse.

Frei!

In der nächsten Sekunde könnte ich mich für meine Blödheit erschießen. Immer diese Kurzschlussreaktionen! Blitzschnell öffne ich meine Augen und starre in den sich nähernden Abgrund. Die Luft rauscht an mir vorbei und der Tod streckt bereits seine Arme nach mir aus. Hilfe!

Ich drehe mich in der Luft und blicke nach oben.

Als das Tier hinter mir herkommt staune ich nicht schlecht. Es springt in den Abgrund und packt mich im Flug. Es beißt mir in die Schulter und ein stechender Schmerz holt mich aus meiner Betäubung zurück. Ich schreie wie am Spieß als wir durch die Luft gewirbelt werden. Mein plötzlicher Retter schlägt seine Pranken in einen Treppenabsatz und zieht sich flink nach oben. Er scheint sich dabei nicht besonders anstrengen zu müssen. Meine Schreie und sein Knurren hallen in dem leeren Gebäude wider. Meine Gliedmaßen schlagen gelegentlich gegen die Wand. Dabei scheuert sich meine Haut an den freien Stellen auf. Das gibt weitere blaue Flecken.

Es setzt noch einmal zum Sprung an und befördert uns eine Etage höher. Dann die nächste und die nächste. Immer weiter höher springt es auf die einzelne Absätze und landet elegant. Manchmal sind es sogar nur kleine Vorsprünge an der Wand von denen aus es sich abstößt um höher zu gelangen. Mein Körper wird durchgeschüttelt und meine Zähne schlagen aufeinander. Mir wird schon wieder schlecht.

Als wir auf unserer Etage endlich ankommen sprintet es in das Zimmer mit den umgestoßenen Tischen. Ich lande unsanft auf meinem Hintern und schlittere ein kleines Stück auf den Fliesen weiter. Das Tier tobt wie wild, brüllt und faucht und knurrt. Es versenkt seine Klauen in einen Tisch und bringt diesen zum zersplittern. Ich muss meine Arme schützend vor meinen Kopf halten, da viele einzelne Holzstückchen durch die Gegend fliegen. Es erinnert mich an ein Kleinkind, dessen Lieblingsspielzeug gerade geklaut wurde oder an eine wütende Mutter, deren Kind gerade etwas unglaublich dummes getan hat.

Auf einmal kommt es zu mir gerannt und drückt mich mit seinen beiden Vorderpranken zu Boden. Er sprüht beim brüllen seinen fauligen Atem in mein Gesicht. Meine Schulter schmerzt höllisch. Vor Angst wimmere ich vor mich hin und hoffe nur dass es mich nicht tötet. Auch wenn ich mich gerade aus irgend einem Grund in die Tiefe habe fallen lassen, will ich noch nicht sterben.

Dabei kommt mir ein skurriler Gedanke. Es hat mich gerettet. Auch wenn es mich jetzt anbrüllt, lässt es seine Wut an den Möbeln aus. Es hat mir bis jetzt noch keinen ernsthaften Schaden zugefügt. Das Tier wollte mich sogar füttern.

Ich halte still und warte bis es sich beruhigt hat. Irgendwann hört es mit dem Theater auf und schnaubt abfällig. Es steigt von meinen Schultern und sieht mich missbilligend an. Schon seltsam wie ich immer wieder menschliche Züge an ihm feststelle. Oder an ihr? Welches Geschlecht hat es eigentlich?

Es zieht sich zurück und beobachtet mich von einer Ecke aus, direkt neben den einzigen Ausgang. Ich richte mich wieder auf und beobachte die Kreatur meinerseits.

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht. Wir schauen uns einfach nur an und warten auf eine Bewegung des anderen. Irgendwann mache ich es mir gemütlicher und rutsch an die Wand. Meine Schulter schmerzt zwar noch, doch das leichte Pochen der Bisswunde gerät in den Hintergrund. Ich versuche mir über diese bizarre Situation klar zu werden. Mein Beobachter legt sich auf den Boden und lässt mich nicht aus den Augen. Sie nageln mich an der Wand fest. Ich fühle mich wie ein Gefangener unter der strengen Bobachtung seines Wärters.

Wie lange ich jetzt wohl schon hier bin? Dadurch, dass hier kaum Tageslicht zu erkennen ist kann ich schwer einschätzen ob es früh am Morgen oder spät am Abend ist. Es könnte aber auch Mittag sein, nur schwer bewölkt.

Wie lange habe ich eigentlich geschlafen? Bin ich überhaupt noch in der Nähe der Villa? Suchen meine Kollegen noch nach mir oder haben sie mich aufgegeben? Wie Andrea diese ganze Sache wohl unseren Kindern erklärt? Und vor allem den Eltern. Es hätte auch gut ein Kind erwischen können. Was hätte ich dann gemacht, wenn mir aufgefallen wäre, dass Justin oder Maike verschwunden wären? Schwer zu sagen. Und Markus? Wird mein Cousin nach mir suchen? Nutzt er seine Freunde von den Marines, um den Wald abzugrasen oder wird er mich einfach aufgeben?

 

Mein Magen rebelliert lauthals und schreckt mich aus meinem Gedankengang. Ich spüre schon den ersten Riss in meiner spröden Lippe. Mein Körper schreit nach Flüssigkeit. Ich blicke zu dem Tier. Es hat die Ohren gespitzt und stellt sich wieder auf die Beine. Ich hoffe nur, dass es nicht glaubt, dass ich ihm mit meinem Magen eine Kampfansage gemacht habe. Wieder knurrt mein verräterisches Organ.

Mein Gefängniswärter setzt sich in Bewegung und verschwindet aus dem Raum. Was hat er vor? Leider kommt er schneller wieder zurück, als mir lieb ist und hält den Kadaver im Maul. Nicht schon wieder!

Langsam pirscht es sich an mich ran. Es wirkt so, als ob es Angst hätte mich zu verschrecken. Ich straffe meinen Rücken und versuche es mal mit der verbalen Kommunikation: „Nein, danke.“ Es spitzt wieder die Ohren. Ich wiederhole meine Worte. Es lauscht. Scheinbar wundert es sich über meine Stimme. Neugierig macht es wieder einen Schritt auf mich zu. Noch einmal wiederhole ich die beiden Worte, aber mit mehr Nachdruck. Es bleibt stehen. Ich wünschte ich hätte so ein Hilfsmittel dass Klickt. Wie im Fernsehen, bei denen der Hundeflüsterer mittels Klickertraining den Hunden Tricks beibringt.

Wir wiederholen dieses kleine Spiel bis es vor mir zum endgültigen Stillstand kommt. Es legt mir die Beute vor die Füße und knurr zart. Ich schubse sie wieder weg und sage die Worte. Es faucht. Ich glaube, dass es mich wirklich nicht versteht. Wie mache ich ihm klar, dass ich nun überhaupt keinen Appetit auf rohes Frettchen habe? Ich drehe meinen Kopf weg und das Tier knurrt lauter. Scheinbar mag es nicht wenn ich es ignoriere. Es schiebt mit der Tatze seine Beute wieder heran.

Ich schaue ihm tief in die Augen. „Nein, Danke!“ zische ich. Es spitzt wieder die Ohren. Scheinbar lauscht es gerne meiner Stimme denn es fängt an zu schnurren. Seltsames Vieh.

Ich rühre den Kadaver nicht an. Sein Geruch vertreibt meinen Hunger fürs erste. Doch mein Entführer scheint nicht zufrieden mit mir zu sein. Es stupst mich mit der Schnauze an und schiebt das stinkende Ding auf meine Füße. Langsam reicht es mir. Der Geruch macht mich wahnsinnig. Und zur Krönung des ganzen Dramas liegt dieses tote Etwas auch noch auf meinen Lieblingsschuhen und verseucht sie. Ich packe die Gabe am Schwanz und stehe auf. Dann verlasse ich den Raum. Dabei werde ich keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ich stelle mich vor den Abgrund und merke dass mein Verfolger unruhig wird. Wahrscheinlich rechnet es wieder mit einem Selbstmordversuch.

Ich schaue dem Tier wieder in die Augen und halte die Beute in die Luft. Ich gehe sicher das es mich beobachtet. „Nein, Danke!“ wiederhole ich scharf und lasse das Ding in die Tiefe fallen. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen, um meine vermeintliche Nahrung los zu werden.

Das Tier legt seinen Kopf schief und scheint zu überlegen. Erst hatte ich ja damit gerechnet, dass es seiner Beute hinterher springt und sie wieder zurück bringt. Doch scheinbar hat es endlich begriffen was ich meine.

Zufrieden über den kleinen Sieg putze ich meine Hände ab und wünsche mir etwas Desinfektionsmittel. Ich marschiere wieder in den Raum mit den Kritzeleien an der Wand und setze mich auf einen der weißen Tische. Ich habe Durst und mein Magen hängt mir in den Kniekehlen. Die einzige Gesellschaft die ich habe, ist ein wildes Tier undefinierbarer Rasse und Herkunft. So hatte ich mir das Ferienlager nicht vorgestellt.

Ich lasse meine Beine in der Luft baumeln und wundere mich, dass mein Verfolger nicht auftaucht. Und das bleibt auch so. Die Sonne scheint langsam unterzugehen. Hier drinnen wird es immer dunkler. Es könnte aber auch an einer Wolkendecke liegen, die sich vor die Sonne schiebt. Wer kann das schon von hier aus genau sagen. Wenn mich mein Hunger und mein Flüssigkeitsmangel nicht umbringt, dann ist es die Langeweile.

Ich benutze noch einmal mein provisorisches Klo. Das dauert aber nicht lange und ich sitze wieder in dem Raum und sehne mich nach meinen Lieblingsbüchern von Kresly Cole. Wie sehr wünsche ich mir jetzt einen starken Lachlain McRieves, der mich hier raus holt. Oder Lothair den Erzfeind. Der bräuchte sich nur hier rein translozieren und mich mitnehmen. Doch leider existieren solche Helden nur in den Fantasyromanen, die ich wie eine Heroinsüchtige verschlinge.

Wie aus dem Nichts kommt mir das Lied von Fool´s Garden in den Sinn und ich beginne Lemontree zu summen. Nach einer Weile fange ich an den Text zu singen, sofern ich mich daran erinnern kann und schließe meine Augen. Ich habe das Gefühl, dass mich der Wahnsinn einholt.

Keine Ahnung wie oft ich das Lied schon wiederholt habe, aber plötzlich höre ich ein leises brummen und unterbreche meinen Gesang. Da scheint wieder ein gewisses Vieh aufgetaucht zu sein. Genervt öffne ich meine Augen und frage mich was es nun von mir will. Scheinbar stolz lässt es sein neuestes Geschenk vor meinen Füßen fallen. Einen großen Vogel. Das kann doch nicht wahr sein! Wäre dieser ganze Umstand hier nicht so absurd würde ich mir ein Lächeln abringen. Irgendwie ist es ja niedlich, wie er so vor mir hockt und mir was zu essen an schleppt. Fast so wie eine zu groß geratene Hauskatze.

Das Erinnert mich an die Katze meiner Tante. Micki hat ihr auch das eine oder andere mal eine kleine Maus als Geschenk angeschleppt. Kein gerade appetitlicher Anblick. Doch die Katze meinte es nur gut. Das gleich gilt wohl auch für den Großen hier. Aber leider bringt mir diese nette Geste nichts. Ich mag nun mal kein rohes Fleisch. Also stehe ich auf und nehme den Vogel mit spitzen Fingern.

Wieder folgen mir neugierige Augen. Ich ziehe die gleiche Nummer wie bei dem Frettchen ab und lasse den Vogel in den Abgrund fallen. Dabei sage ich laut und deutlich „Nein, Danke!“

Als ich es ansehe kommt es mir fast so vor als ob es gerade mit den Augen rollt. Spinne ich? Meine Fantasie geht wieder mit mir durch! Ich gehe in meinen Raum zurück und rutsche auf den Tisch mit dem angewärmten Platz. Mein Gefängniswärter ist wieder spurlos verschwunden. Ich hoffe nur, dass er mir dieses mal etwas genießbares mitbringt.

Es dauert nicht lange und er legt mir die nächste Beute vor die Füße. Ein Eichhörnchen. Ich seufze auf und spiele wieder das gleiche Spiel. Ich glaube kaum dass ich etwas anderes von einem Fleischfresser erwarten kann.

Gelangweilt rolle ich mich auf dem Tisch zusammen und wünsche mir eine Decke. In der Nacht wird es recht kühl. Doch leider lässt mich mein Entführer einfach nicht in Ruhe. Ständig bringt er mir neue „Nahrung“. Von mal zu mal wird sie immer größer. Und immer wieder muss ich mich aufrappeln und die Tiere entsorgen. Fuchs, Dachs, Seeotter, Schlange, Fisch. Ja sogar ein Reh schleppt es mir an. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie schwer so ein Reh sein kann, aber als ich es an seinen Hinterläufen aus mein Zimmer zerren muss, fluche ich innerlich. Ächzend und schimpfend zerre ich an dem Ding und schaffe es mit allerletzter Kraft es zu entsorgen. Ich will mir keine Gedanken darüber machen, was mit diesen ganzen Leichen im Keller passiert.

Naja, ich habe eben meinen eigenen, kleinen Friedhof bekommen. Ist doch auch irgendwie ganz nett, oder?

Ich spüre wie mein möchte-gern Ernährer immer ungeduldiger und gereizter reagiert. Ich bin ja froh, dass er scheinbar meine Ansage: Nein Danke! bereits versteht, sehne mich aber trotzdem endlich nach Ruhe. Ich verkrieche mich unter einen Tisch und schiebe ein paar Stühle davor. Erschöpft schlafe ich hinter meiner Barrikade ein.

 

Dieses Mal erwache ich von alleine. Ich quäle mich mit bleiernen Knochen aus meinem Versteck und traue meinen Augen nicht. Eigentlich habe ich ein Wildschwein oder eine Kuh erwartet, aber stattdessen liegt vor mir ein Apfel. Freudestrahlend kralle ich ihn mir und verschlinge das göttliche Ding mit wenigen Bissen. Sein Saft tropft mir das Kinn herunter und ich fühle mich wie im siebten Himmel.

Als ich bedauernd aufblicke, weil der Apfel leider viel zu klein war, um mich richtig zu sättigen und meinen Durst zu löschen bemerke ich zwei strahlend graue Augen. Eine zufriedene Katze sitzt mir gegenüber und schnurrt leise vor sich hin. Scheinbar hat sie herausgefunden, dass ihr Gast Obst bevorzugt.

Kapitel 1.4 - erste Trainingseinheit

 

„Wenn die Annäherung erfolgt ist, können Sie

bereits mit den ersten Übungen beginnen.

Versuchen Sie für den Anfang kleinere, leichte Aufgaben.

Geben Sie ihrer Bestie viel Raum für Erholung. Bedenken

Sie, dass das Geschöpf noch sehr jung ist. Wenn sie feststellen,

dass die Bestie beginnt Ihre Signale zu verstehen, können

Sie den Schwierigkeitsgrad erhöhen. Nutzen Sie auch hier

wieder den Beistand Ihres zuständigen Trainers.“

 

 

 

 

 

 

Immer wieder vertrete ich mir die Beine und untersuche jeden Fleck in diesem seltsamen Gebäude an den ich herankomme, um der Langeweile zu entkommen. Langsam kenne ich jeden fauligen Pilzbefall auswendig. Egal wo ich hinsehe erkenne ich die unterschiedlichsten Schimmelflecken. Schwarz, blau, weiß. Sie beschmutzen den „originellen“ Anblick der ehemaligen weißen Wände. Die Kühle hier erinnert mich sehr an meinen Keller zu hause. Die Luft ist auch ähnlich muffig. Wenn ich sehr viel Fantasie anwende, dann wirkt diese Einrichtung hier auf mich sehr klinisch, fast wie in einem Krankenhaus. Weiße oder graue Fließen, weiße Wände, weiße oder holzfarbene Stühle und Tische.

Als ich meinen Ekel endlich überwinden kann, sehe ich mir auch die Abstellkammer genauer an. Wie ich es vermutet hatte liegen hier viele angegammelte Handtücher und Putzutensilien herum. Auf einem noch recht gut erhaltenen Bademantel erkenne ich den Aufdruck Gimini Intercorbs. Leider hilft mir das nicht viel weiter. Das einzig nützliche ist ein alter Eimer, der sogar noch funktionstüchtig ist. Behutsam wische ich meinen Schatz mit einen einigermaßen sauberen Handtuch aus und bringe ihn in mein Zimmer. Ich beginne mich etwas einzurichten und schiebe die Tische zusammen. So baue ich mir eine Art Hochbett. Jetzt muss ich nicht immer auf dem kalten Boden Schlafen.

Die Betten im dem Schlafzimmer sind leider viel zu schimmelig, als dass ich die Matratzen hätte verwenden können. Bedauernd lasse ich dieses nutzlose Zimmer hinter mir. In dem Lieblingsraum meines Gefängniswärters finde ich unter den Trümmern einiger Tische einen alten Aktenschrank. Ich nehme mir ein metallenes Tischbein zu Hilfe, dass verwaist herumliegt und nutze es als Brecheisen. Nach mehrmaligem Fluchen schaffe ich es endlich das Ding zu öffnen. Zufrieden lache ich laut auf. Diese kleinen Erfolge des heutigen Tages machen mich ganz euphorisch. Auch die Tatsache, dass ich mit reichlich Äpfeln versorgt werde trägt ihren Teil bei. Der Saft schafft es ein wenig meinem Durst Abhilfe zu verschaffen, aber leider hält das nicht lange an.

Ich trete einen Schritt zurück und bewundere mein Werk. Schleichende Katzenpfoten verraten mir, dass ich nicht mehr alleine bin. Ich drehe mich um und bemerke zufrieden, dass eine kleine Kolonne von Mandarinen auf den Boden kullert. Ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen. „Danke.“ flüstere ich ihm entgegen.

Der übergroße Kater schnurrt leise zur Erwiderung. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dieses Tier als zu groß geratenen, seltsamen Kater betrachten werde. Es gibt einfach viel zu viele Ähnlichkeiten mit dem Hauskater meiner Tante. Seine Geschichtszüge, wenn man das so bezeichnen kann, wirken auf mich auch eher männlich als weiblich. Zudem fange ich langsam an Sympathie zu entwickeln. Immerhin ist dieses Wesen ein Tier. Tiere handeln eigentlich ausschließlich instinktiv und nicht aus einem böswilligen Motiv heraus. Außerdem scheint er mich nicht fressen zu wollen. Was ein weiterer Pluspunkt ist.

Keine Ahnung warum mich dieses Geschöpf entführt hat, aber es scheint sehr einsam zu sein. Immer wenn es sich nicht gerade auf der Jagd befindet kommt er zu mir und beobachtet scheinbar fasziniert mein Tun. Obwohl Katzen eigentlich Einzelgänger sind, sucht er ständig meine Nähe.

Auch jetzt betrachtet er gespannt den Aktenschrank und dann mich. Ich ignoriere ihn, soweit wie es geht und fange an die alten Sachen heraus zu holen. Verfallene Dokumente mit verblasster Schrift, eine alte Geldkassette, fast aufgelöste Zeitungsausschnitte und eine Briefmarke. Was für eine Ausbeute. Ich hebe die einzelnen Blätter behutsam heraus und finde wieder ein Logo mit dem Schriftzug Gimini Intercorbs. Die Schrift ist so gut wie nicht mehr vorhanden, weshalb ich nicht mal ansatzweise den Inhalt entschlüsseln kann. Seufzend lege ich sie wieder hinein.

Ich nehme mir die Geldkassette vor. Das Schloss ist schon sehr alt und rostig, ich wette, wenn ich mit etwas als Hebel herangehe, kann ich sie öffnen. Ich suche mir ein geeignetes Metallstück und kann ganz leicht das Schloss zerstören. Im Inneren befinden sich knittrige Geldscheine und ein paar Schlüssel.

Mir kommt ein Gedanke. Ich schnappe mir die Schlüsseln springe auf und verlasse den Raum. Ich versuche gleich eine der verschlossenen Türen zu öffnen. Leider habe ich bei der ersten kein Glück. Mein Beobachter bleibt mir dicht auf den Versen und stellt seine Ohren auf, sobald ich vor mich hin fluche.

Auch die Zweite lässt sich nicht öffnen. Jetzt habe ich nur noch drei Türen. Eine mit verrosteter Klinke, eine ohne Klinke und eine Brandschutztür. Bei der letzten kann ich es gleich sein lassen. Ich wähle die ohne Klinke. Auch hier habe ich kein Glück. Mit hängenden Schultern nehme ich die letzte in Angriff, aber ich ahne schon, dass es hier das gleiche sein wird. Meine gerade gewonnene Hoffnung auf Freiheit hat sich in Luft aufgelöst.

Mit Tränen in den Augen trommle ich wütend auf die letzte Tür ein. Mein Frust lässt sich dadurch leider nicht Besänftigen. Als meine Fäuste anfangen vor Schmerz zu pulsieren lasse ich die unschuldige Tür in Ruhe und drehe ihr den Rücken zu. Traurig blicke ich zum Dach auf und sehne mich nach richtigem Sonnenschein, frischer Luft und einer ordentlichen Mahlzeit. Wenn ich doch nur eine der Wurzeln greifen und mich einfach hochziehen könnte.

Hinter mir ertönt ein lautes Scheppern. Erschrocken dreh ich mich um und muss erst einmal blinzeln um den Anblick zu verdauen. Mein Kater sitzt stolz auf der Tür und wedelt mit dem Schwanz. Eine Staubwolke kommt ihm entgegen und er niest ungeniert. Scheinbar hat er es geschafft die Tür irgendwie aus den Angeln zu treten.

Mir kommt es so vor, als ob er auf etwas warten würde. Ungeduldig zucken seine Ohren und sein Maul steht einen Spaltbreit offen. Ich hebe eine Hand und nicke ihm zu. „Danke.“ kommt aus meiner rauen Kehle. Der Kater scheint zufrieden und macht mir platzt. Er legt wohl viel wert auf gute Manieren.

Wie stark muss eine bärengroße Katze eigentlich sein, um eine zugeschlossene Tür einzutreten?

Ich schleiche mich an ihm vorbei und werfe einen Blick ins Innere. Der Raum ist riesig. Schränke sind an der Wand aufgereiht. Wieder gibt es hier viele Tische und Stühle. Aber was wohl die entschiedene Besonderheit an diesem Raum ist, ist die kleine, schmutzige Küche im hinteren Teil. Das alles wirkt wie ein Speisesaal, im dem früher gekocht und gegessen wurde. Mit großen Schritten marschiere ich auf den ersten Schrank zu und finde eine Reihe von geblümten Tellern und Tassen. Im nächsten gibt es eine große Anzahl von Schüsseln, Töpfen, Pfannen und Besteck. Die meisten Sachen haben bereits Rost angesetzt, aber die Schalen aus Plastik sind noch gut zu gebrauchen. Nur etwas verstaubt, aber ansonsten für mich sehr wertvoll. Ich freue mich über den neuen Schatz.

Schnell laufe ich zu der Kochzeile um diese genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei rutsche ich auf dem glatten Boden aus und knalle hart auf meinem Hintern. Ein Kichern dringt an mein Ohr und erstaunt drehe ich mich um. Zwei schelmisch grinsende Katzenaugen schauen mich an und das Maul scheint zu einem Lächeln verzerrt. Innerlich schüttle ich meinen Kopf. Das muss ich mir alles einbilden. Das Tier kann doch keine menschlichen Züge haben. Prüfend schaue ich nochmal über die Schulter und runzle meine Stirn. Ist es vielleicht doch möglich?

Mit schmerzverzerrtem Gesicht richte ich mich auf und laufe diesmal behutsamer zur Küche. Dort angekommen durchwühle ich zuerst die oberen Schränke. Hier gibt es wieder eine große Auswahl an Küchenutensilien. Dann bücke ich mich und öffne den ersten unteren Schrank. Vor Freude juble ich wie wild und mein Kater faucht erschrocken auf. Er kommt angerannt und sieht mich verwundert an. Ich krame in den Essensvorräten und fische mir eine Packung mit Trockenfleisch heraus. Aus Uhropas Erzählungen vom 2. Weltkrieg erkenne ich die Rationen an Fertignahrung. Einige sind sogar dafür geeignet, sie mit Hilfe von Wasser wieder weich werden zu lassen. Endlich was vernünftiges zu essen. Ich reiße die Tüte auf und stecke mir ein Stück des Fleisches in den Mund. Es ist eher fad und unglaublich fest, aber nahrhaft. Glaube ich jedenfalls.

Der verrückte Kater steckt seine Nase in den Schrank und beschnüffelt den Inhalt. Scheinbar findet er den Geruch nicht sonderlich appetitlich, weshalb er mit einem angewiderten Schnauben den Kopf zurückzieht. Ich halte ihm ein Stück von meinen Fleisch hin. Er verzieht das Gesicht und nimmt es dann in sein Maul. Mit seiner scheinbar angeborenen Eleganz erhebt er sich und trottet davon. Prüfend wirft er mir einen Blick über die Schulter und wartet scheinbar darauf, dass ich ihm folge. Ich wundere mich langsam nicht mehr über sein absonderliches Verhalten und tue ihm den Gefallen. Gemeinsam verlassen wir den Raum und er bleibt vor dem Abgrund stehen. Er prüft nochmal ob ich ihn beobachte. Dann lässt er das Fleisch in die Tiefe fallen.

Schallendes Gelächter erfüllt die Stille. Ich kann nicht mehr vor Lachen. Mein Zwerchfell krümmt sich zusammen und ich beuge mich kichernd nach vorne. Der Kater kommt angerannt und scheint nicht zu wissen was er mit mir anstellen soll. Erst knurrt er sanft, dann faucht er. Ich versuche mich zu beruhigen und atme tief durch. Dieses Bild ist für die Götter. Das Tier scheint sehr klug zu sein. Es hat sich meine Methode der Ablehnung abgeschaut und sie nachgeahmt. Einfach unglaublich.

Wenigstens brauche ich mir so keine Gedanken um die Verteidigung meiner Vorräte zu machen. Ich gehe wieder in die Küche und suche mir die Plastikschüsseln. Ich wische sie aus und verstaue mein Essen darin. Nach der Bestandsaufnahme schätze ich, dass ich einige Wochen mit dem Essen zurecht kommen könnte. Trotzdem hab ich ein viel größeres Problem: Wasser.

Leider funktioniert der Wasserhahn nicht, den ich über einer Spüle entdecke. Auch als ich an den Rädchen drehe um die Wasserzufuhr einzuschalten kommt nichts außer einem verhöhnenden Ächzen aus den Rohren heraus. Wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Ich gehe wieder in mein Zimmer zurück und baue mir in einer Ecke mein Essen auf. Natürlich werde ich auch hierbei wieder fleißig beobachtet. Ich lutsche nebenbei auf einer getrockneten Bananenscheibe und summe wieder das Lied Lemontree. Der Kater schlägt im Takt mit seinem Schwanz auf den Boden. Er scheint sehr musikalisch zu sein.

Als ich fertig bin setzte ich mich wieder in Bewegung. Mit neuem Tatendrang erfüllt stelle ich mich vor die Tür mit der von mir abgebrochenen Klinke. Wie erwartet folgt mir mein großer Stalker. Ich klopfe auf das Holz und sehe ihn an.

„Kannst du mir die hier auch öffnen?“ Als Antwort legt er seinen Kopf schief. Ich klopfe nochmal dagegen. „Aufmachen.“ Wiederhole ich. Dann trete ich zur Seite. Der Kater scheint verstanden zu haben und macht sich an die Arbeit. Dieses Mal kann ich beobachten, wie er die Tür öffnet. Er legt seine schweren Vordertatzen darauf und stemmt sich dagegen, als sie sich nicht bewegt donnert er mit aller Kraft auf sie ein. Mit einem lauten Poltern kracht sie in das Innere des Raumes und eine Staubwolke kommt uns entgegen. Er niest und ich tue es ihm gleich.

„Danke, braver Junge.“ lobe ich ihn. Wie schön wäre es, wenn er verstehen würde was ich meine, wenn ich sagte: „Bring mich heim.“ Nur leider bezweifle ich stark, dass diese Worte einen Sinn für ihn ergeben würden.

Trotzdem froh über meinen Fortschritt in der Kommunikation werfe ich einen Blick hinein. Leider sieht das mir sehr nach einem zweiten, verlassenen Schlafzimmer aus. Wieder stehen sich zwei Betten mit vergammelten Matratzen gegenüber. Auf dem Boden liegt eines der Kopfkissen. Ich gehe zum Schrank, aber leider ist auch der leer. Die Vorhergehenden Bewohner scheinen alles mitgenommen zu haben. Also auf zur nächsten.

Der Kater nutzt die gleiche Technik und öffnet den Raum. Er scheint gefallen an unserem Spiel zu finden. Trotzdem wartet er auf mein Signal, bevor er sich die letzte Tür vornimmt. Ich beginne mit dem Raum neben der Toiletten-Abstellkammer. Hier steht ein einzelner Schreibtisch mit Lampe. Beide scheinen noch gut in Schuss zu sein. Was mich aber am meisten interessiert sind die Akten in den Regalen. Scheinbar war das hier mal ein Büro. Ich greife mir den ersten Ordner, doch leider finde ich nur Rechnungen für Lebensmittel. Interessanter ist das Datum: 17. April 1941. Staunend ziehe ich meine Stirn kraus. Dieses Gebäude scheint aus der Zeit des zweiten Weltkrieges zu stammen. Allerdings habe ich hier noch kein einziges Hakenkreuz entdeckt, was mich schon sehr verwundert.

Ich greife mir den nächsten Ordner und finde die Rechnungen des Jahres darauf. Nach einiger Zeit ergreift mich wieder die Langeweile. In jedem Ordner finden sich wieder nur alte Rechnungsbelege. Nichts spannendes. Die ältesten sind von 1936 und die letzte Rechnung stammt von 1950. Wenn dass die Zeit war, in der die Bewohner verschwunden sind, dann steht dieses Gebäude schon seit fast 70 Jahren leer. Ich kenne mich nicht mit der natürlichen Verwitterung aus, aber ich glaube kaum, dass aus solch einem imposanten Gebäude innerhalb von 70 Jahre so eine Ruine werden kann.

Ich trete nach draußen und schaue mir das Treppenhaus mit seinen verschiedenen Etage nochmal genauer an. Viele Treppenabsätze sind angeschlagen oder fehlen gleich ganz. Manche Etagen sind vollkommen verschwunden. Man kann nur noch die Türen erkennen, die in der Wand eingelassen sind und erahnen, dass es auch dort mal ein Podest gegeben haben muss.

Was kann nur solch einen Schaden anrichten? Bombeneinschläge? Ich würde zu gerne einen Blick in die Vergangenheit werfen um heraus zu finden was geschehen ist.

Ein leises Brummen verlangt nach meiner Aufmerksamkeit. Ich wende mich dem Kater zu und betrachte ihn eingehen.

„Warum bist du hier?“

Natürlich antwortet er mir nicht. Trotzdem fange ich an mit ihm zu reden, als ob er meine Worte verstehen könnte. Zum einen um das Sprechen nicht zu verlernen und zum anderen um diese erdrückende Stille zu übertönen.

„Was bist du eigentlich? Ich meine, wenn du kleiner wärst dann könntest du als komische Katze durchgehen. Aber so erinnerst du eher an einen Bären. Dein Kopf hat merkwürdigerweise die Form eines Wolfes. Aber deine Pfoten und dein Schwanz sind der einer Katze sehr ähnlich. Was für eine seltsame Mischung. So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen“

Ich schaue ihm in die grauen Augen und staune mal wieder über deren Färbung. Wenn das wenige Licht, dass seinen Weg nach unten findet auf einen bestimmten Winkel trifft dann glänzen sie wie flüssiges Quecksilber. Seine Pupillen ähneln denen einer Katze. Scheinbar kann er im dunkel ausgezeichnet sehen. Auch die Laute, die er von sich gibt sind sehr unterschiedlich. Mal schnurrt er wie ein zufriedener Kater, dann knurrt er wie ein Hund. Das Brüllen kann ich nicht zuordnen, nach einem Bären klingt es aber nicht.

Die Kuriosität ist seine Menschlichkeit. Viel zu deutlich kann ich menschliche Emotionen erkennen. Auch scheint er meine Worte und deren Sinn langsam zu begreifen. Er ist sehr intelligent, wird aber auch unglaublich schnell ungeduldig, wenn es nicht nach seinem Kopf geht. Was aber viel wichtiger ist, ist die Tatsache, dass er mir kein Leid zufügen will. Auch wenn ich ihn das eine oder andere Mal scheinbar zur Weißglut gebracht habe, tobt er seine Wut an den Schreibtischen in seinem Raum aus. Wenn er sich beruhigt hat kommt er zurück und tut so, als ob nichts gewesen wäre. Wie ein kleiner Junge klebt er dann an meinem Rockzipfel.

 

Die Zeit tröpfelt dahin und ich weiß nicht mehr wie lange ich schon hier unten bin. Meine Beschäftigungen haben sich dem Ende zugeneigt. Im letzten Raum befand sich rein gar nichts. Die Wände sind mit Stahl verkleidet und trotzdem von Kratzspuren entstellt. Knapp unter der Decke ist ein Schacht eingelassen aus dem verbrauchte, warme Luft kommt. Das war wohl auch der Grund für den Luftzug, der mich unter der Tür so verräterisch gelockt hat. Also doch kein Ausgang.

Der Raum wirkt auf mich beängstigend und abweisend, weshalb ich ihn meiden werde. Auch mein Kater setzt keine Pfote hinein.

Irgendwann im Laufe des Abends hat es zu regnen begonnen und mein Wasserproblem hat sich von allein gelöst. Ich habe mit sämtlichen Schüsseln und Eimern das erfrischende Nass aufgefangen, sie ausgespült und noch mehr aufgefangen. Endlich kann ich meinen Durst stillen und mich etwas sauber machen. Auch habe ich mir einige der noch brauchbareren Handtücher aus der Abstellkammer geholt und mit dem alten Fit, dass ich in der Küche unter der Spüle entdeckt habe, ausgespült. Nun trocknen sie so vor sich hin.

Nach der eingehenden Studie der Räume lässt sich nichts interessantes mehr finden. Ich habe begonnen mit dem Kater den ich aus einer Laune heraus auf Liam getauft habe zu reden.

Liam hört mir gerne zu und scheint regelrecht auf meine Stimme zu warten. Aus Langeweile habe ich begonnen ihm meinen Lebenslauf bis ins kleinste Detail zu erzählen. Er genießt es regelrecht sich in einiger Entfernung hin zu legen und zu lauschen. Manchmal gibt er bestätigende Laute von sich. Das kann auch meine Einbildung sein.

Nachdem meine Handtücher getrocknet sind, breite ich sie auf meinem provisorischen Bett aus und versuche es mir so gemütlicher zu machen. Auf diese Wiese ist mir nachts wenigstens nicht mehr ganz so kalt.

Es hat mich am Anfang mehr Nerven gekostet, als gedacht, diesem Kater beizubringen mir nicht aufs Klo zu folgen. Immer wieder hat er geknurrt und gegen die Tür gehämmert. Aber mein Wort: Nein scheint er schon gut verinnerlicht zu haben.

Dumm ist er aber keinesfalls. Er reizt mich gerne so lange, bis ich meine Stimme schärfer einsetze, nur um zu testen wie weit er gehen kann. Es kommt mir manchmal so vor, als ob ich ein kleines Kind erziehen würde. Hier zeigt meine jahrelang antrainierte Geduld ihren wahren Wert.

Mir ist auch aufgefallen, dass Liam sehr verspielt ist. Er ärgert mich absolut gern. Manchmal klaut er etwas von meinen Lebensmitteln, da er bemerkt hat wie sehr ich sie behüte. Dann versteckt er sie vor mir. Meistens sucht er auch meine Aufmerksamkeit, wenn ich mal keine Lust habe ihn zu beschäftigen und in meinen Grübeleien versinke. Dann stupst er mich mit der Schnauze oder der Pfote solange an, bis ich mich resigniert ihm widme.

 

So vergehen die Tage. Ich weiß nicht wie lange ich schon vermisst werde, aber irgendwie glaube ich kaum noch an eine Rettung.

Heute regnet es wieder einmal und ich kann meinen Wasservorrat auffrischen. Als ich anfange wiedereinmal die Stühle umzusortieren, nur um mich zu beschäftigen und in Bewegung zu halten höre ich ein lautes Poltern.

Liam kommt wohl gerade von einem seiner Ausflüge zurück. Er springt vom Dach und landet sanft auf einem Absatz. Von dort aus klettert er Stück für Stück herunter. Ich warte bereits auf ihn und locke ihn in mein Zimmer. Er folgt brav. Dann setze ich mich auf einen Stuhl und warte bis er sich vor mir niederlässt und mir mein obligatorisches Obst überreicht. Ich danke ihm brav für die Birnen und wundere mich wiedereinmal wo er die her hat. Ich meine, so eine große Katze müsste ja auffallen, wenn sie Obst aus Nachbars Garten klaut.

Ich hebe die Birnen auf und betrachte sie genau. Sie glänzt etwas feucht von seinem Speichel und leichte Zahnabdrücke sind zu erkennen. Dann sehe ich zu Liam hinüber, der anfängt sich zu putzen. Immer wieder habe ich versucht ihm eine Rasse zuzuordnen. Aber langsam habe ich keine Lust mehr herumzuknobeln.

Um meinen Drang zu befriedigen erkläre ich Liam kurzerhand zu einem Mythos. Für mich ist er eindeutig eine Chimäre. Das klingt für mich jedenfalls sehr logisch.

Keine Ahnung wie Chimären entstehen könnten, aber er trägt scheinbar Gene von einer Raubkatze, einem Wolf und einem Bären in sich. Wer weiß was sich noch so alles in ihm verbirgt. Früher habe ich gerne herum gesponnen und bei dieser andauernden Langeweile fange ich wieder damit an:

Ich stelle mir vor, wie er aus einem Ei schlüpft, das vielleicht seit Jahrhunderten verborgen war und mutterseelenallein herumirrt. Da er der einzige seiner Rasse ist hat er sich nach Gesellschaft gesehnt und mich deshalb entführt. Ich war also einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

„Armer Kerl.“ sage ich laut und ernte einen vorwurfsvollen Blick, ganz so als ob Liam kein Mitleid akzeptieren würde. Ich nehme meine Birne und lege sie zu dem anderen Obst, danach ergebe ich mich wieder meiner gewohnten Langeweile und versinke im Nichtstun.

Kapitel 2 - Verhaltensentwicklung

 

 Kapitel 2.1 - Beschützerinstinkt

 

 

 

Die Bestien neigen sehr zu besitzergreifendem Verhalten.

Sie teilen nur ungern ihr Eigentum und verteidigen dieses

mit allen Mitteln.

Es ist wichtig schon im Anfangsstadium der Erziehung

diesem Verhalten ein Ende zu setzten da es sonst später zu

unnötigen Komplikationen kommen könnte. Eine strenge Hand

und klar definierte Grenzen sind Grundvoraussetzungen für

eine erfolgreiche Erziehung der Bestie.“

 

 

 

Ein lautes Fauchen weckt mich auf. Ich versuche Liam zu ignorieren und drehe mich zur Wand um. Fluchend murmle ich in meine provisorische Decke. In letzter Zeit verbringe ich meine Tage viel mit schlafen, schlafen und noch mehr schlafen.

Aber das scheint meinem verspielten Kater auf die Nerven zu gehen. Halbherzig versuche ich ihn mit meiner wedelnden Hand fort zu scheuchen, aber leider bringt das rein gar nichts. Das Fauchen wird immer lauter. Wütend rapple ich mich auf und überlege schon, wie ich ihn zusammenstauchen werde.

„Liam, was soll das?“ rufe ich ärgerlich. Doch vor mir hockt nicht mein Kater, sondern ein Tiger. Ein Tiger mit fünf flauschigen Schwänzen. Wie kann das denn sein? Noch eine Chimäre?

Plötzlich kommt das Tier auf mich zugesprungen und versucht mich mit dem Maul zu erwischen. Panisch kreische ich und springe vom Tisch. Ich rase aus dem Raum und komme vor dem Abgrund zum stehen. Mein Herz pumpt auf Hochtouren was es schon länger nicht mehr machen musste. Der Tiger brüllt und setzt wieder zum Sprung an. Schnell lasse ich mich auf den Boden fallen und rolle zur Seite.

„LIAM!!“ kreische ich vor lauter Verzweiflung. Ein mir bekanntes Brüllen antwortet und mein Retter springt vom Dach direkt auf unsere Etage. Sofort entbrennt ein heißer Kampf zwischen den beiden.

Liam ist fast doppelt so groß wie der Tiger. Er verbeißt sich in der Seite seines Feindes und bringt ihn zum Bluten. Der Eindringling seinerseits versucht ihn mit seinen Krallen zu erwischen, bleibt aber erfolglos. Zwar trifft er Liam mehrmals, kann aber keinen Kratzer hinterlassen. Stattdessen klingt es fast so, als ob seine Krallen über pures Metall schaben würden. Wie eigenartig.

Liam gelingt es mit Leichtigkeit den Tiger zurück zu drängen bis dieser das Weite sucht. Allerdings denkt mein Kater nicht daran seine Beute frei zu geben. Nein, stattdessen jagt er wie ein Berserker hinter ihm her. Sie verschwinden in der Tiefe. Von Weitem kann ich nur noch das Brüllen und Fauchen der beiden Kontrahenten hören.

Mit zittrigen Knien bleibe ich hocken und lege die Arme um meinen Körper. Um ein Haar wäre ich zu einem Festmahl für eine Tigerchimäre geworden. Es verstreicht eine Ewigkeit, bis Liam wieder auftaucht und der Lärm erstickt. Doch zu meiner Verwunderung kommt er nicht von unten hoch geklettert, sondern springt wieder elegant vom Dach. Scheinbar gibt es da unten einen direkten Weg ins Freie.

Mein Beschützer kommt zu mir und beschnüffelt prüfend mein Haar. Er will offenbar herausfinden ob ich verletzt bin. Wut kommt in mir hoch. Ich funkle ihn von der Seite an.

„Wo warst du? Wie kannst du mich alleine lassen. Ich wäre beinahe gefressen worden!“ schimpfe ich ihn aus. Empört zuckt Liam zurück. Scheinbar hat er nicht mit einer Strafpredigt gerechnet. Noch außer mir von dem Erlebten rase ich in mein Zimmer und knalle die Türe zu. Ich roll mich auf meinem Tisch zusammen und fange an lauthals zu schluchzen.

Von draußen höre ich dicke Pfoten am Holz kratzen und ein leises winseln. Ich kann nicht anders und weine nur noch lauter. Zu hause wäre mir so etwas nie passiert. Ab heute werde ich keine Ruhe mehr haben, wenn Liam mich alleine zurücklässt. Angst, Panik, Mutlosigkeit, Hilflosigkeit. All diese Emotionen kommen in mir hoch. Ich gerate langsam, aber sicher an meine Grenzen. Ich will wieder zurück in die Zivilisation. Ich will wieder nach hause und mich sicher und geborgen fühlen.

 

Einige Tage sind ohne weitere Zwischenfälle verstrichen und meine Angst hat sich etwas gelegt. Liam bringt mir jetzt jeden Tag mehre Kleinigkeiten mit. Neuerdings schleppt er mir nicht nur Früchte sondern auch Steinchen oder Stöcke an. Gestern hat er mir sogar eine Muschel geschenkt. Warum er mich andauernd mit etwas neuem Überrascht ist mir unklar. Allerdings scheint er jetzt nicht mehr so lange weg zu bleiben. Die Abstände, in denen er verschwindet werden immer kürzer.

Meine Rationen schwinden jeden Tage immer mehr dahin. Ich traue mich kaum mehrmals am Tag zu essen.

Ich blicke hoch zur Decke und wundere mich, warum Liam nicht langsam zurückkommt. Er ist heute Morgen wieder aufgebrochen und wenn ich den Helligkeitsgrad einschätze, dann ist es bereits gegen Mittag. Das ist ungewöhnlich für ihn. Besorgt lauf ich im Kreis herum und frage mich, ob etwas passiert ist. Ich habe keine Lust hier unten alleine herum zu hängen

Plötzlich höre ich von Oben ein Poltern und Rascheln. Erleichtert atme ich auf bis ich einen zweibeinigen Schatten erkenne. Ich schirme meine Augen ab und versuche nicht zu blinzeln.

Ist das ein Mensch? Hoffnung keimt in mir auf. Ist das womöglich meine Rettung? Aufgeregt laufe ich näher an den Abgrund.

„Hallo?“ rufe ich freudig nach oben. Doch die Antwort fällt anders aus als erwartet. Das Meckern einer Ziege dringt nach unten. Die zweibeinige Kreatur lässt sich fallen und vollführt einen Salto in der Luft. Mit Grazie landet sie genau vor mir. Verwundert drehe ich den Kopf und betrachte diese neue Chimäre gründlich. Gibt es hier ein Nest oder so was?

Sie steht auf den Hinterläufen eines Hirsches, hat einen Ziegenkopf mit Hörnern. Der Oberkörper und die Arme gleichen denen eines Menschen.

Gott, was ist das für ein Wesen? Träume ich? Das Ding trägt doch tatsächlich eine Hose! Und die ist sogar im besseren Zustand als meine eigene.

Die Ziege mustert mich abfällig. Plötzlich komme ich mir schäbig vor in den Klamotten die ich trage. Immerhin habe ich seit, wer weiß wie lange, keine Seife mehr gesehen. Verlegen trete ich von einem Bein aufs andere und fühle mit wie eine Obdachlose.

„Was hast du hier zu suchen?“ giftet mich diese Ziege mit leichtem Akzent an.

„Du kannst sprechen?“ kontere ich verdattert. Sie wirft mir einen ungeduldigen Blick zu und wartet scheinbar auf meine Antwort. Irgendwie nervt die mich jetzt schon. Ich spüre wie mein altes Ich in mir hoch kommt und trotz in mir aufsteigt.

„Ich langweile mich hier zu tote.“ gifte ich sie an.

„Scheinbar funktioniert das nicht ganz, was?“ gackert das Vieh. Macht es sich gerade über mich lustig?

„Nein, scheinbar nicht.“ meine ich mürrisch. Auf einmal kommt Bewegung ins Spiel. Blitzschnell schmeißt sie mich über ihre Schulter und springt nach oben. Kreischend fliege ich durch die Luft. Warum werde eigentlich immer ich von den Chimären entführt? Liegt das an irgend einem Pheromon, dass nur ich absondern kann und diese Kreaturen damit anlocke? Anders kann ich mir meine Situation sonst nicht erklären. Panisch versuche ich mich an dem nackten Oberkörper festzuhalten, was mir nicht sonderlich gut gelingt.

Gemeinsam springen wir durch das Dach und landen auf dem Boden. Boden? Ich nutze die kurze Atempause und blicke mich rasch um. Um mich befindet sich viele grüne, saftige Bäume. Im Boden gibt es ein großes Loch aus dem ein kleiner Teil der Kuppel herausragt. Jetzt dämmert mir auch, warum ich so wenig von dem Tageslicht abbekommen habe.

Die Ziege setzt sich wieder in Bewegung. Ich habe zwei Möglichkeiten. Entweder rufe ich mit aller Kraft nach Liam und werde gerettet. Danach wird er mich aber bestimmt wieder nach dort unten bringen. Oder aber ich halte still und warte auf eine günstige Gelegenheit zum fliehen. Die Ziege hat scheinbar keine scharfen Zähne und klauen, weshalb sie für mich weniger Bedrohlich wirkt, als Liam und der Tiger mit den fünf Schwänzen.

Wir springen ewig durch die Bäume. Manchmal wechselt mein Entführer die Richtung, dann geht es aber weiter gerade aus. Plötzlich ohne Vorwarnung landen wir auf einer Straße. Die Ziege setzt mich auf dem Boden ab und schubst mich auf einen Transporter zu, der am Waldrand geparkt hat. Ich glaub es nicht. Kann sie etwas Auto fahren?

Die Seitentür geht auf und ich werde in den dunkelblauen Wagen hinein gezerrt. Unsanft lande ich auf meinen Knien und ein Mann in Uniform hält mir eine Waffe an den Kopf. Scheiße! Vom Regen in die Traufe.

Ich traue mich kaum zu atmen und versuche meine Lippen zu befeuchten. Neben ihm sitzt eine Frau im Anzug. Beide sehen aus wie normale Menschen, aber vielleicht haben sie ihre tierischen Gliedmaßen nur gut versteckt.

„Wie ich diese Herumschnüffler hasse. Jedes mal das gleiche. Glauben die tatsächlich, dass sie lebend von unserem Territorium herunterkommen?“ fragt diese leicht gelangweilt. Der Mann in Uniform grunzt nur.

„Na los töte sie endlich damit wir nach hause fahren können.“ Ein leises klicken verrät mir, dass die Waffe scheinbar entsichert wurde. Panisch ringe ich um Worte.

„Bitte nicht.“ ist alles was ich aus meinem trockenen Mund herausquetschen kann, doch leider werde ich ignoriert. Mit lautem scheppern reißt die Ziege die Tür auf.

„Herrin XS-707-GP4 wurde gesichtet.“

„Was macht der hier in dieser Gegend?“ kommt es panisch von der Frau. Der Mann schiebt mich achtlos zur Seite und brüllt: „Losfahren!“ nach vorne. Erst jetzt bemerke ich, dass die vordersten beiden Sitze ebenfalls besetzt sind. Der Transporter setzt sich in Bewegung und röhrt laut auf, als der Fahrer zu viel Gas gibt. Ich werde an die Seite geschleudert und bin erst einmal froh, dass mich keiner mehr beachtet.

Mein Kopf knallt mehrmals gegen die Wand. Ich versuche mich mit den Beinen auf dem Boden fest zu stemmen und so mehr Halt zu bekommen. Von der Seite mustere ich verstohlen meine Mitfahrer.

Die Frau scheint sich langsam beruhigt zu haben und tippt irgendetwas in ihr ipad. Ihre langen Finger wischen flink über die Anzeige. Sie hat ihre schwarzen Haare zu einem strengen Zopf gebunden und wirkt sehr vertieft. Was sie wohl gerade macht? Ich glaube kaum, dass sie vor lauter Langeweile Bubble Saga spielt.

Der Uniformierte Mann hat blonde Haare und helle, blaue Augen. Wenn er nicht so mürrisch dreinblicken würde, könnten seine sonnengebräunte Haut und seine Lachfältchen ihn um einiges sympathischer wirken lassen. Er telefoniert und ich spitze ungeniert meine Ohren.

„... ja richtig gehört. Ohne Zweifel ist es der alte XS-707-GP4. Wir sind gerade auf der Flucht. Katis ZP-984 kommt gegen den nicht an. Richtig. Das erklärt wohl auch das Verschwinden von dem VP-963. Keine Ahnung warum der hier ist. Vor drei Monaten war er noch in Bayern. Ja. Ich glaub wir haben ihn abgehängt. ZP-984 hat eine Schnüfflerin aufgegabelt. Genau, beim alten Labor. Denke die kommt von diesen Störenfrieden. Hat wohl ziemlich viel Zeit dort verbracht, so wie die aussieht und riecht. Gut wird erledigt.“

Nach dem er auflegt sieht er mich finster an. Kati lehnt sich entspannt zurück und mustert mich. Ihre Augen wirken hinterhältig. Ich kann sie jetzt schon nicht leiden. Der Mann beugt sich zu mir vor und zieht an meinen Haaren. Innerlich frage ich mich, ob mir mein Gestank wohl dabei helfen kann, um ihn auf Distanz zu halten.

„Also, nun zu Ihnen. Was wollten Sie in dem alten Labor?“

Fieberhaft überlege ich, was er meinen könnte, dann fällt mir mein die Ruine wieder ein. Mein Gehirn fängt endlich wieder an zu arbeiten. Das war also ein Labor?

„Ich wurde entführt.“ gebe ich kleinlaut zurück. Mein Gegenüber runzelt die Stirn und hat scheinbar nicht mit dieser Antwort gerechnet.

„Die Lügt doch Luka.“ mischt sich Kati ein.

Luka wendet seinen Blick nicht von mir ab. „Und wer soll Sie entführt haben?“ fragt er misstrauisch.

„Liam.“

„Und wer ist Liam?“ ein genervtes schnauben.

„Ähm. Eine große Katze?“ Klar das glaubt mir doch keiner. Luka knallt meinen Kopf gegen die Wand. Ein dröhnen schallt in meinen Ohren.

„Aua!“

„Jetzt zu der Wahrheit.“

„Das ist die Wahrheit!“

Plötzlich kommt das Fahrzeug ins Straucheln. Ein Poltern ist auf dem Dach zu hören und Luka flucht lautstark. Er lässt meinen Kopf los uns stützt sich an der Wand ab. Kati ruft panisch nach ZP-984. Was haben die nur mit diesen Buchstaben und Zahlen? Ich schaue zum Dach und beobachte entsetzt, dass irgendetwas seine Krallen hinein versenkt. Ohne große Probleme öffnen zwei starke Pranken das Auto wie eine Ölsardinenbüchse. Brüllend erscheint der Kopf eines Wolfes.

„Liam.“ rufe ich erleichtert.

„Was?!“ kommt es von beiden Seiten. Luka sieht mich verwundert an, dann greift er in seine Jackentasche und holt eine andere Waffe heraus. Liam streckt seine Klauen ins Innere und versucht Kati herauszuziehen. Der Wagen wird schlagartig angehalten und ich werde nach hinten geschleudert. Luka reißt die Seitentür auf und schießt nebenbei auf meinen Kater, als wäre das das natürlichste der Welt. Geschockt sehe ich, wie er sein Ziel trifft.

Die Kugeln prallen aber einfach an ihm ab, ganz so, als ob er bloß mit Wattebällchen beschossen wurde. Sie hinterlassen einen metallischen Nachklang. Der Mann flucht ungehalten. Plötzlich springt die Ziege von außen auf Liams Kopf und schleudert ihn vom Dach. Luka nutzt die Chance und hechtet aus dem Wagen. Auch die beiden im vorderen Bereich steigen aus und entsichern ihre Waffen.

Kati späht aus der Tür und gibt der Ziege scheinbar Anweisungen. Ich schiebe mich neben sie und versuche einen Blick auf Liam zu erhaschen. Er brüllt Luka gerade an und hält einen der anderen Männern unter sich gefangen. Die Ziege ist schwer verletzt und versucht an Liam heranzukommen, doch dieser ist größer denn je. Er wirkt auf mich, als ob er glatt nochmal drei Meter gewachsen sei. Ich kann mich aber auch täuschen, immerhin sehe ich ihn zum ersten mal bei vollem Tageslicht.

Er ist eine imposante Erscheinung und löst Ehrfurcht in mir aus. Sein Fell glänzt wirklich wie polierter Stahl. Seine Augen glühen wie flüssiges Quecksilber, der kräftige Schwanz, sowie die spitzen Ohren sind vollkommen aufgestellt. Stolz macht sich in mir breit. Ein merkwürdiger Zeitpunkt dafür.

Liam hebt eine seiner Pranken und will auf den Mann einschlagen. Das darf er nicht! Er darf niemanden töten! Schnell stehe ich auf und renne ohne nachzudenken nach draußen. Ich wedle mit den Armen um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

„Liam! Nein!“ rufe ich im scharfen Ton. Er richtet seine Ohren in meine Richtung und blickt mich an. Sein Fauchen dringt mir entgegen. Luka sieht mich entsetzt an und scheint seinen Augen nicht zu trauen. Vorsichtig schiebe ich mich an Liam heran und rede beruhigen auf ihn ein. Er bleibt skeptisch, kommt aber auf mich zu. Ich warte bis er vor mir zum sitzen kommt.

„Guter Junge, braver Liam.“ lobe ich ihn mit viel Stolz in der Stimme. Wachsam bleibt er sitzen und beäugt die Umgebung. Ich mach dem Mann ein Zeichen und er steht erleichtert auf. Als ich mich umdrehe erwarten mich schreckgeweitete Augen. Ich kann mir ein Grinsen nicht unterdrücken und zeige voller Genugtuung auf meinen Retter.

„Das ist Liam. Die Katze die mich entführt hat.“

 

Luka kommt auf mich zu und beäugt Liam misstrauisch. Kati traut sich nicht aus dem Wagen heraus und beobachtet mich mit zusammengekniffen Augen. Ich spüre auch die Blicke der anderen Männer, deren Namen ich nicht kenne. Scheinbar weiß keiner was er sagen soll. Ich auch nicht. Die stille drückt mir auf die Nerven und ich halte es einfach nicht mehr länger aus.

„Und was jetzt? Wollen Sie mich immer noch umbringen?“

„Ehrlich gesagt, ja. Aber ich glaube kaum, dass XS-707-GP4 das zulassen wird.“ stellt Luka fest.

„Warum?“

„Weil er Sie scheinbar verteidigen wird.“

„Das meine ich nicht. Das weiß ich auch so. Ich will wissen, warum Ihr mich töten wollt.“

„Sie sind keine von uns.“ Mehr bekomme ich nicht aus ihm heraus. Sein Telefon klingelt und unterbricht uns. Luka wendet sich ab, trotzdem kann ich seine Worte klar verstehen.

„Es gab eine ungeplante Verzögerung. XS-707-GP4 hat uns angegriffen. Es gibt keine Toten. Allerdings gibt es da ein anderes Problem.“ meint Luka und wirft mir einen Blick zu. „Der alte Knabe hat sich einen neuen Master ausgesucht.“ Damit beendet er sein Telefonat. Luka dreht sich wieder mir zu und nickt mit dem Kopf in Richtung Transporter.

„Einsteigen.“

Widerwillig gebe ich nach. Lieber folge ich den Fremden, als von meinem Kater wieder in das gammelige Labor mit den dürftigen Vorräten verschleppt zu werden. Liam trottet mir empört hinterher und kann sich ein ungehaltenes Brummen nicht verkneifen. Seine Augen mustern die Männer intensiv misstrauisch. Er bleibt vor der Tür stehen und knurrt mich leise an. Scheinbar will er mich nicht so schnell ziehen lassen.

Ich quetsche mich an die hinterste Wand und klopfe auf den Boden neben mir. Ich weiß, dass er mich wahrscheinlich nicht alleine gehen lassen wird, darum versuche ich ihn hinein zu locken. Er schnauft abfällig.

„Liam, komm mit. Ich will nicht mehr zurück.“ Wieder ein abfälliges schnauben. Zum Zeichen meiner Unnachgiebigkeit verschränke ich meine Arme vor der Brust. Abermals sieht er sich um, dann aber gibt er nach und klettert ebenfalls in den Wagen.

Mit einem lauten Plumpsen lässt er sich vor mit fallen und nimmt so den halben Wagen in Anspruch. Kati traut ihm scheinbar nicht. Sie flüchtet auf den zweiten Beifahrersitz und blickt stur gerade aus.

Ich lasse meine Schultern sinken und versuche so entspannt wie nur möglich zu wirken. Luka setzt sich mir gegenüber muss aber aufpassen, dass er Liam nicht berührt. Er macht einen recht angespannten Eindruck. Scheinbar flößt mein Liam ihm Respekt ein.

Wem auch nicht? Ich habe gerade miterlebt, wie er mit scharfer Munition beschossen wurde und keinen einzigen Kratzer abbekommen hat. Außerdem frage ich mich, warum er mir erlaubt hat mit den Fremden mitzugehen, obwohl es ihm scheinbar ganz und gar nicht recht ist.

Kapitel 2.2 - Abwechslung

 

 

 

Es ist wichtig der Bestie soviel Abwechslung wie möglich

zu bieten damit sie sich nicht langweilt. Wenn Sie die Phase

der ersten Wochen erfolgreich absolviert haben, dann holen Sie

ihr Geschöpf doch mal aus seiner vertrauten Umgebung heraus.

Sie werden sehen, dass sich ihre Bestie schnell an eine andere

Umgebung anpassen kann. Gehen sie aber sicher, dass sie auf

keine zu reizvolle Umgebung trifft, da sie noch sehr empfindlich

ist und schnell die Kontrolle verlieren könnte.“

 

 

 

 

 

 

Während der Fahrt sagt keiner ein Wort. Ich muss erst einmal verdauen was gerade eben geschehen ist. So wie es aussieht wollen mich Luka und Kati immer noch umbringen. Ihre Blicke sprechen Bände. Kati sieht immer wieder zu mir nach hinten und bewirft mich spürbar mit ihrer Feindseligkeit. Womit habe ich das nur verdient?

Was meinten sie eigentlich mit der Aussage, dass ich keine von ihnen wäre? Auf mich wirken sie recht normal und menschlich. Doch die Tatsache, dass Kati ihre eigene Chimäre zu haben scheint, beweist mir leider, dass ich mich irren muss. Da steckt mehr dahinter, als es den Anschein hat.

Wo bin ich da nur hineingeraten? Und was hat Liam mit all dem hier zu tun?

Denn der Einzige, der mich jetzt noch vor dem sicheren Tod bewahren kann, ist Liam. Eine eigenartige Vorstellung, da ich ja am Anfang angenommen habe, dass er mich auffressen will. So wendet sich das Blatt.

Luka hat offenbar weniger Interesse an mir, da er mich kaum eines Blickes würdigt. Dennoch fühle ich auch bei ihm eine große Anspannung, die mit Feindseligkeit verbunden ist.

Keiner der Insassen fragt nach meinem Namen, noch nach meiner Herkunft. Meine Chimäre bekommt dafür mehr Aufmerksamkeit. Der Fahrer und der zweite Beifahrer sind sichtlich Nervös. Immer wieder wandern ihre Augen nach hinten zu Liam.

Auch Luka beobachtet meinen Begleiter. Er scheint Liam schon einmal begegnet zu sein, wenn ich seine Reaktion von vorhin richtig beurteile.

Habe ich das bei seinem ersten Telefonat richtig verstanden? War Liam vor drei Monaten in Bayern? Was hatte er da zu suchen? Wie kommt er hier her? Warum ist er hier her gekommen? Und wiedereinmal frage ich mich, warum ich von ihm entführt wurde.

Ich habe wenig Hoffnung, dass ich bald aufgeklärt werde, darum lehne ich mich zurück und warte einfach ab.

Es gibt hier leider kein Fenster, mit dessen Hilfe ich mir einen Überblick von meiner Umgebung machen könnte. Ob sich da draußen wohl gerade ein Autofahrer wundert, wie der Transporter zu seinem neuen Dachfenster gekommen ist? Liams Werk ist deutlich zu erkennen. Das umgeklappte Dach scheppert laut beim fahren und dröhnt in meinem angeschlagenen Schädel. Aber keiner scheint sich daran zu stören. Darum zucke ich mit den Schultern und versuche das stetige Klappern zu ignorieren und meine Kopfschmerzen zu beruhigen.

 

Keine Ahnung wie lange wir jetzt schon unterwegs sind, aber der Wagen hält endlich an. Eigenartige Geräusche dringen an mein Ohr die ich nicht einordnen kann. Dann geht die Seitentür mit einem Ruck auf. Künstliches Licht kommt mir entgegen und juckt in meinen Augen.

„Bewegen Sie sich!“, schnauzt mich Luka an. Da ich keinen unnötigen Ärger provozieren will befolge ich seinen Befehl und springe aus dem Transporter. Liam folgt mir gemächlich. Er bleibt dicht hinter mir stehen und lässt seinen Blick scheinbar lässig schweifen. Aber nach der Zeit, die ich mit ihm verbracht habe, kann ich seine Körperhaltung gut einschätzen und so erkennen wenn ihn etwas beunruhigt.

Ich beobachte seine Reaktion. Die Ohren sind aufgestellt und seine gesamte Körpermuskulatur angespannt. Er erweckt, für das ungeübte Auge den Anschein, dass ihn die vielen Soldaten nicht stören. Er wirkt lässig und bewegt sich so anmutig, als ob das hier sein Reich wäre und er das Sagen hätte.

Seine ganze Körperhaltung strahlt pure Dominanz aus. Dennoch lässt er mich keine Sekunde aus den Augen und streift immer wieder mit seinem Schwanz meinen Körper. Ich versuche meine eigenen Anspannung nicht auf ihn zu übertragen, sonst könnte er vielleicht auf die Idee kommen mit mir abzuhauen.

Also schaue ich mich erst einmal selbst um. Seine Anwesenheit schenkt mir ein klein wenig Sicherheit. Darum versuche auch ich gelassen zu wirken, obwohl mein Herz wie wild vor sich hin hämmert.

Wir befinden uns in einer riesigen Halle. Links und rechts von mir stehen jeweils zwei Reihen von schwer bewaffneten Soldaten. Sie beobachten jede meiner Bewegungen und beäugen Liam ängstlich. Ich kann die Anspannung in dem Raum praktisch mit meinen Händen greifen.

Wie aus dem nichts taucht die Ziege wieder auf. Sie humpelt zu mir heran und beäugt Liam misstrauisch. Er knurrt seinerseits. Scheinbar möchte er nicht, dass mir die Ziege zu nahe kommt. Das kluge Tier bemerkt es und bleibt einige Meter von mir entfernt stehen. Ein leichtes Humpeln und einige blaue Flecken an seinem Körper zeugen von der vorangegangenen Auseinandersetzung. Beinahe könnte mir die Ziege leid tun.

„Bitte folgen.“

Kurz werfe ich einen Blick über die Schulter, muss aber feststellen, dass Luka und Kati bereits verschwunden sind. Achselzuckend folge ich der sprechenden Ziege mit Hose. Wie absurd ist das denn?

Die Soldaten bewegen sich dafür keinen Millimeter vom Fleck. Wie Statuen stehen sie eingefroren an ihrem Platz und vermeiden jeglichen Augenkontakt mit Liam. Ich hingegen ernte mehr als einen tödlichen Blick. Seufzend frage ich mich zum tausendsten Male, was ich nur verbrochen haben könnte.

Die Ziege, Liam und ich durchqueren die Halle und verschwinden hinter einer Metalltür. Irgendwie kommt die mir bekannt vor. Bei genauerer Betrachtung stelle ich einige ähnliche Merkmale, wie bei der Brandschutztür in dem Labor fest. Nur dass sich hinter ihr tatsächlich ein Gang befindet und keine kleine Kammer mit Abzugsschacht.

Eine weitere Gemeinsamkeit scheint der Name dieser Einrichtung zu sein. Mitten auf der Wand steht in großen Buchstaben: Gimini Intercorbs. Ob es auch hier Bademäntel mit dem gleichen Aufdruck gibt? Bei dieser Vorstellung muss ich innerlich grinsen.

 

Der Gang ist nur spärlich beleuchtet, dafür aber kilometerlang. Hier und da führen ein paar Türen in eine unbekannte Welt. Die Ziege läuft einfach weiter stur geradeaus ohne ein einziges Mal anzuhalten und zu kontrollieren, ob ich auch brav folge.

Als ich schon fast glaube, heute nicht mehr anzukommen, bleibt sie plötzlich stehen und öffnet eine weitere Brandschutztür. Wir treten in einen hell erleuchteten Raum. Denke ich jedenfalls zuerst. Aber nach kurzem blinzeln wird mir klar, dass ich mich in einer viel jüngeren und besser gepflegten Variante meines ehemaligen Gefängnisses befinde. Auch hier gibt es eine große Glaskuppel, die allerdings noch vollkommen in Takt ist. Durch die Fenster dringt das Tageslicht und erleuchtet die gesamte Umgebung. An den Wänden laufen wieder die Spiralförmigen Absätze entlang, die in eine Vielzahl von Räumen führen. Die Treppen sind ebenfalls noch funktionstüchtig. Ob wir uns wieder unter der Erde befinden?

Ich werfe einen kurzen Blick über das Geländer und erkenne am Boden ein dickes H. Habe ich es mir doch gedacht! Hier kann also wirklich ein Helikopter starten und landen. Ich werfe einen kurzen Blick zu Liam. Dieser scheint zu wissen was in mir vorgeht, wirkt aber so, als ob er nur mit den Schultern zuckt und sagen will: “Was guckst du so, ist doch vollkommen normal.“

Wir marschieren einige Etagen nach oben, wobei mir vom ständigem im-Kreis-herumlaufen schwindlig wird. Endlich kommen wir an unserem Ziel an und ich kann erleichtert aufatmen. Unterwegs sind wir eigenartigerweise keinem begegnet. Man möchte doch meinen, dass so ein großes Gebäude reich bewohnt sei. Die Ziege öffnet mir die Tür und weist mir mit einem Nicken, dass ich eintreten soll.

 

Drinnen erwartet mich eine gemütliche Atmosphäre. Ein Mann mittleren Alters sitzt entspannt auf einer ledernen Couch und blickt mich an. Was für ein bizarrer Anblick. Ob der hier wohl das Sagen hat?

Durch ein Fenster dringt Tageslicht und verleiht dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Der Fremde richtet sich sofort auf, als er Liam erblickt und kommt auf mich zu. Mein Beschützer knurrt ungeniert und stellt sich zwischen uns.

„Oh. Er scheint einen außergewöhnlich starken Beschützerinstinkt entwickelt zu haben. Wie interessant.“ murmelt mir der fremde Mann entgegen.

„Aha. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Entschuldigen Sie. Ich bin Professor Thomas Gillian. Mein Spezialgebiet ist die genetische Umstrukturierung von Säugetieren aller Art, um es für Nicht-Wissenschaftler verständlich auszudrücken. Die meisten können mit den präzisen Fachbegriffen eh nichts anfangen“, meint er arrogant und wedelt mit der linken. Ich komme mir wie eine lästige Fliege vor, die er verscheuchen will.

Scheinbar hält er mich für total verblödet und versucht gar nicht erst mich genauer aufzuklären. Aber was meint er mit genetischer Umstrukturierung? Verdutzt sehe ich ihn an und er bemerkt mein Unverständnis natürlich sofort. Ein funkeln in seinen Augen sagt mir, dass er meine Intelligenz auf diesem Gebiet wohl richtig eingeschätzt hat. Verdammt.

Er zeigt auf die Ziege und erklärt: „Ich erschaffe die Bestien.“

Ich blinzle. Bestien? Verwirrt blicke ich zu der Ziege und dann zu Liam. Offenbar erkennt der Professor meine Skepsis.

„Nein. XS-707-GP4 wurde von meinem Großvater erschaffen und nicht von mir. Obwohl ich unglaublich gerne einmal solch eine perfekte Kreatur kreieren würde. Aber leider ist sein Erbgut für mich unerreichbar. Man bräuchte schon seine Kooperation, aber ...“

Der verrückte Professor beendet seinen Satz nicht. Er starrt nur weiterhin meinen Liam an und nähert sich ihm zaghaft. Dieser aber schlägt mürrisch mit der Vorderpranke nach ihm und knurrt abfällig.

Der Professor weicht entzückt zurück. Scheinbar kann Liam diesen Mann nicht leiden. Ich selbst weiß noch nicht was ich von ihm halten soll. Er macht auf mich keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck.

Gerade fällt dem Professor wieder ein, dass Liam nicht alleine ist und sieht mich an. Seine glasigen Augen verursachen bei mir eine Gänsehaut und ein kalter Schauer läuft mir den Rücken herunter.

„Entschuldigen Sie Frau ...“

„Morel, Tamara Morel.“

„Nun gut. Setzten Sie sich doch. Tee?“

Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Bietet der mir gerade Tee an?

Jetzt kann ich Professor Gillian doch noch einen Pluspunkt in meiner Sympathieskala geben. Freudestrahlend nicke ich heftig und nehme auf der gemütlichen Couch platz. Liam schmeißt sich indessen mit seinem ganzen Gewicht auf den Schreibtisch und bringt ihn so lauthals zum protestieren. Der Professor ist seltsamerweise keineswegs besorgt, dass der Tisch beschädigt werden könnte, sondern hellauf begeistert. Was für ein komischer Kauz.

Ich genehmige mir einen Schluck von dem köstlichen Getränk, das mir die Ziege serviert und seufze zufrieden. Danach verlässt sie uns.

„Frau Morel, darf ich fragen, weshalb sie sich in das Labor geschlichen haben?“

Empört blicke ich auf. „Ich habe mich nicht rein geschlichen.“ Wütend werfe ich ein Auge auf den Übeltäter. „Liam hat mich entführt.“

Der Professor zieht eine seiner ergrauten Brauen hoch und muss meine Worte erst einmal verdauen.

„Entführt?“

„Ja richtig. Ich war mit meinen Kollegen und unseren Kindern im Ferienlager, als Justin einen Fußball in den Wald gekickt hat. Susi, Andrea und ich sind dem verflixten Ding hinter und haben uns aufgeteilt. Dann habe ich einen Schrei gehört. Als ich nachsehen wollte was passiert ist, war Liam gerade dabei Andrea anzugreifen und ich habe ihn irgendwie ablenken können. Dann ging alles ganz schnell. Erst konnte ich entkommen, doch dann war er wieder da und dann wurde alles schwarz. Als ich ...“ atemlos stoppe ich meinem herunter gerasselten Bericht als ich merke, dass mir der Professor gar nicht mehr zuhört. Er blickt unentwegt zu Liam und murmelt vor sich hin. Irgendwie komme ich mir verarscht vor.

„Hören Sie mir überhaupt zu?“ Scheinbar genervt wedelt der Professor wieder mit der Hand.

„Ehrlich gesagt ist mir egal, wie Sie in das Labor gekommen sind. Das wird der Rat und der General genauer unter die Lupe nehmen. Ich finde es dafür viel interessanter zu erfahren, wie sie es geschafft haben XS-707-GP4 zu zähmen und das ohne spezielle Ausbildung.“

Jetzt scheine ich seine ganze Aufmerksamkeit zu haben. Mir platzt der Kragen. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und sehe den Professor herausfordernd an.

„Ehrlich gesagt ist es Mir egal, was Sie interessiert. Ich will einfach nur nach hause.“

„Das geht nicht. Sie haben verbotenes Terrain betreten. Entweder Sie kooperieren, oder Sie sterben. Ganz einfach.“

Ganz einfach? Was bildet der sich ein? Der hat kein Recht über mein Leben zu bestimmen.

„Ich war doch nicht freiwillig in diesem Labor! Liam hat mich verschleppt! Und wenn es stimmt was Sie sagen und Sie wirklich diese Chimären züchten, dann übernehmen Sie die Verantwortung und bringen mich nach hause! Sofort!“ Ich setzte mein strengstes Erzieher-Gesicht auf.

„Erstens, sind das keine Chimären, sondern Bestien. Und Zweitens, können Sie so viel Theater machen wie Sie wollen, es wird Ihnen aber trotzdem nichts bringen.“

Frustriert puste ich in meinen Tee.

Nach einer kurzen Pause lehnt er sich vor und sieht mir direkt in die Augen. Innerlich koche ich vor Wut.

„Sehen sie es mal so. Der einzige Grund dafür, dass Sie noch am Leben sind, ist der, dass XS-707-GP4 sie beschützt. Ansonsten wären Sie bereits tot.“

Wütend stehe ich auf. „NEIN! Wenn mich XS-irgendwas nicht entführt hätte, wäre ich jetzt zu hause!“

„Ich sehe schon. Mit Ihnen kann man nicht vernünftig reden.“

Frustriert stampfe ich mit dem Fuß auf und renne zu Liam. Wenn ich meine Wut jetzt nicht raus lasse, dann platze ich. Wütend richte ich meine Augen auf ihn. Liam aber scheint das egal zu sein, müde gähnt er mir entgegen.

„Du blödes Vieh. Das ist alles deine Schuld!“ schnauzte ich ihn an. Er reagiert, wie nicht anders zu erwarten war, laut brüllend. Natürlich lässt er sich meinen Wutausbruch nicht gefallen. Er erhebt sich und schlägt seine Krallen in den Tisch um mir zu zeigen, was er von meiner Standpauke hält.

„Jetzt beruhigen Sie sich doch mal! Es bringt rein gar nichts Ihre Wut an der Bestie auszulassen, damit provozieren Sie sie nur unnötig. Wissen Sie überhaupt was geschieht wenn sie der Raserei verfällt?“ ermahnt mich der Professor wie ein kleines, dummes Kind. In seinem Unterton erkenne ich einen Anflug von Panik.

Ich drehe mich zu ihm um und zeige auf die tobende Katze.

„Dieses Vieh ist an allem Schuld. Darum kann ich so wütend auf ihn sein, wie ich will!“

Als Prof. Gillian zu einer Erwiderung ansetzen will klingelt das Telefon. Mit hängenden Schultern geht er ran.

„Bitte Sir, geben Sie mir noch etwas mehr Zeit. Sie wird kooperieren … Nein … bitte, wir dürfen XS-707-GP4 nicht verlieren. Aber …. bitte … verstehe.“ Während des kurzen Gespräches wurde die Stimme des Professors immer kleinlauter. Scheinbar hat er hier doch nicht das Sagen. Nach dem Auflegen wirkt er geknickt. Erst sieht er traurig zu Liam, dann unglaublich sauer zu mir.

„Das ist alles Ihre Schuld.“ faucht er mich an. Als Liam den Ton des Mannes bemerkt springt er vom Tisch und faucht seinerseits zurück. Scheinbar hat er meinen kleinen Wutausbruch schon wieder vergessen und sein Beschützerinstinkt übernimmt wieder die Führung.

Die Ziege kommt in den Raum zurück und hält die Tür unaufgefordert auf.

„Folgen Sie ZP-984.“ Ohne einen weiteren Abschiedsgruß stellt sich der durchgeknallte Professor vor das Fenster und blickt nach draußen. Dieser Rückzug befriedigt meinen Beschützer und er folgt der Ziege beruhigt.

 

Die Bestie mit den Hörnern führt uns über den Treppenabgang in einen kleinen, dunklen Raum. Wieder eine Stahltür. Als ich mich umblicke überkommt mich eine Gänsehaut. Stahlplatten zieren die Wände und grinsen mich schadenfroh an.

„Lebewohl.“ gackert die Ziege noch schnell, dann schlägt sie die Tür zu. Liam macht es sich auf dem Boden gemütlich. Scheinbar kennt er solch eine Situation bereits und ist keineswegs beunruhigt. Ich dränge mich in eine Ecke und ziehe meine Beine an den Körper. Wollen sie mich hier jetzt für immer einsperren?

Die ganze Aufregung hat mich meine Kopfschmerzen vergessen lassen, aber nun melden sie sich freudig zurück. Mist! Frustriert sehe ich zu Liam.

„Warum hat du mir das angetan?“

Er reagiert nicht wirklich auf meine Frage. Das habe ich auch nicht erwartet. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich will nicht weinen. Normalerweise bin ich nicht solche eine Heulsuse, aber diese ganzen verkorksten Erlebnisse sind nun wirklich zu viel für eine normale Erzieherin aus einer kleinen, namenlosen Kleinstadt.

Ein leises Zischen weckt meine Aufmerksamkeit. Ich schaue verwundert zu dem großen Kater, aber der schlummert nur vor sich hin. Als ich nach oben blicke weiß ich, wie ich sterben werde: an einer Gasvergiftung! Grüner Rauch kommt in Sekundenschnelle in den Raum und verpestet die Luft. Wenigstens geht es so schnell vonstatten.

Kaum dass ich die erste Wolke einatme überkommt mich ein starker Hustenanfall. Meine Gedärme fühlen sich so an, als ob sie mit aller Macht nach draußen gezerrt werden. Vor Schmerzen krümme ich mich auf dem metallenen Boden zusammen und jammere vor mich hin. Liam ist sofort an meiner Seite und maunzt kläglich. Er spürt, dass mit mir etwas nicht stimmt und stupst mich mehrmals mit seiner kühlen Nase an, aber ich kann und will nicht auf ihn reagieren.

Langsam schwinden mir die Sinne, trotzdem kriege ich noch mit wie Liam plötzlich zu brüllen anfängt. Er fährt seine Klauen aus und tobt wie wild. Mit seinen Pranken hämmert er gegen die stählerne Tür.

Metall auf Metall. So hört es sich an. Das Dröhnen durchbricht meinen Nebel und sorgt dafür, dass ich bei Bewusstsein bleibe. Liam tobt immer wilder. Er rennt zum anderen Ende des Raumes und springt mit voller Wucht gegen die Tür. Eine Delle zeugt von der gewaltigen Kraft, die in ihm steckt. Er versucht es gleich nochmal und nochmal. Und nochmal.

Ein lautes Krachen verrät mir, dass er die Tür erfolgreich aus den Angeln getreten hat. Draußen ertönt eine Sirene und schallt in meinem Kopf. Liam kommt zu mir gehechtet und packt mein zerrissenes T-Shirt. Ihm gelingt es mich wie ein Katzenjunges hochzuheben und nach draußen zu tragen. Ich würge und huste Blut auf den Boden. Aus den Augenwinkeln erkenne ich die bereits wartenden Soldaten. Mit Masken im Gesicht und aufgerichteten Waffen zielen sie auf uns, scheinen aber noch nicht schießen zu dürfen. Das Gas entkommt und strömt ebenfalls ins Freie.

Liam packt wieder mein T-Shirt, setzt zum Sprung an und landet eine Etage weiter oben. Auch dort wartet bereits eine große Anzahl von Soldaten auf uns. In der Ferne höre ich lautes Brüllen und Fauchen. Als ich meinen Blick in die Tiefe richte, entdecke ich eine kleine Armee von Bestien. Sie springen flink nach oben und haben uns ganz klar anvisiert. Das alles ist ein einziger Altraum.

Schluchzend will ich, dass alles endlich ein Ende hat. Liam aber denkt nicht daran aufzugeben und springt weiter nach oben. Erst als er die oberste Etage erreicht hat gibt er Ruhe. Er setzt mich in einer Nische, unterhalb eines Querbalkens ab und blickt sich um. Versucht er gerade eine Strategie zu entwickeln? Bei ihm wundert mich langsam gar nichts mehr.

Die Wirkung des Gases hat nachgelassen. Mein Husten verschwindet und das Atmen fällt mir wieder leichter. Scheinbar war ich dem grünen Gift nicht lange genug ausgesetzt, um an den Folgen zu sterben. Ich schaue hoch zum Dach und hoffe, dass wir durch eines der Fenster entkommen können. Doch meine Hoffnung wird zerstört als ich vogelartige Kreaturen entdecke. Mit Krallen und Flügeln hocken sie da oben und warten auf uns. Ihre Schnäbel und Münder sind teilweise zu grotesken Fratzen verzerrt.

Ich blicke zu Liam. Auch er hat unsere scheinbar ausweglose Situation erkannt. Er sieht mir in die Augen und etwas in meiner Seele wird tief bewegt. Eine einzelne Träne rinnt meine Wange hinab. Ich will nicht sterben.

Ich habe Angst. Hilf mir Liam“, flehe ich ihn flüsternd an.

Einen Sekundenbruchteil stoppt die Zeit. Dann glühen seine Augen auf und färben sich auf einmal rot. Nicht nur seine Regenbogenhaut, sondern sein gesamter Augapfel wird von dem glühenden Rot verschlungen. Mit einem Brüllen macht er seiner Wut Luft. Sein Fell verhärtet sich und wächst stachelartig aus seinem Rücken, seine Gliedmaßen werden kräftiger und sein Brustkorb schwillt an. Er wächst um einige Meter. Meine Augen weiten sich vor Schreck. In dieser Gestalt und so wütend habe ich ihn noch nie gesehen.

Mit einem mächtigen Satz durchbricht er das Dach. Glassplitter regnen herab. Menschliche, sowie bestialische Schreie kommen aus der Tiefe. Eine Gänsehaut überkommt mich.

Als ich meinen Blick gebannt nach oben richte, erwartet mich ein erbarmungsloses Schlachtfeld. Federn, Köpfe, Füße. Alles verschwimmt in einem riesigen Knäuel. Liam nimmt sich einen Gegner nach dem anderen vor ohne einmal anzuhalten. Er schleudert sie mit bloßer Kraft durch die Gegend, sorgt dafür dass die ersten die Flucht ergreifen. Von unten kommt Verstärkung. Vierbeinige und zweibeinige Kreaturen stürzen sich mit ins Getümmel. Die Luft ist von Schmerz und Blut durchtränkt.

Plötzlich packt eine Hand meine Schulter. Ein Mann mit langen schwarzen Haaren und meerblauen Augen sieht mich an.

„Beenden Sie das Ganze, Frau Morel.“

Verdutzt mustere ich sein Gesicht. Er sieht unglaublich gut aus. Benebelt von den Eindrücken versuche ich mich zu konzentrieren. Jetzt erst kommen seine Worte in meinem Gehirn an.

„Beenden?“, frage ich verwirrt.

„Pfeifen Sie ihre Bestie zurück.“

„Das kann ich nicht“, gebe ich kleinlaut zu.

„Doch das können Sie. Sie sind die Einzige die das kann. Darum leben sie noch, auch wenn Sie dem Feind angehören.“

Ermunternd drückt er meine Schulter. Wütend runzle ich die Stirn. Ich lebe noch, weil Liam mich beschützt. Und welcher Feind? Dennoch macht mir der derzeitiger Zustand meines Begleiters Sorgen.

Wird er ein Blutbad anrichten? Kann ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Ich glaube nicht. Aber wie soll ich ihn wieder beruhigen? Wenn ich es versuche und es tatsächlich schaffe, werden diese wahnsinnigen Soldaten und der irre Professor dann wieder versuchen mich zu töten?

Scheinbar kann der Fremde meine Gedanken lesen. Er blickt mir tief in die Augen.

„Ihnen wird nichts mehr geschehen. Kooperieren Sie und zeigen Sie uns Ihren guten Willen.“

Ich beschließe ihm zu vertrauen. Auf mich wirkt er jedenfalls netter als der Professor.

Ich straffe meine Schultern und suche nach Liam. Er befindet sich noch inmitten des Kampfes. Soweit wie ich es erkennen kann besitzt er die Führung. Immer mehr Kreaturen ziehen sich schwer verletzt zurück. Sie fauchen und wimmern und scheinen Liam beruhigen zu wollen, doch der denkt gar nicht daran sich zurückzuziehen.

So wie es aussieht hat er unglaublich viel Energie und scheint alles auseinander nehmen zu wollen. Seine Hiebe lassen nicht nach und er verliert auch nicht an Schnelligkeit oder Kraft. Wie ein Berserker widmet er sich seinen Gegnern. Blut regnet auf uns herab. Einzelne Gliedmaßen verteilen sich überall auf dem Boden. Mir wird schlecht. Das ganze macht ihm zu viel Spaß. Verunsichert schlucke ich. Kann ich ihn wirklich aufhalten?

Zögernd mache ich einen Schritt nach vorne, nur um sicher zu gehen, dass Liam mich auch sehen kann. Dabei weiche ich einem riesigen taubengrauen Flügel aus.

„Liam. Stopp!“, rufe ich zu ihm herauf. Doch er reagiert nicht. Ich schaue wieder zu dem Fremden.

„Versuchen Sie es noch einmal. Er muss merken, dass Sie es ernst meinen.“

„LIAM. NEIN!“, brülle ich ihm entgegen. Seine Ohren zucken und kurz sieht er in mein Richtung, aber dann wirft er sich wieder ins Gefecht. Noch eine Bestie wird auseinander gerissen.

„Scheinbar habe ich Ihnen zu viel zugemutet.“

Ich drehe mich wieder um und fixiere den Mann. Er wirkt … enttäuscht? Dann holt er ein Telefon aus der Tasche.

„Professor. Frau Morel konnte ihn nicht stoppen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn auszulöschen. Ich werde mich jetzt an dem Kampf beteiligen.“ Ein lauter Schrei kommt von der andern Seite des Telefons. Der Professor ist wohl alles andere als begeistert.

Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Wenn ich Liam nicht aufhalte, dann werden sie ihn töten. Auch wenn ich ihm diese ganze Sache zu verdanken habe, so ist er mir doch irgendwie ans Herz gewachsen. Ich kann nicht zulassen, dass er stirbt.

Ich drehe mich wieder zu ihm um und versuche ihn mit mehrmaligem Rufen aufzuhalten, doch er hört einfach nicht. Ich trete an das Geländer und spüre einen stechenden Blick in meinem Nacken. Dann lehne ich mich nach unten und prüfe die Höhe. Schwindelgefühl und Angst greifen mich an.

„Was machen Sie da?“, fragt mein Beobachter scheinbar entsetzt.

„Ihn aufhalten.“, entgegne ich eiskalt.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und hoffe, dass Liam das jetzt mitbekommt. Ich setze mich auf das Geländer und lasse mich Rückwärts nach unten fallen. Hoffentlich geht meine Taktik auf und ich aktiviere Liams Beschützerinstinkt.

Der Fremde kommt angerannt und scheint ebenfalls zum Sprung anzusetzen. Doch mir bleibt nicht viel Zeit. Ich richte meinen Blick nach oben.

„LIAM!“

Kapitel 2.3 - Grenzen

 

 

Es ist wichtig, dass Ihr Bestie lernt, dass es bestimmte

Grenzen gibt, die sie nicht überschreiten darf. Nehmen

Sie sie deshalb niemals mit in ihre eigene Unterkunft.

So könnte die Bestie auf die Idee kommen diese als ihr

neues Territorium zu betrachten und dadurch dominanter

auftreten.

Wenn das passieren sollte, verlieren Sie viel von Ihrer

Autorität und Macht. Verdeutlichen Sie ihrer Bestie gleich von

Anfang an, dass Sie der Master sind und den Ton angeben. Sollten

Sie hier einen Fehler begehen, könnte das später weitreichende

Konsequenzen mit sich ziehen. Bleiben Sie streng und unnachgiebig.“

 

 

 

Die Luft saust an mir vorbei, mir fällt es schwer zu atmen und mein Herz hämmert wie wild. Immer näher und näher komme ich dem todverheißendem Boden. Was ist, wenn Liam mir nicht hilft? Entsetzt rufe ich noch einmal. Lauter. Hysterischer. Endlich reagiert meine Bestie. Seine Augen funkeln und geschockt sieht er mich an. Einen Atemzug lang glaube ich ihn nach mir rufen zu hören.

Dann kommt er mir entgegen. Er stößt sich mit den Hinterpfoten an einer Wand ab und rast mir so entgegen. In Windeseile hat er mich eingeholt und packt mich mit den Krallen am Oberarm. Blut spritzt. Erschrocken schreie ich vor Schmerz auf. Ich klammere mich an seinen Hals und irgendwie gelingt es mir, mich auf seinen Rücken zu ziehen. Liam schlägt seine Klaue in den nächstgelegenen Absatz und hinterlässt mit seinen funkensprühenden Krallen tiefe Einkerbungen.

Ihm gelingt es unseren Fall abzubremsen und sich am Geländer hochzuziehen.Wir landen auf einer der Etagen. Zu meinem Entsetzten hätte nicht mehr viel gefehlt und ich wäre am Grund aufgeschlagen. Atemlos klammere ich mich noch an seinen Nacken und zittere wie Espenlaub. Ich habe keine Zeit für eine Verschnaufpause. Schon sind wir wieder umzingelt.

Der blauäugige Mann landet sanft wie eine Feder neben uns und wirkt unglaublich wütend. Verwundert blicke ich auf. Ist er etwa wirklich gesprungen?

Er deutet den Anderen zurückzutreten und ihre Waffen zu senken. Luka und Kati schieben sich aus der Menge und beäugen mich misstrauisch. In ihrer Begleitung befindet sich Professor Gillian und eine Frau ganz in Weiß. Ich richte mich ein wenig auf und versuche meine Würde wiederzufinden. Kurz lasse ich meinen Blick über das Schlachtfeld schweifen. Blut, Körperteile, Federn. Mein Kopf beginnt sich zu drehen, wenn ich daran denke, dass das alles Liams Werk war. Schnell wende ich den Blick wieder ab und versuche mich auf die Menschen vor mir zu konzentrieren. Der Blauäugige kommt mir einen Schritt entgegen und schimpft mich aus.

„Was fällt Ihnen ein? Sie hätten dabei sterben können!“ Liam kontert mit einem lauten Brüllen. Ich streiche ihm sanft über den Kopf und versuche ihn zu beruhigen, dann blicke ich den Mann einigermaßen gefasst an.

„Sie wollte mich doch sowieso töten. Also was kümmert es Sie dann, ob ich den Absturz überlebe“ entgegne ich kühl. Der hat vielleicht Nerven.

Wenn Liam nicht gewesen wäre, dann wäre ich an dem Gas verreckt. Der Mann weiß offensichtlich nicht mehr was er erwidern soll. Stumm schaut er mir in die Augen und mein Magen krampft sich zusammen.

„Entschuldigen Sie bitte General, aber ich glaube Sie haben für Heute genug Chaos angerichtet.“ meldet sich die Frau in dem Kittel näselnd zu Wort. Sie wirkt so zerbrechlich unter den ganzen Soldaten und Bestien, die sich um mich herum aufgereiht haben. Dennoch gelingt es ihr so viel Autorität auszustrahlen,dass es selbst mir Respekt einflößt.

Sie schiebt sich selbstsicher an dem General vorbei und mustert mich kurz. Dann streckt sie mir ihre zierliche Hand entgegen.

„Mein Name ist Sophie Gillian. Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Freundlich lächelt sie mir entgegen und schleicht sich so in mein Herz. Ich mag sie auf Anhieb. Ihre gesamte Ausstrahlung vermittelt mir eine Art Verbundenheit und Verständnis. Seit einer Ewigkeit habe ich mich nach solch einem Menschen gesehnt. Ich gleite von Liam runter und schüttle die Hand dankbar.

„Tamara Morel.“

„Ich weiß. Sie sind innerhalb eines Tages zur Berühmtheit geworden. Freut mich Sie noch lebend vorzufinden.“ Frau Gillian dreht sich plötzlich mit viel Schwung um.

„Wenn ich mir diese Anmerkung erlauben dürfte, werter General, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie von Anfang an auf mich hätten hören sollen. Dann wären wir dieser Katastrophe entgangen und Frau Morel hätte uns nicht als Barbaren kennengelernt.“

Der General zuckt nur lässig mit den Schultern und scheint sich keiner Schuld bewusst. Seine Augen suchen wieder nach meinem Blick und ein mulmiges Gefühl ergreift mich. Ich wurde noch nie auf dieser Art und Weise angesehen.

„Frau Morel, wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Die freundliche Stimme von Frau Gillian lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf meine momentane Situation.

„Wollen Sie mich wieder umbringen?“

„Nein, keine Angst. Ich nehme Sie jetzt unter meine Fittiche. Also kommen Sie. Ich verspreche Ihnen eine warme Mahlzeit und ein Bad. Ach ja und nennen Sie mich bitte Sophie.“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und folge ihr sofort. Liam wirkt immer noch sehr nervös und misstrauisch. Er möchte wohl nicht noch einmal den gleichen Fehler begehen und uns in Sicherheit wähnen. Mit drohender Körperhaltung läuft er uns hinterher. Mittlerweile hat er sein früheres Aussehen wieder angenommen. Wann das genau passiert ist kann ich mir nicht erklären. Bei dem ganzen Durcheinander ist an mir vorbeigezogen.

Die Gruppe an Soldaten spaltet sich für meine erste Verbündete und wir gehen ein paar Etagen tiefer. Unterwegs folgen uns einige eindringliche Blicke. Der General scheint kein Interesse zu haben uns weiter zu verfolgen. Erleichtert atme ich auf.

Als wir angekommen sind, öffnet Sophie eine Brandschutztür. Diese führt wieder in einen langen Tunnel, der nur sehr spärlich beleuchtet ist. Es dauert nicht lange und wir bleiben vor einer Tür stehen.

„So, da sind wir auch schon. Keine Angst. Sie befinden sich in meinem Einflussbereich und niemand darf ohne meine Erlaubnis Eintreten.“

„Darf ich fragen was hier vor sich geht?“

„Dazu kommen wir später. Gönnen Sie sich erst einmal eine Pause. Das Essen befindet sich in dem Aufzug. Ihre Bestie wird Ihnen wahrscheinlich folgen nehme ich an?“

Schulterzuckend schaue ich zu Liam. Dieser antwortet auf seine Weise und marschiert in den Raum.

Grinsend sehe ich Sophie an, diese erwidert es.

„Ok. Wir sehen uns dann später.“ Ich blicke ihr noch kurz hinterher und geselle mich dann zu Liam.

 

Der Raum ist relativ groß. Ein Bett wartet links in der Ecke, daneben befindet sich ein kleiner Abstelltisch. In der Mitte steht ein Tisch mit vier Stühlen und lädt zu einer gemütlichen Runde ein. Am schönsten finde ich das Bild an der Wand. Ein orangefarbener Sonnenuntergang ersetzt das fehlende Fenster.

Ich schiele kurz hinter die andere Tür und erkenne ein gut ausgestattetes Badezimmer. Die Dusche zieht meinen Blick magisch an. Wie lange ist es her, dass ich mich richtig waschen konnte? Seufzend lasse ich mir warmes Wasser über die Hand laufen und beschließe, dass die Dusche definitiv dringender nötig ist, als eine warme Mahlzeit.

Flink streife ich mein T-Shirt über den Kopf und lasse meinen BH auf den Boden fallen. Mir fällt ein, dass ich noch kein Handtuch habe. Ich blicke mich um und kann keins entdecken. Mit eiligen Schritten peile ich den Schrank an, der gegenüber meinem Bett steht. In ihm finde ich alles was ich brauche. Ich klemme mir ein Handtuch unter den Arm und suche mir etwas frisches zum anziehen raus.

Mit Schwung und besserer Laune drehe ich mich um und blicke in zwei graue Augen. Liam beobachtet mich scheinbar gebannt. Wie der König persönlich hat es sich auf dem Bett gemütlich gemacht. Seine Augen leuchten … gierig? Er mustert meinen nackten Oberkörper und ein unheimlicher Schauer befällt mich. Spinne ich oder lächelt er mir gerade verrucht entgegen?

„Was ist?“ frage ich ihn. Natürlich antwortet er mir nicht, also lasse ich ihn links liegen und eile ins Bad. Dort angekommen lasse ich alles ins Waschbecken fallen und streife meine Khakihose ab. Liam springt vom Bett und folgt mir. Irgendwie habe ich das Gefühl bespannt zu werden. Eine Gänsehaut läuft mir den Rücken entlang und ein ungewohntes Kribbeln breitet sich in mir aus.

„Geh raus.“ fordere ich ihn auf. Der denkt aber nicht daran und setzt sich vor meine Nase. Scheinbar wartet er auf den Rest meines Stripteases. Ich nehme mein Handtuch und wickle es beunruhigt um.

„Geh, hab ich gesagt.“ Er schnaubt abfällig. Langsam reicht es mir. Ich beginne an ihm zu schieben und hoffe ihn so aus dem Bad zu bekommen. Doch der Mistkerl ist einfach zu schwer. Ächzend nehme ich mir vor ihn auf Diät zu setzten.

Ich lass von ihm ab und schnappe mir seinen Schwanz. Ungläubige Katzenaugen blicken mich an. Warnend zupfe ich sachte an dem Ding. Liam faucht missmutig.

„Geh.“ fordere ich nochmal mit mehr Nachdruck und zeige auf die Tür. Seufzend erhebt sich die Bestie und trottet langsam aus dem Raum. Irgendwie komme ich mir gerade wie ein Spielverderber vor.

Schnell schiebe ich diesen Gedanken beiseite und verriegle die Tür. Dankend nehme ich die Waschmaschine wahr und schmeiße sie ohne zu zögern an. Ich lasse mir bei meiner Körperpflege besonders viel Zeit und erlaube meinen Gedanken mal sich nicht mit dem ganzen Wahnsinn zu beschäftigen. Die Dusche sorgt dafür, dass ich mich wieder wie ein Mensch fühle. Die Kratzer, die mir Liam verursacht hat, sind zum Glück nur sehr klein und oberflächlich.

Beim eincremen genieße ich jeden Milliliter von der Körperlotion, die meine strapazierte Haut verwöhnt. Zum Glück entdecke ich noch einen Rasierer und kann mich endlich von dieser lästigen Behaarung befreien.

Nach einer halben Ewigkeit blicke ich beim dritten Mal Zähneputzen in den Spiegel und begrüße mein altes Ich. Braune Augen strahlen mir entgegen und eine leichte Röte ziert meine Wangenknochen. Schulterlange, dunkelblonde Haare fallen über meine Schultern und trocknen vor sich hin. Ich lächle mir entgegen und freue mich über das zivilisierte Zeitalter.

Ich trete aus dem dampfenden Bad heraus und werde gleich von zwei Katzenaugen gemustert. Scheinbar gefallen ihm meine schwarzen Hosen kombiniert mit dem grünen Tanktop. Er schnauft kurz anerkennend und legt sich dann wieder in die Kissen meines Bettes.

„Eins ist aber klar Liam. Das Bett gehört mir!“

Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und nehme den zarten Geruch nach Hühnerbrühe war. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Schnell suche ich die Quelle des aromatischen Geruchs. Ich gehe zu dem in der Wand eingelassenen Aufzug und hole mir eine dampfende Suppe heraus. Dabei fällt mir ein kleiner Bildschirm auf, der direkt neben dem Aufzug in die Wand eingelassen wurde.

Auf ihm blinken verschiedene Bildchen die die unterschiedlichsten Mahlzeiten zeigen. Scheinbar kann man dort auswählen, was man essen möchte. Aber für heute begnüge ich mich mit dem, was schon bereit steht.

Leckere Hühnersuppe dampft mir köstlich entgegen. Daneben wartet ein Steak mit Gemüse und Kartoffeln auf meine Aufmerksamkeit. Kaffee und Wasser runden die gesamte Mahlzeit ab.

Ich lasse mir auch beim Essen viel Zeit. Dabei fällt mir ein, dass Liam ebenfalls hungrig sein müsste. Ich blicke kurz zu ihm, aber da er scheinbar kein Interesse an meinem Steak hat, beschließe ich alles alleine zu futtern.

 

Irgendwann klopft es an der Tür und Sophie tritt ein. Sie deutet mir zu folgen und so setzten wir uns zu dritt in Bewegung. Sie führt mich zu einer Art riesigem Konferenzsaal. Der Eingang dazu liegt in dem Tunnel, der auch zu meinem Zimmer führt. Erleichtert stelle ich fest, dass wir nicht noch einmal zu dem Schlachtfeld zurückkehren müssen, um zu unserem Ziel zu gelangen. Ein langer Tisch thront in der Mitte und wird von einer Vielzahl von Stühlen umzingelt.

Ich setzte mich auf einen der hintersten Stühle und Sophie gesellt sich zu mir. Liam sucht sich eine Ecke und lässt mich nicht aus den Augen.

Aus ihrer Tasche zieht sie einen Umschlag und reicht ihn mir ohne weitere Worte. Ich packe ihn aus und staune nicht schlecht, als mein eigenes Foto mir entgegen grinst. Darunter befindet sich ein Artikel der Bild Zeitung:

 

 

 

Tierangriff

 

Am 10. Juli ereignete sich in der nähe des Schwarzwaldes ein

tragischer Tierangriff.

Die Mitglieder eines Jugendclubs verreisten gemeinsam mit

ihren Erziehern, um den städtischen Alltag zu entfliehen. Als

eines der Kind während eines Fußballspieles den Ball in den Wald

Kickte, machte sich Frau M. Mit zwei ihrer Kollegen auf den Weg

um diesen Ball zurückzuholen.

Dort wurden sie von einem wilden Bären angegriffen.

Frau Tamara M. bewies während des Angriffs sehr

viel Mut und lockte das Wilde Tier von ihrem Team und den

Kindern fort. Seit dem ist sie spurlos verschwunden.

Bis jetzt konnten keine Überreste der Leiche gefunden werden.

Laut Einschätzung der Polizei, sei es sicher, dass sie diesen

Angriff nicht überlebt haben kann.

Unklar sei jedoch, wie dieses Tier in den Wald gelangen konnte.

Die Polizei beschloss ihre Ermittlungen einzustellen und informierte

den verantwortlichen Jägerverein. Bis jetzt gibt es keine Spur

von dem Bären.

Die Familie von Frau M. trauert um ihre geliebte Tochter und hält

in zwei Wochen ihre Beerdigung.

15.Juli 2013

 

Tränen treten mir in die Augen. Schweigend reicht Sophie mir ein Taschentuch. Immer wieder lese ich den Artikel und kann einfach nicht glauben, was da steht.

„Ich lebe noch.“ flüstere ich mit rauer Stimme.

„Ja das sehe ich und ich bin froh darüber.“ Verständnisvoll tätschelt Sophie meinen Kopf. Ein leises knurren kommt aus der Ecke und löst meine Betäubung. Liam will scheinbar nicht, dass mich jemand berührt. Aber genau jetzt ist es das, was ich am dringendsten benötige.

„Können wir meine Eltern nicht anrufen und ihnen sagen dass ich noch lebe?“

Bedauernd blickt Sophie mich an. „Nein leider nicht.“

Kapitel 2.3.1 - Sanktionen

 

 

 

Sollte sich Ihre Bestie nicht an die gesetzten

Grenzen halten, ist es wichtig sie zu maßregeln.

Nutzen Sie ihre bereits gewonnenen Kenntnisse

und entziehen Sie der Bestie bestimmte Privilegien,

um sie zu sanktionieren.

Nutzen Sie die Zwischenzeit ruhig, um sich mit der

Vergangenheit unserer Organisation vertraut zu machen.“

 

 

 

Schweigend sitzen wir am Tisch. Mein Gehirn braucht noch etwas Zeit um das ganze zu verarbeiten. Offiziell bin ich also tot. Das heißt auch, dass ich nie wieder in mein altes Leben zurück kehren kann. Jedenfalls scheint Sophie sich das einzubilden. Meine Wut kocht in mir und droht, wie aus einem Vulkan herauszubrechen. Warum glauben alle über mich bestimmen zu können?

„Was soll das ganze?“ schnauzte ich mein Gegenüber an. Sophie scheint überrascht zu sein. Sie hatte diesen schnellen Gefühlsumschwung wohl nicht erwartet.

„Ich glaube wir sind Ihnen einige Erklärungen schuldig“ meint die junge Frau und fixiert mich mit ihren klugen Augen. „Zuerst will ich mich für das mehr als unhöfliche Verhalten meines Onkels und des Generals entschuldigen. Beide unterlagen der Annahme, dass sie Teil einer Gegengruppe sind und versucht haben unsere größte Schwäche gegen uns zu verwenden. Darum hat der General ihren Tod durch das Giftgas in die Wege geleitet. Das tut mir unendlich leid.“

Na toll. Also wollte dieser heiße General auch meinen Tod. Wie nett.

„Und wie sind Sie dann zu dem Schluss gekommen mich doch noch am Leben zu lassen?“, frage ich ungehalten. Diese lahme Entschuldigung kann bei mir auch nicht für bessere Laune sorgen.

„ZP-984 war so nett mir Ihren Namen zu verraten. Daraufhin habe ich Nachforschungen angestellt und bin auf den Artikel gestoßen. Natürlich habe ich meine Ergebnisse auch an meinen Onkel und den Rat weitergeleitet. Leider war ich nicht schnell genug. Das tut mir leid.“

Ich schnaufe abwertend, ganz in der Manier meiner Bestie.

„Und wo bin ich nun hineingeraten?“ Ich will Antworten. Und zwar sofort!

Mit Hilfe einer Fernbedienung schaltet Sophie das Licht aus. Dann kommt aus der Decke eine Leinwand gefahren und ein großer Schriftzug ist darauf zu sehen: Gimini Intercorbs. Diese ganze Aufmachung finde ich irgendwie lächerlich.

„Also dann will ich Sie jetzt mal offiziell bei Gimini International Cooperation begrüßen.“

Meine Neugierde übernimmt die Führung und verlangt nach Befriedigung. Also vergesse ich vorerst meine Wut und konzentriere mich gespannt auf Sophies Worte.

„Gimini Intercorbs wurde vor knapp achtzig Jahren gegründet.“ Ein Bild des in der Erde eingelassenen Labors ist zu sehen. Es wirkt noch recht neu und nicht so sehr wie die Ruine, die ich kennen gelernt habe.

Sophie führt ihre Erläuterung fort: „Während des 2. Weltkrieges haben sich einige Wissenschaftler zusammengetan, um einen Weg zu finden Hitler und seine Armee in die Schranken zu weisen. Falls Sie es schon einmal gehört haben, versuchte Hitler mit Hilfe von Genmanipulation den perfekten Menschen zu erschaffen. Seine Bemühungen blieben aber Gott sei dank fruchtlos.

Gimini Intercorbs wollte es ihm gleich tun. Nur wollten sie einen Schritt weitergehen und keine perfekten Menschen erschaffen, sondern die perfekte Waffe. Sie setzten es sich zum Ziel verschiedenes genetisches Erbgut zu kombinieren und somit eine neue Spezies zu erschaffen. Die Bestien.“

Kurz schiele ich über die Schulter. Dann vergleiche ich Liam mit der Reihe von Bildern die auf der Leinwand erscheinen. Bestien in allen Formen und Größen. So etwas absonderliches habe ich noch nie gesehen.

Das alles würde für mich nach einem schlechten Sciencefictionroman klingen, wenn der lebende Beweis nicht hinter mir sitzen würde. Auch Liam widmet sich dem Bericht. Seine Ohren sind hoch aufgestellt, damit er ja kein einziges Wort verpasst. Wiedereinmal frage ich mich, wie viel er von unserer Sprache versteht.

Am Anfang kannte er ja nicht mal die einfachsten Befehle. Nun aber kommt es mir so vor, als ob er jedes Wort verstehen würde das ich sage. Ungeduldig sehe ich zu der Frau, da die Diashow angehalten hat. Sophie wartet scheinbar gerade auf einen Kommentar meinerseits und mustert mich angespannt.

„Aha“, bringe ich altklug heraus. Also ehrlich, was hatte sie erwartet? Applaus? Ein lautes „Oh“ und „Ah“?

„Ich sehe schon, dass Sie mir nicht so recht glauben wollen. Aber nachher können wir uns ja in mein Labor begeben und uns mal umsehen.“

„Labor?“

„Ja. Wie mein Onkel bin ich eine Genetikerin. Man könnte sagen, dass ich die tierischen und menschlichen Eiweiße und Proteine unter dem Mikroskop auseinander pflücke und dann neu wieder zusammen setzte.“

„War das denn damals schon möglich? Ich meine heute gibt es viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Mittel. Aber damals stelle ich mir das sehr schwer vor.“

„Ja, mein Urgroßvater hatte es nicht so leicht wie wir. Dafür besaß er eine ungeheure Intelligenz. Er war seinesgleichen weit voraus. Mit Hilfe seiner Wissenschaftler und einigen sehr reichen Sponsoren gelang ihm der Durchbruch.“

„Oh. Und ihr führt das alles weiter?“

„Ja. Wir haben uns seitdem weiterentwickelt. Dir sind ja bereits einige unserer Bestien begegnet.“

„Wie könnt ihr das alles vor der Öffentlichkeit geheim halten? Immerhin kann ich mich an keinen Zeitungsartikel über euch erinnern.“ Ich wundere mich nun wirklich darüber. Immerhin sind hier im Labor nicht gerade wenig Bestien, wenn ich an die Begegnung denke, die ich vor ein paar Stunden machen durfte.

„Wie gesagt, damals wurde diese Organisation gegründet, um Hitler aufzuhalten. Deshalb war alles streng geheim. Aber das Hitlerproblem hatte sich ja von selbst gelöst.“ Ja ich glaube daran kann ich mich noch aus meinem Geschichtsunterricht erinnern. Aber nur sehr dunkel und verschwommen.

„Trotzdem verlangten die Sponsoren und der Rat nach weiteren Erfolgen. Mein Urgroßvater wollte damals an die Öffentlichkeit gehen und hatte gehofft auf offizielle Unterstützung zu treffen. So wollte er sich von den korrupten Sponsoren befreien. Doch dann gab es einen Vorfall.“

Das ganze ist unheimlich spannend. Ich stelle mir die Wissenschaftler in einer geheimen Basis vor, wie sie versuchen eifrig Bestien zu züchten um Hitler und seine Armee zu besiegen. Das wäre gutes Material für einen Roman. Ob ich mir die Rechte daran sichern sollte?

Ich frage mich was geschehe wäre, wenn es den Wissenschaftlern rechtzeitig gelungen wäre und sie Hitler aufgehalten hätten? Würde dann die heutige Welt ganz normal mit den Bestien zusammenleben?

Mir kommt der letzte Satz von Sophie in Erinnerung.

„Was für einen Vorfall?“

„Um das zu erklären muss ich weiter ausholen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Also ich habe heute nichts weiter geplant, da ich ja nicht nach hause darf. Also können Sie ruhig mehr ins Detail gehen, wenn wir schon einmal dabei sind.“

Sophie lächelt mich wissend an. Scheinbar teilen wir unsere neugierige Ader miteinander.

„Mein Urgroßvater, Professor Xavier Gillian, stand wie gerade erwähnt, kurz davor der Menschheit seine Bestien zu präsentieren. Doch die Sponsoren und der Rat waren alles andere als begeistert. Sollte die Öffentlichkeit die Ergebnisse meines Urgroßvaters gut heißen, dann würden sie ihre Vormacht und die damit verbundenen Privilegien verlieren. Sollte mein Urgroßvater aber abgelehnt werden, dann würden auch sie von der Öffentlichkeit verpönt werden. So oder so würden sie den kürzeren Ziehen.

Deshalb beschlossen sie ihn kurzerhand aus seinem Amt zu entlassen. Da es einen sehr engagierten Nachfolger gab, waren sie der Meinung ihn nicht mehr zu brauchen. Mein Urgroßvater allerdings bekam Wind davon und vernichtete all seine Unterlagen. Als er fliehen wollte gab es einen Unfall und er stürzte die Treppen runter. Natürlich glaubt keiner meiner Familie daran, dass das ein Unfall war, aber wir habe auch keine klaren Fakten, um das Gegenteil zu beweisen“, meint Sophie traurig.

Sie tut mir leid. Scheinbar lebt auch sie in einer viel zu unfairen Welt. Sie wird mir immer sympathischer.

„Professor Meyers“, fährt sie fort, “dachte aber nicht ans aufgeben. Er wollte die jahrelange Arbeit nicht verlieren. Darum nahm er sich eine Bestie nach der anderen vor und experimentierte an ihnen herum. Er wollte herausfinden, wie mein Urgroßvater die Gene zusammengesetzt hatte. Es gelang ihm anscheinend nach einem Jahr harter Arbeit auch und er züchtete eine neue Generation von Bestien heran.

Er fand große Unterstützung bei den Sponsoren und vom Rat. Nach einiger Zeit fiel aber auf, dass die Bestien nicht leicht zu handhaben waren. Immer mehr von ihnen zeigte auffallend aggressives Verhalten ihren Mastern gegenüber. Professor Meyers war mit der Situation vollkommen überfordert. Auch die Bestien die mein Urgroßvater gezüchtet hatte, spielten verrückt. Da fing alles an den Bach runter zu gehen.“

Sophie machte eine kurze Pause. Sie kramt aus ihrer Tasche zwei Limodosen und bietet mir eine an. Ihre trinkt sie in schnellen Zügen. Ich merke wie diese Geschichte sie mitnimmt. Sie wirkt aufgelöst und nervös. Ich lasse ihr Zeit, obwohl ich unbedingt wissen will, wie das ganze weitergeht.

 

„Was ist dann geschehen?“ dränge ich sie, da es mir dann doch zu lange dauert.

„Die Trainer, Wissenschaftler, der Rat, die Master und die Sponsoren haben sich zusammengesetzt. Es gab immer mehr Komplikationen und man konnte die Bestien kaum noch bändigen. Als dann auch noch einer der wichtigsten Sponsoren von seiner eigenen Vogelbestien regelrecht zerfleischt wurde, beschloss man das Projekt auf Eis zu legen. Man war der Meinung, dass es noch zu früh dafür war, die Bestien in Massen herzustellen. Nach und nach begann man die Bestien einzuschläfern und zu vernichten.“ Wie grausam. Erst spielen diese Wissenschaftler Gott und als ihnen ihr Ergebnis nicht mehr passt, vernichten sie es einfach.

„Aber keiner hatte mit XS-707-GP4 gerechnet.“

Verwundert sehe ich zu Liam. Wenn ich mich recht erinnere, dann war das seine Bezeichnung.

„Wie meinen Sie das? Und was bedeutet dieser seltsame Name?“ hake ich nach.

Lächelnd wendet Sophie ihren Blick ab.

„Damals wie heute gibt man den Bestien keine Namen, sondern lediglich Buchstaben und Zahlen um sie auseinander zu halten und zu kennzeichnen. Sie werden so in spezifische Klassen untergeordnet. Die Bestien von Professor Meyers wurden Beispielsweise meistens mit einem M bezeichnet. Wie zum Beispiel MP-564. Wie Ihnen bestimmt auffällt, folgen den Buchstaben nur drei Zahlen. Bei Ihrem XS-707-GP4 aber kommt noch ein G, ein P und eine 4 hinzu. Diese Endung hatte mein Urgroßvater eingeführt. Da aber seine Unterlagen vernichtet sind, können wir nicht mehr herausfinden was sie bedeuten.“

„Ja, aber was hat das alles mit der Bestienvernichtung zu tun?“ frage ich ungeduldig.

„Ganz einfach. Selbst Professor Meyers wusste nicht wozu XS-707-GP4 fähig war. Ich kenne die genauen Hintergründe nicht, aber es muss einen speziellen Vorfall gegeben haben. Ehrlich gesagt sind wir nicht ganz sicher was passiert ist, da alle, die zu der Zeit des Vorfalles im Labor waren ihn nicht überlebt haben. Nur aufgrund alter Aufzeichnungen wissen wir, dass XS-707-GP4 an dem Tage eingeschläfert werden sollte an dem das Labor zerstört wurde. Sie konnten sich ja selbst ein Bild von dem Schaden, den er damals angerichtet hatte, machen.“

„Sie meinen …,“ sprachlos halte ich inne. Liam hatte das Labor zerstört in dem ich noch vor kurzem gefangen gewesen war? Konnte er wirklich einen so großen Schaden anrichten?

„Das, was er heute gezeigt hat, war nur eine minimale Kostprobe seiner wahren Kraft.“

 

Ehrfurcht durchflutet mich. Liam scheint eine unglaublich mächtige Bestie zu sein. Das erklärt die Angst der Soldaten die deutlich zu spüren war, als wir angekommen sind. Und die Feindseligkeit.

„Gibt es noch mehr von Liams … naja … Artgenossen?“

„Nein. Er ist die letzte Bestie seiner Zeit. Er ist auch das letzte Erbe meines Urgroßvaters. Darum hat mein Onkel mehr Interesse an Liam gezeigt als an Ihnen. Er ist von den Arbeiten unseres Vorfahrens praktisch besessen. Es grämt ihn, dass Sie sein Zielobjekt gezähmt haben.“

„Warum hat man mich für einen Feind gehalten? Und wieso sollte ich deshalb sterben?“

„Verstehen Sie es noch immer nicht? Erst befinden Sie sich auf unserem Territorium und dann ist es Ihnen gelungen eine siebzig Jahre alte Bestie zu zähmen, die eigentlich als besonders erbarmungslos und brutal gilt. Sie sind im Besitz der ultimativen Waffe unserer Zeit. Das verleiht ihnen viel zu viel Macht. Im Rat und in den Laboren gibt es mehr als genug Menschen die Sie beneiden und alles dafür geben würden, um ihren Platz einzunehmen.

Außerdem befinden wir uns derzeit im Ausnahmezustand. Es gibt einige unkontrollierbare Vorfälle mit unseren Gegenspielern. Das hat für das Misstrauen gesorgt.“

„Ich dachte ihr seit eine geheime Organisation, wie könnt ihr da Feinde haben?“, will ich wissen.

Sophie sieht mich bedauernd an. „Es gibt immer wieder Mitglieder von Gimini, die andere Auffassungen haben, als die Mehrheit. Diese haben sich zusammengeschlossen und ihre eigene Gruppierung gebildet. Das läuft jetzt schon einige Zeit so und wir müssen mehr denn je auf der Hut sein, um die Zivilisten aus diesem Kleinkrieg heraus zu halten. Da kann jeder Vorteil bedeutend sein.“

Langsam verstehe ich das Ausmaß. „Wie zum Beispiel eine Superbestie, die in die falschen Hände geraten könnte.“

„Genau.“

Schweigend blicken wir zu dem Übeltäter.

Liam niest ungeniert. Dieser Teil unsrer Unterhaltung scheint ihn zu langweilen, obwohl er die Hauptrolle einnimmt. Ich betrachte ihn mit neuen Augen.

Jetzt da ich weiß was er ist, kann ich die Gene erahnen die in ihm stecken. Doch weiß ich immer noch nicht wie ich zu der Ehre gekommen bin.

„Verraten Sie es mir?“ holt Sophie mich aus meinen Gedanken.

„Was?“

„Wie haben Sie es geschafft sich in sein Territorium zu schleichen und ihn zu zähmen.“

Frustriert schnaufe ich. „Das habe ich schon tausend mal erklärt.“ Ich verschränke meine Arme, wie ein bockiges Kind.

„Es tut mir leid. Aber diese Geschichte ist noch nicht an mein Ohr gedrungen. Und ich finde, dass Sie mir auch etwas über sich erzählen könnten. Immerhin habe ich Ihnen gerade ein bedeutendes Ereignis unserer Geschichte beschrieben, dass normalerweise nur einer geringen Anzahl unserer Leute bekannt ist.“

Gutmütig gebe ich nach. Sophie kann ja nun wirklich nichts dafür, dass mir keiner zuhören wollte. Sie scheint wenigstens an meiner Geschichte interessiert zu sein. Ich halte den Zeitungsartikel hoch.

„Eigentlich können Sie die Hälfte hier lesen.“

Verständnislos blickt sie mich an. Also hole ich weiter aus.

„Hier steht es. Am 10. Juli war ich mit meinen Kollegen im Wald, als wir von Liam angegriffen wurden. Ich habe ihn für eine Wildkatze gehalten und wollte ihn von ihnen und den Kindern weglocken. Das hat zu gut gewirkt. Er hat mich irgendwie K.O. geschlagen. Als ich aufwachte war ich in dieser Ruine.“

„Oh, so war das also und ich dachte die Bildzeitung übertreibt mal wieder“, sie überlegt kurz, „Scheinbar wollte XS-707-GP4 Sie zum spielen mitnehmen.“

„Was meinen Sie damit?“

„Bestien neigen dazu sich Spielgefährten zu suchen.Trotz des strengen Trainings sind sie doch sehr soziale Wesen. Von Zeit zu Zeit wählen sie sich einen Artgenossen und erlauben ihnen zum Spielen in ihr Territorium zu kommen.“ Sophie scheint kurz zu überlegen.

„Bei XS-707-GP4 war es aber bis jetzt anders. Er erschien uns eher als Einzelgänger. Nach dem Vorfall im ersten Labor haben die übrig geblieben Ratsmitglieder und Wissenschaftler von Gimini Intercorbs, die sich außerhalb des Geländes aufgehalten hatten, natürlich alle Hebel in Bewegung gesetzt um ihn einzufangen. Aber ohne Erfolg. Da er sich aber eher ruhig verhalten hatte, haben sie ihn dann praktisch links liegen gelassen und geglaubt, dass er von alleine an Altersschwäche verenden würde. Einige Wissenschaftler wurden dazu abbestellt ein Auge auf ihn zu haben und mussten jede Kleinigkeit dokumentieren. Doch XS-707-GP4 gelang es sich so gut zu verstecken, dass sein Beobachtungsteam ihn verlor. So wurde auch diese Aufgabe auf Eis gelegt. Im März 1954 wurde er offiziell für Tod erklärt, da er das Ende des errechneten Lebensalters erreicht hatte. Es wurde vermutet, dass er sich einen Ort zum sterben gesucht hatte und deshalb verschwand.

In dieser Zeit hat sich der Rat darauf konzentriert ein neues Labor aufzubauen und mehr Möglichkeiten der wissenschaftlichen Studien zu schaffen. Es wurden im Geheimen neue Sponsoren angeworben und Gimini Intercorbs ist erfolgreich wieder auferstanden. 1970 wurde dann das Labor, in dem wir uns heute befinden fertig gestellt und bezogen.

Vor rund 20 Jahren ist XS-707-GP4 dann plötzlich wieder aufgetaucht. Er wurde zufällig in der Nähe der Nordsee entdeckt, nachdem er seit rund 39 Jahre als Tod galt. Sie können sich vorstellen wir überrascht wir waren. Eine alte Legende war wieder zum Leben erweckt wurden.

Keiner konnte sich erklären, wo er die ganze Zeit gewesen war und warum er plötzlich aufgetaucht ist.“ Sophie macht eine Pause damit ich die vielen Informationen erst einmal verdauen kann.

Das ist ein ganz schönes Stück Geschichtete das in unseren Lehrbüchern fehlt. Unglaublich wie das alles geheim gehalten werden konnte und das obwohl scheinbar viele Menschen beteiligt sind.

Ich frage mich, wir es Liam gelungen ist so lange unentdeckt weiter zu leben. Aber wenn er für Tod erklärt wurde, dann sucht ja keiner nach ihm und so war es wohl leicht sich zu verbergen.

Aber warum ist er zu Nordsee gegangen? Wenn ich mich recht erinnere bin auch zu dieser Zeit dort gewesen. Meine Familie lebte einige Monate lang dort in der Nähe. Gänsehaut überkommt mich bei dem Gedanken, dass ich ihm schon vor 20 Jahren hätte begegnen können.

Sophie beobachtet mich ganz genau. Ich nicke leicht, damit sie weiß, dass sie fortfahren kann.

„Erst in der 2. Generation von Gimini Intercorbs haben wir also wieder versucht ihn einzufangen. Mittlerweile gab es überall auf der Welt verstreut Tochterlabore. Jeder war von Liams Existenz begeistert. Nur leider reichten unsere Mittel und Taktiken immer noch nicht aus, um ihn einzufangen. Immer wieder ist er spurlos verschwunden. Aber mittlerweile ist die Technik fortschrittlicher und so haben wir ihn schnell wieder entdeckt.

Vor rund zehn Jahren versuchten wir sogar ihn mittels anderer Bestien anzulocken. Aber auch hier zeigte er kein Interesse. Weder bei anderen Vierbeinern, noch bei den unausgewachsenen Bestien, die sonst den Beschützerinstinkt wecken.“

Ein abfälliges Schnauben kommt von Liam, ganz so als ob er sich über diese Bemühungen lustig machen würde. Sophia sieht ihn entschuldigend an.

„Verstehen Sie jetzt warum es so eigenartig ist, dass sich XS-707-GP4 bei ihnen dermaßen handzahm aufführt?“

„Ja, ich glaube schon.“

„Was haben Sie gemacht, als Ihnen ihre Lage bewusst wurde?“, fragt Sophie neugierig. Jetzt bin wohl ich an der Reihe um aus dem Nähkästchen zu plaudern.

„Panik geschoben, was sonst?“, gebe ich ungeniert zu. „Wie würden Sie reagieren, wenn Sie ganz plötzlich von einem nicht definierbaren Tier entführt werden und in einer Ruine aufwachen?“

„Naja, ich hätte da keine so großen Probleme. Immerhin bin ich mit Bestien groß geworden und in den Laboren praktisch aufgewachsen. Für mich klingt das alles nach einem großen Abenteuer. Andererseits könnte ich mich wohl ähnlich fühlen, wenn ich plötzlich einem Haufen von unerzogenen Kindern gegenüberstände und mich um sie kümmern müsste.“ lächelt sie mir entgegen.

„Wir können das nächste Mal gerne tauschen.“ erwidere ich mürrisch. „Ich habe versucht zu überleben. Irgendwie jedenfalls. Liam hat mich ständig beobachtet und nach einer geraumen Zeit habe ich angefangen mit ihm zu sprechen und versucht zu kommunizieren. Überraschenderweise hat das ganz gut funktioniert.“

„Das ist nicht verwunderlich. Er wurde darauf trainiert einfache Befehle zu verstehen und zu verfolgen. Außerdem steckt in ihm ein gewisser Anteil humaner DNA, damit er uns besser verstehen kann.“

„Was?“

„Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Wie mischen humane und animalische DNA.“

Ich schlucke. Das erklärt allerdings so einiges.

„Wie ist das möglich? Heißt das, dass Liam meine Sprache spricht? Wie menschlich ist er denn?“

„Dazu kommen wir später.“ Mit diesen Worten erhebt sich Sophie. „Kommen Sie. Es wird Zeit. Wir haben uns viel zu lange unterhalten. Ich muss leider noch arbeiten. Ich bringe Sie zurück.“

„Aber ich habe doch noch so viele Fragen!“

„Ja, ich auch. Aber wir haben ja morgen wieder Zeit dafür.“ Unzufrieden lasse ich mich von Sophie zurück bringen. Meine Bestie folgt mir natürlich auf Schritt und Tritt. Liam scheint froh zu sein, sich endlich wieder bewegen zu können.

Trotzdem kann ich mir eine letzte Frage nicht verkneifen, als wir durch den Gang schlendern.

„Kann Liam sprechen?“

„Oh. Das glaube ich weniger. Zwar sind einige der Bestien in der Lage zu sprechen, brauchen dafür aber menschliche Stimmbänder. Darum fällt das den Zweibeinern oder denen mit offensichtlichen menschlichen Merkmalen leichter, da sie in den meisten Fällen auch unser Sprachorgan entwickelt haben.“ Sophie wirft einen prüfenden Blick zu Liam. Der erwidert diesen aber nicht, wartet nur ungeduldig darauf, dass die Tür aufgeht.

„Er wirkt auf mich als sei er mehr animalischen Ursprungs. Ich bin mir aber sehr sicher, dass er Ihre Worte perfekt verstehen kann und auch ihren Sinn im Großen und ganzen begreift.“

Sophie reicht mir noch die Hand und verlässt uns dann. Ich betrachte Liam wütend und ernte einen verständnislosen Blick von ihm.

„Ich glaube, dass wir beide noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen haben.“

Kapitel 2.3.2 - verstärkte Sanktionen

 

 

 

Es ist wichtig streng und unnachgiebig zu bleiben. Sollte

Ihre Bestie dennoch verstärkt Verhaltensauffällig sein

oder Ihre Befehle verweigern, dann müssen Sie unbedingt

härter durchgreifen. Zeigen Sie ihr, dass es Ihnen ernst ist.

Sollte der Entzug der Privilegien nicht mehr greifen, fragen

Sie einfach Ihren Trainer.“

 

 

 

 

Mit verschränkten Armen und strengen Blick sitze ich Liam in unserem Zimmer gegenüber. Er hat sich schon wieder auf meinem Bett breitgemacht und sieht mich mürrisch an. Scheinbar wünscht er sich, dass ich ihm meine Strafpredigt erspare. Doch ich kann es mir einfach nicht verkneifen. Ich schlage meine Beine übereinander und rutsche auf dem Stuhl in eine einigermaßen bequeme Haltung. Das Jucken in meiner Schulter heißt meine Wut noch mehr an.

„Du verstehst also, was ich sage?“, frage ich skeptisch. Liam dreht provokativ seinen Kopf weg und studiert hoch interessiert die kahle Wand. Mistkerl.

„Sieh mich an Liam!“, ermahne ich ihn mit scharfen Unterton.

Seufzend sucht er dann doch gnädiger Weise meinen Augenkontakt und begreift, dass ich nicht locker lassen werde. Er rollt mit den Augen und zeigt mir so, dass er es schnell hinter sich bringen will.

„Noch einmal für Dumme. Verstehst du was ich dir sage?“

Ein Nicken und meine Vermutung wird bestätigt.

„Hast du mich von Anfang an verstanden?“

Ein Kopfschütteln. Also wusste er ursprünglich wirklich nicht, was ich von ihm wollte.

„Du hast aber später den Sinn meiner Worte verstanden?“

Ein zaghaftes Nicken. Scheinbar spürt er worauf ich hinaus will.

„Das heißt, dass du spätestens dann gewusst hast was ich meine, wenn ich dich darum gebeten habe mich nach hause zu bringen?“

Ein ruppiges Nicken. Ohne Reue. Auch seine Augen strahlen mir dominant entgegen, als wenn er mir damit deutlich machen will, dass jegliche Diskussion Blödsinn ist.

„Das heißt, dass du mich mit Absicht weiterhin in diesem schimmeligen Labor hast verrotten lassen“, zische ich wütend.

Dieses Mal ist sein Nicken kaum noch zu erkennen. Liam scheint auf der Hut zu sein. Zu Recht.

„Hast du daran gedacht, dass ich das alles nicht will?“

Ein Nicken. Dann ein Kopfschütteln. Man könnte meinen, dass er versuche seinen Kopf jetzt aus der Schlinge zu ziehen.

„Um alles nochmal zusammen zu fassen. Du hast mich entführt und später bewusst gegen meinen Willen gefangen gehalten?“, frage ich eisig.

Er nickt, zieht aber den Schwanz ein und drückt seinen Körper tief in die Matratze. Scheinbar versucht er jetzt auf unschuldiges kleines Kätzchen zu machen.

Ich explodiere.

Was fällt dem ein? Obwohl er also wusste, dass ich nicht bleiben wollte hat er mich festgehalten! Und jetzt versucht er sich um dieses Thema zu drücken! Wäre er ein Mann, dann würde ich ihm eine Ohrfeige verpassen und nie wieder sehen wollen. Ach Unsinn. Ich würde ihn anzeigen! Das ist doch Freiheitsberaubung!

„Du Arsch!“, brülle ich ihm entgegen und entlade den Frust der letzten Wochen mit einem lauten Knall.

Liam schnauft warnend. Scheinbar soll ich den Bogen nicht überspannen. Trotzdem bleibt er in geduckter Haltung um mich zu besänftigen. Er versteht wohl, dass ich Grund zum wütend sein habe. Ich halte mich aber nicht zurück, springe auf und tigere aufgebracht durch den Raum.

„Wie konntest du mir das antun? Das ist unmoralisch! Du hast mich gegen meinen Willen entführt und festgehalten! Ich fasse das alles nicht! Du hast das ganz bewusst gemacht! Wärst du nur ein dummes Tier gewesen, dass es nicht besser gewusst hätte, dann hätte ich dir vergeben können. Jetzt sieht die Sache aber ganz anders aus!“ Ungeduldig blicke ich ihn an und warte auf eine Reaktion. Einen entschuldigenden Blick. Reue. Irgendetwas in dieser Richtung. Doch seine Augen zeigen keine Reaktion. Wenn er mir doch nur erklären könnte warum er das gemacht hat.

Aber so weiß ich nicht wie ich mit meiner Wut und meinen plötzlich aufkeimenden Hass umgehen soll. Darum knalle ich ihm alles an den Kopf.

„Ich hasse dich“, brülle ich ihm entgegen. Endlich zeigt er eine Reaktion. Die Bestie springt hoch und stellt sich drohend auf mein Bett. Er faucht. Ihm gefallen meine Worte wohl nicht. Dieses Mal kann er sie scheinbar nicht ignorieren.

„Es ist mir egal ob du mich anfauchst oder nicht. Wegen dir glauben meine Eltern, dass ich tot bin. Ich habe alles verloren. Meinen Job, meine Familie, meine Freiheit, MEIN LEBEN!“ Tränen der Wut und des Verlustes fließen ungehemmt über mein Gesicht. Schluchzend zeige ich auf ihn.

„Ich will dich nie wieder sehen! Verschwinde!“ Liam schnaubt nur abfällig. Ihm ist egal, was ich will. Das war es anscheinen die ganze Zeit. Es ist ein Wunder, dass er mir überhaupt erlaubt hat mit Kati und Luka hier her zu fahren.

„Ich sagte, dass du verschwinden sollst! Hau ab!“, kreische ich lauthals. Er reagiert immer noch nicht so, wie ich es mir wünsche. Sondern knurrt mich nur warnend an, um mir zu zeigen, dass ich aufhören soll ihn zu beschimpfen.

Ich schnappe mir ein Sitzkissen vom Stuhl und schleudere es ihm entgegen. Liam schlägt es mit seiner Pranke blitzschnell beiseite. Langsam scheint auch er wütend zu werden. Sein Blick wird intensiver. Seine Haltung aggressiver. Gut so! Ich werde nicht nur machen, was du willst! Nicht mehr!

Er springt vom Bett und richtet sich in voller Größe auf. Drohend. Warnend. Doch ich lasse mich nicht mehr einschüchtern. Was habe ich noch zu verlieren? Ich bin offiziell eh schon tot. Der Hass auf meine scheinbar ausweglose Situation übernimmt die Oberhand und ich übergebe mich ihm freiwillig.

„Brülle du nur, du Monster!“, schreie ich ihm entgegen. Liam Brüllt so laut, dass die Wände wackeln. Doch ich habe die Nase gestrichen voll. Ich hebe das am Boden liegende Kissen auf und schlage auf ihn ein.

„Du Missgeburt! Ich wünschte du wärst vor sechzig Jahren in der Kammer verreckt! Oder vor 40 Jahren an Altersschwäche gestorben. Ich hasse dich. Ich hasse dich!“

Liam wird richtig wütend. Seine Augen verfärben sich leicht rot, sie glühen mich an und sprechen eine allerletzte Warnung aus. Ich lasse aber nicht von ihm ab und schlage nur noch härter zu. Er holt aus und zerfetzt mit seinen Klauen das Kissen. Die Federn fliegen durch die Luft und verteilen sich in einem tobenden Sturm im ganzen Raum. Danach rennt er mich förmlich über den Haufen und brüllt mir ins Gesicht. Sein heißer Atem kommt mir entgegen und bringt mich zum würgen. Ich fühle die Vibrationen seines Brüllens bis in die Knochen. Am Boden liegend schnappe ich nach Luft und versuche seine Tatze von mir herunter zu schieben. Ohne Erfolg.

Eine Mischung aus Heulkrampf, Schmerzensschrei und Wutgebrüll kommt aus mir heraus und mixt sich unter Liams wildem Fauchen. Ich tobe wie eine Furie und schlage mit den Fäusten nur so um mich. Mein Gegner scheint mit meinem Verhalten überfordert zu sein und steigt endlich von mir runter. Ich springe auf die Beine und halte hechelnd meine Brust. Es fühlt sich so an, als ob eine Rippe gebrochen ist.

Meine Sicht wird durch die Tränen getrübt. Ich erkenne ihn nur noch als schemenhafte Gestalt. Er läuft vor mir im Kreis und sucht fieberhaft nach einer Lösung. Schnell schnappe ich mir die Tasse vom Tisch und schmeiße sie ihm entgegen. Scheppernd zersplittert sie an seiner Flanke. Er blickt verwundert auf und scheint ehrlich empört zu sein. Ich drehe ihm den Rücken zu und renne aus dem Raum.

Sofort spüre ich wie er mich verfolgt. Kann er mich denn nicht einmal in Ruhe lassen? Ich brauche jetzt dringend etwas Zeit für mich allein, um mich wieder runter zu fahren.

Ich haste den halbdunklen Gang entlang und fühle wie mein Verfolger immer näher kommt. Sein Atem sitzt mir bereits im Nacken und verursacht mir eine Gänsehaut.

Schlitternd komme ich vor der eisernen Tür zum stehen, versuche mit meinen feuchten Fingern die Klinke nach unten zu drücken, rutsche aber ab. Liam faucht warnend. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe ihm in die rotglühenden Augen. Ich erkenne Angst in ihnen und auch Panik. Liam wirkt vollkommen ratlos. Er macht einen Schritt auf mich zu und ich schüttle abweisend meinem Kopf. Noch ein vorsichtiger Schritt.

Das alles erinnert mich an eine Szene aus meiner Gefangenschaft. Auch damals hat er dieses Verhalten gezeigt, wenn er versuchte mich nicht zu verschrecken. Doch dieses Mal lasse ich mich nicht beruhigen. Ich kann einfach nicht. Dafür ist die Wunde noch viel zu frisch. Ich fühle mich überfordert und ausgelaugt. Dazu kommt das schmerzhaften Pulsieren in meiner Schulter und meine schimpfende Rippe. Das Adrenalin ist aufgebraucht, so spüre ich meine Erschöpfung um so deutlicher. Ich dränge mich weiter an die Tür. Meine Knie zittern, kalter Schweiß rinnt meinem Rückgrat entlang und ich fange an leise zu wimmern.

„Bitte, gib mir etwas Zeit allein“, flehe ich ihn förmlich an.

Liam überlegt und bleibt stehen. Er maunzt sanft, doch ich verweigere ihm eine Reaktion. Seine Gedanken scheinen zu rasen. Sein Schwanz tanzt aufregt in der Luft und sein Atem entweicht ihm stoßweise. Langsam weicht er zurück. Es wirkt so, als ob Liam zum zweiten Mal am gleichen Tag widerwillig nachgibt.

Zögernd dreht er sich um und wendetet mir den Rücken zu. Mit einem letzten Blick über die Schulter schleicht er mit hängendem Schwanz wieder in Richtung unseres Zimmers. Erleichtert atme ich auf. Vorerst habe ich wohl meine Ruhe.

Mit zittrigen Fingern drücke ich die Klinke nach unten und komme in einen Vorraum. Er ist hell erleuchtet. Auch hier findet sich wieder der Schriftzug: Gimini Intercorbs. Drei Türen weisen in andere Räume, doch ich will eigentlich nicht mehr laufen.

Erschöpft suche ich mir eine stille Ecke. Hier gibt es leider kein einziges Möbelstück, auf dem ich mich hätte hinsetzen können, also lasse ich mich einfach auf den Boden gleiten. Ich ziehe meine Knie an und spüre den Schmerz in meiner Rippe sehr deutlich. Reumütig strecke ich die Beine wieder aus, danach betrachte ich in dem grellen Licht meine verletzte Schulter.

Während des Tages habe ich das leichte Kribbeln eines sich anbahnenden Schmerzes vernommen, aber gleich wieder verdrängt. Doch jetzt, nach der Auseinandersetzung mit Liam, dringt er allzu deutlich in mein Bewusstsein. Die Stelle an der sich die vier Kratzer befinden hat sich entzündet. Eine bläuliche Schwellung ist deutlich zu erkennen und eine eitrige Flüssigkeit quillt hervor. Ich frage mich, warum mich solch ein kleiner Kratzer so stark beeinflusst. Auch die Kratzer auf meinem Rücken hatten sich damals entzündet. Sahen sie damals auch so aus?

Jetzt fällt mir auch wieder ein, dass ich keine Ahnung habe, warum diese Verletzung so einfach verheilt ist. Ich kann mich kaum noch an mein Fieber erinnern und an das was währenddessen vorgefallen ist. Egal wie sehr ich mich anstrenge, doch die Erinnerung kommt einfach nicht zurück. Ich seufze und lehne meinen Kopf an die kühle Wand. Erst jetzt fällt mir meine überhitze Temperatur auf. Fieber. Schon wieder. Ich schließe resigniert meine Augen und treibe einfach ins Vergessen.

 

Ich schwebe. So kommt es mir jedenfalls vor. Langsam zwinge ich meine Augen sich zu öffnen und blicke in ein markantes Gesicht. Der General. Er lächelt mich an und trägt meinen viel zu schwachen Körper.

„Was ist passiert?“, krächzt meine Stimme.

„Nichts weiter. Ich habe Sie nur aufgesammelt und bringe Sie auf die Krankenstation“, erklärt er süffisant. „Sie hätten uns eher Bescheid geben können, dass es Ihnen nicht gut geht“, schiebt er tadelnd hinter her und öffnet mit Leichtigkeit einhändig eine Tür.

Ich will ja nicht behaupten, dass ich dick sei, aber leicht bin ich allemal nicht. Trotzdem kann mich dieser Mann scheinbar lässig auf einem Arm herumtragen. Ich komme mir wie ein kleines Püppchen vor, dass gerade von A nach B geschleppt wird.

Ich zucke mit den Schultern, doch sofort bereue ich es, da meine Rippe immer noch keine Ruhe gibt, geschweige denn die Kratzer.

„Ich habe mich bis vor kurzem noch wohl gefühlt.“ Der General sieht mich skeptisch an. Scheinbar glaubt er mir nicht, aber das kann mir egal sein.

„Wir sind da“, meint er triumphieren und legt mich sanft auf einer Liege ab. Ich habe gar nicht bemerkt wie wir hier angekommen sind. Mein Kopf dreht sich schon wieder, darum kralle ich mich halt suchend an dem Bettlaken fest und warte bis der Schwindelanfall vorbei zieht. Nach einigen Minuten sehe ich in das vor Sorge verzerrte Gesicht meines Wohltäters. Er dreht sich um und verschwindet hinter einem weißen Vorhang.

Sekunden darauf betritt ein Mann hohen Alters den Raum. Sein ergrautes Haar ist zu kurzen Stoppeln geschnitten und sein Bart umrandet sanft sein freundliches Lächeln. Er ist, wie es sich für Ärzte gehört, ganz in weiß gekleidet. Der General kommt hinter ihm her und stellt sich mit verschränkten Armen an die Wand. Ich werfe ihm einen missbilligenden Blick zu. Immerhin erwarte ich etwas Privatsphäre, doch der hebt nur eine Augenbraue und grinst mich schelmisch an. Noch so ein dominanter Kerl der mit seiner Arroganz glänzt!

„Guten Tag Frau Morel. Ich bin Dr. Albert Jung. Herzlich willkommen bei Gimini Intercorbs.“

„Äh, ja. Danke.“

Dr. Jung greift sich sein Stethoskop und horcht meine Atmung ab. Ich zucke leicht zusammen.

„Tut das etwa weh?“

„Ja.“

„Haben Sie sonst noch irgendwo Schmerzen?“

Ich zeige ihm meine Schulter, woraufhin der Arzt missbilligend die Stirn kraus zieht.

„Sie haben sich also von Ihrer Bestie kratzen lassen?“

„Das hat er doch nicht mit Absicht getan. Es ist passiert, als er mich auffangen wollte“, verteidige ich Liam.

„Achso. Ja. Von dieser verrückten Aktion habe ich bereits gehört.“ Er greift in das kleine Schränkchen, das an der Seite wartet und holt eine kleine Spritze heraus. Au Backe. Ich hasse Spritzen. Dann zieht er eine gelblich schimmernde Flüssigkeit auf und kommt zu mir zurück. Ich ahne ungutes.

„Machen Sie bitte ihren Oberschenkel frei. Ich werde ihnen eine Lösung injizieren die das natürliche Gift der Bestien neutralisieren wird.“ Erschrocken zucke ich zurück.

„Das ist nicht nötig Herr Doktor“, versuche ich mich zu retten.

„Oh doch, das ist es. Seien Sie nicht so zimperlich.“ Ein kichern aus der Ecke spottet mich aus und ich werfe einen vernichtenden Blick zurück.

„Nein ist es nicht. Als Liam mich das erste Mal gekratzt hat, da hatte ich auch Fieber. Doch nach einer Mütze voll Schlaf war alles abgeheilt und mir ging es besser.“

„Das ist unmöglich Frau Morel. Das Gift führt für gewöhnlich zum Tod. Es verbreitet sich nach der Aufnahme im Körper und erhöht die Temperatur. Irgendwann kollabieren die inneren Organe.“

„Das ist aber nicht normal, dass Sie den Bestien solche Fähigkeiten geben.“

„Das steht hier nicht zur Debatte. Lenken Sie nicht ab. Runter mit der Hose.“

Ich habe wohl keine andere Wahl und muss mich der Spritze ergeben. Mein Schamgefühl will dies allerdings vehement verhindern. Ich blinzle zu dem Doktor und dann zu dem General. Ich spüre wie die Röte unaufhörlich meine Wangen in Besitz nimmt.

„Gibt es etwa ein Problem Frau Morel?“ Ich versuche ihn zu ignorieren und knirsche mit den Zähnen. „Frau Morel.“ Ich spüre wie Dr. Jung langsam ungeduldig wird und gar nicht daran denkt aufzugeben. Erleichtert stelle ich fest, dass sich der General endlich in Bewegung setzt und so kann ich meine Hose herunter ziehen. Ich meine bei einem Arzt ist das was anderes, aber warum sollte ich mit in meinem Slip einem völlig Fremden präsentieren, der noch vor ein paar Stunden versucht hat mich zu vergiften. Der Arzt verpasst mir die Injektion. Das war doch gar nicht so schlimm.

„Warum verkrampfen Sie sich, wenn Sie ihren Oberkörper bewegen?“ fragt mich Dr. Jung fachmännisch.

„Ich hatte vorhin eine kleine Auseinandersetzung mit Liam. Dabei hat er mir wahrscheinlich eine Rippe gebrochen.“

„Wie bitte? Wer ist Liam?“

„Ähm … XS-7 …. naja meine Bestie halt.“

Wieder ein irritiertes Stirnrunzeln. „Sie lassen sich von ihrer eigenen Bestie verletzen?“

Ich komme mir dumm vor. „Als ob ich mich mit einer wilden Bestie messen könnte.“

„Ich sehe schon. Sie haben noch einiges an Arbeit vor sich.“

Er tastet kurz meine Rippen ab und bestätigt mir zum Glück nicht, dass etwas gebrochen ist. Der Arzt erklärt mir, dass ich nur einen mächtig blauen Fleck davon tragen werde. Nichts Besorgniserregendes. Über Nacht soll ich hier bleiben. Ich werde an den Tropf gehängt und endlich alleine gelassen. Es dauert nicht lange und ich schlafe wieder ein.

Eine, für mich, plötzlich unsagbar wichtige Frage drängt sich dennoch in mein Unterbewusstsein und zögert meinen Schlaf noch kurz hinaus: Welches Datum haben wir eigentlich?

Kapitel 2.4 - Selbständigkeit

 

 

 

Obwohl es wichtig ist viel Zeit mit Ihrer Bestie zu

verbringen, müssen Sie Abstand wahren. Die Bestie

darf von Ihnen nicht abhängig werden. Sie muss weiter-

hin einen gewissen Grad an Selbständigkeit beibehalten.

Wenn Sie allerdings merken, dass Ihre Bestie mit ihrer

Abwesenheit nicht zurecht kommt und sich ungewöhnlich

verhält, müssen Sie die Phasen Ihrer Absenz erhöhen.

So sichern Sie ab, dass sich die Bestie an ihre Abwesenheit

gewöhnt und abnormales Verhalten einstellt.“

 

 

 

 

 

Als ich wieder zu mir komme, fühle ich mich um einiges Erholter. Obwohl ich mir eine weichere Matratze wünschen könnte, habe ich gut geschlafen. Die Schmerzen in meiner Schulter sind abgeklungen, nur noch ein leichtes Pochen erinnert mich an die Entzündung. Erleichtert öffne ich die Augen und rapple mich vorsichtig hoch. Mein blauer Fleck schmerzt dafür immer noch. Ich ahne jetzt schon, dass er länger zum verheilen brauchen wird. Ein Klopfen an der Tür weckt meine Aufmerksamkeit.

Der General schiebt sich mit vollen Händen herein und lächelt mich grüßend an. Neugierig beobachte ich seine Bewegungen. Er zieht einen kleinen Tisch an mein Bett und stellt dort seine Mitbringsel ab.

Die extra große Cola begeistert mich sofort. Gierig schnappe ich mir das prickelnde Getränk und verschlinge nebenbei die Pommes und die beiden Burger, die er mir vor die Nase hält.

In wenigen Minuten habe ich alles vertilgt. Traurig knülle ich das Papier zusammen und ziehe an meinem leeren Strohalm. Mein Essenslieferant reicht mir lächelnd einen weiteren Burger und schiebt mir seine Cola hin. Er ist mein strahlender Held in McDonalds-Rüstung.

„Sie scheinen ja ganz schön hungrig gewesen zu sein.“

„Ja“, antworte ich mit vollem Mund.

„Schlingen Sie immer so undamenhaft?“, lächelt mir der General entgegen. Scheinbar macht er sich gerade über mich lustig.

„Würden Sie nicht schlingen, wenn Sie seit einer gefühlten Ewigkeit kein Fastfood mehr zu essen gehabt hätten?“, verteidige ich mich ein wenig beleidigt.

„Wie haben Sie es eigentlich geschafft zu überleben? Hat Ihre Bestie Sie versorgt?“

Mit einem letzten Bissen beende ich meine Mahlzeit, lehne mich zurück und mache es mir gemütlich. Wäre ich jetzt Liam, würde ich vor mich hin schnurren. Satt und zufrieden mustere ich meinen Gegenüber. Warum interessiert er sich so sehr für mich? Oder interessiert er sich am Ende auch nur für Liam? Seine plötzliche Freundlichkeit macht mich skeptisch. Immerhin wollte er mich mit Hilfe von Giftgas töten. Nur leider wünscht sich der weibliche Teil in mir, dass er mehr ist, als ein wahnsinniger Killer.

„Wie heißen Sie überhaupt?“

„Verzeihung. Mein Name ist Caleb Blackthrone.“

„Das scheint mir kein deutscher Name zu sein,“ merke ich an. Ich versuche meinem Gesicht einen fragenden Ausdruck zu verleihen.

„Sie werden ganz schnell feststellen, dass nicht nur Deutsche für Gimini Intercorbs arbeiten“, weicht er meiner offensichtlichen Neugierde aus. So ist das also. Mich will er ausquetschen, aber selber nichts über sich preisgeben.

Ich schweige. Aber Caleb will offenbar nicht so leicht aufgeben.

„Verraten Sie es mir? Bitte.“ Wer könnte diesem Blick schon widerstehen? Ich jedenfalls nicht. Seufzend gebe ich nach.

„Liam versuchte mich am Anfang mit toten Tieren zu füttern“, berichte ich mit gerümpfter Nase. „Diese Leckerbissen habe ich aber vehement abgelehnt. Irgendwann ist er dann auf die Idee gekommen, mir Obst zu bringen.“

Ihm geht scheinbar ein Licht auf. „Ah. Das Obst muss er von der unterirdischen Plantage haben. Scheinbar ist sie noch intakt.“

„Eine unterirdische Obstplantage?“, hake ich nach.

„Ja. Was glauben Sie denn, wie wir sonst unseren ganzen Mitarbeiter gesund ernähren könnten? Außerdem haben wir auch einige Pflanzenfresser unter den Bestien.“ Das erklärt allerdings meine Frage, woher Liam das Obst hatte. Also doch nicht aus Nachbars Garten.

„Aber die Früchte allein können Sie wohl kaum ernährt haben.“

„Nein, da haben Sie recht. In einer alten Küche entdeckte ich getrocknetes Fleisch und andere eingepackte Lebensmittel, die noch essbar waren.“

„Verstehe. Und wie haben Sie das Wasserproblem gelöst?“

„Regenwasser.“

Meine Antworten scheinen ihn zu befriedigen. Ich bilde mir sogar ein in seinen Augen ein wenig Bewunderung zu lesen. Endlich habe ich etwas Respekt geerntet. Immerhin habe ich nie ein Überlebenstraining absolviert, dass mich auf so eine Situation hätte vorbereiten können. Trotzdem habe ich mich wacker geschlagen.

„Frau Morel, Sie wissen bestimmt bereits, dass Sie ab jetzt ein offizielles Mitglied von Gimini Intercorbs sind.“ Ich schnaube. Warum wollen nur immer alle über mein Leben bestimmen? Erst Liam, dann der verrückte Professor und nun Gimini Intercorbs.

„Was macht Sie da so sicher, Herr General?“

„XS-707-GP4“

„Dann übernehmen Sie Liam doch! Der Blödian ist mir egal!“, motze ich ihn an. Unterschwellig bin ich immer noch wütend auf meinen Entführer. Caleb zieht eine Augenbraue hoch und blickt mich verwundert an.

„Warum wehren Sie sich so sehr? Da draußen gibt es tausende Menschen die gerne mit Ihnen tauschen würden.“

„Dann sollen Die doch tauschen. Ich will nach hause.“

„Warum?“ Seine Augen drücken klares Unverständnis aus. Warum will er meinen Standpunkt nicht verstehen?

„Weil ich meine Familie vermisse. Ich bin eine einfache Erzieherin, die ihr altes Leben zurück haben will. Ich habe keine Lust die Dompteurin einer Bestie zu spielen.“

„Wir befinden uns nicht im Zirkus. Das alles hier ist ernster, als Sie glauben“ tadelt er mich leicht.

„Warum? Hitler ist doch schon Geschichte.“ Er will einfach nicht aufgeben. Pech nur, dass ich einen genauso dicken Schädel besitze.

Er sieht mich nachdenklich an. „Sie kennen also bereits die Entstehungsgeschichte unserer Organisation. Aber wissen Sie denn nicht aus den Nachrichten oder von Zeitungsartikeln, dass es überall auf der Welt Unruhen und Kriege gibt? Denken Sie nur an Nordkorea oder Afrika, den Irak. Da gibt es noch reichlich Einsatzmöglichkeiten. Auch in Deutschland gibt es schon die ersten Unruhig die vor der Öffentlichkeit unter den Teppich gekehrt werden.“

„Heißt das, dass Gimini Intercorbs es sich zum Ziel gemacht hat mit Hilfe der Bestien, für Weltfrieden zu sorgen? Das ist lächerlich.“

„Da gebe ich Ihnen Recht.“ Es klopft wieder an der Tür. Sophie tritt ein und sieht uns grinsend an.

„Hallo, General.“ Caleb nickt ihr zu und erhebt sich dann.

„Frau Morel, wir sehen uns später. Mir wurde die Ehre zuteil als ihr Trainer fungieren zu dürfen.“

„Trainer?“ Wofür soll ich denn Trainiert werden?

„Dazu kommt Sophie gleich.“ Er nimmt kurz meine Hand und drückt sie ganz zart. Seine Augen scheinen mir noch etwas anders sagen zu wollen, doch ich verstehe ihre Sprache nicht. Ein klein wenig enttäuscht beobachte ich wie er den Raum verlässt.

Sophie nimmt auf seinem Stuhl platz.

„Wie geht es Ihnen?“

„Besser. Aber können Sie mir einen Gefallen tun?“

„Welchen?“, fragt sie skeptisch.

„Können wir uns Duzen? Sonst komme ich mir so albern vor.“

Sie lächelt mich an. „Gerne doch.“

„Was meinte Herr Blackthrone damit, dass er mein Trainer sei?“

„Er ist dafür verantwortlich mit dir XS-707-GP4 zu trainieren.“

„Liam trainieren?“, frage ich geschockt und belustigt zugleich. Das kann ja heiter werden. Der hat doch seinen eigenen Kopf.

„Ja. Die Würdenträger unserer Organisation haben sich dazu entschieden dich zu einem Bestienmaster auszubilden.“

„Und die entscheiden das einfach so, weil ... ?“ Wieder kocht die Wut in mir. Noch mehr Menschen, die über mein Leben bestimmen wollen.

„Weil sie dich sonst getötet hätten.“ Ich schrecke zurück. Wollen die mich denn immer noch tot sehen?

„Was meinst du damit?“

„Ich habe dir vor zwei Tagen doch erzählt wie Gimini Intercorbs entstanden ist. Unsere Organisation muss absolut geheim bleiben. Zivilisten haben hier nichts zu suchen. Egal, ob sie freiwillig oder unfreiwillig in die Sache verwickelt wurden.“

„Das heißt, dass sie mich einfach so töten können, ohne, dass es jemals jemand erfährt?“

„Genau. Denn offiziell bist du schon lange Tod.“

„Warum haben sie dann ihre Meinung geändert?“

Sophie blickt kurz zu Boden und errötet.

„Ich habe mich für dich stark gemacht.“

Das überrascht mich. Warum tut sie so etwas? Immerhin kennen wir uns kaum.

„Warum?“

„Weil ich es unfair fand. Ich kann deine Situation verstehen. Das tut mir alles so schrecklich leid.“, erwidert sie mitleidig. Ihre Ehrlichkeit und ihre Loyalität wärmen mein Herz.

„Danke“, murmle ich gerührt.

„Der Dank gehört nicht nur mir allein. Mein Onkel hat großes Interesse an XS-707-GP4. Deshalb hat er mich vor dem Rat unterstützt. Lukas Noak und Kathrin Phol haben sich ebenfalls für dich eingesetzt.“

„Professor Gillians Motiv kann ich ja nachvollziehen. Aber warum haben sich die beiden anderen eingemischt?“, frage ich erstaunt. Immerhin haben mich die Beiden doch erst hier her gebracht und mich am Anfang sogar versucht zu töten. Vor allem Kati schien mich nicht besonders zu mögen.

„Sie haben Mitleid. Kati fühlt sich schuldig, weil sie dir nicht geglaubt hat. Das gleiche gilt für Luka.“ Ich nicke. So ist das also. Ich scheine zum Glück doch mehr Verbündete zu haben, als ich dachte. Auch wenn ich ihr Mitleid nur ungern akzeptieren kann. Aber da muss ich jetzt wohl durch.

„Da gibt es aber noch einen. Er war der ausschlaggebende Punkt“, meint Sophie geheimnisvoll.

„Wer denn?“

„General Caleb Blackthrone.“

Ich mache große Augen. „Warum? Er wollte mich doch zuerst töten.“

„ Ja schon“, druckst Sophie herum, “Aber als er dich persönlich kennengelernt hat, da wusste er, dass er dich nicht mehr töten kann. Dein Mut und dein Selbstbewusstsein haben wohl positiv auf ihn eingewirkt.

Eigentlich ist er ein wahrer Softie. Man muss ihn nur richtig kennen lernen. Außerdem hat er wohl Interesse daran entwickelt mit dir zusammen zu arbeiten.“

„Warum?“ Ich verstehe das nicht. Was findet der nur an mir? Mein erster Eindruck von ihm war eher weniger gut.

Obwohl. Eigentlich war er bis jetzt relative nett zu mir gewesen. Abgesehen von dem einem Mal, als er versucht hat mich mit Gas zu töten. Aber da hat er bestimmt nur den Befehl von seinem Vorgesetzten befolgt. Außerdem hat er sich um mich gekümmert, als ich zusammengebrochen bin. Ja er hat mich sogar mit Fastfood gefüttert.

Ein wissendes Lächeln umspielt Sophies Mundwinkel. Doch sie antwortet nicht auf meine Frage. Was verheimlicht sie mir bloß.

„Da es dir wieder besser geht, kann ich dir ja deinen Ausbildungsplan geben.“ Sie kramt einen Zettel mit einer Tabelle aus ihrer Kitteltasche und reicht ihn mir. Ich werfe einen kurzen Blick darauf. Grundlagen der Genetik, Grundlagen der Wissenschaft, physisches Training für die Bestie, psychisches Training für den Master, militärische Grundausbildung und das mehrmals in der Woche.

„Muss ich da durch?“

„Ja. Du gehörst nun offiziell zu uns. Du musst alle notwendigen Fächer absolvieren, um als XS-707-GP4 Master anerkannt zu werden.“

„Wie meinst du das?“

„Das kommt später.“ Langsam nervt mich dieses ständige später.

„Gut. Kannst du mir dann wenigstens jetzt verraten welches Datum wir haben? Oder hebt ihr euch das auch für später auf?“, frage ich mürrisch.

Sie schmunzelt. „Wir haben den 6. Oktober.“

Geschockt hole ich tief Luft.

„Wie lange bin ich schon hier im Labor?“

„Seit knapp vier Tagen. Davon hast du zwei hier verbracht.“ Ich rechne kurz nach. Das würde ja heißen, dass ich fast drei Monate um mein Überleben gekämpft habe.

Auch wenn mir die Zeit in meinem Gefängnis ewig vorgekommen ist, bin ich von der Realität entsetzt. Meine Eltern sind also bereits seit fast drei Monaten in dem Glauben, dass ich gestorben sei. Meine Beerdigung ist auch schon vorbei. Ein Träne kullert ungewollt aus meinen Augen und ich wische sie flink fort. Sophie ignoriert sie mitfühlend.

„Wenn du möchtest, dann bringe ich dich zurück auf dein Zimmer.“

Zurück zu Liam? Habe ich ihm denn bereits vergeben? Ich weiß es nicht.

„Was ist? Willst du hier bleiben?“

„Was ist mit Liam?“, frage ich zögernd.

„Was soll denn mit ihm sein?“ Verständnislos legt sie den Kopf schief. Diese Geste erinnert mich sehr an meine Bestie.

„Ich habe mich mit ihm gestritten.“ meine ich kleinlaut.

„Gestritten?“ Belustigt steht Sophie auf. „Du streitest dich mit deiner Bestie? Du hast wirklich noch viel zu lernen.“ Sie reicht mir die Hand. „Komm jetzt. Ich gebe dir noch einen kleinen Tipp. Auch wenn er klug erscheint, ist er doch eher animalisch Veranlagt, dass heißt, dass er sich freuen wird dich zu sehen. Wie eine Art Hund oder Katze.“

Gemeinsam verlassen wir die Krankenstation und folgen einem Labyrinth an geraden Gängen und Türen.

„Mir geht es nicht darum, ob er mir vergibt, sondern ob ich ihm vergeben kann.“

„Oh. Das ist natürlich ein anderes Problem.“ Sie lacht. „Ich kann verstehen, dass es dich mitnimmt, dass XS-707-GP4 dich entführt hat. Aber er kann nichts dafür. Es liegt in seinen Instinkten sich einen Master zu suchen. Dafür wurde er gezüchtet.“

„Ich hätte ihm auch verzeihen können, wenn er wirklich nur nach seinen Instinkten gehandelt hätte. Doch ich habe ihn befragt. Er hat mich mit Absicht festgehalten, obwohl er wusste, dass ich nach hause wollte.“

„Da irrst du dich. Soweit reicht sein Verständnis nicht. Ich gebe zu, dass einige zweibeinige Bestien in der Lage sind sich in einen Menschen einzufühlen, aber bei XS-707-GP4 ist das schlichtweg unmöglich.“

„Glaub mir doch. Er hat es mir gesagt.“

„Er kann also doch sprechen?“

„Nein. Aber nicken.“ Sophie schickt mir einen spottenden Blick. Irgendwie komme ich mir albern vor und glaube mir selbst nicht mehr. Ich gebe vorerst auf und folge ihr zurück in mein Quartier.

„Wir sind gerade dabei ein geeignetes Territorium für XS-707-GP4 zu erstellen“, erklärt sie mir. „Das dauert zwar noch eine Weile, aber bald kann er dort untergebracht werden. Bis dahin hab also bitte noch etwas Geduld.“ Ich nicke mit dem Kopf und versuche mir ein geeignetes Territorium für Liam auszumalen. Eine alte Ruine? Oder ein verlassener Wald? Wo würde er sich wohler fühlen? Wir sind angekommen und stehen vor der Tür meines Zimmers. Sophie öffnet sie für mich und uns erwartet das blanke Chaos.

Kapitel 2.5 - Eifersucht

 

Wenn es Ihnen nicht gelungen ist genügend Distanz aufzubauen,

dann könnte Ihre Bestie eifersüchtiges Verhalten zeigen.

Dieses erkennen Sie an den einfachen Vorzeichen des Futterneides,

bis hin zur Eifersucht gegenüber anderen Bestien oder im

schlimmsten Falle gegenüber anderen Menschen ihres Umfeldes.

Sollte dieser Fall eintreten haben Sie keine Panik. Diese Anomalie kann

im Anfangsstadium noch behoben werden. Dulden Sie solches Verhalten

nicht. Erinnern Sie sich an die erlernten Sanktionen.“

 

 

Ich staune nicht schlecht, als ich meinen Blick schweifen lasse. Der kleine Tisch ist in seine Einzelteile zerlegt. Überall liegen Federn verstreut auf dem Boden herum. Mein Schrank ist nach vorne umgekippt und sein Inhalt ist überall verteilt. Einzelne Sprungfedern bohren sich durch die Matratze.

Aber am auffälligsten sind die Kratzspuren in der Wand. Auch fällt mir erst jetzt auf, dass die Eingangstür verbeult und ebenfalls zerkratzt ist. Es wirkt alles so, als ob ein wütendes Monster die Kontrolle verloren hätte und seine Wut an jedem Gegenstand in seiner Nähe ausgelassen hätte.

Das einzige was Liam verschont hat, ist das Bild von dem Sonnenuntergang.

Ich atme ruhig aus und schiele vorsichtig zu Sophie. Ihre Brust hebt und senkt sich langsam, aber ihre Augen versprühen pures Gift. Sie sieht mich steif an und ringt nach Worten.

„Du hast ihm scheinbar noch gar nichts beigebracht“, meint sie kühl und abweisend. So habe ich sie noch nie erlebt.

„Wie denn auch?“ Ich zucke unschuldig mit den Schultern. „Ich wollte überleben. Da war mir Liams Erziehung egal.“

„Na prima. Aber ich gebe dir keine Schuld. Sein vorhergehender Master muss das verbockt haben.“

„Vorhergehender Master?“

Jetzt zuckt Sophie mit den Schultern. Mit einem geflüsterten „später“ wirft sie einen Blick ins Bad. Sie schüttelt mit dem Kopf. Sieht so aus, als ob Liam auch dort ganze Arbeit geleistet hätte.

„Wir müssen dir wohl ein anders Zimmer zuteilen.“ Sanft lässt sie ihre Finger über eine der Krallenspuren gleiten.

„Wie außergewöhnlich.“

„Was denn? Die symmetrischen Spuren? Ich hatte schon immer das Gefühl, dass Liam künstlerisch begabt sei“, witzele ich, um die Atmosphäre aufzulockern. Immerhin kenne ich seine Zerstörungswut zu genüge. Man muss sich ja nur das alte Labor einmal genauer ansehen.

„Wie bitte?“, kommt es fragend aus der Ecke. Sophie schüttelt ungläubig den Kopf.

Also ehrlich, als ob ich das ernst gemeint hätte.

„Ich finde es unglaublich, dass er mit seinen Krallen eine Stahlwand wie Butter zerschneidet. Das konnte bisher noch keine Bestie. Welche genetische Komponente wohl hier geändert wurde? Mein Urgroßvater war wirklich ein erstaunlicher Wissenschaftler.“

„Weißt du, was mich jetzt aber viel dringender interessiert?“

„Nein, was denn?“ Ein neugieriger Blick trifft auf meinen besorgten. Sophie wartet gespannt auf meine Frage.

„Wo ist Liam eigentlich?“

„Oh.“ Die junge Wissenschaftlerin wird bleich und Panik blitzt in ihrem Gesicht auf.

 

Gemeinsam begeben wir uns auf die Suche. Wir laufen den Tunnel in Richtung Verbindungsturm entlang. Sophie erklärt mir unterwegs nebenbei, dass der Verbindungsturm sämtliche Etagen miteinander, nun ja, ... verbindet. Er wurde so konstruiert, dass man mit Leichtigkeit mit einem Hubschrauber oder Helikopter starten und landen kann. Also ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe. Das Dach könne sich durch eine mechanische Vorrichtung zurückziehen und so den Weg in den Himmel freigeben.

Bei meiner Frage, ob wir uns hier auch unter der Erde befinden, verneint Sophie. Dieses Labor sei nur zur Hälfte unter der Erde. Der andere Teil könne von außerhalb gesehen werden.

Die Regierung tarne diese Einrichtung offiziell als wissenschaftliche Basis zur Erforschung von Krebs und Gehirnkrankheiten, wie Alzheimer. Darum würde keiner weiter nachfragen.

Als wir an der ehemaligen Brandschutztür ankommen, liegt sie flach auf dem Boden. Liam hat sie wohl einfach überrannt. Ich bleibe stehen. Der Gedanke an die vorangegangen Schlacht von vor zwei Tagen lässt mich erbeben. Ich will dieses Schlachtfeld eigentlich nicht wiedersehen. Doch Sophie drängt mich nachdrücklich ihr zu folgen. Ich beiße die Zähne zusammen und wir betreten den Verbindungsturm.

Als erstes erblicke ich genau vor meiner Nase an der Wand eine große 28. Das bedeutet wohl, dass wir im 28. Stockwerk sind. Das zweite was mir auffällt ist, dass alles ganz normal aussieht. Kein Blut, keine Gliedmaßen oder Leichen und kein beschädigtes Dach. Ob sie wohl Bestien gezüchtete haben, die dafür konstruiert wurden, um solche Schäden zu beseitigen? Oder gibt es eine speziell ausgebildete Putzkolonne? Diese Fragen und viele mehr liegen auf meiner Zunge, doch als ich mich umdrehe, um Sophie damit zu löchern klingelt plötzlich ihr Telefon. Nach einem kurzen Wortwechsel sieht sie mich besorgt an.

„Scheinbar sucht da jemand nach dir. XS-707-GP4 ist gerade eben in der 10. Etage angekommen und sorgt für reichlich Tumult. Die Wachen haben den Befehl ihn nicht zu reizen. Wir haben wohl Glück. Er scheint sich erst kurz vor unserer Ankunft auf den Weg gemacht zu haben.“

Mit großen Augen sehe ich sie an.

„Das meinst du jetzt nicht im Ernst!“

„Was meinst du? Uns war doch klar, dass XS-707-GP4 für ärger sorgt“, fragend sieht sie mich über ihre Brille hinweg an.

„Das mein ich nicht. Ich frage, ob du dir sicher bist, dass wir in den 10. Stock müssen?“

„Natürlich. Komm jetzt endlich!“ Ohne weiter auf mich einzugehen rennt sie los.

Ich fluche innerlich. Dafür wird Liam büßen!

Wir laufen im flotten Tempo die Etagen nach oben und ich habe das Gefühl meine Lunge jederzeit auskotzen zu müssen. Ich hasse Sport. Mein Körper ist so viel Anstrengung nicht gewohnt. Vor allem nicht Treppauf. Meine Beine drohen den Geist aufzugeben, aber auf keinen Fall will ich schlechter abschneiden, als eine Wissenschaftlerin, die ihre meiste Zeit im Labor verbringt.

Also beiße ich die Zähne zusammen und treibe mich weiter voran.

 

Oben angekommen werden wir von einigen erleichterten Soldaten begrüßt. Hechelnd sehe mich hier um und erkenne eindeutig Liams Handschrift. Krallenspuren, Dellen, zerstörte Türen und noch mehr Krallenspuren. Ich seufze. Was mache ich nur mit diesem Biest? Ein Soldat mit kurz geschorenen Haaren führt uns an der nächsten zerstörten Brandschutztür vorbei.

Ich renne so schnell ich kann den Tunnel entlang und bleibe schlitternd vor einem tobenden Liam stehen. Caleb grinst mich von der anderen Seite an und hebt seine Arme in einer hilflosen Geste. Sein Grinsen erwärmt mein Herz. Innerlich muss ich mich ermahnen, damit ich bei der Sache bleibe.

Ich mache einen vorsichtigen Schritt auf Liam zu.

„Hey großer,“ rufe ich, in der Hoffnung lockerer rüber zukommen als ich mich fühle. Immer noch keuche ich wie ein Asthmapatient und habe schwer mit meiner Atmung zu kämpfen.

Liams Kopf schnellt in meine Richtung und prüfend saugt er die Luft um sich herum ein. Seine Augen leuchten erkennend und er kommt auf mich zu gerannt, bleibt aber plötzlich stehen. Ein fragender Blick trifft den meinen.

Glaubt er, dass ich immer noch sauer bin? Irgendwie kommt mir der flüchtige Gedanke, dass Liam um meine Erlaubnis bittet. Er hat wohl endlich mal was aus seinem Fehler gelernt.

Zögernd gebe ich ihm mit einem Nicken mein Einverständnis und im nächsten Wimpernschlag rennt er mich über den Haufen. Mit lautem Geschnurre macht er mir seine Freude sichtlich klar. Ich schiebe ihn lachend von mir runter und stehe wieder auf.

Die gesamte Umgebung atmet erleichtert auf und beobachtet uns gespannt. Doch ich weiß nicht recht was ich als nächstes machen soll und blicke zu Sophie.

„Phu. Nochmal Glück gehabt“, meint diese und grinst mich wissend an. Wenn Liam keine Lust gehabt hätte auf mich zu reagieren, dann käme das einer Supernova gleich.

 

Sophie führt Liam und mich in unser neues Quartier. Also muss ich die ganzen Treppen, die ich gerade hoch gerannt bin wieder nach unten stiefeln. So viel Workout hatte ich schon lange nicht mehr.

Das Zimmer liegt in dem gleichen Gang wie zuvor, aber etwas näher an dem anderen Ende Richtung Sanitätsraum. Hier gibt es genau die gleiche Möblierung, bis auf eine winzige Ausnahme. Das Bild an der Wand zeigt keinen Sonnenuntergang, sondern eine Wiese voller Glühwürmchen bei Mondschein.

Dieses Kunstwerk gefällt mir viel besser. Ich lasse mich schwerfällig auf mein Bett plumpsen und atme den Duft von frischer Wäsche tief ein. Wer die wohl aufgezogen hat? Ob es hier Reinigungspersonal gibt?

Liam springt zu mir aufs Bett. Ich glaube Sophie hat recht. Ich kann seine Erziehung nicht länger vernachlässigen, sonst macht dieser fette Kater weiterhin was er will.

„Liam, geh runter!“ Er schnauft abfällig.

„Geh!“ wiederhole ich mit mehr Nachdruck. Er sieht mir ins Gesicht und registriert, dass es mir ernst ist. Er murrt leise vor sich hin und macht seinen Abgang. Scheinbar will er nicht riskieren, dass ich wieder einen hysterischen Anfall bekomme und auf unbestimmte Zeit verschwinde. Mein erster richtiger Sieg in Sachen Master. Ich habe wohl doch mehr Potential als ich gedacht habe.

Aber mal ehrlich. So einen großen Unterschied zu meiner bisherigen Arbeit macht die Rolle als Herrin nun auch nicht.

Kleine Monster in ihre Schranken weisen? Kein Problem. Viel Geduld? Ja, das bringe ich mit. Kreativität beim Umlenken von Aggressionen? Ja, auch hier habe ich mehr als genügend Übung.

 

Nach einer Weile des Herumgammeln und nach einem weiteren Mahl wird mir langweilig. Leider gibt es hier weder Buch noch Fernsehen. Da ich weiß, dass ich laut Plan erst morgen zum Unterricht muss, genehmige ich mir ein längeres Bad, um die Zeit zu vertreiben.

Ich lasse mir heißes Wasser ein und suche mir frische Kleidung heraus. Liam streift in der Zeit unruhig vor der Badtüre herum. Das nervt.

„Liam. Leg dich irgendwo hin. Ich werde mich schon nicht den Abfluss herunter spülen!“

Vor Freude jauchzend gleite ich in das heiße Nass und ein wohliger Schauer überkommt mich. Endlich habe ich den Luxus zurück, mich jeden Tag waschen zu können. Ja, die Zivilisation tut wirklich gut. Ich lasse mir sehr viel Zeit und genieße den Duft nach Lavendel und Honig.

Aber innerlich muss ich zugeben, dass ich nur von einem Gefängnis ins nächste gebracht wurde. Zwar lebe ich hier eher zivilisiert, trotzdem bin ich eingesperrt und muss mir meine Zeit mit Liam vertreiben. Da hatte ich in dem alten Labor mehr Bewegungsfreiheit und auch mehr Hoffnung auf eine Heimkehr als hier.

 

Irgendwann höre ich ein warnendes Knurren. Zu meiner Verwunderung wird dieses mit einem unbekannten Fauchen beantwortet. Hastig springe ich aus der Wanne und wickle mein Handtuch um den nassen Körper. Haben wir etwa Besuch von einer anderen Bestie bekommen?

Als ich die Tür öffne erwartet mich ein lustiger Anblick. Liam sitzt vor meinem Bett mit aufgestellten Ohren und Katzenbuckel. Missbilligend beäugt der den Eindringling, der auf meinem Bett rumlümmelt und ihn eiskalt ignoriert. Ich muss mir mein Grinsen unterdrücken, um den sowieso angeknacksten Stolz meiner Bestie nicht noch mehr zu beschädigen.

Caleb bemerkt mein eintreten und sieht mich an. Seine Augen weiten sich und er saugt den Anblick meines halbnackten Körpers in sich auf. Auch Liam verschlingt mich förmlich mit seinen Blicken. Ich laufe puterrot an und flüchte in mein Bad. Trotzdem spüre ich die Blicke weiterhin auf meiner feuchten Haut. Man wie peinlich!

In Sekundenschnelle schlüpfe ich in Jeans und T-Shirt, dann bleibe ich vor der geschlossenen Tür zögernd stehen. Mein Schamgefühl übernimmt die Oberhand. Nie wieder werde ich so leicht bekleidet mein Bad verlassen. Das war mir eine Lehre fürs Leben!

Mehrmals hole ich tief Luft, dann wage ich den entscheidenden Schritt. Ich dränge alle albernen Bedenken beiseite. Die Klinke rutscht nach unten und die Tür schwingt auf. Caleb sitzt noch immer auf meinem Bett.

„Schade“, murmelt er schelmisch und zwinkert mir zu. Wieder werde ich rot. Liam knurrt ihn unterdessen ungeniert an.

„Was machen Sie hier?“, versucht ich seine Anmerkung zu überspielen.

„Ich wollte Ihnen etwas zeigen. Dachte dass es ziemlich langweilig sein könnte.“

„Und was?“, frage ich erleichtert. Endlich bekomme ich etwas zu tun.

Caleb erhebt sich und kramt aus meinem Nachtschrank eine kleine Platte heraus. Dabei fällt mir auf, dass er sich so benimmt, als ob es sein eigenes Heim wäre. Irgendwie finde ich die Vorstellung nicht so störend wie es eigentlich sein sollte.

Er deutet mir mich neben ihn zu setzten und blickt wartend in meine Richtung. Ich nehme platz und ernte einen tadelnden Blick von Liam.

„Hier.“ Caleb reicht mir die Platte und nickt in Richtung Wand. Ich sehe ihn verständnislos an. Aber er lächelt mir verschwörerisch entgegen und deutet nochmals auf die Platte. Was hat er ausgeheckt?

„Drücken Sie auf den Knopf. Oben Links.“

Ich drücke. Die Wand beginnt zu vibrieren und ein Teil von ihr schiebt sich nach oben. Hinter ihr kommt ein Flachbildschirmfernseher zum Vorschein.

Staunend sehe ich ihn an. „Warum hat Sophie mir nichts davon erzählt?“

„Scheinbar dachte sie, dass es eh sinnlos sei.“

„Sinnlos?“

„Ja. Neuankömmlinge sollen sich nur auf ihre Ausbildung konzentrieren. Darum sind die Kanäle noch nicht freigegeben.“

„Oh. Und warum zeigen Sie mir das dann?“

„Weil ich mich für Sie eingesetzt habe“, zwinkert er mir zu, „Jetzt empfangen Sie einige Kanäle. Das könnte die Langeweile vertreiben.“

„Danke.“ Caleb denkt wirklich an alles. Seine Körperhaltung verändert sich ein wenig und er kommt mir auf einmal viel Größer vor. Oder ist das Bett geschrumpft? Seine Augen blitzen auf und ein atemraubendes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus.

„Was bekomme ich dafür?“, fragt er schelmisch.

„Was wollen Sie denn?“, hake ich skeptisch nach. Er mustert meinen Körper. Lässt seinen Blick über jeden Zentimeter wandern und mich überkommt eine Gänsehaut. Plötzlich glaube ich, dass ich wieder nur im Handtuch bekleidet neben ihm sitze. Seine blauen Augen schlagen mich in seinen Bann und ich fühle mich wie verzaubert. Entfernt machen meine Ohren ein Knurren aus, aber ich ignoriere es. Röte schießt mir ins Gesicht.

Er kommt mit dem Kopf auf mich zu. Ich schrecke zurück und halte entsetzt die Luft an.

„Was soll das?“, frage ich empört.

„Ich bitte nur um meine Belohnung“, meint er und kommt mir wieder näher. Vorsichtig. Prüfend. Er versucht wohl mich nicht zu verschrecken.

„Aber warum? Warum sind Sie so nett so zu mir? Warum wollen Sie mich küssen?“ Unglaube macht sich in mir breit. Ich habe ja keine Komplexe wegen meines Äußeren. Aber dennoch ist es sehr fraglich, wenn ein super sexy General mit unglaublich blauen Augen plötzlich versucht mir einen Kuss zu stehlen. Vor allem, da wir uns eigentlich gar nicht wirklich kennen.

Caleb antwortet mir nur mit einem verführerischen Lächeln und neigt seinen Kopf ein wenig näher zu mir herab. Er hat so schöne Augen. Und seine Lippen … innerlich seufze ich. Meine Atmung beginnt sich zu beschleunigen und es kribbelt in meinem Bauch. Automatisch kleben sich meine Augen an seinen vollen Lippen fest.

Plötzlich springt Liam zwischen uns und Brüllt aus vollem Halse. Ihm gefällt diese ganze Sache wohl überhaupt nicht. Mit seinem Gebrüll hat sich auch der Nebel verabschiedet, der sich in meinem Geist ausgebreitet hatte. Ich zucke zusammen. Was hätte ich da beinahe zugelassen?

Caleb faucht zurück. Faucht?

„Was … Sie fauchen?“, frage ich ungläubig. Er reagiert aber nicht, da Liam seine gesamte Aufmerksamkeit beansprucht. Beide starren sich gegenseitig in die Augen. Ihre Körper wirken angespannt und für einen Kampf bereit. Etwas an diesem Verhalten erinnert mir an zwei Kinder, die sich um das gleiche neue Spielzeug streiten. Wie lächerlich.

Ich nehme meinen Beschützer in den Arm und versuche ihn zu beruhigen. Aufgebracht atmet er Schwer in meiner Umklammerung.

„Verhätscheln Sie ihn nicht so“, kommt es von Caleb. Er wirkt irgendwie sauer und fixiert seinen Blick auf meine Arme.

„Ich verhätschele ihn doch nicht!“, erwidere ich empört. Ich habe hier ein Recht wütend zu sein und nicht er. Immerhin wollte er sich für einen öden Fernseher einen Kuss von mir stibitzen.

„Doch. Geben Sie ihm kurze mündliche Anweisungen. Keinen unnötigen Körperkontakt. Das erlauben wir nicht in der Ausbildung der Bestien.“

„Das ist doch wohl meine Sache!“ Was bildet der sich ein? Er klingt auf einmal so arrogant und herrisch. Irgendwie professionell distanziert und nicht mehr schmeichlerisch und charmant. Diese Seite an ihm gefällt mir ganz und gar nicht.

„Ich sehe schon. Wir haben noch einiges an Arbeit vor uns“, meint er kühl. Mit diesen Worten erhebt sich der arrogante Kerl und verschwindet ohne einen Abschiedsgruß.

Ich bin immer noch fassungslos. Erst wollte er mich dreist küssen, dann knallt er mir diesen kaltherzigen Tadel an den Kopf. Dadurch komme ich mir plötzlich total dämlich vor.

Ich lasse Liam los und schubse ihn weg. Dass sich sein Rivale verzogen hat scheint ihm zu genügen. Plötzlich ausgelaugt lasse ich mich in meine Kissen sinken und knipse den Fernseher ein. Es kommt natürlich nichts gescheites. Nur Werbung und alte Filme aus den Achtzigern. Und dafür wollte dieser blöde General meinen ersten Kuss? Lächerlich!

 

Kapitel 3 - Ausbildung zum Master

Kapitel 3.1 - das Labor 

 

Wenn Sie aus irgend einem Grund noch nicht

die Gelegenheit hatten sich mit einem unserer

Labore vertraut zu machen, wenden Sie sich an

ihren zuständigen Züchter.

Er wird Sie in den Aufbau des Labors und den Ablauf während

der Zucht einweisen.“

 

 

Früh am Morgen holt mich Sophie ab. Sie begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln und freut sich sichtlich über unsere erste gemeinsame Stunde. Ehrlich gesagt macht mich das Ganze schon sehr neugierig. Wer hätte gedacht, dass es der Menschheit bereits vor Jahren gelungen ist eine neue Rasse zu erschaffen?

Es dauert eine Weile, bis ich Liam dazu überreden kann hier zu warten. Ich verspreche zum Mittag wieder da zu sein und schaffe es meinen zu groß geratenen Kater mit meinem Bett zu bestechen. Er pflanzt sich hin und beäugt mich immer noch misstrauisch. Ich schicke nochmal ein Lächeln in seine Richtung und mache mich auf den Weg.

Wer sagt es denn? War ja einfacher als gedacht. Einfach Konsequent bei der Sache bleiben.

 

Wir laufen wieder den gewohnt eintönigen Gang entlang und kommen in den Raum, in dem ich im Fieberwahn zusammen gebrochen bin. Es hat sich nichts geändert. Alles ist noch genauso kahl wie vorher. Sophie öffnet die mittlere Tür und deutet mir einzutreten.

„Hier geht es in mein Labor. Ich dachte mir, dass ich dir erst einmal zeige wo ich arbeite.“

Ich nicke ihr zu und trete ein. Hier drinnen befinden sich unzählige Tische mit Mikroskopen und andern wissenschaftlichen Utensilien. Die meisten davon sind mir unbekannt, aber einige erkenne ich aus meinem Biologieunterricht wieder.

An der Wand hängt wiedereinmal die Inschrift Gimini Intercorbs in großen Buchstaben und macht jedem deutlich, wem dieses Labor gehört. Der Raum an sich ist riesig und sehr hell erleuchtet. Eine ganze Menge an Assistenten wuseln geschäftig umher und kreieren wahrscheinlich die Bestien von Morgen. Der eine oder andere wirft mir einen kurzen Blick zu, doch keiner stört sich an meiner Anwesenheit. Sophie hat wohl vorher eine Großwarnung rausgegeben.

Meine Lehrerin zeigt auf die verschiedenen Bildschirme und erklärt mir, dass sie damit die einzelnen Gene genau unter die Lupe nehmen kann. Einfache Mikroskope reichen für ihre Zwecke nicht aus, weshalb das gesamte Labor mit der neuesten Technik ausgerüstet ist. Einige der Instrumente wären sogar nur für Gimini Intercorbs verfügbar.

Sophie erklärt mir auch, dass es viele Firmen gibt, die ihre technischen Errungenschaften für die Erprobung zur Verfügung stellen. Allein in diesem Labor kostet die gesamte Ausstattung über zehn Millionen Euro.

Dieser Betrag bringt mich zum Schlucken. Wäre es nicht sinnvoller das Geld in die Förderung der sozial benachteiligten Familien zu stecken? Oder wirklich intensiver nach einem Heilmittel für Krebs und Gehirnkrankheiten zu forschen. Die vielen Nullen drehen sich in meinem Kopf umher und für einen winzigen Augenblick wird mir schwindelig. Warum muss so viel Geld für ein geheimes Projekt verpulvert werden, von dem die meisten Menschen nicht einmal etwas haben?

Sophie reißt mich aus meinen Gedanken und stellt sich links neben einen kleinen Bildschirm. Eine Datenbank wird aufgerufen und viele herumfliegende Genome sind zu sehen.

„Zu den Zeiten meines Urgroßvaters mussten die Wissenschaftler sämtliche animalischen Proben auseinander nehmen und ihre genauen Bestandteile notieren. Das war eine monströse Arbeit, die viele Jahre in Anspruch genommen hatte, bevor sie überhaupt daran denken konnten Bestien zu erschaffen. Dank ihrer akribisch genauen Sammlung gelang es uns vor zehn Jahren eine unglaublich, vielfältige Datenbank zu erstellen.

Anhanden eines Kataloges können sich die zukünftigen Herrn ihre Wunschbestie aussuchen und selber gestalten. Wir holen uns dann die entsprechenden Gene aus dem Lager und mixen sie zusammen.“

„Oh. Wie eine Art genetischer Cocktail?“ Sophie lacht schallend auf.

„Ja, so könnte man es auch beschreiben.“ Sie lotst mich zu einem anderen Bildschirm und winkt. Als ich sie fragend ansehe meint sie nur: „Bewegungsmelder.“ und wedelt weiter mit ihren Armen herum. Ich beobachte ihr Handeln mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Sie wirkt auf mich wie eine Verrückte, die von einer Fliegenplage heimgesucht wird.

„Also“, lenkt sie meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm, „Hier zeige ich dir mal ein Beispiel.“

Sophie stochert mit ihrem Finger in der Luft und wählt die Option Zweibeiner aus.

„Welche Tiere sollen wir kombinieren? Such dir einfach mal ein paar aus. Am besten stellst du dir bestimmte Eigenschaften vor, die die Bestie am Ende besitzen soll. Achte aber auf eine ausgewogene Zusammenstellung. Das heißt die Tiere sollten sich in Körpergröße und Gewicht, sowie Lebensraum ähneln.“

„Wie viele darf ich denn aussuchen?“, frage ich begeistert.

„Drei.“

„Mh. Wie wäre es mit der Schnelligkeit einer Gazelle, der Kraft eines Elefanten und dem Gefieder eines Raben ?“ Sophie runzelt die Stirn.

„Das geht schon, ist aber eine eigenwillige Kombination. Du hast auch das Größen- und Gewichtsverhältnis missachtet.“ Sie sieht mich missbilligend an. „Was soll´s, diese Bestie dient nur zur virtuellen Veranschaulichung.“Sie zuckt mit den Schultern, fängt wieder an zu wischen und schiebt kleine Teilchen herum.

„Nun kommen wir noch zu dem menschlichen Anteil. Wie viele Prozente soll ich mit einbringen? Bestimme den Anteil von den menschlichen Genen und den jeweiligen tierischen Genen.“

„Was bewirken die denn? Reichen die tierischen Gene denn nicht aus?“

„Nein. Rein animalische Bestien sind nicht so lernfähig. Außerdem fällt es uns schwerer sie Auszubilden und zu kontrollieren. Die menschlichen Anteile sorgen für mehr Lernbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, der Bildung eines menschenähnlichen Verstandes und einiges mehr, was uns entscheidende Vorteile verschafft. Der wichtigste ist die Kontrolle. Ich habe dir doch von der ersten Bestiengeneration erzählt?“

Ich nicke. Daran erinnere ich mich. Die Bestien spielten auf einmal verrückt und haben ihre Herrn angegriffen. Aus diesem Grund hatte man sich dazu entschlossen sie alle einschläfern zu lassen.

„Gut. Damals haben die Wissenschaftler mehr Wert auf die animalische Zusammensetzung gelegt. Sie scheuten sich noch aus ethischen Gründen davor menschliche DNA zu verwenden. Die Bestien wurden allerdings mit der Zeit immer eigenwilliger Zusammengesetzt, um ihre Stärke, Ausdauer, Widerstandsfähigkeit und Geschwindigkeit zu erhöhen. Man hatte sogar begonnen bis zu zehn Spezies miteinander zu verbinden, nur um ihre Leistungen zu verstärken und sie unbesiegbar zu machen. Am Ende war das ihr Untergang. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt und sind auch etwas lockerer bei der Einstellung gegenüber der Verwendung von menschlicher DNA geworden, obwohl es auch für uns noch Grenzen gibt.“

„Was für Grenzen?“

„Wir pflanzen zum Beispiel keine Animalischen Samen in menschliche Eizellen und lassen sie dann von einer Frau austragen.“

„Oh. Ähm … sehr gut“, meine ich angeekelt. Diese Art von Experimenten wären dann wohl doch zu schräg.

„Und wie viel Prozent an menschlichen Genen stecken denn in Liam?“, frage ich neugierig nach.

„Keine Ahnung. Wir kennen seine genaue Zusammensetzung nicht, vermuten aber, dass er einer der wenigen war, denen menschliche DNA eingepflanzt wurde. Mein Urgroßvater hatte wohl außerhalb des Einflussbereiches der Sponsoren begonnen die Zusammensetzungen zu ändern. Das war auch ein weiterer Grund ihn aus dem Weg zu räumen.“

Sophies Blick nimmt für einen kurzen Moment wieder die Traurigkeit an, die ich schon einmal gesehen habe. Aber gleich rafft sie sich wieder auf und macht mit dem Unterricht weiter.

Ich entschließe mich für 30% Mensch, 20% Gazelle, 25% Elefant und 25% Rabe. Die Bestie nimmt eine eigenartige Form an. Ihr Oberkörper wirkt rustikal und ist mit lederner Elefantenhaut überzogen, die Beine hingegen scheinen viel zu zerbrechlich um diesen Körper zu tragen. Federn bedecken den Rücken und die Arme. Sein Kopf hat menschenähnliche Züge, aber die Form eines Rabenschädels.

Sophie ändert die Prozente und jedes Mal entsteht eine neue, einzigartige Bestie. Langsam begreife ich wie diese Wesen zustande kommen und warum ich noch keine gesehen habe die genau gleich aussehen.

„Okay. Das hätten wir. Jetzt zu den Klassifizierungen. Wir haben Zweibeiner, Vierbeiner, Flieger und Schwimmer.“

Das kommt mir bekannt vor. „Liam ist also ein Vierbeiner“, stelle ich fest. „Die Ziege ein Zweibeiner und diese Vogelteile sind die Flieger. Aber die Schwimmer?“, überlege ich laut. Sophie lächelt in sich hinein. Scheinbar freut sie sich über meine schnelle Auffassungsgabe.

„Da kann ich dir gleich ein Beispiel zeigen. Komm mit.“ Wir verlassen das Labor durch die Tür durch die wir gekommen sind und wählen die Nächste aus.

 

Tor Nummer 2 führt uns in einen spärlich beleuchteten Raum. Sofort stechen mir die vielen monströsen Aquarien ins Auge, die hier überall verteilt herumstehen. Auch hier gibt es wieder viele Assistenten, die sich um das Wohl der Bestien kümmern. Sophie führt mich zu einem Becken am Rand und blickt gedankenverloren hinein. Es überragt uns um viele Meter. Sein Wasser schillert bläulich und klar.

Ich kann die kleine Unterwasserwelt gut erkennen. Einige Pflanzen schmücken den Boden und vereinzelte Fische schwimmen ihre Bahnen. Im hinteren Teil bemerke ich eine Art Höhle aus Stein. Sie dient wohl als Rückzugsmöglichkeit für den Bewohner.

„Die Schwimmer sind sehr empfindlich gegenüber dem Licht. Es ist auch schwierig Bestien zu züchten, die länger als ein oder zwei Jahre leben. In diesem Gebiet geraten wir noch an unsere Grenzen. Es ist einfacher einem Wesen das Fliegen beizubringen, als im Wasser zu atmen. Ah da kommt er.“

Ihre Körperhaltung verspannt sich und sie wirkt auf mich als wäre sie auf der Hut. Gebannt blicke ich in das große Becken und beobachte wie sich ein Schatten nähert.

Ein Mensch? Diese Bestie könnte als normaler Mensch durchgehen, wäre da nicht seine blaue, schuppige Haut und die Schwimmhäute zwischen seinen Fingern und Zehen. Seine klugen Augen fixieren sofort Sophie und verschlingen sie gierig. Er schwebt direkt vor uns und streckt seine Hand nach der Scheibe aus. Gebannt leuchten meeresblaue Augen und lassen Sophie nicht aus ihrem Bann. Eine dünne Wolke aus langen, schwarzen Haaren schwebt um seinen Kopf und lässt ihn dadurch nur noch menschlicher wirken. Das Gesicht ist sehr markant und ausdrucksstark. Vom Alter her würde ich ihn auf 17 oder 18 schätzen.

„Anscheinend mag er dich“, witzle ich sie an.

Die Angesprochene räuspert sich überrascht und tritt einen Schritt nach hinten, um mehr Abstand zu der Scheibe zu gewinnen.

„Das kann nicht sein. SP-924 besitzt bereits eine Herrin und die Prägung war erfolgreich.“

Ich runzle die Stirn. Die Wasserbestie wirkt verärgert, weil Sophie sich zurückzieht. Funken sprühen von seiner Haut. Ihn nehme an, dass er Anteile von einem Zitteraal in sich trägt. Ich kann das Knistern zwischen den Beiden förmlich fühlen, will aber nicht weiter nachhaken, da ich merke, dass dieses Thema Sophie unangenehm zu sein scheint.

Wir lassen dieses Becken hinter uns und betrachten weitere Beispiele der Schwimmerbestien. Ich staune über die Vielfalt an Formen, Farben und Größen. Einige von ihnen haben Tentakel oder ein schillerndes Schuppenkleid. Andere ähneln den Fischen so sehr, dass ich sie niemals als Bestie erkannt hätte.

Diese Kreaturen schlagen mich in ihren Bann. Sie schweben federleicht in dem Wasser und ziehen mich magisch an. Leider müssen wir viel zu früh wieder gehen, denn es wartet noch eine weitere Lektion auf mich.

Seufzend wende ich mich von dieser märchenhaften Welt ab.

 

Wieder kehren wir zu dem leeren Raum zurück und nehmen die nächste Tür in Angriff. Wir betreten das letzte Zimmer. Hier befindet sich, laut Sophies Aussage, das Brutzimmer.

Der Raum ist ungefähr so groß wie ein Fußballstadion. Unglaublich. Staunend sehe ich mich um. Sargähnliche Gebilde liegen überall auf dem Boden. Sie sind jeweils mit einer Vielzahl an Schläuchen und Computern verbunden. An den Wänden sind ebenso viele Schränke aufgebaut, einige davon ganz aus Glas, andere aus Metall. Von weitem erkenne ich das Strahlen der Rotlichtlampen. Die Luft hier drin ist stickig und es ist auch viel zu warm für meinen Geschmack. Alles wirkt sehr steril und unheimlich.

„Da hinten stehen die Zellenkästen. Dort werden die erfolgreich zusammengeführten Zellen vermehrt und zum Wachstum gereizt. Nur etwa 40% unsere Arbeit trägt Früchte.“

„Oh je, das heißt aber auch dass ihr 60% Fehlschläge produziert.“

„Ja leider. Das ist ärgerlich, aber nicht zu ändern. Früher haben nur bis zu 5% der gezüchteten Bestien überlebt. Also zum Vergleich dazu liegen wir richtig gut“, meint Sophie stolz.

„Wozu sind dann die Särge?“, frage ich neugierig.

„Das sind keine Särge, sondern Brutkästen. In ihnen befinden sich die weiterentwickelten Zellen. Sie reifen und wachsen zu einer Bestie heran.“

„Wofür sind die Schläuche?“

„Die dienen für die Ernährung und sie führen die Chemikalien zu, die die Zellen brauchen um zusammen zu halten und weiter zu wachsen.“

„Das klingt alles ziemlich kompliziert.“

Sophie sieht mich verstehend an. „Ja, das ist es auch wenn man kein Wissenschaftler ist.“ Sie macht eine ausschwenkende Bewegung.

„Aber für den Anfang soll es uns erst einmal reichen. Gehen wir zurück zum Labor und studieren wir mal deinen XS-707-GP4 etwas genauer.“

„Ich denke ihr kennt seine Zusammensetzung nicht.“

„Das stimmt schon, aber wir haben über die Jahre Theorien entwickelt, die dir bei seiner Erziehung helfen könnten.“

 

Wir verlassen diesen gruseligen Raum und kehren in das Labor zurück. Erleichtert atme ich auf. Ich weiß jetzt schon, dass ich mich von den Brutkästen fern halten werde. Im Labor angekommen suchen wir uns eine ruhige Ecke und Sophie bietet mir einen Kaffee an.

Sie setzt sich zu mir und legt ein Tablet vor uns hin, dass sie gerade von ihrem Labortisch geholt hat. Gemeinsam konzentrieren wir uns auf die Dateien, die aufgerufen werden. Zahlen und Buchstaben tanzen mir vor der Nase herum.

„Den größten Teil der Geschichte habe ich dir ja bereits vor vier Tagen erzählt. Nachdem wir XS-707-GP4 also vor über 20 Jahren wiederentdecken, haben wir versucht ihn zu studieren. Dabei sind uns auch die alten Aufzeichnungen des ersten Beobachtungsteams zu gute gekommen.

Schon alleine vom Aussehen her nehmen wir an, dass in ihm Gene von einem Puma, einem Grizzlybären und einem Timberwolf zusammengeführt wurden. Wie schon erwähnt hat mein Urgroßvater auch menschliches Material benutzt. Das Problem ist die Zusammensetzung. Wir entscheiden uns meistens für eine Rasse, die dann die Mehrheit an Prozenten bekommt und so dominanter auftritt. Was ist deine Meinung? Welche Rasse ist bei ihm dominanter?“

Ich überlege. „Ich finde, dass er manchmal mehr wie ein riesiger Kater wirkt. Er faucht und zeigt auch katzenartige Züge. Wie bei dem Kater meiner Tante. Wenn er mich aber beschützt finde ich, dass der Wolf mehr zum Vorschein kommt. Den Bären sehe ich eigentlich so gut wie nie. Ich weiß nur, dass er scheinbar bärenstarke Kräfte besitzt.“

„Das ist auch unser Problem. Er lässt sich nur sehr schwer zuordnen. Dann zeigt er Eigenschaften, die kein Tier entwickelt haben kann.“

„Wie meinst du das?“

„Sieh dir nur mal seine Krallen an. Sie schneiden durch Stahl, wie durch Butter. Das kann kein anderes lebendes Wesen. Dann kann er seine Größe verändern, wenn er in die Raserei verfällt und bildet stachelartige Auswüchse an seinem Körper. Außerdem verhärtet sich sein Fell und wird zu einem undurchdringlichen Panzer. Seine Fellfarbe und seine Augenfarbe sind ebenfalls ungewöhnlich. Das ist mehr als eigenartig.“

Alles was Sophie aufzählt stimmt. Auch ich konnte diese Eigenschaften beobachten, habe mir aber bisher keine Gedanken darum gemacht.

„Was glaubst du, warum das so ist?“, frage ich interessiert nach. Sie runzelt die Stirn und überlegt kurz.

„Naja. Es gab alte Aufzeichnungen, in denen Experimente mit Menschen durchgeführt wurden. Sie sollten mit Hilfe einer bestimmten Medikation, eine Art Metalllegierung auf ihrer Haut produzieren können, um sie zu stärken und unverwundbar zu machen. Aber diese Experimente wurden sehr schnell wieder eingestellt. Selbst die damaligen Wissenschaftler fanden diese Mutation utopisch und vollkommen unmöglich.“

„Ja so klingt das für mich auch.“

„Aber XS-707-GP4 scheint solch eine Legierung zu besitzen“ lenkt Sophie ein.

„Du meinst also, dass dein Urgroßvater in der Lage war diese Legierung zu perfektionieren und bei Liam anzuwenden?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Das sind alles haltlose Theorien.“

Eine Weile schweigen wir uns an.

„Jedenfalls solltet du dir dieses Wissen zunutze machen und versuchen es bei deiner Erziehung zu verwenden.“ Ich nicke zwar, weiß aber noch nicht, wie mir das alles helfen soll.

 

Wir verabschieden uns und ich kehre alleine auf mein Zimmer zurück. Liam hat mich bereits sehnsüchtig erwartet und wirkt sehr erleichtert. Ich lobe ihn ausgiebig für sein gutes Benehmen und teile mein Mittagessen mit ihm. Hühnchen. Das scheint ihm zu schmecken. Es ist auch das erste Mal dass ich ihn hier etwas essen sehe. Hatte er bisher keinen Hunger?

Ich glaube, dass ich das als nächstes herausfinden muss, da ich ja nicht will, dass er mir verhungert. Am Ende jagt er noch der Ziege hinterher und sucht sich so einen Mitternachtssnack. Bei der Vorstellung muss ich grinsen.

Am späten Nachmittag holt mich Caleb Blackthrone ab. Schon jetzt steigt mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hoch. Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Wie wird er sich mir gegenüber verhalten? Scharmant und schmeichelnd oder doch eher wieder kaltherzig und herrisch?

Kapitel 3.2 - Trainingshalle

 

 

  

Die Trainingshallen wurden speziell an die

unterschiedlichen Trainingseinheiten angepasst.

Je nach Anspruch gibt es verschiedene Hallen, die

nach Elementen und Jahreszeiten aufgebaut wurden.

Auch unterscheiden sich die Schwierigkeitsstufen.

Lassen Sie sich am besten von ihrem Trainer

beraten, um die optimale Trainingshalle für ihre

Bedürfnisse auszuwählen.“

 

 

Gegen zwei Uhr nachmittags steht Caleb vor unserer Tür. Der General tut so als ob nichts gewesen sei, begrüßt mich wiedereinmal mir seinem charmanten Lächeln. Insgeheim wittere ich bereits seinen nächsten schizophrenen Anfall.

Ich schüttle innerlich über mich selbst den Kopf. Wahrscheinlich bin ich mal wieder die einzige, die sich so viele Gedanken über diesen unwichtigen und einfach nur lächerlich kleinen Vorfall macht. Liam betrachtet ihn missmutig und ich nehme mir vor nicht weiter über den beinahe Kuss und den folgenden Wutanfall nachzudenken.

Blackthrone weist mir den Weg und führt mich zum Verbindungsturm. Unterwegs schweigen wir uns an und die Stille lastet schwer auf meinen Nerven. Ich wünschte er würde wieder so offensichtlich mit mir flirten.

Wie ein Gentleman öffnet er mir die Tür und ich schiebe mich atemlos an ihm vorbei. Eine leichte Brise seines Aftershaves dringt mir entgegen und verursacht sofort ein leichtes Kribbeln in meinem Magen. Liam würdigt den General keines Blickes, rempelt ihn aber mit seinem Körper an. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Beschützer den Fremden keine Sekunde unbeobachtet lässt und ihm immer wieder seine Unmut spüren lassen wird. Caleb lässt sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen.

Von hier aus schaue ich mich wiedereinmal staunend um. Wie konnten die Menschen nur ein derart beeindruckendes Gebäude entwerfen? Viele Etagen führen nach oben und einige nach unten. Der Verbindungsturm ist eine wahre Wucht.

„Wie viele Stockwerke sind das eigentlich?“, ergreife ich das Wort. Caleb sieht mich an und überlegt kurz.

„Es sind insgesamt 35 Etagen“ antwortet er mit einer ausladenden Geste. Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Ich mache große Augen. Eigentlich habe ich ja bereits angenommen, dass es viele sein müssten, aber so viele?

„Und was befindet sich auf den einzelnen Etagen?“ Wofür werden denn die alle nur benötigt? Leben so viele Menschen mir ihren Bestien hier vereint?

Er runzelt die Stirn und überlegt kurz. „In den obersten sind die Quartiere der Ratsmitglieder, einige Versammlungsräume, Sanitätsräume, eine Schwimmhalle, Sauna und Küchen mit eigenem vier Sterne-Koch“ zwinkert er mir zu. Da ist er wieder. Der Schalk in seinen Augen. Den habe ich vermisst. Ein Stein fällt mir vom Herzen und endlich kann ich wieder ungeniert atmen. „Darunter liegen die VIP Räume. Auch dort gibt es reichlich Wellnessbereiche, Freizeitunterhaltung, eine Minigolfanlage und natürlich Restaurants. Manche der VIP´s besitzen ihre eignen Bestien und für diese wurden dort oben speziellen Territorien angelegt.“

„Das klingt ja mehr nach einem Hotel für Promis als nach einer wissenschaftlichen Einrichtung.“

„Wie du bereits wissen solltest, finanzieren wir uns nicht nur über die Staatsgelder, sondern auch mit Hilfe von Sponsoren und Auftraggebern. Für diese hohe Gesellschaft brauchen wir natürlich ein ansprechendes Ambiente, um sie bei Laune zu halten.“ Scheinbar amüsiert ihn diese Vorstellung genauso sehr wie mich. Was für eine absurde Aufmachung.

„Und die anderen?“, frage ich interessiert nach.

„Ab Etage 10 und tiefer befinden sich die Unterkünfte der Unteroffiziere und Generäle. Ich wohne ebenfalls in der 10. Etage. Dort oben gibt es eigene Kantinen und Küchen, sowie themenorientierte Trainingsräume, Sanitätsräume, Badeanstalten und Entspannungsräume. Wir haben sogar einen künstlich angelegten Park. Manche Offiziere besitzen ihre eigene Bestie, deshalb gibt es dort auch speziell hergerichtete Territorien. Gästeräume für Familienangehörige, wie Ehefrauen und Kinder, wurden ebenfalls eingerichtet.“

„Also seit ihr ziemlich gut versorgt?“

Wir halten in der 25. Etage an, ich lehne mich ans Geländer und blickt nach unten. Die großen Zahlen an den Wänden lassen die einzelnen Etagen gut unterscheiden. Mir wird schwindelig. Schnell wende ich mich wieder meinem menschlichen Begleiter zu.

„Ja. Wir haben alles was wir zum Leben brauchen“, fährt er fort und lehnt sich neben mich an das weiße Geländer.

„Ab der 21. Etage folgen dann die Unterkünfte der meisten Herrn und ihrer Bestien. Sie sind nach Ansprüchen und Lebensräumen sortiert. Je nach Etage gibt es Land-, Luft-, Wasser- Schnee- und Berglandschaften. Wenn du willst können wir uns irgendwann mal welche ansehen. XS-707-GP4´s Territorium wird in der 27. Etage erbaut. Also ganz in deiner Nähe. Wir versuchen die Ruine des Labors nachzuempfinden und auch eine Waldlandschaft zu erstellen. Anscheinend hat er sich immer wieder dort aufgehalten. Also nehmen wir an, dass er sich in solch einem Territorium wohl fühlen wird.“

Liam stellt seine Ohren auf und faucht. Ihm gefällt der Gedanke unserer Trennung wohl reichlich wenig. Ich frage mich jetzt schon, wie ich ihm beibringen soll mein Zimmer zu verlassen und in sein eigenes einzuziehen. Gedankenverloren kraule ich ihm hinter seinem Ohr, dadurch beruhigt er sich gleich wieder.

Caleb zieht seine Stirn kraus und will mich wahrscheinlich wieder Tadeln. Es gelingt ihm aber seinen Kommentar für sich zu lassen.

„Auch die Trainingslager befinden sich in diesen Etagen. Wir wollen hoch zur 23. Also komm.“ Seufzend setzte ich mich wieder in Bewegung.

„Was ist mit Fahrstühlen. Gibt es hier denn keine?“ beschwere ich mich nörgelnd, wie ein kleines Kind. Mit Sophie musste ich auch gestern erst von der 28. in die 10 Etage hoch rennen! Meine Muskeln nerven mich deshalb heute noch.

„Doch, natürlich. Aber die sind nicht für Bestien geeignet.“ Na toll. Vielen herzlichen Dank auch, Liam!

„Was ist mit den Etagen 29 und weiter unten?“

„Waffenlager, Nahrungslager, Obst- und Gemüseplantagen, Fischfarmen, Unterkünfte der Angestellten, sowie Parkanlagen für Autos, Busse, Flugzeuge, Helikopter, Motorräder und anderes. Hier haben nur die eingeteilten Kräfte Zutritt, da alles strengstens überwacht und kontrolliert werden muss.“

„Aha. Ist Sophies Labor das Einzige?“ Ich glaube kaum, dass es Sophie alleine schafft, diese ganzen Bestien zusammen zu mixen.. Vor allem wenn man die Erfolgsquote bedenkt.

„Oh. Hab ich das nicht erwähnt? Es gibt insgesamt 15 Labore. Jedes hat seinen eignen Wissenschaftler und sein Spezialgebiet. Aber da kenne ich mich nicht so genau aus. Die Labore verteilen sich ab der 19. bis zur 29. Etage. Professorin Gillian hat sich auf die Wasserbestien spezialisiert.“

Meine Gedanken fahren Karussell. Immer wieder kommen mir neue Fragen in den Sinn, doch da wir in unserer Zieletage landen muss ich sie auf ein anderes Mal verschieben.

 

Caleb öffnet mir wieder die Tür und Kati kommt uns entgegen. Sie begrüßt mich schüchtern und wirkt ganz anders, als bei unserem letzten Treffen. Ich erinnere mich daran, dass Sophie mir erzählt hat, dass auch Kati sich für mein Leben eingesetzt hat. Also grüße ich möglichst freundlich zurück. Hinter ihr kommt die Ziege mit einer neuen Hose anspaziert. Auch sie grüßt mich, aber eher hochnäsig als nett. Liam schnauft.

„Na, wie war das Training?“, wird sie von Caleb geschäftsmäßig gefragt.

„Gut. Die Verletzungen sind fast vollständig verheilt und ZP-984 hat annehmbare Resultate gezeigt.“

„Dann ruht euch jetzt aus. Ich besetze mit unseren Neuankömmlingen Trainingshalle 7.“

„Wird das nicht etwas zu hart für das erste Mal?“ Skepsis macht sich auf Katis Gesicht breit. Aber anscheinend will sie sich nicht in Calebs Trainingsmethoden einmischen, weshalb sie ohne auf eine Antwort zu warten wieder geht. Sie winkt mir noch verabschiedend zu und verschwindet dann hinter der Brandschutztür.

„Hier gibt es insgesamt vier Trainingshallen“, erklärt er mir. Dieser Gang hier ist recht kurz und es führen tatsächlich nur vier Türen ab. Wir wählen die mit der 7 am Rahmen und treten ein.

 

Ich muss schon sagen, dass ich mir in den letzten Tagen wie Alice im Wunderland vorkomme. Mir scheint es so, als ob ich auch heute wieder dem weißem Kaninchen folge und in eine andere Welt eintauche. Dieses Mal fühle ich mich so winzig wie eine Ameise und blicke mich staunend um.

Als ich am Vormittag den Raum mit den Aquarien oder den Brutkästen betreten habe, dachte ich schon, dass diese Räume riesig seien. Aber diese Trainingshalle ist Gigantisch. Wie können diese Architekten nur so etwas bauen?

Vor mir erstreckt sich eine Berg- und Tallandschaft. Die Decke ist künstlich blau angestrichen und ragt mehrere Meter weit nach oben. Einzelne Wolken zieren das Blau und verleihen dem ganzen einen lebensechten Charme. Ich muss blinzeln, als ich glaube, mir einzubilden dass sie sich bewegen. Seltsam.

Wir stehen auf einem schmalen Absatz, auf dem wir geradeso zu dritt platz finden und starren in einen gähnenden Abgrund. Es reizt mich wirklich den Grundriss dieses Gebäudes mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Einmal einen Blick darauf werfen, um die Komplexität richtig verstehen zu können.

Wenn ich jemanden dieses Tal beschreiben müsste, dann würde es mir sehr schwerfallen die passenden Worte zu finden. Wer würde mir auch glauben, wenn ich ihm erzählte, dass sich unten links ein See befindet, der von einem Wasserfall gespeist wird. Ich erkenne außerdem verschiedene Nadel- und Laubbäume, ein Feld aus Felsen. Meine Sinne spielen verrückt, denn ich glaube fast, dass mir ein sanfter Wind entgegen weht.

Ich sehe ungläubig zu Caleb, der mich wissend angrinst.

„Ja, unsere Neulinge staunen jedes Mal wenn sie unsere Trainingshallen betreten.“

„Sehen alle so aus?“

„Natürlich nicht. Sie sind nach Trainingseinheit und geographischen Ansprüchen unterteilt. Diese hier ist die dritt größte.“

„Wozu dient diese Halle?“, will ich wissen und frage mich gleichzeitig, wie es noch größere Hallen geben kann.

Caleb sieht zu Liam und wirkt etwas abfällig, als er mir antwortet. „Deine Bestie hat scheinbar einen hohen Bewegungsdrang. Er soll sich hier austoben und einfache Befehle ausführen.“

„Wie soll er mich denn hören, wenn er so weit weg ist?“

„Bestien haben ein ausgezeichnetes Gehör, mach dir darum also keine Gedanken. Jetzt gib ihm ein Zeichen, dass er dieses Gebiet genauer erforschen soll.“

Ich blicke zu meinen gelangweilt wirkenden Freund. Er hat es sich auf dem Boden gemütlich gemacht und gähnt vor sich hin.

„Liam“, versuche ich seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sofort stellen sich seine Ohren auf und seine Augen richten sich auf mich.

„Geh dir mal alles angucken.“ Ich versuche mit einer ausladenden Geste zu untermauern, was ich meine. Doch Liam denkt nicht daran sich zu erheben und wirft mir einen hab-keinen-Bock Blick zu. Schulterzuckend blicke ich zu meinem Personal Trainer.

„Du musst ihm klare Befehle erteilen. Rede nicht mit ihm, wie mit einem Kind,“ erklärt er mir mein Ausbilder im sachlichen Ton. Caleb stellt sich mit festem Stand vor meinen faulen Kater und mustert ihn kurz mit scharfem Blick.

„XS-707-GP4 erkunde das Gebiet!“, fordert er mit einer generalstabsmäßigen Stimme. Mir flößt sie Respekt ein, Liam aber dreht seinen Kopf weg und ignoriert ihn gekonnt. Ich grinse in mich hinein. Meine Bestie hat halt ihren eigenen Kopf und hört nicht auf jeden.

„Naja, darum brauchen die Ratsmitglieder auch dich und keinen anderen. XS-707-GP4 hört nur auf deine Anweisungen. Also versuche es noch einmal.“ Caleb ist wohl weniger mit dem Ergebnis zufrieden, als er mir weiß machen will. Er kennt eben als General keine Befehlsverweigerung. Mit einem resignierten Seufzen lehnt er sich an die Wand und beobachtet mich schweigend. Er will mir wohl Raum zum selber handeln lassen und sich zurück halten.

Innerlich krämple ich die Ärmel hoch. „Liam, geh dich umsehen“ weise ich ihn mit einem schärferen Ton an. Seine Ohren zucken, aber nichts geschieht. Ihm ist das alles hier wohl viel zu albern. Ungezogener Kater!

„Liam“, versuche ich es mit mehr Nachdruck. Ich gehe um ihn herum und packe seinen Schwanz mit lockerem Griff. Caleb zieht eine Augenbraue hoch und kann nicht glauben, dass ich das tatsächlich mache. Aber wer nicht hören will.

Ich ziehe kurz an dem dicken Ding und wiederhole meinen Befehl, doch dieses Mal wirkt es nicht. Auch nicht nach ein paar kräftigeren Zügen. Er faucht nur kurz und entreißt mir seine Rute mit einem kräftigen Ruck. Was soll ich nur noch versuchen? Ratlosigkeit macht sich in mir breit. Ich sehe wieder zu Caleb.

„Er hört einfach nicht.“ Ich hebe frustriert die Arme. Wir schauen uns an und ich merke, wie auch er scheinbar an seine Grenzen gerät. So einen ungehorsamen Fall hatte er wohl noch nie.

„Es ist ungewöhnlich, dass eine Bestie solch ein Verhalten an den Tag legt. Normalerweise gehorchen sie aufs Wort. Durch die Prägung ist es für sie selbstverständlich ihrem Master zu folgen.“ Caleb runzelt die Stirn. „Doch XS-707-GP4 ist leider verwildert und reagiert deshalb auf keinen Befehl. Immerhin war er über 60 Jahre lang Herrenlos. Da hat er all sein vorangegangenes Training wohl vergessen. Da uns seine Trainingsunterlagen fehlen, kennen wir die Art der Sanktionen nicht und können ihn so nicht zurechtweisen.“ Frustriert blickt er zu meiner gelangweilten Bestie. Kurz scheint Caleb mit sich zu ringen, ob er sein Wissen mit mir teilen soll. Das erkenne ich an seinen zusammengezogenen Augenbrauen. Dann entscheidet er sich endlich dafür weiter zu sprechen. Ich atme tief durch, denn die nächsten Worte gefallen mir ganz und gar nicht.

„Damals tötete er seinen eigenen Master, was an nach unseren Regeln eine Einschläferung verlangt. Doch er scheint immun gegen sämtliche Gifte, Gase oder Narkotika, wodurch ihm seine Flucht aus der Einschläferungskammer gelang. Er wurde verdammt wütend. Mithilfe seiner Raserei zerstörte er das Labor und gewann so seine Freiheit. Nun gibt er sie natürlich nicht mehr freiwillig zurück. Darum hoffen wir auf Sie. Immerhin gelingt es Ihnen XS-707-GP4 in einem gewissen Maße zu kontrollieren, das für uns unmöglich erscheint.“

Ich seufze. Hoffentlich kommt Liam nicht auf den Gedanken auch mich eines Tages zu töten, wenn ich ihn zu sehr nerve. „Wer war sein erster Master?“

„Sie war eine junge, reiche Frau aus einem sehr wohlhabendem Haus. Sie verstand ziemlich viel vom Training der Bestien und hatte ihr Talent bereits sehr oft bewiesen. Professor Gillian der Erste war sehr von ihr angetan und hat sie speziell für XS-707-GP4 ausgewählt. Was damals aber genau schief gegangen ist, wissen wir nicht.Die Hintergründe seines Wutanfalls beim Training, der zum Tod seines Masters führte, sind immer noch unbekannt.

Alles was wir haben sind haltlose Vermutungen und die wenigen Aufzeichnungen der Beobachtungstruppen.“

Ich überlege. Meine Bestie ist jahrelang super ohne Master zurecht gekommen. Warum hat er mich also entführt? Stimmt was Sophie mir erklärt hat? Bin ich nur eine Art Spielgefährte für ihn? „Also braucht mich Liam eigentlich gar nicht.“ Ich sehe ihn an. Wieder spitzen sich seine Ohren. Da kommt mir die zündende Idee. Meine intelligente Bestie versteht immerhin jedes einzelne Wort. Nur leider entscheidet sie sich viel zu selten das zu tun, was ich ihr sage. Aber vielleicht kann ich sie ja überlisten und so meinen Status vom Spielgefährten zum Master Upgraden.

„Eigentlich nicht“ bestätigt mir Caleb.

„Gut. Dann kann ich ja wieder nach hause gehen“ Mein Ausbilder sieht mich fragend an. Ich zwinkere ihm verschwörerisch zu und weise auf das faule Ding zu meinen Füßen. Liam hat uns den Rücken zugedreht und sieht unsere stumme Unterhaltung nicht. Seine Ohren aber lauschen jedem unserer Worte. Ich weiß noch wie er vor kurzem einen Anfall bekommen hatte, als ich für zwei Tage verschwunden war. Was wäre, wenn er begreift, dass er mich ganz verlieren könnte?

„Stimmt. Dann kann ich ja Ihre Ausreise beantragen.“ Caleb spielt brav mit. Seine Augen verraten mit aber, dass er nicht weiß worauf ich hinaus will.

Liam erhebt sich plötzlich und blickt mich an. Er fängt an leise zu winselt. Scheinbar sind meine Worte bei ihm so angekommen, wie ich es erhofft hatte. Er kneift seinen Schwanz zwischen seine Hinterläufe und wirkt wie ein geschlagener Hund. Mitleid keimt in mir auf, aber ich muss hart bleiben, damit mein Plan aufgeht. Wiedermal beweist er mir auf diese Weise, dass er den Sinn meiner Worte genau verstehen kann und bewusst versucht mich zu manipulieren. Wie weit reicht seine Intelligenz eigentlich?

„Da brauchst du nicht so zu tun. Wenn du nicht mit mir zusammenarbeitest, dann kann ich genauso gut gehen. Ich habe doch gesagt, dass ich hier nur wegen dir fest sitze. Ohne deine Kooperation gibt es für mich keinen Grund mehr länger hier zu bleiben.“

Er zieht seinen Kopf ein und überlegt. Ich spüre förmlich, wie seine Gedanken rasen und er nach einem Ausweg sucht.

„Wenn du willst, dass ich hier bleibe, dann musst du auf mich hören, ohne Wenn und Aber. Ich bin hier nun einmal deine Herrin. Du hast mich dazu gemacht.“

Etwas blitzt in seinen Augen auf und ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Plötzlich sieht er mich wieder so dominant an. Ich bleibe aber stur und rühre mich nicht vom Fleck.

Seine Stirn runzelt sich und er denkt über meine Worte nach. Mittlerweile kann ich seine Mimik schon gut deuten. Er hat die Ohren angelegt und lässt seinen Schwanz aufgeregt hin und her schwingen. Die vorderen Krallen klickern nervös auf dem Boden. Das Geräusch übertönt die kurze Stille. Seine Gedanken rasen in dem Versuche einen Schlachtplan zu entwickeln.

„Also, was ist jetzt? Akzeptierst du mich endlich ganz als deine Master?“, frage ich abschließend. Ich hoffe sehr, dass er darauf eingeht. Auf diese Weise würde ich dann einen gewaltigen Schritt weiterkommen.

Liam nickt zögernd und ich atme erleichtert auf. Wir finden wohl endlich eine gemeinsame Vereinbarung. Trotzdem beunruhigt mich der intensive Blick. Ich ahne, dass diese Vereinbarung nicht lange anhalten wird.

„Du wirst alle meine Anweisungen befolgen. Nicht nur wenn du Lust dazu hast, sondern immer. Verstanden?“

Wieder ein Nicken.

„Solange du das machst verspreche ich dir freiwillig an deiner Seite zu bleiben.“

Dieses Mal springt er vor Freude auf. In diesem Moment habe ich ihm verziehen. Liam ist eine liebenswürdige Kreatur und wurde von Menschenhand zu dem kreiert, was er heute ist. Er kann nichts für seine Gen-Zusammenstellung und auch nichts für die Geschehnisse der Vergangenheit.

Auch jetzt kann er nichts dafür, dass mich die Obrigkeit von Gimini Intercorbs dazu zwingt mein altes Leben aufzugeben und mich hier unterzuordnen. Ich brauche meinen treuen Freund und werde ihn ab jetzt besser behandeln.

Ich mach einen Schritt auf ihn zu und Lobe ihn ausgiebig. Mit den Fingern kraule ich ihm durch sein weiches Fell und drücke ihm eine leichten Kuss auf die Nase. Liam schnurrt. Dass wir uns vertragen haben tut nicht nur ihm, sondern auch mir gut.

„Also dann Dicker, erkunde mal das Gebiet.“ Dieses Mal springt er los und landet sanft auf einem Felsen. Er tigert davon und beschnüffelt die Umgebung.

Kapitel 3.3 - Trainingseinheiten

 

 

Wenn Sie ihrer Bestie bedenkenlos Befehle erteilen

können, wird es Zeit intensiv zu trainieren. Wichtig

ist, dass Sie sich hier von ihrem Trainer einweisen

und leiten lassen. Steigern Sie von Sequenz zu Sequenz

die Ansprüche schrittweise. Denken Sie dabei an

einen abwechslungsreichen Trainingsplan.“

 

 

 

 

Während sich Liam genau umsieht gesellt sich Caleb wieder zu mir. Er wirkt auf mich sehr verblüfft und überrascht.

„Es ist ungewöhnlich, dass Vierbeiner die Worte ihres Herrn so deutlich verstehen können und auch genauso deutliche antworten.“

„Sophie wollte mir auch nicht glauben, als ich ihr diese Seite von Liam beschrieben habe.“

„Bei Vierbeinern werden maximal 15% menschliche DNA eingebunden. Darum können sie, wie Hunde oder Katzen, einfache Befehle verstehen und erkennen ihre Bezeichnung, aber den genauen Sinn aller Worte können sie nicht begreifen. Deshalb nehme ich an, dass Sophie diese Entwicklung kaum glauben kann.“

„Glauben Sie, dass Professor Gillian bei Liam mehr als 15% benutzt hat?“

„Ich bin kein Wissenschaftler, aber die Vermutung läge nahe. Da würde sich aber auch noch eine andere Frage ergeben.“

„Welche denn?“, frage ich neugierig. Caleb überlegt fieberhaft. In ihm fügen sich wohl gerade einige Puzzelteile zusammen.

„Ob sich XS-707-GP4 in einen Menschen verwandeln kann“, meint er mir rauer Stimme.

Ich halte die Luft an. Ist so etwas denn überhaupt möglich? „Wie soll das denn gehen?“, frage ich mit genauso rauer Stimme.

Caleb schweigt.

 

Liam kommt zu mir zurück und schnauft lässig. Er hat seine Erkundung abgeschlossen und wartet jetzt auf den nächsten Befehl. Doch ich hoffe immer noch auf meine Antwort, die mir der Genral aber verweigert. Stattdessen holt er ein Tablet aus seiner Tasche und hält es mir vor die Nase.

Auf dem kleinen Ding erscheint eine Reihe von Bildern. Ich blättere sie kurz durch und erkenne einige Fotografien von unserer Trainingshalle wieder.

„Suchen Sie sich ein Bild aus und geben Sie XS-707-GP4 den Befehl dort hinzugehen. Ich stoppe die Zeit. Er hat insgesamt 3 Stunden zur Verfügung. Mal sehen, ob er den alten Rekord knacken kann.“

Das sieht nach einer menge Laufarbeit für meinen armen Partner aus. Caleb erklärt mir, dass ich Liam das Bild zeigen soll. Dann soll er dort hinrennen und eine Fahne zu mir bringen, die an den jeweiligen Punkten versteckt ist.

Ich wähle das Bild von einer Bergspitze, die sich ganz weit südlich in der Halle befindet. Liam hat uns belauscht und ich spare mir den Befehl. Alles was ich noch zu tun habe, ist ihm das Bild zu zeigen und somit das Startsignal zu geben.

Es rennt los.

Er stürzt sich in die Tiefe und springt von Fels zu Fels. In einer rasenden Geschwindigkeit kommt er am Fuße des Berges an und klettert mit Leichtigkeit nach oben. Dass Schaben seiner Klauen ist von hier aus gut zu hören. Es schallt in meinen Ohren und mir wird ein wenig schwindelig, wenn ich die Höhen betrachte, in denen mein Freund ohne zu zögern herumturnt. Es gelingt ihm gleich auf Anhieb die Fahne ausfindig zu machen und er kommt zu uns zurück.

„10 Minuten und 13 Sekunden. Nicht schlecht für den Anfang. Weiter geht´s.“

 

Wir trainieren doch tatsächlich 3 Stunden am Stück. Auch Liam kommt gegen Ende langsam an seine Grenzen. Sein Atem wird immer schneller und entweicht ihm stoßweise. Sein Fell glänzt verschwitzt in dem künstlichen Licht und es fällt ihm auch immer schwerer das Gelände zu bewältigen. Er braucht länger beim Besteigen der Berge oder dem Überqueren von Unebenheiten.

Liam kämpft sich tapfer von Fahne zu Fahne, wirft jedes mal seine Beute triumphierend vor Calebs Füße. Er weiß, dass dieses lächerliche Sammelspiel von ihm stammt und will seinem Gegner keine Genugtuung schenken, indem er einfach aufgibt. Ich sehe die deutlich rivalisierenden Blicke der beiden und frage mich, warum sich der sonst so beherrscht wirkende General darauf einlässt.

Ich tippe auf dem Tablet und wähle das vorletzte Bild. Der Wasserfall. Ich halte es vor Liams Gesicht und er sieht mich misstrauisch an.

„Was ist denn? Es sind nur noch zwei. Komm. Gleich hast du es geschafft.“ Doch Liam schüttelt nur den Kopf und lehnt ab. Vielleicht will er diese Fahne als letztes nehmen, darum suche ich das andere. Der See. Aber auch hier schüttelt er weigernd seinen Kopf.

„Willst du aufgeben?“, kommt es vom General. Meine Bestie knurrt wütend und wirft einen skeptischen blick in Richtung Wasserfall.

„Gehst du nun?“, will unser Ausbilder wissen und wirkt recht ungeduldig. Er hat wohl noch andere Termine.

Liam pflanzt sich hin. Das ist wohl das Zeichen, dass uns signalisieren soll wie viel er von den restlichen Fahnen hält.

„Verstehe. Du hast wohl Angst vor Wasser.“ Ich blicke ihn verwundert an. Liam sieht mir aber nicht in die Augen und wirkt leicht angesäuert. Ich wende mich an den General.

„Geht das denn?“

„Natürlich. Hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre.“

„Wie meinen Sie das?“

„XS-707-GP4 besitzt offensichtlich eine Metalllegierung, die er beliebig oft verwenden kann.“

„Das hat mir Sophie bereits erzählt. Aber was hat das mit dem Wasser zu tun? Liam benutzt diese Legierung doch gerade nicht.“

„Die Wissenschaftler nehmen an, dass er außergewöhnlich viele metallartige Partikel in seinem Blut besitzt. Er kann diese wohl mit Hilfe seiner Schweißdrüsen absondern und auf der Haut verhärten. Wie er sie wieder verflüssigt, wissen wir nicht. Aber die Vermutung liegt nahe, dass diese Partikel inaktiv in seinem Blut warten, bis sie gebraucht werden. Das heißt, dass sie immer präsent sind und ihn so schwerer machen, als es üblich ist. Das habe ich gerade eben getestet.“

„Oh. Dann würde Liam wohl wie ein Stein untergehen und verweigert es deshalb die letzten beiden Fahnen zu suchen“ stelle ich laut fest. Dabei schießen mir zwei wichtige Fragen in den Kopf: „Rostet er eigentlich mit der Zeit? Oder ist er sogar magnetisch?“ Mein Grinsen verrät den Schalk in meinen Worten.

Caleb lacht schallend und Liam faucht beleidigt.

„Das weiß ich nicht. Ist aber eine interessante Theorie.“

Er braucht eine Weile bis er sich beruhigen kann, ihm gefällt wohl der Witz, der auf Liams kosten geht.

„Gut. Kommen wir zur Auswertung“, meint Caleb immer noch grinsend. Diese Seite an ihm ist irgendwie süß. Das zeigt, dass er nicht nur ein knallharter Trainer oder ein schamloser Schürzenjäger ist, sonder auch Humor hat. Das lässt ihn gleich noch sympathischer wirken.

Unser Ausbilder rechnet die Zeiten von meinem Partner zusammen und runzelt die Stirn.

„Der Rekord liegt bei 60 Fahnen in zweieinhalb Stunden. Liam hat 58 Fahnen in knapp zwei-dreiviertel Stunden entdeckt und erfolgreich zurückgebracht. Für das erste Mal ist es eine beachtliche Leistung. Die meisten Bestien schaffen diesen Parkour innerhalb von 3 bis 4 Stunden. Finden aber nur 50 bis 55 der Fahnen, die jedes mal anders platziert wurden. Ihre Ausdauer und ihr Gedächtnis ist mit dem von XS-707-GP4 nicht zu vergleichen.“ Das macht mich stolz. Mein Liam ist scheinbar wirklich was ganz besonderes.

„Wer versteckt denn die Fahnen?“, frage ich neugierig.

„Ist das jetzt wichtig?“, fragt mich Caleb irritiert.

„Nein. Es interessiert mich aber.“

„Das machen die Unteroffiziere in ihrem täglichen Training.“

„Echt?“

Caleb schüttelt ungläubig den Kopf. „Das ist jetzt nun wirklich egal. Hier geht es um XS-707-GP4´s Ausbildung.“

Seufzend lasse ich die Frage fallen, nehme mir aber vor Sophie noch einmal zu nerven. Wer macht sich schon gerne freiwillig die Aufgabe jeden Tag mehrmals hier herumzuspringen und Fahnen zu verstecken? Also ehrlich.

„Sie werden ab sofort eine Woche lange täglich hier Trainieren. Nächsten Montag treffen wir uns wieder und ich werde mir die Fortschritte ansehen. Das Tablet behalten Sie. Es wird jeden Tag mit Hilfe unseren WLAN´s automatisch aktualisiert. Noch Fragen?“

„Nein.“

„Gut. Dann lassen Sie uns jetzt zurück gehen.“

Caleb bringt mich noch in mein Quartier. Unterwegs spricht er nicht mit mir, sondern konzentriert sich voll und ganz auf die Telefonate, die ihn bedrängen. Er antwortet in den verschiedensten Sprachen, die ich zuvor noch nie live gehört habe. Der General scheint sehr sprachgewandt zu sein. Ob die Sprachkenntnisse wohl eine Grundvoraussetzung sind? Ich für meinen Teil habe manchmal sogar Probleme mit der deutschen Sprache, also bin ich wohl eher ungeeignet für den Job eines Generals und Bestientrainers.

An meiner Tür angekommen winkt er mir zum Abschied und macht sofort auf dem Absatz kehrt.

 

Nach einem ausgiebigen Abendessen werfe ich mich auf mein Bett und schnappe mir meinen Plan für morgen. Von 8 bis 11 Uhr steht die Trainingshalle 7 auf dem Plan. Dann Mittagessen und am späten Nachmittag habe ich in der 9. Etage einen Termin bei Professor Gillian, Sophies Onkel. Er unterrichtet die Grundlagen der Wissenschaft. Wie langweilig. Na, das kann ja was werden. Auf diese Begegnung könnte ich getrost verzichten.

Ich lasse mir nochmal jede neue Information von Heute durch den Kopf gehen. Liam ist also Wasserscheu. Diese Erkenntnis könnte in den falschen Händen noch für Probleme sorgen. Es wäre besser, wenn ich Caleb das nächste mal darum bitte, diese Tatsache geheim zu halten.

Dann noch die Sache mit der Verwandlung in einen Menschen. Was hat er damit gemeint? Ist es wirklich möglich, dass sich eine Bestie in einen Menschen verwandelt? Ich rolle mich auf meinen Bauch und krieche zur Bettkante. Von hier oben blicke ich auf meinen zusammengerollten Partner und mustere ihn eingehend. Liam hebt seinen Kopf und sieht mich fragend an.

„Kannst du dich verwandeln?“

Keine Antwort. Ich schnaube enttäuscht: „Also nicht?“ Wäre auch zu komisch. Ich kenne Liam nur als vierbeinige Bestie mit einem enormen Beschützerinstinkt und einem doppelt so großem Ego. Als Zweibeiner wäre er dann bestimmt unerträglich, vor allem wenn er plötzlich sprechen könnte. Ich streichle ihm über den Köpf und rolle mich zurück in die weichen Kissen. Ob ich Sophie mal danach fragen soll?

Unschlüssig kaue ich auf meiner Lippe, doch diese Theorie lässt mich einfach nicht in Ruhe. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verrät mir, dass es bereits viel zu spät ist, als dass ich sie in ihrem Labor antreffen könnte. Andererseits scheint es mir auch so, dass sie glatt in ihrem Labor übernachten würde. Gehe ich oder gehe ich nicht? Ich gehe.

Schnell springe ich aus meinem Bett und schlüpfe in die Flip Flops, die ich im Bad gefunden habe. Liam deute ich zu warten und er springt fast im selben Moment auf mein Bett. Er breitet sich sofort darauf aus und gähnt genüsslich. Von mir aus kann er es bis zu meiner Rückkehr besetzen.

 

Mit eiligen Schritten schlittere ich durch den Gang und öffne die Stahltür. Schnell schlüpfe ich hinein und wähle die Tür, die zum Labor führt.

Um diese Uhrzeit wuseln also doch noch die Assistenten herum. Mein Blick huscht über den organisierten Ameisenhaufen, doch von Sophie keine Spur. Die Schuhe klatschen lauthals an meine Füße, als ich den Raum einmal durchquere.

Ich wähle eine blonde, junge Frau und frage sie nach Sophie. Sie mustert mich missbilligend, scheinbar ist meine Anwesenheit nicht gerade willkommen. Zu spät fällt mir ein, dass ja nicht einfach jeder mitten in der Nacht in ein geheimes Labor poltern kann, ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben.

Die Frau erklärt mir näselnd, dass sich Professor Gillian zur Zeit im Unterwasserterrain befände und dort die Fortschritte ihrer neuesten Bestie beobachte. Ich bedanke mich brav und verschwinde in Windeseile, aber diesmal auf leisen Sohlen.

Behutsam öffne ich die nächste Tür und entdecke mein Ziel sofort.

Kapitel 3.4 - Züchter

 

 

Kontaktieren Sie auch nach der Geburt ihrer

Bestie regelmäßig ihren Züchter.

Fragen Sie ungehemmt nach, wenn Sie bestimmte

Verhaltensweisen nicht verstehen. Die noch so kleinste

Information kann Ihnen bei der Ausbildung ihrer

Bestie weiterhelfen.“

 

 

 

Das Licht ist leicht gedimmt, genauso wie beim letzten Mal, und sorgt so für eine einschläfernde Atmosphäre. Die großen Aquarien nehmen den meisten Platz im Raum ein und lassen alles, trotz der immensen Größe, noch viel eingeengter wirken.

Eine quallenartige Bestie beobachtet mich mit ihren schmalen Augen. Ihr Körper schillert wie fluoreszierende Glühwürmchen und die einzelnen Tentakel wiegen sich in den künstlich erzeugten Wellen. Mir stockt der Atem bei ihrem Anblick. Diese Bestie ist einfach nur wunderschön.

Leise schleiche ich voran und studiere jede einzelne Kreatur genau. Ein Hai mit zwei menschlichen Beinen schwimmt seine abendlichen Bahnen und jagt einem kleinen Fisch hinterher. Überall erkenne ich Tentakel, Flossen, Scheren, Schuppen und manchmal sogar schalenartige Gebilde. Ich komme mir vor, als würde ich auf dem Grund des Meeres spazieren gehen und die einzigartigen Lebewesen beobachten.

Obwohl ich mich in Zeitlupe vorwärts bewege, komme ich viel zu schnell bei Sophie an. Sie blickt auf ihr Tablet und studiert scheinbar einige Daten. Ich bleibe hinter ihr stehen und komme mir wie ein Eindringling vor. Räuspernd mache ich auf mich aufmerksam.

Sophie schnellt zu mir herum und sieht mich erschrocken an. Erleichterung huscht über ihr Gesicht, dann runzelt sie die Stirn.

„Was machst du hier?“

Verlegen trete ich von einem Bein auf das andere. Wie soll ich ihr von meinem Gespräch mit dem General erzählen ohne dass sie uns für verrückt hält?

„Ich wollte dich mal besuchen.“ Am besten warte ich noch mit der Bombe, bevor ich sie platzen lasse und sondiere erst einmal die Lage.

„Achso. Wie ist das Training verlaufen?“

„Gut. Ich muss ab heute täglich in Trainingshalle 7 mit Liam üben.“

„General Blackthrone scheint euch ja hart ran zu nehmen.“

„Naja. Eher meinen Liam. Ich muss ja nicht viel machen.“ Meine Schultern zucken in einer gelangweilten Geste nach oben. Die meiste Arbeit hat wirklich nur mein Partner.

Sophie lächelt mich an und konzentriert sich wieder auf das Tablet.

„Und was machst du so?“, versuche ich das Gespräch in Gang zu halten.

„Ich habe heute wieder eine Wasserbestie verloren. Sie ist gerade mal drei Wochen alt geworden. Ich muss noch die gewonnenen Daten auswerten und das Becken reinigen lassen.“

„Oh. Das tut mir leid.“

„Es war zu erwarten. Der neue Herr hatte eine eigenwillige Kombination gewählt, trotz meiner vorangehenden Warnung.“ Sie seufzt. Sophie hat wohl mit diesem Ausgang gerechnet und ist nicht sonderlich überrascht.

„Welche Zusammenstellung denn?“, frage ich neugierig.

„20% Krabbe, 40% Seelöwe, 30% Skorpion und 10% Mensch.“

Ich nicke verstehend, obwohl ich nicht wirklich begreife, weshalb diese Zusammenstellung nicht erfolgreich werden konnte. Mein Fuß scharrt über den blanken Betonboden.

Plötzlich leuchtet etwas im Hintergrund auf und weckt mein Interesse. Die menschenähnliche Wasserbestie, die mir Sophie heute Morgen zuerst vorgestellt hatte, lässt kleine Blitze in ihrem Becken tanzen. Fasziniert beobachte ich, wie sie vor dem Beckenrand treibt und das Wasser in einem Funkenmeer erleuchten lässt. Dieses Mal sehe ich noch genauer hin. Diese Bestie wirkt auf eigenartige Art und Weise viel zu menschlich. Sie trägt eine dieser weiten Badehosen, die mein Cousin so gerne mag. Der Oberkörper wirkt gut durchtrainiert. Lässig treibt sie im Wasser, die Arme locker neben sich schwebend. Ihre Augen schimmern wie ein klarer See und fixieren uns vom anderen Ende des Raumes aus. Ich mache einen Schritt auf sie zu.

Er nickt und lockt mich mit weiteren kleinen Blitzen zu sich heran. Versucht er Kontakt zu mir aufzunehmen? Kurz sehe ich zu Sophie, doch diese ignoriert das zauberhafte Schauspiel einfach. Entschlossen durchquere ich den Raum und komme vor dem seltsamen Wesen zum stehen.

Wir starren uns gegenseitig an. Seine Seele leuchtet mir entgegen und es kommt mir so vor, als ob er nach Hilfe sucht. Eine unsagbare Sehnsucht liegt in seinem Blick und eine Welle der Traurigkeit überkommt mich. Er fühlt sich einsam.

„Fall nicht auf seinen Trick herein“, kommt es mürrisch von hinten und zerrt mich mit Gewalt wieder in die Gegenwart. Sophie packt meinen Arm und schleift mich Richtung Ausgang. Ich befreie mich sofort und sehe sie verständnislos an. Warum ist sie so sauer?

„Was meinst du damit?“

„SP-924 versucht mit allen Mitteln deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er will dich in seinen Bann schlagen und dazu verleiten ihn frei zu lassen. Einige meiner jüngeren Assistenten sind bereits darauf reingefallen und haben beinahe mit ihrem Leben bezahlt.“

„Du scheinst ihn ja nicht gerade zu mögen“, stelle ich fest. Ihr Blick verrät mehr als tausend Worte.

„Er ist eine Schöpfung meines Lehrers Professor Sven Reinhold. SP-924 wurde bereits vor 10 Jahren gezüchtet und ist einer der wenigen erfolgreichen Zusammenstellungen. Durch seine Langlebigkeit hat er leider auch eine unglaubliche Intelligenz entwickelt und versucht neuerdings auszubrechen“, erklärt sie mir.

„Und warum kannst du ihn nicht ausstehen?“, will ich wissen. Sie wirkt auf mich kühl und gefasst, aber innerlich kocht es regelrecht in ihr. Das weckt meine Neugierde.

Sie zuckt mit den Schultern und wirft einen misstrauischen Blick nach hinten. Die Bestie beobachtet uns mit zusammengekniffenen Augen. Das Lichtspiel hat nachgelassen und auf einmal wirkt er nicht mehr einsam und bemitleidenswert, sondern verschlagen und berechnend. Eine Gänsehaut überkommt mich. Diese Bestie hat mich reingelegt. Mistvieh!

„Professor Reinhold und ich haben ihn gemeinsam groß gezogen. Damals war er noch normal und gehorsam. In den letzten beiden Jahren aber hat er sich verändert.“

„Ist er deshalb hier? Ich meine, laut deinem Unterricht müssten sich doch die ausgereiften Bestien in ihrem Territorium aufhalten.“

„Ja und Nein. SP-924 zeigt zwar einige Anomalien in seinem Verhalten, aber diese sind nicht der Grund für seinen Aufenthalt. Er ist hier im Labor aufgewachsen und sieht dieses Becken als sein Territorium an. Mein Lehrer und sein Master haben schon vor neun Jahren versucht ihn umzusiedeln, doch er wäre uns dort beinahe eingegangen. Seit dem lebt er praktisch hier.“

„Achso. Verrätst du mir seine Zusammensetzung?“

Sophie schüttelt verneinend den Kopf. „Der Master hat um Geheimhaltung gebeten.“

„Schade.“ Wir beobachten ihn eine Weile schweigend. Dabei fällt mir wieder auf, dass er Sophie nicht aus den Augen lässt.

„Er scheint dich aber sehr zu mögen.“ Mir wird bewusst, dass sie meiner Frage ausgewichen ist. „Warum hasst du ihn so sehr?“, hake ich noch einmal nach. Alle guten Dinge sind drei.

Sie seufzt abermals. Ihre Augen nehmen einen traurigen Blick an.

„Früher habe ich mich sehr um SP-924 gekümmert. Ich habe für eine bestmögliche Ausbildung gesorgt, hin und wieder habe ich mich auch in das Labor geschlichen, um mit ihm zu spielen. Mein Lehrer wusste davon, tat aber so, als ob er nichts bemerken würde. Ich war damals noch jung und unerfahren in der Aufzucht der Bestien. Meine damalige beste Freundin besuchte ihn auch regelmäßig, um mit ihm zu trainieren. Ihr Vater hatte SP-924 zu ihrem 18. Geburtstag züchten lassen.“ Sophie legt eine kurze Pause ein. Jetzt würde wohl der Kern der Geschichte kommen. Gespannt halte ich die Luft an. Was war damals passiert?

„Das Training verlief reibungslos. Sein Zustand blieb stabil und meine Freundin war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Er erfüllte seine Aufträge vorbildlich und es gab nie Gehorsamkeitsprobleme. Doch vor zwei Jahren begann er plötzlich mich eindringlicher zu beobachten. Seine Blicke wurden intensiver, ja fast aufdringlich. Am Anfang habe ich dem nicht viel Beachtung geschenkt, doch als er dann begonnen hatte die Befehle seiner Herrin zu missachten und nur noch versuchte meine Aufmerksamkeit zu erregen, wurde es mir bewusst. Irgendetwas war wohl in seiner Erziehung schief gelaufen und zeigte sich erst nach einigen Jahren.“ Sophie holt tief Luft und lässt ihren Blick wieder zu der Bestie schweifen. Mir kommt es nicht so vor, als ob sie ihn wirklich hassen würde. Tiefes Bedauern und bittere Enttäuschung trifft wohl eher ihren Gefühlszustand.

„Ich weiß nicht was diese Veränderung plötzlich ausgelöst hat und warum diese abnormalen Verhaltensweisen erst so spät auftreten, aber SP-924 wurde mit der Zeit immer aggressiver und eigenwilliger. Er probierte immer neue Techniken aus, um mich anzulocken und meine gesamte Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen. Natürlich ist seiner Herrin das nicht entgangen. Wie es nun mal so ist gibt sie mir die Schuld an dem ganzen.“

„Und du gibst ihm die Schuld, weil eure Freundschaft darunter leidet?“

„Nein. Die Freundschaft hatte sich eh über die Jahre gelöst. Da trifft ihn keine Schuld. Aber vor ungefähr einem halben Jahr da ...“ Sophie schluckt und wickelt ihre Arme schützend um ihren Körper. Ich lege ihr in einer beruhigenden Geste eine Hand auf die Schulter. Sie wirkt auf einmal so zerbrechlich. Ein Schatten ihrer Selbst. „Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Es tut mir leid, wenn du dich gedrängt gefühlt hast.“ Ein schwaches Lächeln trifft meinen Blick. Ich erwidere es.

„Nein. Es tut gut mit jemanden darüber zu reden. Leider muss ich zugeben, dass ich außer dir niemanden habe dem ich derart vertrauen würde.“ Sie schluckt noch einmal und sieht mich gespannt an.

Ich fühle mich geschmeichelt. Vor allem, da wir uns erst seit ein paar Tagen kennen. „Danke“, bringe ich stockend raus.

Sophie lächelt mich an und sammelt ihre Gedanken: „Im April schwamm er bewegungslos am Grunde des Beckens. Ich dachte, dass er plötzlich gestorben sei und war vollkommen geschockt. Also habe ich seinen Master angerufen und ihr davon berichtet. Sie kam sofort in das Labor und sprang, ohne meine Warnung zu beachten, ins Wasser um ihre Bestie heraus zu holen. Das war ziemlich waghalsig. Vor allem da Sp-924 in letzter Zeit diese Anomalien aufgewiesen hatte. Aber ich glaubte, dass diese Anomalien eben auch ein Zeichen dafür waren, dass sein Leben dem Ende zugeht.

SP-924 öffnete dann aber plötzlich seine Augen und attackierte sie. Er schlang die Arme und Beine um ihren Körper und zog sie nach unten“ berichtet Sophie mit zitternder Stimme.

Vor ihren Augen scheint sich die ganze Szene noch einmal abzuspielen. Ihre Finger krallen sich in ihren Körper und sie wirkt total aufgelöst und angespannt.

„Vor lauter Panik wusste ich mir nicht anders zu helfen als hinter ihr her zu springen. Sofort ließ SP-924 sie los und griff mich an. Er umschlang meinen Körper und presste mich ganz fest an seine Brust. Ich spüre sogar heute noch seine klammernde Umarmung und sein hämmerndes Herz an meinem Brustkorb. Ich hatte das Gefühl ersticken zu müssen. Vor lauter Angst war ich wie gelähmt. Ich dachte ich müsse sterben.“ Sophie sieht mir direkt in die Augen und ich erkenne ihre Todesangst. Doch dann klärt sich ihr Blick langsam und sie runzelt verwirrt die Stirn. Ihr Atem beruhigte sich etwas.

„Er hatte wohl bemerkt, dass ich zu ertrinken drohte und brachte mich an die Oberfläche. Ich rang nach Atem und blickte SP-924 tief in die Augen. Da machte er etwas, was mich zutiefst überraschte.“ Wieder eine Pause. Ich bemerke, wie sich Sophies Haltung entspannt. Sie lässt ihre Arme sinken und sieht mit gerunzelter Stirn zum Becken des Übeltäters.

„Was hat er denn gemacht?“, frage ich ungeduldig.

„Er hat mich geküsst!“, meint sie empört.

 

Ich muss selbst erst einmal verdauen, was sie mir gerade erzählt hat. Wie es scheint, hatte die Wasserbestie krampfhaft versucht Sophies Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie war sogar soweit gegangen, dass sie ihren eigenen Master angegriffen hatte, nachdem sie ihren Tod vortäuschte. Und das ganze Theater nur wegen eines Kusses?

„Einige Soldaten kamen und befreiten mich und seinen Master. Wir waren beide sehr überrascht und wussten nicht wie wir mit SP-924 weiter verfahren sollten. So etwas hatte es noch nie gegeben. Wir wollen ihn aber auch nicht einschläfern. Er ist dafür viel zu wertvoll. Immerhin lebt er bereits seit 10 Jahren“, beendet sie ihren Bericht.

Wir schweigen. Diese Geschichte wirft ein ganz neues Licht auf die Bestie.

„Glaubst du, dass er in dich verliebt ist? Hat er sich vielleicht deshalb so verhalten?“

„Unsinn!“ Sophie wendet sich wieder ab und verlässt den Raum. Ich folge ihr eilig. Gemeinsam gehen wir zurück zum Gang der zu meinem Quartier führt. Erst glaube ich, dass mich die Wissenschaftlerin los werden will, doch als wir in ein anderes Zimmer einlenken, wird mir bewusst, dass sie nach einer ruhigeren Ecke sucht.

 

Dieser Raum hier ähnelt meinem, wirkt aber viel gemütlicher und wohnlicher. Ein einzelnes Bett steht in der Ecke und ist mit einer Vielzahl an Kissen bestückt. In der Mitte thront eine riesige Couch mit grünem Lederbezug. Ich lasse mich darauf nieder und versinke in dem weichen Polster. Sophie gießt uns ein Glas Wein ein und stellt es mit der Flasche auf dem Couchtisch ab. Sie bemerkt meinen verwunderten Blick.

„Das hier ist mein Zimmer. Ich wohne hier während meiner Arbeitszeit.“ Ich nicke und genehmige mir einen Schluck von dem teuren Wein. Er rinnt köstlich meine Kehle herab und wärmt mich von innen auf.

„Ich habe mich mit meinem Onkel beraten“, führt sie unser vorangegangenes Gespräch fort. „Auch er kann sich nicht erklären, warum sich SP-924 derart verändert hat. Er war bei der Züchtung beteiligt gewesen und bis vor kurzem der Meinung, dass SP-924 ein gelungenes Experiment gewesen sei.“

„Was habt ihr jetzt mit ihm vor?“

„Seit dem Vorfall hat sich die Bestie beruhigt. Sein Master hat ihn sehr streng bestraft. Er beobachtet mich zwar immer noch sehr eindringlich, doch ich bin vorsichtiger geworden. Gebe ihm keine Chance mehr meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ich zeige ihm deutlich, dass ich kein Interesse mehr an ihm habe. Auch sein Master hat seitdem kein rebellierendes Verhalten mehr festgestellt und SP-924 erfüllt die gestellten Aufträge ohne Probleme. Er hat seine Lektion wohl gelernt.“

Eine Frage dringt in mein Bewusstsein: „Können Bestien sich verlieben? Ich meine, ihr gebt ihnen ja menschliche DNA, da könnten sie doch auch diese Eigenschaft von uns übernommen haben, oder?“

„Theoretisch eigentlich nicht. Bestien sind unfruchtbar. Es gibt zwar männliche und weibliche Exemplare, sie können sich aber nicht fortpflanzen. Darum besitzen sie keinen Paarungsdrang und suchen auch nicht nach geeigneten Partnern. Ihnen fehlen die entsprechenden Hormone und anatomischen Voraussetzungen. Nur dank der Chromosomen können wir ihr Geschlecht unterscheiden. Rein äußerlich sind sie sich sonst zu ähnlich.“

Seltsam, dabei kann ich bei Liam ganz genau erkennen, dass er männlich ist. Auch die Wasserbestie ist definitiv männlich.

„Ist es denn schon mal vorgekommen, dass sie sich zu sehr zu einem Menschen hingezogen fühlten?“ Liam kommt mir in den Sinn. Er verteidigt mich gegenüber jedem männlichen Wesen vehement. Er sieht in allen eine Konkurrenz und versucht sie mit seinen Drohgebärden abzuschrecken.

Das widerspricht Sophies Ausführungen. Ich erinnere mich auch noch zu gut an seinen lüsternen Blick, als er mich unbekleidet beobachtet hat. Eine Gänsehaut überkommt mich.

„Dieses Verhalten hat eher etwas mit der Prägung zu tun. Manche Tierarten prägen sich kurz nach ihrer Geburt auf ihre Eltern. So kann es schon einmal vorkommen, dass sich auch Bestien auf einen bestimmten Menschen prägen. Aber wir versuchen genau aus diesem Grund dafür zu Sorgen, dass sie ihren Master wählen und sichern so eine noch höhere Gehorsamkeitsrate. Bei SP-924 waren wir erfolgreich gewesen. Kurz nach seinem Erwachen prägte er sich auf seinen Master und folgte ihr aufs Wort. Darum ist seine plötzliche Verhaltensänderung um so merkwürdiger.“

Ich leere mein Glas und lasse mir von Sophie nach schenken. Also gibt es wirklich gar keine Möglichkeit, dass SP-924 sich einfach nur in Sophie verliebt haben könnte?

„Aber sein Blick sagt etwas ganz anderes“, spreche ich meinen Gedanken laut aus.

„Wie meinst du das?“, fragt mein Gegenüber verständnislos.

Ich rutsche mit einem Bein auf die Couch und wende meinen Oberkörper zu Sophie, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

„Ihr wachst scheinbar alle mit den Bestien auf und seht in ihnen nur die Tiere die ihr züchtet. Aber ich habe in Liam oftmals menschliche Augen erkannt. Er besitzt den Verstand eines Menschen und verhält sich auch oft dementsprechend. Diese Augen habe ich auch bei deiner Wasserbestie bemerkt. Sie sieht dich nicht wie ein aufgebrachtes Tier an, sondern wie ein Mensch, das nach Anerkennung und Aufmerksamkeit sucht. Er ähnelt einem Jugendlichen, dem ich mal begegnet bin. Er hatte von seinen Eltern nur sehr wenig Liebe und Zuwendung bekommen und jedes mal wenn er ihnen gegenüber stand hat er sie genauso angesehen. Woher wisst ihr denn überhaupt, dass die Bestien nur wie Tiere denken und handeln? Immerhin pflanzt ihr ihnen menschliche Gene ein. Vielleicht sind sie uns ja doch ähnlicher als ihr glaubt.“

Sophie ringt mehrmals sichtlich nach einer Erwiderung. Meine Theorie scheint sie zu überraschen. Sie wird blass und traut sich kaum mir in die Augen zu sehen.

„Ich erzähle dir das jetzt im Vertrauen“ flüstert sie mir sehr leise zu. Ich muss mich anstrengen, um ihre Worte zu verstehen.

„Du erinnerst mich sehr an meinen Lehrer. Er hatte da eine Theorie. Diese stieß bei dem Rat nur auf taube Ohren, weshalb er sie für sich behielt.

Er war der Meinung gewesen, dass bei der Zusammenfügung der Gene manchmal ungeahnte Verknüpfungen entstehen und so menschenähnliche Bestien gezüchtet werden. Wir können zwar bereits die meisten genetischen Verbindungen voraussagen und die wichtigsten Anlagen bestimmen, aber in einigen Fällen entstehen immer noch unvorhergesehene Eigenschaften. Wir stehen auch noch am Anfang bei der Erforschung der Entwicklung des Gehirns. So wissen wir nicht welche Synapsen sich bilden können und wie lernfähig die Bestien wirklich sind. Mein Lehrer nahm an, dass es in ganz geringen Fällen möglich sein könnte, dass wir eine Kreatur mit einem menschlichen Gehirn erschaffen.“

Diese Information lässt mich an dem ganzen hier mächtig zweifeln. Es ist ethisch schon schwer zu verstehen, wie Menschen auf die Idee kommen können mit ihrem eigenen Erbgut herum zu experimentieren und diese mit den Genen der Tiere zu verbinden. Wie können wir es uns da wagen diese neue Rasse als dumm einzustufen, nur weil die Menschheit sie entwickelt hat?

Kapitel 3.4.1 - gegenseitiger Austausch

 

 

Der Züchter wird nicht nur Ihnen weiterhelfen,

auch Sie können einen wichtigen Teil bei der

Weiterentwicklung der Bestien beitragen.

Teilen Sie ihre gewonnen Erkenntnisse mit

ihrem Züchter.“



Ich staune über diese Theorie. Könnte es da tatsächlich möglich sein, dass Liam über ein menschenähnliches Gehirn verfügt? Wenn er sprechen könnte, würde er sich dann genauso normal, wie Sophie und der General mit mir unterhalten können?

Ich sehe sie an und merke, dass ihre diese Theorie wohl nicht schmeckt und sie mit ihrem Lehrer nicht einer Meinung ist. Wenn das wirklich möglich wäre, dann würde es ein ganz neues Licht auf die Bestien werfen.

„Also könnten sich die Bestien vielleicht doch in uns verlieben“, stelle ich laut fest.

„Nein. Das wäre absurd.“ Die junge Professorin schüttelt vehement mit dem Kopf und kann sich das einfach nicht vorstellen. Sie kann den Gedanken daran wohl nicht verkraften, denn das könnte nämlich bedeuten, dass Gimini Intercorbs Experimente an einer menschenähnlichen Rasse durchführt und ihre kleine Welt somit ins Straucheln gerät.

Ich lasse locker und konzentriere mich auf mein eigentliches Anliegen. Auch mir überkommt bei diesem Gedanken eine Gänsehaut.

„Können Bestien eigentlich ihre Gestalt verändern?“

Sophie sieht mich fragend an. Dann verhärten sich ihre Gesichtszüge. „Wie kommst du darauf?“

„Heute beim Training mit Liam hat General Blackthrone so etwas angedeutet.“

Sophie schüttelt den Kopf und seufzt. Mit einem Zug entleert sie ihr Glas und füllt es gleich wieder auf. Ihre Augen blicken mich nicht an, sondern fixiert stattdessen ein altes Foto an der Wand. Der Mann lächelt uns in seinem weißem Kittel entgegen. Seine Grübchen wecken meine Sympathie und wärmen merkwürdigerweise mein Herz. Er wirkt noch sehr jung und unerfahren, aber wissbegierig und schlau. Wer das wohl ist?

„Caleb kann in deiner Nähe scheinbar seinen Mund nicht halten“ meint sie nach einer Weile des Schweigens leicht angesäuert. „Also gut, dann erzähle ich dir mal von einem anderen missglückten Experiment.“

„Noch mehr Experimente?“ Auf meiner Stirn zeigen sich kleine Fältchen. Mein Körper ist angespannt und wartet auf die nächste Enthüllung.

„Ja. Eigentlich darfst du davon nichts erfahren, aber da ich deine Neugierige bereits kennengelernt habe, weiß ich dass du eh nicht aufhören wirst mich auszuquetschen. Außerdem habe ich dir sowieso zu viel verraten. Scheinbar kann auch ich meine Klappe dir gegenüber nicht halten.“ Sie lacht mich an und Erleichterung durchflutet mich. Sophie nimmt mir meinen Wissensdrang wohl nicht übel.

„Es gab mal eine Abteilung die versucht hat mehr menschliche Gene zu verarbeiten als tierische. Ich habe dir ja erklärt, dass früher nur sehr wenig Prozente an humaner DNA verwendet wurden, wir aber heute mehr benutzen um mehr Kontrolle zu gewährleisten.

Es gab aber auch einen wissenschaftlichen Zweig, der die humane DNA als Grundsubstanz verwendete und ihr nur einen kleinen Teil an animalischer DNA beifügte. Meistens wurde nur eine Spezies ausgewählt, die man mit menschlicher DNA kombinierte. Dann nahm man aus den Erbanlagen ungewünschte Eigenschaften heraus und pflanze die befruchtetet Eizelle einer Frau ein.“

Ich atme zischend ein. „Menschliche Experimente! Ich dachte die hättet ihr nicht gemacht. Das hast du heute Morgen noch behauptet!“, rufe ich empört. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Sie hat mich angelogen. Wie können die es wagen an uns Menschen herum zu pfuschen?

„Beruhige dich. Dieses Thema ist Geschichte, da viele Sponsoren genauso reagiert haben wie du. Außerdem sind 95% der Föten vor der Geburt gestorben und der Rest ist kurz nach der Geburt gestorben. Also gibt es kein einziges lebendes Exemplar. Diese Experimente wurden eingestellt. Also stimmt es, dass wir nicht an den Menschen herummurksen.“

Ich trinke mein Glas leer und atme beruhigt auf. Gott sei dank besitzen diese durchgeknallten Ratsmitglieder doch noch etwas Menschlichkeit.

„Aber was hat das mit der Gastaltveränderung zu tun?“

„Das hängt alles wieder mit einer Theorie meines Urgroßvaters zusammen. Er glaubte, dass sich die Bestien besser an ihren Lebensraum anpassen könnten, wenn sie mehr menschliche DNA besitzen. Er wollte eine Kreatur erschaffen, sie ihre Gestalt ihrer Umgebung anpassen kann.“

„Oha. Meinst du damit Liam?“, frage ich entgeistert. Kann er sich wirklich seiner Umgebung anpassen?

„Nicht unbedingt. Mein Urgroßvater hat weit mehr als hundert Bestien erschaffen und seine Theorien an unterschiedlichen Exemplaren getestet.“

„Woher weißt du von den Theorien? Immerhin kannst du ihm nie begegnet sein. Und seine Unterlagen sind doch alle gelöscht.“

Sophie zwinkert mir verschwörerisch zu. „Ich habe sein altes Tagebuch gefunden.“

Ich mach große Augen. „Weiß dein Onkel davon?“

„Nein. Dieses Geheimnis habe ich für mich behalten.“ Ein weiteres Geheimnis, dass wir uns teilen werden.

„Wo hast du es her?“

„Ich war nicht so brav wie alle denken. Meine Neugierde hat mich vor 7 Jahren in das alte Labor gezogen. Dort fand ich in einem noch gut erhaltenem Schrank das Tagebuch. Leider bin ich nicht überall herangekommen. Ich wette, dass es dort noch mehr zu finden gibt.“

„Warum hat bis jetzt keiner das Labor auf den Kopf gestellt? Wie könnt ihr euch dann so sicher sein, dass alle Daten deines Urgroßvaters verloren sind?“

„Es gab schon einige Expeditionen, aber du weißt ja am besten, wie es dort aussieht. Alles ist zerstört und man kommt nur sehr schwer an die einzelnen Etagen heran. Außerdem hat die Zeit alles sehr marode werden lassen und keiner glaubt, dass man noch brauchbare Dokumente finden kann, die noch nicht verrottet sind. Außerdem war mein Urgroßvater ein sehr gründlicher Mann. Er würde nie seine Ergebnisse unbeabsichtigt herumliegen lassen, wo er doch alles vernichten wollte.“

„Ich habe aber ein Büro mit Aktenordnern entdeckt in denen die Papiere noch gut erhalten waren. Immerhin hast du doch auch sein Tagebuch gefunden.“

„Er hat es eher hinterlassen, als vergessen. Es ist so geschrieben, dass seine Theorien zwar zu erkennen sind, aber keine genauen Details verraten werden.“ Sophie lehrt wieder ihr Glas und stellt es sanft auf den Tisch.

„Außerdem hat er meinem Großvater in seiner Kindheit oft ein merkwürdiges Lied vorgesungen. Da mein Großvater sehr an seinem Vater hing, gab er dieses Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen weiter. Als ich in dem Labor war, habe ich, um mich zu beruhigen, dieses Lied vor mich hingesummt. Dabei ist mir aufgefallen, dass es das Labor auf eine eigenwillige Art und Weise sehr gut beschreibt. Dieses Lied hat mich auch zu dem Tagebuch geführt.“

Ich atme tief ein und lasse die Worte auf mich wirken. Also hat der Urgroßvater von Sophie dafür gesorgt, dass irgendeiner seiner Nachfahren an das Tagebuch herankommt.

Das alles kommt mir wie ein geheimnisvoller Krimi vor. Ein beiläufiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon weit nach zwölf ist und ich mich langsam zu Bett begeben sollte. Morgen steht ein anstrengender Tag vor mir. Ich erhebe mich langsam und Sophie begleitet mich noch bis zur Tür.

Ich sehe ihr nochmal tief in die Augen. Sie wirkt sehr müde und erschöpft. Das Gespräch scheint auch an ihr zu nagen.

„Wir sehen uns dann morgen.“

„Ja gute Nacht. Und viel Spaß bei meinem Onkel.“ Sie zwinkert mir nochmal zu, dann begebe ich mich auf den kurzen Rückweg.

 

Die ganze Nacht habe ich Probleme mein Gehirn zur Ruhe zu bekommen. Schon der Gedanke an die vielen Experimente mit den Tiergenen verursacht mir ein mulmiges Bauchgefühl. Wenn dann aber auch noch menschenähnliche Kreaturen entstehen, weiß ich echt nicht mehr was ich von dieser ganzen Sache halten soll. Bin ich zu engstirnig? Ich glaube kaum. Wenn die Menschen da draußen wüssten, was hier geschieht, dann würden sich bestimmt eine ganze Menge Tierschützer finden, die freiwillig vor dem Tor hocken würden, um dagegen zu protestieren.

Warum zerbreche ich mir nur so sehr den Kopf? Sollte mir das alles nicht egal sein? Immerhin bin ich nicht diejenige, die sich aus einem Genkatalog die perfekte Zusammensetzung für die eigene Bestie besorgt hat. Ich habe meine Bestie gefunden. Die Menschen die in dieser Welt aufwachsen, finden meine Bedenken bestimmt lachhaft und skurril.

 

Der Wecker klingelt viel zu früh. Ich hieve mich mit meinen tiefen Augenringen aus dem Bett. Selbst Liam fällt auf, dass mir der Schlaf fehlt. Ich zicke ihn an, wo ich nur kann. Er weiß nicht recht, wie er mit mir umgehen soll und tut das einzig richtige: er geht mir aus dem Weg.

Schlurfend schleiche ich zu der Trainingshalle und gähne dabei geschätzte tausend mal. Am Anfang wirft mir mein pikierter Kater noch den einen oder anderen missbilligenden Blick zu. Doch da ich ihn geflissentlich ignoriere, gibt er schnell auf.

Wir absolvieren das Training im vorgegebenen Zeitrahmen. Mit Hilfe des Tablet´s stoppe ich die neuen Rekorde und speichere sie ab. Liam lernt scheinbar besonders schnell. Heute braucht er zehn Minuten weniger als gestern.

Die Fahnen wurden an neuen schwierigen Ecken versteckt. Auch heute befinden sich wieder zwei dieser Plagegeister im Wasser. Mein fleißiger Sammler ignoriert diese aber von Grund heraus. Ich glaube kaum, dass er sich jemals näher, als ein paar Meter an diese Todesfalle heranwagt. Ich kann es ja verstehen. Hoffentlich nutzt keiner diese Schwäche meines Freundes aus.

Auf dem Rückweg fallen mir zum ersten Mal die vielen Offiziere mit ihren unterschiedlichen Dienstgraden auf, die durch den Verbindungsturm poltern. Durch meinen Cousin musste ich mich mit 18 sehr intensiv damit befassen, da er mir alles haarklein beschrieben hatte. So weiß ich dass eine Gold eingerahmte Schulterklappe mit Portepee und einem fischähnlichen Symbol auf einen Hauptfeldwebel hinweist. Viele von ihnen sind schwer bewaffnet. Einige sind sogar in Begleitung ihrer Bestien.

Ich studiere jede einzelne die mir über den Weg läuft und unweigerlich drängt sich mir immer wieder die Frage in den Kopf, ob sie auch ein menschenähnliches Gehirn besitzen. Ob diese Bestien genauso sind wie Liam und uns Menschen besser verstehen, als wir glauben.

 

Das Mittagessen schlinge ich im Eiltempo herunter und dann schmeiße ich mich für zwei Stunden nochmal ins Bett. Endlich empfängt mich der Schlaf mit offenen Armen und es gelingt mir, mein Gehirn zur Ruhe zu bringen. Liam lässt sich träge zu meinen Füßen fallen und überwacht meinen dringend, notwendigen Schlaf.

 

Am Nachmittag bin ich gut ausgeruht und fühle mich viel besser. Pfeifend schnappe ich mir meinen Stundenplan und muss leider feststellen, dass Professor Gillian in der 9. Etage auf mich wartet. Wie soll ich da nur jemals rechtzeitig ankommen?

Ich blicke zu Liam, den ich zu meinem eigenen Schutz lieber mitnehmen werde. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Nach sieben Etagen qualvollem Aufstiegs kapituliere ich schnaufend. Mit rasselndem Atem lehne ich mich ans Geländer und verfluche die 9. Etage, die mich von oben herab hämisch angrinst.

Liam beobachtet mich und scheint sich über meine Kondition zu amüsieren. Seine Augen grinsen mich frech an und wollen mir wohl sagen, dass ich den Nachtisch lieber hätte weg lassen sollen.

„Wie wäre es mit einer extra Trainingsrunde“ schnaufe ich ihn an. „Du könntest doch bestimmt etwas Krafttraining gebrauchen. Also warum lässt du mich nicht einfach mal auf deinem Rücken nach oben reiten?“ Ernst gemeint sehe ich ihn an und deute auf sein breites Kreuz.

Doch leider erntet meine Idee nur ein abfälliges Schnaufen. Liam dreht mir den Rücken zu und nimmt die nächste Etage in Angriff. Flink wie ein Wiesel sprintet er die Stufen nach oben und sieht mich herausfordern an.

Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf und stütze die Hände in die Hüften.

„Angeber! Na warte du faules Tier!“

Kapitel 3.4.2 - andere Züchter

 

 

Natürlich beherbergt Gimini Intercorbs eine Vielzahl

an unterschiedlichen Züchtern. Es ist ratsam sich auch

mit einem Züchter auszutauschen, der nicht an der Zucht

ihrer Bestie beteiligt war.

Diskutieren Sie gemeinsam die Eigenschaften ihrer Bestie.

Man weiß nie welche neuen Theorien man zusammen

entdeckt und welche Vorteile Sie daraus ziehen können.“

 

 

Mit schadenfrohem Lächeln steige ich aus dem Aufzug und freue mich schon darauf einem überraschten Liam zu begegnen. Doch leider kommt es nur selten so, wie man es sich denkt. Ich biege um die nächste Ecke und traue meinen Augen kaum. Mein Partner liegt faul vor der Tür des Professors und gähnt mir gelangweilt entgegen. Eins zu Null für den gerissenen Kater. Mist.

Dieses Mal öffnet uns ein Schlangenmann die Tür. Sein Kopf ähnelt der einer Kobra, Brustkorb und Arme werden von einem dicken braunen Fell verdeckt und die Beine erinnern mich an die eines Menschen. Die Füße sind dafür verhältnismäßig groß und haben krallenartige Auswüchse. Es fällt mir schwer neben der Kobra die anderen Tiere zu bestimmen. Außerdem dachte ich, dass die tierischen Gene nach Lebensraum und Größe gewählt werden sollten.

Diese Bestie sieht aber nicht mal ansatzweise danach aus. Was Sophie wohl von ihr hält?

Die schlitzförmigen Augen des Türöffners stechen mir entgegen und ich spüre pure Feindseligkeit. Eine Gänsehaut jagt über meinen Körper und fröstelnd ziehe ich meine Ärmel etwas weiter nach unten.

Liam bemerkt mein Zögern und drängt sich frech an der neuen Bestie vorbei. Mit einem Knurren macht er ihm deutlich, dass er sich zurück halten soll. Eilig folge ich meinem Beschützer, froh ihn mitgenommen zu haben.

Der Professor wartet bereits auf uns. Sofort heften sich seine Augen auf Liam. Mit einem genervten Schnauben lässt dieser sich auf der Couch nieder und würdigt dem Mann keines Blickes. Ich platziere mich ans andere Ende und schiebe den Dicken etwas zur Seite.

Mein heutiger Lehrer greift nach einem Diktiergerät und stellt es auf den Tisch. Abschätzend blicken wir uns an. Ich weiß, dass er mich nur duldet, weil ich seine Lieblingsbestie im Schlepptau habe. Ansonsten würde er mich, wie eine lästige Kakerlake, zerquetschen.

„Eins will ich gleich vorweg nehmen. Ich habe mich nur auf dieses Zusammentreffen eingelassen, weil mich General Blackthrone persönlich darum gebeten hat.“ Professor Gillian schnauft mir widerwillig entgegen. Seine Stirn zieht sich arrogant zusammen. Alles an seiner Körpersprache zeigt mir, wie wenig er von meiner Existenz hält. Ich glaube kaum, dass er mir irgendwelche Grundlagen der Wissenschaft beibringen wird.

„Nur weil es ihnen gelungen ist einigen wichtigen Personen Honig ums Maul zu schmieren, heißt das noch lange nicht, dass das bei mir auch wirkt“, näselt er besserwisserisch in meine Richtung.

Als ob ich das vor hätte. Der Typ nervt mich jetzt schon und ich will alles nur noch schnell hinter mich bringen. Ich kratze all meine Geduld zusammen und setzt mich aufrecht hin.

„Was werden sie mir beibringen?“, frage ich provokativ. Als ob ich mich so leicht einschüchtern lassen würde.

„General Blackthrone ist der Meinung, dass ich Ihnen nützliche Informationen zu XS-707-GP4 geben kann. Immerhin habe ich mich die letzten 30 Jahre mit seiner Existenz auseinander gesetzt und sämtliche Informationen gesammelt, die ich bekommen kann.“ Scheinbar ist er sehr stolz auf seine Tat und erwartet jetzt wohl ein Lob oder einen erstaunten Ausdruck von mir. Doch ich sehe ihn nur abwartend an.

Ich muss schon zugeben, dass das sehr vielversprechend klingt. Viellicht kann ich so noch mehr über meine mysteriöse Bestie herausfinden und Liam besser verstehen lernen. Scheinbar will der Professor wirklich kooperieren. Ich nehme an, dass er ebenfalls auf neue Erkenntnisse hofft.

Wir sehen uns eine Weile schweigend an. Jeder überlegt sich, was er preisgibt und was nicht. Ich werde jedenfalls den Fakt nicht erwähnen, dass Liam Angst vor Wasser hat. Diese Schwäche will ich ihm nicht bestätigen. Hoffentlich hat der General seinen Mund gehalten und ihm nicht von unserem ersten Training berichtet.

„Also, was wissen Sie bereits?“, fragt er übermäßig gelangweilt. Scheinbar erhofft sich dieser arrogante Mistkerl nicht sonderlich viel. Ich nehme mir aber vor ihm so viel wie möglich zu erzählen. Vielleicht komme ich meinem Rätsel um Liams gestaltwandlerischen Fähigkeiten etwas näher.

„Er kann sehr schnell rennen und besonders hoch springen. An seinen Klauen befindet sich ein tödliches Gift und er ist sehr schlau. Seine Sinne sind besonders scharf“, rassle ich schnell herunter.

„Das trifft so ziemlich auf alle unsere Bestien zu. Nennen Sie mir die speziellen Eigenschaften, die nur XS-707-GP4 besitzt.“ Der genervte Ton des Professors bringt mich noch zur Weißglut. Ich sehe ihm auffordernd in die Augen und versuche mir jedes bisher genannte Detail seiner Fähigkeiten ins Gedächtnis zu rufen.

„Liam kann mit Hilfe seiner Schweißdrüsen eine Art Metalllegierung auf seine Haut auftragen. Diese verhärtet sich und erschwert es seinen Gegnern ihn zu verletzten. Wenn er besonders wütend wird, verformen sie sich leicht zu stachelartigen Auswüchsen.“

Der Professor fällt mir sofort ins Wort. Er sieht mich hämischen an, als ob ich gerade eine besonders dumme Antwort gegeben hätte.

„Das sind keine Auswüchse, Frau Morel. Die Legierung legt sich nicht nur auf seine Haut, sondern auch auf sein Fell. Sobald XS-707-GP4 also sein Fell sträubt, stellen sich die mit Metall überzogenen Härchen auf und wirken wie Stachel, sind aber im Grunde keine.“

Liam schnaubt. Er ist wohl meiner Meinung und findet, dass der Professor mit seinem Wissen zu sehr angibt. Ich lass mich aber nicht beeindrucken und setzte meine Aufzählung fort.

„Er kann diese Legierung irgendwie wieder verflüssigen und in seinem Körper aufnehmen. Ich weiß auch, dass Liam von Professor Gillian, dem Ersten, erschaffen wurde. Er hat für diese seltsame Eigenschaft gesorgt. Sophie hat mir erklärt, dass Sie bis heute nicht wissen, wie er das geschafft hat.“ Jetzt werfe ich ihm einen triumphierend Blick zu. Blöder Angeber.

Mein Gegenüber sieht mich finster an und will wohl etwas fieses erwidern.

„Liam versteht die menschliche Sprache.“ füge ich noch schnell hinzu, um auf mein eigentliches Thema zu kommen und seinen bissigen Kommentar abzuwürgen.

Der Professor entspannt sich ein wenig und sieht meinen Begleiter prüfend an. „Das hat mir General Blackthrone auch schon berichtet.“

Ich rutsch etwas nach vorne und sehe Gillian an. Alles oder nichts.

„Glauben Sie, dass Liam sich in einen Menschen verwandeln kann?“

Irritiert sprinten die Augen meines Lehrers zwischen mir und Liam hin und her. Er überlegt wohl fieberhaft, wie er meine Frage interpretieren soll. War es dumm dieses Thema anzuschneiden? Immerhin kennt er die Experimente des ersten Gillian nicht.

„Wie meinen Sie das, Frau Morel?“

„Naja … ich ...“, stammle ich vor mich hin. Reiß dich zusammen Tam! „Ich habe die Vermutung, dass sich Liam vielleicht in einen Menschen verwandeln könnte. Er versteht meine Worte und hat auch sehr viele menschliche Züge an sich. Ist so eine Verwandlung anatomisch überhaupt möglich?“

Er überlegt. Sein wissenschaftliches Interesse scheint geweckt zu sein. Auch Liam richtet seine Ohren gespannt auf. Ob mein Partner diese Möglichkeit wohl eigenartig findet. Oder könnte es sogar sein, dass er sich gerne verwandeln möchte?

Professor Gillian springt auf und läuft, wie ihm Wahn durch den Raum. „Damit sich eine Bestie verwandeln kann, müsste sie, theoretisch gesehen, dazu in er Lage sein, ihre Knochen zu brechen und anders wieder zusammen zu fügen. Sie müsste ihre Haut dehnen können, das Fell zurückentwickeln, und den Kopf, sowie die Gliedmaßen verformen. Das alles ist aus der wissenschaftlichen Sicht gesehen einfach unmöglich. Es müsste auf unserem Planeten bereits ein Tier geben, dass ähnliche Eigenschaften besitzt. Kamelions können sich an ihre Natur anpassen, in dem sie die Hautpigmente an ihre Umgebung angleichen. Diese Eigenschaft konnten wir auch schon auf unsere Bestien übertragen. Aber eine komplette körperliche Umstrukturierung ist schlichtweg unmöglich.“

Atemlos bleibt der Professor vor Liam stehen und sieht auf ihn herab.

„Andererseits hielten wir es auch für unmöglich, dass eine Bestie älter als zwanzig Jahre wird. Oder dass es Bestien gibt, die eine Metalllegierung erzeugen können.“

Plötzlich tritt Schweigen ein. Wenn ich die letzten Worte des Professors als richtig verstehe, dann hält er es nicht ganz für unmöglich. Wir betrachten beide den Kater. Liam sieht mir tief in die Augen und irgendetwas sagt mir, dass er so manche Geheimnisse mit Absicht für sich behält.

Da kommt mir ein Gedanke. „Kennen sie den ersten Master von Liam? Vielleicht wusste er ja, wie er zusammengesetzt ist.“

„Magdalena Ashtray starb damals während des Trainings von XS-707-GP4. Ihre Aufzeichnungen wurden ebenfalls zerstört.“

Stimmt. General Blackthrone hatte einmal erwähnt, dass Liam seinen Master getötet habe. Wenn er sich doch nur wirklich verwandeln könnte, dann wäre ich in der Lage ihm viele Fragen zu stellen und einige Rätsel endlich zu lüften.

„Hatte sie Verwandte mit denen sie über Liam hätte reden können?“ Wer weiß, vielleicht wissen ihre Nachfahren ja mehr.

„Ja. Die Familie Ashtray arbeitet immer noch mit Gimini Intercorbs zusammen und bildet die besten Master aus, die man sich nur wünschen kann.“

„Warum befragen sie die Familie dann nicht?“, hake ich nach.

„Das habe ich bereits.“ Das Gesicht des Professors verzieht sich zu einem abstrakten Lächeln. „Leider sieht die Familie Ashtray auf uns Züchter herab und gibt keinerlei Informationen preis. Vor allem das derzeitige Familienoberhaupt Silvana Ashtray hält sich sehr bedeckt, wenn es um XS-707-GP4 geht.“

Wie die Ashtrays es wohl aufnehmen, dass Liam mich als seine Herrin erwählt hat? Ich blicke auf die Uhr an der Wand und stelle fest, dass die Zeit schon wieder davon gerast ist. Die Stunde ist wie im Flug vergangen und außer dem Namen von Liams erstem Master, habe ich nichts neues in Erfahrung gebracht.

Ich erhebe mich von der Couch und Liam kommt auch sofort in Bewegung. Die Schlangenbestie erscheint, wie auf Knopfdruck bestellt, an der Tür des Nachbarzimmers und sieht mich herausfordernd an. Was ist ihr Problem? Rieche ich komisch?

„Gut. Ich werde noch einige Nachforschungen anstellen. Wir sehen uns dann das nächstes Mal.“ Professor Gillian wedelt mit der Hand und widmet sich den Unterlagen, die sich auf seinem Tisch befinden. Mit einem Seufzen drehe ich mich um und trete durch die Tür.

Liam trottet gemütlich hinter mir her und peitscht mit seinem Schwaz kurz über meinen Hintern. Überrascht quieke ich auf und werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Was sollte das denn?

Schnell schiele ich über die Schulter und hoffe, dass der Professor nichts davon mitbekommen hat. Doch wie zu erwarten war, hat er es sehr wohl gesehen. Seine Augen blicken mich verwundert an und ich zucke stumm mit den Schultern. Schnell schließe ich die Tür.

Endlich bin ich wieder draußen. Die stickige Luft in dem Büro raubt mir, neben der Anwesenheit des Professors den letzten Nerv.

Ich lasse mir während des Abstieges sehr viel Zeit. Wie Magdalena wohl war? Warum hatte Liam sie getötet? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Auch wenn er ab und zu eine sehr ruppige Art hat und am Anfang unserer Bekanntschaft oftmals sehr gereizt reagierte, besitzt er doch ein recht sanftmütiges Wesen.

Wenn er wütend ist, dann brüllt er laut herum und lässt seine Wut an den Möbeln und Wänden aus. Er hat mich aber noch nie persönlich angegriffen, um mich zu verletzen. Die Kratzer sind eher bei seinem Rettungsversuch entstand, als aus reiner Böswilligkeit. Was ihn wohl zu so einem Mord angetrieben hat?

 

„Frau Morel!“ Ich zucke zusammen und werde eiskalt aus meinen Gedanken gezerrt. Verwundert drehe ich mich um und blicke den freundlichen Augen von Kati entgegen.

„Oh. Hallo.“ Wir begrüßen uns mit einem Handschlag. Ihre Freundlichkeit wärmt gleich mein Herz und ich spüre, dass ich soeben eine zweite Freundin gefunden habe.

„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie mich charmant. Ihre Augen strahlen mich an und vermitteln mir, dass sie sich gerne mehr mit mir unterhalten möchte.

„Mir geht es gut. Danke.“

„Waren Sie gerade bei Professor Gillian?“, fragt sie mich mit einem wissenden grinsen.

Scheinbar spürt sie meinen Frust, der auf den Professor zurückzuführen ist. Er hat wohl keinen so guten Ruf.

Ich nicke. „Und was hat Sie hier her verschlagen?“

„Ich habe mein heutiges Training mit ZP-984 beendet“, antwortet sie mir und sieht sich dabei unauffällig um.

„Achso.“ Wir schweigen uns eine Weile an und ich mustere die dicke 23, die mir vor Augen führt, dass ich bereits in der 23. Etage angelangt bin. Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich das gar nicht mitbekommen habe.

„Da gibt es etwas, was ich gerne mit Ihnen besprechen möchte“, flüstert mir Kati entgegen. Verwirrt runzle ich die Stirn und lasse mich zum Aufzug führen. Liam sieht mir nach und scheint ebenfalls die Stirn in Falten zu legen.

Was hat Kati vor?

Kapitel 3.5 - Teamwork

 

Nutzen Sie ihre Kameraden, um gemeinsam die Aufträge

zu erfüllen, die Ihnen von Gimini Intercorbs zugeteilt wurden.

Auf diese Weise lernt ihre Bestie sich im Team einzuordnen und

zusammenzuarbeiten.“

 

 

Liam kann nicht mit uns in den Aufzug steigen und sieht mir skeptisch nach. Seine Augen blitzen auf und sein Schwanz zuckt nervös hin und her. Ich versuche ihn mit einem sanften Blick zu beruhigen, doch als sich die Tür schließt höre ich sein unzufriedenes Grummeln.

Der Aufzug setzt sich mit einem leichten Ruck in Gang und bringt uns nach unten. Ich sehe Kati an und will endlich fragen was los ist, doch sie schüttelt nur sanft mit dem Kopf, um mir zu deuten, dass jetzt nicht der richtige Augenblick dafür ist.

Also hole ich tief Luft und tue mal so, als ob es nicht ungewöhnlich sei, dass ich mit Kati unterwegs bin. Nervös spiele ich mit dem Saum meines Ärmels und gehe in meinem Kopf sämtliche Möglichkeiten durch.

Warum die Geheimnistuerei? Leider will mir kein Grund einfallen, darum trete ich angespannt von einem Bein aufs andere und betrachte meine unruhigen Augen in der Metalltür, dich sich mir entgegen spiegeln. Mit einem lautem Ping öffnen sich die Türen und wir landen in der 35. Etage.

Ich steige aus und atme die kühle, muffige Luft eines Kellers ein. Hatte mir Caleb nicht einmal gesagt, dass nur sehr wenige Angestellte in diese Etage dürfen, da sich hier die Lager und Plantagen befinden würden? Warum bringt mich Kati hier her?

Wir folgen einem langem Tunnel, der uns immer weiter nach unten bringt. Hier und da wehen mir süßliche Düfte entgegen, vermischt mit dem Kellergeruch. Eine laue Brise kitzelt meine Haare und das Plätschern eines Flusses dringt an meinen ungläubigen Verstand.

Kati spricht immer noch nicht mit mir. Also folge ich ihr ebenfalls schweigend.

Das Tunnelsystem ist sehr verwinkelt. Immer wieder biegen wir ab. Mal links, mal rechts. Ob Liam mich hier unten wiederfinden kann?

Endlich entdecke ich Licht am Ende des Tunnels und laufe einen Schritt schneller. Die Neonröhren begrüßen mich mit ihrem viel zu grellen Licht.

Ich traue meinen Augen kaum. Warum überrascht mich das überhaupt noch? Vor mir breitet sich eine riesige Lagerhalle aus. Hunderte von Autos, Motorrädern und anderen kleineren Fahrzeugen warten hier auf ihren Fahrer.

Vorwiegend erkenne ich militärische Fortbewegungsmittel, aber hier und da stehen auch einzelne Luxus Schlitten wie Cabrios und die neuesten Ausstellungstücke von VW und BMW. Die gehören wohl den höheren Tieren, die sich derzeit in den obersten Etagen aufhalten.

Ich folge Kati, die sich durch die einzelnen Reihen hindurch schlängelt. Wir legen wieder eine längere Strecke zurück, bis wir vor einem schwarzen Geländewagen halten. Meine Begleiterin öffnet mir wortlos die Tür und ich schlüpfe schnell herein.

Auf der Rückbank grinst mir Sophie entgegen und am Steuer sitzt mein General. Oha. Was für eine lustige Mischung. Kati springt auf den Beifahrersitz und der Wagen setzt sich schnurrend in Bewegung.

„Was mache ich hier, Sophie?“, frage ich mit einem angespannten Kribbeln im Magen.

„Wir fahren zu einem kleinen Picknick“ zwinkert sie mir verschwörerisch entgegen.

Ich blinzle überrascht. Natürlich weiß ich, dass Sophie das nur metaphorisch meint. Caleb nickt mir im Rückspiegel zu und strahlt mich an. Ich erwidere sein Lächeln und mein Herz macht einen kleinen Satz.

„Was ist mit Liam?“, frage ich besorgt. Denn ich kann mir jetzt schon ausmalen, was er anstellen wird wenn er mich nicht finden kann. So würde dann jeder von Gimini Intercorbs schnell herausfinden, dass ich mich heimlich davongeschlichen habe. Das gäbe bestimmt kein gutes Ende. Für keinen von uns.

„Ich habe ZP-984 losgeschickt, um ihn abzuholen. Wir treffen die beiden dann bei den Ruinen“ meint Kati lässig.

„Ruinen?“ frage ich erstaunt.

„Du hat mich mit dem Gespräch von gestern Abend auf eine Idee gebracht. Da wir uns ja jetzt wegen XS-707-GP4 keine Sorgen mehr machen müssen, kommen wir bestimmt in die Etage meines Urgroßvater. Vielleicht entdecken wir endlich die fehlenden Puzzelteile.“

Das leuchtet mir ein. Kribbelnde Abenteuerlust macht sich in mir breit. Endlich komme ich mal wieder raus aus meinem neuen Gefängnis.

„Ich habe Caleb gebeten uns zu begleiten, um uns vor eventuellen Gefahren zu beschützen. Und Kati unterstützt uns mit ihrer Bestie, die dafür sorgt, dass XS-707-GP4 unbemerkt nachkommen kann. Lukas sorgt für unseren heimlichen Abgang, ein wasserdichtes Alibi und einen sicheren Weg zurück.“

Scheinbar hat Sophie das alles gut durchdacht. Und da sie Caleb, Kati und Luka vertraut, werde ich den dreien auch mein volles Vertrauen schenken.

Wir kommen an ein riesiges Tor. Lukas öffnet es uns und wir gelangen so ungesehen in einen weiteren unterirdischen Tunnel.

Ich weiß nicht wie lange wir weiter fahren, ohne an die Oberfläche zu gelangen, aber keiner sagt in der Zeit einen Ton. Ich kann die Anspannung praktisch mit den Händen greifen.

Langsam macht sich die Abenteuerlust auch in mir breit und ich male mir aus, was wir wohl alles herausfinden und welchen widerständen wir gegenüberstehen werden. Wie Lukas wohl unsere Abwesenheit entschuldigt?

Irgendwann schaffen wir es dann doch noch ans Tageslicht. Wir tauchen mitten im Wald auf. Dank des Geländewagens haben wir keinerlei Probleme im Vorankommen.

Die Bäume tanzen an uns vorbei und ich genieße den Anblick. Seit Tagen war ich nicht mehr draußen an der frischen Luft. Ich kurble das Fenster ein Stück nach unten und sauge den Geruch nach Wald und Natur gierig ein. Wohltuend. Beruhigend. Ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen.

Ich spüre einen Blick auf mir und ich wende mich ihm entgegen. Caleb beobachtet mich durch den Rückspiegel und grinst mir wissend zu.

 

Nach einer Weile kommen wir endlich an unserem Ziel an.Ungeschickt stolpere ich nach draußen und wäre beinahe hin gestürzt, doch wie von Zauberhand erscheint Caleb an meiner Seite und fängt mich lässig auf. Verschämt schaue ich mich um und ernte zwei belustigte Blicke meiner weiblichen Reisegefährten.

Schnell stoße ich mich von seiner Brust ab und murmle einen Dank. Mein Gesicht glüht wie eine verstrahlte Tomate. Und mein Herz rast mir davon.

Plötzlich fängt mein Rücken an wie verrückt zu jucken und ich drehe mich blitzschnell um. Doch hinter mir kann ich nichts erkennen. Verwundert runzle ich die Stirn. Ein leises Fauchen weckt meine Aufmerksamkeit und ich blicke zum Geäst der Bäume hoch.

Liams stahlgraue Augen blitzen mir entgegen und ich kann seinen Zorn praktisch schmecken. Eifersucht. Ich atme tief durch und strecke meine Hand zu ihm hoch. Er aber ignoriert mich einfach und plumpst auf den Waldboden.

Mit wütendem Blick lässt er mich links liegen und verschwindet im Dickicht. Na toll. Als ob ich mit Absicht gestolpert wäre, nur um von Caleb aufgefangen zu werden. Und warum fühle ich mich eigentlich auch noch schuldig?

„Gut wir folgen einfach mal deiner Bestie.“ Sophie setzt sich einen Rucksack auf und marschiert hinter Liam her. Sie hat die Szene wohl beobachtet und amüsiert sich köstlich. Kati gesellt sich an meine Seite und Caleb bildet den Schluss.

Immer wieder wirft Kati einen nervösen Blick nach hinten und druckst herum. Mir kommt der Gedanke, dass sie mir etwas sagen will, dass der General nicht hören soll. Nach einigen Schritten entschließt sie sich endlich mit der Sprache herauszurücken.

Flüsternd dreht Kati ihren Kopf ganz nah an mein Ohr. Ihr Atmen kitzelt mich. „An deiner Stelle würde ich nicht so sehr mit General Blackthrone flirten.“

Ich atme empört ein. „Ich flirte doch nicht mit ihm“, zische ich ihr entgegen.

„Das macht aber einen ganz anderen Eindruck auf mich. Er scheint dir ja regelrecht ergeben zu sein. Sophie musste nur kurz erwähnen, dass du daran teilnimmst und schon war er mit an Board. Normalerweise ist unser General sehr an die Regeln gebunden und würde nie etwas tun, was seinem Ruf schaden könnte.“

Jetzt liegt es an mir einen verstohlenen Blick nach hinten zu werfen. Meine Wangen färben sich leicht rot, als ich an den versuchten Kuss des Generals denke und an seine verspielte Art. Auf mich macht er bis jetzt keinen so regelgebundenen Eindruck.

„Und warum ist es so schlimm wenn wir etwas flirten?“ hake ich nach. Ich muss zugeben, dass ich mich schon zu ihm hingezogen fühle. Warum auch nicht? Er ist immerhin ein sehr gut aussehender Mann und hat scheinbar sehr viel Macht und Einfluss. Da schadet es doch nicht den einen oder anderen Flirt zu erwidern, oder?

„Ganz einfach, weil es bereits eine Frau gibt die Morden würde, nur damit der General ihr solche Blicke zuwirft.“

Ich schlucke. Man muss natürlich mit Konkurrenz rechnen, wenn man für so einen perfekten Mann schwärmt.

„Wer ist diese Frau?“, frage ich neugierig.

Kati wirft mir einen eigenartigen Blick zu. „Hast du schon mal von Silvana Ashtray gehört?“

„Ja, glaube schon. Sie ist das Familienoberhaupt der Ashtrays und kennt meinen Liam.“

„Mach sie dir lieber nicht noch mehr zum Feind.“

„Was meinst du damit?“ Meine Stirn runzelt sich verwundert. Ich bin dieser Frau noch nie begegnet, warum sollte sie also mein Feind sein?

„Ganz einfach. Du bist im Besitzt von XS-707-GP4, der laut unseren Regeln an Silvana hätte vererbt werden müssen. Außerdem weiß jeder im Institut, dass du dich mit Sophie angefreundet hat. Silvana und Sophie waren einst gute Freundinnen, doch aus einem, mir unbekannten Grund hasst Silvana Sophie jetzt. Wenn du ihr auch noch General Blackthrone wegnimmst, dann bist du ihr Todfeind Nr. 1. Mit dieser Frau ist nicht zu spaßen.“

Bevor ich etwas dazu erwidern kann, bleiben wir vor der im Boden eingelassenen Glaskuppel stehen. Erinnerungen die noch nicht allzu weit zurück liegen kommen in mir hoch und ich zögere, bevor ich den anderen an den Rand der Kuppel folge.

Der Wind, der durch die Blätter fegt, drängt mich nach vorne. Etwas in mir sträubt sich gewaltig wieder da runter zu klettern. Doch ich denke fest an das, was ich vorhabe und zwinge meine Füße vorwärts. Dieses Mal bin ich ja nicht alleine und ich werde auch nicht unfreiwillig dort festgehalten.

Caleb befestigt an einer Metallstrebe ein dickes Seil, dass er aus seinem Militärrucksack gezaubert hat. Er überprüft mehrmals, ob es richtig sitzt, bevor er es in die Tiefe fallen lässt.

Sophie wirkt auf mich aufgeregt, wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal einen Ausflug nach Disneyland macht. Mir fällt auf, dass Katis Bestie ebenfalls anwesend ist. Sie unterhält sich mit dem General und scheint irgendetwas diskutieren zu müssen. Kati gesellt sich zu ihnen und runzelt die Stirn. Ich gebe mir endlich einen Ruck und bleibe neben meinem Team stehen. Verwundert sehe ich sie an. Caleb wirkt nervös. Seltsam.

„Was ist los?“, frage ich, als ich die Spannung nicht mehr aushalten kann.

„ZP-984 hat ein seltsames Summen gehört. Er kann sich nicht erklären, wo es her kommt. Aber ich glaube nicht, dass wir deshalb die Expedition abbrechen sollten“, meint Sophie. Ihre Augen funkeln aufgeregt. Scheinbar hat ein nicht zu bändigender Forscherdrang besitzt von ihr ergriffen.

„Es liegt an Ihnen Sophie.“ Caleb blickt nochmal kurz in die Runde und deutet ihr sich zuerst abzuseilen.

Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. Schnell wickelt sie sich, wie ein waschechter Profi, das Seil um ihr behandschuhtes Handgelenk und lässt sich ohne zu zögern an dem Seil herab gleiten. Ob wohl selbst die Wissenschaftler eine militärische Grundausbildung durchlaufen mussten?

Kati lässt sich von ihrer Bestie hochheben und nach unten bringen. Mein Blick folgt ihr nervös in den Abgrund. Der eklige Geruch nach fauliger Erde und Schimmel weht mir entgegen und eine Gänsehaut macht sich auf mir breit.

Als Sophie auf einer tiefer gelegenen Ebene angekommen ist, lässt sie das Seil los und sieht sich begeistert um. Kati und die Ziege landen fast zeitgleich neben ihr.

Dann bin ich wohl an der Reihe. Das schaffe ich doch nie!

„Ich kann das nicht“, stammle ich leise vor mir hin und weiche zurück. Ich bin noch nie klettern gewesen. Wie soll ich da nur heil herunter kommen?

„Dann trage ich Sie.“ Erschrocken sehe ich den General an. Seine Augen leuchten vor lauter Vorfreude. Kann er mich wirklich tragen, während er sich abseilt? Wie soll das gehen?

Laut fauchend taucht Liam neben mir auf. Wie aus dem Nichts ist er erschienen und wirkt immer noch wütend. Trotzdem drückt er mit seinem Rücken gegen meine Seite und scheint mir damit eine andere Möglichkeit des Abstieges zu bieten.

Jetzt muss ich mich wohl zwischen ihm und dem General entscheiden. Wieder überkommt mich ein seltsames Gefühl, als ob ich Liam betrügen würde, wenn ich mich für Caleb entscheide. Ich werfe mein Bein kurzerhand über den Rücken meines Partners und halte mich an seinem Nacken fest. Und schon geht es los.

Mit einem großen Satz lässt er sich in die Tiefe fallen. Die Luft zischt nur so an mir vorbei. Ich kneife meine Augen zu und schreie wie am Spieß.

Das hat Liam doch mit Absicht gemacht! Wir landen hart auf einem Absatz, dann geht es weiter abwärts. Es dauert nicht lange und Liam landet gekonnt auf seinen Pfoten neben Sophie. Ich mache mir vor Angst beinahe in die Hosen und dieser Mistkerl genießt das ganze auch noch! Sein Schwanz tanzt amüsiert in der Luft und ich fühle ein leichtes Beben unter meinen Fingern. Wenn ich mich nicht täusche, dann lacht er doch tatsächlich in sich hinein.

Vorsichtig richte ich mich auf seinem Rücke auf und sehe mich um. Kati steht neben uns und Caleb landet ebenfalls gerade. Verwirrt blicke ich nach oben. Das Seil wirkt unberührt und schwingt nur vom Wind angetrieben sanft hin und her. Wie ist Caleb so schnell runtergekommen?

„Wir müssen weiter nach unten“, meint Sophie. In ihrer Hand hält sie ein altes Buch. Sein Umschlag hat schon mal bessere Tage gesehen. Sie bemerkt meinen fragenden Blick und hält das alte Ding in die Luft.

„Das ist das Tagebuch von dem ich dir erzählt habe. In ihm befinden sich alte Skizzen von einer der Etagen. Die müssen wir jetzt finden.“

Caleb sucht ein geeignetes Geländer, dass noch stabil genug wirkt. Da die meisten Treppen zerstört sind kommen er und Sophie so nicht weiter. Also befestigt er ein weiteres Seil zum abseilen.

 

Auf diese Weise arbeiten wir uns Stückchenweise nach unten. Liam hat wohl genug von seiner kleinen Racheaktion und lässt sich beim weiteren Abstieg mehr Zeit.

Dieses mal kann ich Caleb verstohlen beobachten. Ich habe mich wohl geirrt. Sophie ist die einzige, die das Seil benötigt. Der General hüpft lässig von einer Etage zur nächsten. Ich nehme mir vor ihn bei der nächstbesten Gelegenheit auszuquetschen. Dieser mysteriöse General zieht meinen Wissensdurst magisch an und er wird ihn bald stillen.

Endlich ist Sophie zufrieden und entscheidet sich für die Etage mit der Nummer 22. Die alten, schwarzen Buchstaben prangen an der mit Moos überzogenen Wand und scheinen unsere Wissenschaftlerin magisch anzuziehen.

Wir entschließen uns, uns aufzuteilen um nach möglichst vielen Informationen zu suchen. Caleb und Kati widmend sich der linken, Sophie, Liam und ich der rechte Seite.

 

Diese Etage wirkt noch unberührt. Ganz so, als ob Liam sie damals in seiner Zerstörungswut nicht beachtet hätte. Von hier aus glaube ich sogar, meine Gefängnisetage erkennen zu können. Sie liegt auf der anderen Seite des Verbindungsturmes und ein paar Stockwerke über uns. Mit einem Schaudern wende ich mich unserer Aufgabe zu.

Wir gelangen zur ersten Tür. Sophie atmet genervt aus, als sich die Klinke nicht bewegen lässt. Auch hier hat die Zeit zugeschlagen und die alten Scharniere verrosten lassen.

Ich deute Sophie zur Seite zu treten und blicke Liam abwartend an. Ich grinse in seine Richtung und er scheint sich wohl auch an unsere kleine Entdeckungsreise zu erinnern. Er stellt sich auf die Hinterläufen und lässt seine riesigen Pranken auf die Tür fallen. Mit einem lauten Krachen fliegt sie aus den Angeln und landet auf dem Boden.

Sophie jubelt laut auf und düst in den Raum. Eine Menge Staub kommt uns entgegen und Liam niest lauthals. Ich frage mich wie die Wissenschaftlerin darin nur atmen kann. Es dauert nicht lange und sie kommt enttäuscht wieder heraus. Mit eiligen Schritten nehmen wir die nächste Tür ins Visier.

„Wonach suchst du eigentlich?“, frage ich neugierig, während mein privater Türöffner seinen Dienst verrichtet.

„In den alten Aufzeichnungen meines Urgroßvaters beschreibt er einen versteckten Raum. Leider weiß ich nur, dass er sich auf dieser Etage befindet. Ansonsten habe ich keinen Hinweis.“

Und so widmen wir uns Tür, für Tür, für Tür. Leider findet Sophie einfach nicht, was sie sucht. Wir umrunden einmal die halbe Etage und treffen in der Mitte auf Caleb und Kati. Aber auch die beiden haben keinen Hinweis auf einen versteckten Raum entdecken können.

Frustriert hockt sich Sophie auf den Boden und blättert wie verrückt in dem Tagebuch herum. Die Ziege mit ihrer marine-blauen Hose trabt nervös von einem Bein aufs andere. Ich wage es und stelle mich neben sie.

„Was ist los?“

„Nichts“, murrt sie mich an. Blöde Ziege!

Auch Liam wirkt nervös. Immer wieder sieht er zur Decke hoch und dann zu mir. Er will mich wohl nicht aus den Augen lassen. Gerade als ich einen Schritt auf ihn zumachen will, höre ich ein lautes Summen. Mein Blick wandert gleich nach oben und erschrocken halte ich die Luft an. Jede Faser meines Körpers spannt sich an. Noch ist nichts zu sehen, aber das Summen wird immer lauter und kommt unaufhörlich näher.

Sophie springt auf die Beine und der General strafft seinen Rücken. Die Sekunden vergehen quälend langsam. Das dröhnen des Summens schallt in dem alten Labor wider. Instinktiv weiß ich, dass uns Gefahr droht. Auch Kati und ihre Ziege gehen in Verteidigungsstellung.

Langsam pirsche ich mich an Liam heran. Schritt für Schritt. Millimeter für Millimeter. Den Blick immer noch nach oben gerichtet. Mein Herz setzt plötzlich für einen Moment aus, als ich ein großes, gestreiftes Etwas an der Kuppel erkenne.

Dann weiß ich, was uns angreift: ein Schwarm von Monsterwespen!

So große Insekten habe ich noch nie gesehen. Ihre Flügel vibrieren blitzschnell, um die schweren Leiber in der Luft zu halten. Ihre hauchzarten Flügel verschwimmen in der Abendsonne, die sich zwischen dem Blätterdach durch schiebt. Ein bedrohliches Rot färbt die Umgebung und mein Herzschlag setzt wieder ein.

Dann geht alles plötzlich so schnell. Sophie kommt zu mir gerannt und schnappt sich meine Hand. Wir drängen uns mit dem Rücken an die Wand, zum weglaufen ist es zu spät.

Schüsse erklingen, können das Summen aber nicht übertönen. Kati zielt mit ihrer Waffe auf die riesigen Insekten und trifft ziemlich genau. Einige stürzen bereits in die Tiefe. Liam Brüllt laut auf und zerfetzt seine Gegner mühelos in der Luft.

Sein Fell glänzt wie Stahl, ich weiß sofort, dass er die Legierung einsetzt, um sich vor den Stacheln zu schützen. Der Ziegenmann springt ebenfalls von Biene zu Biene und reißt ihnen die Köpfe ab. Seine klauen bewährten Hände graben sich tief in den Körper der Insekten und verspritzen ihr Blut in einem roten Sprühnebel.

Mein Blick sucht nach Caleb und wiedermal halte ich den Atem an. Er steht auf dem Geländer und hält mühelos das Gleichgewicht. An seinen Handschuhen erscheinen silberne Klingen. Sie blitzen jedes mal auf, wenn er eines der Insekten trifft. Der geübte General zielt auf die feinen Flügel und bringt sie so zu Fall.

„Es sind viel zu viele“ flüstert Sophie entsetzt.

„Woher kommen die?“ Mein Atem entweicht mir nur Stoßweise und ich fiebere mit unseren tapferen Kämpfern mit.

„Ich weiß es nicht.“

Caleb wird von mehreren Wespen auf einmal bedrängt. Er balanciert auf dem Geländer. Duckt sich geschmeidig und springt einem der Angreifer entgegen. Dabei trennt er einen Flügel vom Körper und landet kurz darauf wieder auf dem Geländer.

Er bewegt sich so geschmeidig wie eine Katze. Schon widmet er sich der nächsten. Seine Klingen sausen durch die Luft. Er kann locker mit Liams Angriffsrate mithalten. Einer einzelnen Wespe gelingt es aber seine Verteidigungsmauer zu durchbrechen. Sie kommt direkt auf uns zu.

„Liam!“, kreische ich panisch. Meine Augen jagen über den Boden, um irgendetwas zu finden das ich als Waffe einsetzt kann. Doch weit und breit gibt es nichts, was scharf genug wäre. Sophie und ich weichen aus. Wir stolpern auseinander und dieses Mistding jagt hinter mir her.

Ich versuche auszuweichen, doch es rast in schneller Geschwindigkeit an mich heran. Das Summen dröhnt in meinem Schädel. Mein Kopf droht in tausend Einzelteile zu zerplatzen. Das Insekt richtet sich auf und zielt mit seinem Stachel auf meinen Kopf.

Panisch drücke ich mich an die Wand und drehe mich nach links. Der Stachel kracht auf Metall. Gleich darauf startet die Wespe einen neuen Versuch. Sie ist viel zu schnell. Aus lauter Angst kralle ich mich mit den Fingernägeln in die Wand und such mit dem Blick nach Hilfe. Wo bleibt Liam bloß?

Der Stachel saust auf mich zu und ich kneife meine Augen zusammen. War es das jetzt? Ich höre hinter dem Summen Sophies entsetztes Schreien und Liams lautes Brüllen. Ich höre meinen Namen. Meine Knie geben nach und ich sacke zu Boden.

Der Stachel des Angreifers knallt ein weiteres Mal gegen die metallene Wand. Sie erbebt unter meinem Rücken. Die Wespe dreht sich in der Luft und zielt nach unten. Dieses Mal gibt es kein entkommen mehr.

Plötzlich gibt die Fläche hinter meinem Rücken nach und ich knalle hart auf meinen Hintern. Dunkelheit hüllt mich ein und der Kampflärm ist nur noch von weiter Ferne zu hören.

 

Kapitel 4 - Hintergrundinformationen zum Allgemeinwissen

 Kapitel 4.1 - Generationsunterschied

 

Wenn Sie einen genauen Blick in die Vergangenheit

werfen, können Sie feststellen, dass sich bei der

Ausbildung der Bestien einiges Verändert hat.

Deshalb raten wir Ihnen sich die Aufzeichnungen

ihrer Vorfahren einmal genauer anzusehen. Tauschen

sie sich doch mal mir ihrer Familie aus, um die

unterschiedlichen Erziehungsmethoden zu vergleichen.“

 

Alles ist in Dunkelheit gehüllt und mein Hintern schmerzt wie verrückt. Scheinbar bin ich auf eine Stufe gefallen und direkt auf der Kante gelandet. Ich taste mühsam mit den Händen den kalten Boden ab. Der Staub klebt an meinen verschwitzten Fingern und mein Herz hämmert immer noch wie der Flügelschlag eines kleinen Kolibris.

Vorsichtig stehe ich auf und strecke meine Arme aus. Vielleicht finde ich ja einen Lichtschalter. Klar, als ob der jetzt noch funktionieren würde! Ich mache einen Schritt nach vorne und meine Finger ertasten die Stahlwand. Kühl und trocken. Millimeterweise schiebe ich meine Füße voran, in der Hoffnung auf keinen Widerstand zu stoßen.

Endlich erreiche ich die Wand und mit einem erleichterten Seufzen lehne ich mich an. Mit dem Ohr am kalten Stahl lausche ich nach meinen Begleitern. Der Kampf scheint noch weiterzugehen. Das Summen ist nur noch sehr schwach zu hören. Wie durch einen Schleier nehme ich die Stimmen von Caleb und Kati wahr. Sie scheinen sich etwas zu zu brüllen.

Geht es ihnen gut? Können sie die Schar von Angreifern besiegen?

Nach einer Weile sinnlosen lauschens gebe ich auf. Was kann ich so schon ausrichten? Mit den Händen taste ich die ganze Wand entlang, finde aber den Mechanismus nicht, der die Tür öffnet. Frustriert wandere ich weiter vorwärts.

Plötzlich bleibe ich mit der Hosentasche an etwas hängen. Ich befingere das metallene Ding. Es lässt sich nach unten Kippen und mit einem lauten Brummen bringe ich etwas in Gang. Flackernd entzündet sich die Neonröhre an der Decke und blendet meine Augen.

Ich glaube das einfach nicht. Hier gibt es tatsächlich noch Strom? Aber warum funktioniert er hier und nicht weiter oben. Ich musste meine Zeit damals im Dunkeln aussitzen.

Verdutzt lasse ich den Blick schweifen. Ein Labor! Das muss der Raum sein nach dem Sophie sucht.

Alte mechanische Geräte, die ich nicht einordnen kann, reihen sich an der Wand mir gegenüber aneinander. Sie sind nur ungefähr sechs Schritte von mir entfernt. Die Kästen sind eckig und mit einer Glastüre versehen. Ich trete an sie heran und spähe ins Innere. Leer. Das waren wohl alten Brutkästen.

Links von mir stehen sechs Tische. Sie sind voll mit Zangen, Spritzen, Skalpellen und anderen bizarren Gegenständen. Das alles hat einen Horrorflair und jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Bin ich in Frankensteins Geburtshaus gelandet?

Der Raum an sich ist ziemlich eng und stickig. Die Tische stehen parallel zueinander und nur eine einzelne, schlanke Person kann zwischen ihnen durchlaufen. Hinter der Tischreihe steht ein großer, verbeulter Aktenschrank. Seine Türen stehen weit offen und eine Vielzahl von Zetteln, Aktenordnern und Büchern blickt von dort aus in das verstaubte Labor.

Ich drehe mich um und entdecke rechst von mir eine leere Wand. Ein einzelner Belüftungsschacht hängt halb in der Luft. Der Zugang steht offen und das Gitter liegt am Boden. Scheinbar hat sich hier jemand heraus geschlichen.

Ob das wohl dann auch mein Ausgang wird?

Doch bevor ich mir den Belüftungsschacht genauer ansehe, widme ich mich dem Aktenschrank. Vielleicht finde ich hier endlich einen Hinweis auf Liams Erschaffung.

Ich drück mich an den Tischen vorbei und stoße dabei versehentlich ein Mikroskop um. Die kleine Linse rollt klappernd auf den Boden. Ich bücke mich und greife danach, um sie wieder zurück zu legen, da fällt mir ein Foto auf. Es ruht unter einem der Tische und schien bis jetzt in Vergessenheit geraten zu sein.

Ich greife danach und tauche schnell wieder auf. Verwirrt starre ich den Mann auf dem halb verblichenen Bild an. Er sieht sehr streng aus, ähnelt aber dem Bild von dem Mann in Sophies Zimmer. Neben ihm steht eine Frau in Militärkleidung.

Ungläubig fange ich an zu blinzeln. Zu ihren Füßen sitzt eine kleinere Version meines Liams. Ist das da wirklich mein Liam? Sie sieht so grimmig und missgelaunt aus. Wenn ich richtig liege, dann müsste die Frau sein ehemaliger Master sein.

Neben ihr steht noch eine andere junge Frau. Sie hält in ihrem Arm einen Aktenkoffer umklammert und strahlt in die Kamera. Ihre Augen leuchten mit so viel Lebenslust und Liebe. Wärme breitet sich in mir aus. Sofort finde ich sie sympathisch. Auf eine eigenartige Art und Weise kommt sie mir bekannt vor. Ich lasse das Foto in meiner Hosentasche verschwinden und pirsche mich weiter an den Schrank heran.

Alles in diesem Raum wirkt trocken und Staubig. Die Feuchtigkeit hat wohl keinen Weg herein gefunden. Auch der Blätterstapel im Schrank ist trocken geblieben und deshalb sehr gut erhalten. Nur leider sagt mir das Zahlen- und Buchstabenchaos nichts. Ich blättere einige Seiten durch, doch der Sinn dahinter erschließt sich mir einfach nicht.

Resignierend nehme ich mir die Aktenordner vor. Auf ihrer Rückseite sind Buchstaben und Zahlen gekritzelt. Sie erinnern mich an die wissenschaftlichen Bezeichnungen der Bestien.

 

XP-303-GP4 XL-909-GP4

XC-205-GP4 XM-107-GP4

XF-608-GP4 XT-409-GP4

 

Insgesamt gibt es zwölf Order. Alle mit der Endung GP4. Was das wohl bedeutet? Liams Ordner fehlt allerdings. Irgendwie habe ich nichts anderes erwartet.

Ich nehme mir den ersten mit der Aufschrift XP-303-GP4 und schlage ihn auf. Das erste Blatt ist eine detaillierte Zeichnung.

Diese Bestie steht auf vier Beinen, trägt einen Adlerkopf, vier Hufen als Füße und hat einen langen Schlangenschwanz. Auf ihrer Haut sind schuppenförmige Zeichen skizziert.

Ich blättere um. Die nächste Seite zeigt den eingeteilten Master. Ein Mann Namens William Stone. Er ist 35 Jahre alt, hat ein schelmisches Grinsen auf den Lippen und kommt aus Illinois. Sein gesamter Lebenslauf ist beschrieben.

Die nächste Seite zeigt eine Reihe von graphischen Zeichnungen. Unter anderem sind Prozentsätze aufgeführt.

Beim genaueren hinsehen wird mir klar, dass hier die detaillierte Zusammensetzung beschrieben wird. Leider benutzt Professor Gillian viele Fachbegriffe, die bei mir nur einen Gehirnknoten verursachen. Also blättere ich weiter.

Die folgenden Aufzeichnungen beschreiben die Entstehung, Ausbildung und dann die Aufträge der Bestie. Alles wurde genau datiert. William scheint insgesamt 7 Jahre erfolgreich gearbeitet zu haben, bevor er in Kanada gestorben ist. Irgendein Drüsenfieber.

Diese Ordner sind tatsächlich die letzten Überreste von Professor Gillians Experimenten. Ich muss einen Weg finden sie mitzunehmen und sie Sophie zu zeigen. Nur sie kann das Kauderwelsch verstehen und vielleicht Rückschlüsse auf Liam ziehen.

Im Ordner von XC-205-GP4 finde ich heraus, dass ein Junger Schotte namens Joseph McQuinzi sich eine Bestie hat erschaffen lassen, die ebenfalls auf vier Beinen läuft. Allerdings hat diese hier ein sehr zerzaustes Fell, einen Tigerkopf, einen Stummelschwanz, vorne Klauen und hinten Hundepfoten.

Was für eine interessante Kreatur. Ob Josephs Nachkommen wohl wissen, dass ihr Vorfahr eine Bestie trainiert hat und mit ihr unzählige Aufträge erfolgreich erfüllt hat?

Weil das ganze so unglaublich interessant ist, nehme ich mir einen weiteren Order. Diese Bestie wurde als XF-608-GP4 bezeichnet.

Als ich die Zeichnung betrachte stoße ich einen staunenden Pfiff aus. Sie ist wunderschön.

Seidig-glänzende, schwarze Flügel ragen aus dem muskulösen, mit Federn bedeckten Rumpf heraus. Die Vorderpfoten krallen sich mit ihren Vogelklauen in den Untergrund, während die Hinterhufen eines Stieres den prächtigen Körper halten. Der Kopf eines Kojoten setzt gerade zum Heulen an.

Der Zeichner des Bildes muss diese Kreatur selbst sehr geliebt haben. Ich blättere um und mein Atem stockt. Plötzlich fangen meine Hände an zu zittern und ich glaube einfach nicht, was ich da sehe.

Das Bild einer zwölfjährigen blickt mich mit ihren klugen Augen an. Das zerbrechlich wirkende Mädchen trägt zwei Zöpfe, die nach hinten geflochten wurden. Ihre Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen, ganz so als ob sie jeden Moment zu Lachen anfangen würde.

Als ich den Namen lese sacke ich in mir zusammen. Mein Knie geben nach und ich lasse mich auf den kalten Boden plumpsen. Der Schock sitzt tief in meinen Knochen und die Tränen steigen mir unweigerlich in die Augen. Rosalinde Blum. Ich kenne dieses Mädchen leider nur zu gut.

Meine Großmutter hat mir früher oft von ihre erzählt. Auch heute noch werden die Geschichten um Rosalinde bei unseren Familientreffen herausgeholt, um ihr Leben zu ehren und es nie in Vergessenheit geraten zu lassen.

Rosalinde, meine Großtante. Die älteste Tochter von Alfred und Frida Blum. Meinen Urgroßeltern.

Meine Oma Meta hat mir oft von ihrer Schwester und ihrem plötzlichem Verschwinden im Herbst 1940 erzählt. Beim Anblick des Mädchen kommt diese altbekannte Geschichte wieder in mir hoch. Ich zittere wie Espenlaub. Kann das wirklich wahr sein? Ist sie das tatsächlich?

Ein Vorhang aus Tränen verschleiert mir die Sicht. Der Duft nach frisch gebackenem Brot, Rosen und längst vergangenen Tagen schleicht sich in mein Unterbewusstsein. Plötzlich bin ich wieder acht Jahre, sitze auf dem Schoß meiner Oma und lausche ihren Worten, als wäre es gestern gewesen:

 

Es war im Herbst 1940, als meine Eltern Alfred und Frida nur kurz eine Tante im Nachbardorf besuchen wollten“,seufzend streichelt sie mir den Pony aus den Augen. Ihre eigener Blick ist in die Vergangenheit gerichtet und wirkt unendlich traurig.

Sie beauftragten Rosi und mich damit auf unsere jüngeren Geschwister aufzupassen. Der Tag verlief Reibungslos, doch am Abend bemerkte Rosi, dass die Milch ausgegangen war“ bedauernd sieht sie mich an. „Mutter hatte meiner Schwester für den Notfall 80 Pfennige da gelassen und so machte sich auf den Weg, um die Wünsche unserer kleinen Schwester zu erfüllen.

Es sollte nicht länger als zwanzig Minuten dauern, versprach sie mir und ich sollte auf unsere zwei kleineren Schwestern aufpassen. Mit meinen sieben Jahren nahm ich die Aufgabe tapfer entgegen und fühlte mich ihr gewachsen.“ Jetzt schwand ein wenig Stolz in ihrer Stimme. Sie atmete dann tief durch wendete ihren Blick auf das Bild über dem Kamin.

Doch Rosi kam an diesem Abend von ihrem Einkauf nicht mehr zurück. Nach einer unendlich langen Nacht des Wartens kamen unsere Eltern endlich wieder nach hause. Geschockt über die Abwesenheit ihrer ältesten Tochter machten sie sich auf die Suche.

Das ganze Dorf war in heller Aufruhr und suchte fast über einen Monat lang nach ihr. Doch es gab keine Spur von der Kleinen. Rosalinde wurde nie wieder gesehen.

Noch heute trauere ich um sie. Ich möchte, dass du diese Geschichte niemals vergisst und immer an deine Großtante Rosi denkst, meine Kleine.“ Mit diesen Worten beendete sie stets ihre Erzählung und meistens bot sie mir eine Tasse Kakao an, um mein Herz wieder aufzuwärmen.

 

Nickend hatte ich es ihr damals geschworen und eingehalten. Tränen mischen sich mit meinem Schweiz. Plötzlich ist es hier viel zu stickig, viel zu eng. Dieser Umstand reißt mich aus der Vergangenheit und holt mich in die Gegenwart zurück.

Das Foto dieser zwölfjährigen schockt mich tief. Ich erkenne sie von dem Familienportrait, dass in dem Geburtshaus meiner Mutter hängt und ich weiß zu hundert Prozent, dass sie es ist.

Bis heute fehlt von Rosalinde jede Spur. Die Polizei hat sie ein Jahr nach ihrem Verschwinden für tot erklärt, aber meine Oma glaubt nicht an ihren Tot. Was würde sie wohl sagen, wenn ich ihr von meinem Fund berichte? Was kann ich ihr überhaupt berichten?

 

Hallo Oma, lange nicht gesehen. Ich weiß dass klingt jetzt seltsam, aber du hattest recht. Rosalinde ist damals nicht gestorben. Sie wurde von einer geheimen Organisation entführt und zu einem Master ausgebildet, die mit ihrer Bestie XF-608-GP4 Aufträge im Namen des Friedens erfüllt hat. Aber keine Sorge ich bin mir sicher sie hat dich ganz dolle vermisst. Es gab bestimmt einen guten Grund warum sie nicht zurück kommen konnte.“

 

Mir wird übel. Ich kämpfe schwer mit der Galle, die meine Speiseröhre nach oben klettert. Das alles ist wie in einem alten Horrorfilm. Eine unschuldige, großherzige zwölfjährige wird in ein geheimes Labor entführt und zu einer eiskalten Bestienherrin umerzogen.

Ich hätte mir niemals im Traum einfallen lassen können, dass das Kind aus den Erzählungen für mich so real wird. Rosalinde hat also etwas ähnliches durchgemacht wie ich. Sie musste auch unsere Familie hinter sich lassen, um sich ganz Gimini Intercorbs und seinen Bestien zu verschreiben. In meinem Fall stimmt der alte Spruch also: Geschichte wiederholt sich.

Ich lehne mich an die offenstehende Schranktür und blättere weiter nach hinten. Beim Überfliegen stelle ich fest, dass Rosalinde scheinbar ein liebevoller Master war. Sie hat ihre Bestie mit viel Hingabe erzogen und so einen treuen Partner erhalten. Sie berichtet von ihren gemeinsamen Aufträgen oder einfach von einem lustigen Erlebnis.

Ihre Handschrift ist sehr elegant und gut zu lesen. Leider finde ich kein einziges Wort über ihre Vergangenheit oder ihre Sehnsucht nach ihrem zu hause. Dafür aber scheint es ihr gut ergangen zu sein. Ihre fröhliche Art findet sich in ihren Berichten wieder.

Ich blättere weiter. Der letzte Eintrag wurde mit einer anderen Handschrift verfasst. Das weckt meine besondere Aufmerksamkeit.

 

15.November 1950

 

Rosalinde erhielt den Auftrag die Zielperson innerhalb der afrikanischen Grenzen zu beseitigen. Ihre Bestie wurde kurz vor der Morgendämmerung von dem feindlichen Trupp erspäht und aus dem Luftraum geschossen. Rosalinde befand sich zu dieser Zeit auf dem Rücken von XF-608-GP4. Ihr Tod wurde heute Abend um 17:00 Uhr offiziell bestätigt. Der Leichnam, sowie die Überreste der Bestie sind nicht auffindbar. Ihr Verlust schmerzt mich besonders, da ich Rosalinde als meine Tochter betrachtet habe. Auch meine Frau hat bitterlichst geweint. Leider musste diese begabte Trainerin viel zu früh von uns gehen.

Professor Xavier Gillian

 

Tränen laufen heiß meine Wangen herab. Meine Großtante ist also im zarten Alter von 22 Jahren in Afrika vom Himmel geschossen worden. Da ist es mir lieber, dass meine Oma noch an ihr Überleben glaubt. Ihr achtzigjähriges Herz würde diese Vorstellung nicht verkraften.

Ich bleibe wie betäubt sitzen und lasse die Geschichte auf mich wirken. Obwohl ich Rosalinde nie begegnet bin geht ihr Schicksal mir sehr nahe. Viel zu nahe.

Wird mir das auch passieren? Werde ich bei einer dieser Missionen sterben, die mir Gimini Intercorbs aufzwingt? Meine Familie glaubt sowieso bereits, dass ich tot bin. Also ist es dem Institut doch egal, wie, wo und wann ich sterbe.

 

Ich bemerke erst, dass der Kampflärm nachgelassen hat, als es laut zu donnern anfängt. Ich blicke mit tränenverschwommenen Augen nach oben. Gewittert es?

Betäubt schüttle ich meinen Kopf. Reiß dich zusammen! Ich kann mich jetzt nicht gehen lassen! Trotzig wische ich mein Gesicht am Ärmel ab. Alles was ich für Rosalinde noch tun kann, ist, mich an ihr Leben hier zu erinnern und ihre Existenz in Ehren zu halten.

Ein wenig bin ich erleichtert, dass Liam nicht für ihren Tod verantwortlich ist. Wie hätte ich mich ihm gegenüber sonst verhalten sollen?

Wieder donnert es laut. Ich runzle die Stirn, dann dämmert es mir. Irgendetwas ober besser gesagt, irgendwer, hämmert gegen die Wand, durch die ich gefallen bin.

„Tamara?“, kommt es leise von der Gegenseite. Wieder ein Donnern. Ich sammle den Ordner auf und lege ihn behutsam beiseite. Dann schiebe ich mich wieder an den Tischen vorbei und bleibe vor der Wand stehen. Bei jedem Donnern vibriert sie zart, wird aber nicht durchstoßen.

„Tamara?“, Sophies verzweifelte Stimme dringt in mein Gehirn. Dann höre ich ein weiteres Donnern gefolgt von lautem Fluchen.

„Das reicht jetzt XS-707-GP4! Hör endlich auf damit!“, brüllt der General meinen Liam an. Scheinbar will mein Partner die Wand mit seinen Pranken einreißen. Dieser aber brüllt nur lauthals zurück und bringt die Wand erneut zum Beben. Er lässt sich eben nur von mir etwas sagen.

Die Luft wurde in den letzten Minuten, oder sind es bereits Stunden?, immer stickiger. Das Atmen fällt mir zunehmend schwerer. Langsam muss ich hier raus.

„Liam ist ja gut. Hör auf“ zärtlich streiche ich über die Wand und versuche meinen treuen Freund zu beruhigen. Das Donnern hört schlagartig auf. Stille.

„Tamara?“

„Sophie!“ Erleichterung macht sich in mir breit. Sie können mich ebenfalls hören.

„Oh mein Gott! Geht es dir gut?“

„Ja alles in Ordnung.“

„Bist du verletzt?“, kommt es vom General. Seine Stimme hat einen sehr besorgten Unterton. Irrwitzigerweise bringt es mich zum schmunzeln, dass mich der General ausgerechnet jetzt zum erstem mal Duzt.

„Nein“, lüge ich. Mein Hintern brennt immer noch wie Verrückt und meine Seele schmerzt. Aber das braucht jetzt keiner zu wissen.

„Wie bist du denn da rein gekommen?“ Sophies Begeisterung sickert durch die Stahlwand und zaubert ein weiteres Lächeln auf meine Lippen.

 

Kapitel 4.2 - Aufträge

 

Bevor Sie einen Auftrag erfüllen können, ist es wichtig sich gut

darauf vorzubereiten. Kalkulieren Sie sämtliche Möglichkeiten

ein und überlassen Sie nichts dem Zufall. Greifen Sie dafür auf

ihre Ausbildung beim Militär zurück. Auf diese Weise

garantieren Sie ihre sichere Rückkehr und die Erfüllung

des Auftrages.“

 

Ich fahre mit den Handballen über das kühle Metall und frage mich das gleiche. Wie bin ich hier nur reingekommen?

Das Letzte woran ich mich erinnern kann, ist dass mich eine der Wespen angreifen wollte. Meine Knie haben nachgelassen und ich habe mich mit dem Rücken an die Stahlwand gelehnt.

Dabei hat die Wand plötzlich nachgegeben und ich bin hier gelandet. Aber egal wie gründlich ich die Stelle absuche, durch die ich hier hereingekommen bin, ich kann den Öffnungsmechanismus einfach nicht finden.

Die Zeit wird auch langsam knapp. Scheinbar hat sich über die Jahre etwas Sauerstoff angesammelt und wurde hier eingeschlossen, aber jetzt verbrauche ich den kläglichen Rest. Meine Lungen saugen gierig die verbrauchte Luft ein, aber viel ist nicht mehr übrig. Panik macht sich in mir breit wie ein gefräßiges Untier, dass alles und jeden verschlingen will.

„Sophie! Hol mich hier raus!“ kreische ich ihr entgegen.

„Beruhige dich Tamara, eine Panikattacke bringt dich nicht weiter.“ Die feste Stimme des Generals rettet mich vor meiner Angst. Wie an einem rettenden Seil klammere ich mich daran fest. Ich versuche meinen Herzschlag zu beruhigen und den Nebel aus meinem Gehirn zu vertreiben. Denk nach Tam! Denk nach!

„Sieh dich um. Gibt es wirklich keinen Weg nach draußen?“

Mein Blick irrt über die Tische, den Aktenschrank, die Kästen an der Wand und bleibt schließlich an dem Lüftungsschacht hängen.

„Hier ist ein Lüftungsschacht.“

„Sehr gut. Sieh ihn dir an!“

Ich überwinde die kurze Distanz zu dem gammeligen Schacht und spähe Angewidert ins Innere. Das Gitter, welches wohl einst die Öffnung versiegelt hatte, liegt verbeult auf dem Boden. Scheinbar hat irgendwer das Ding in größter Eile aus der Verankerung gerissen und achtlos fallen gelassen.

Gähnende Dunkelheit empfängt mich und der Geruch nach altem Schimmel juckt mir in der Nase. Ich halte angespannt den Atem an und versuche irgendetwas zu erkennen. „Ich klettere mal hinein“, brülle ich zu der Wand, hinter der meine Freunde warten.

„Sei aber vorsichtig!“, antwortet sie besorgt.

Mit den Armen gehe ich voran und grusle mich vor dem, was sich darin wohl verbergen mag. Aber lieber scheuche ich ein paar Spinnen auf, als dass ich hier langsam und qualvoll ersticke. Mit den Händen taste ich den Eingang ab um einen eventuellen Widerstand aufzuspüren. Der Weg ist aber zum Glück frei. Also halte ich mich an einer Kante fest und ziehe die Beine hinterher. Auf Knien rutschend wage ich den Erkundungsausflug.

Staub und Spinnweben stellen sich mir in den Weg. Angewidert wische ich sie fort und krieche weiter. Die Muskeln in meinem Rücken spannen sich an. Immer wieder muss ich aufpassen, dass ich nicht an der Decke anstoße. Ich kann die Hand vor den Augen nicht sehen, wie soll ich da einen Ausgang finden?

Ich taste mich immer weiter nach vorne und habe das Gefühl, als ob die Luft immer dünner wird. Unter mir knarrt das alte Metall und protestiert gegen mein Gewicht. Mein Herz pumpt lautstark um den verbleibenden Sauerstoff in meinem Körper herumzuführen. Immer wieder wirble ich Staub und Dreck auf. Die Luft wird stickiger und es kratzt in meinem Hals. Ich huste und knalle dabei mit einem lauten Donnern mit dem Kopf an die Decke.

Mein Schädel dröhnt. Na toll. Das gibt bestimmt eine mächtige Beule. Trotz der Umstände will ich nicht aufgeben! Ich strecke meine Hände wieder aus und will mich weiter vor tasten, doch es geht nicht mehr weiter. Der Schacht scheint in sich zusammengefallen zu sein.

Meine klammen Finger ertasten die Dellen, Beulen und das verbogene Gehäuse des Luftschachtes. Das war es wohl dann mit meinem Fluchtversuch. Wieder rinnen mir diese lästigen Tränen die Wange herab. Verzweiflung packt mich am Nacken.

Ich bin ja so dumm. Wäre der Luftschacht noch offen, dann hätte ich doch keine Probleme mit der Sauerstoffversorgung!

Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich rückwärts wieder der einzigen Öffnung entgegen zu schieben. Trotzig schüttle ich die nervige Verzweiflung ab und zwinge meinen Körper sich wieder in Gang zu setzten.

Als ich mit den Knien weiter rutsche, ertaste ich auf einmal etwas ledernes unter mir. Verwirrt nehme ich es in die Hand. Eine Tasche? Warum ist sie mir nicht schon vorher aufgefallen?

In der Dunkelheit kann ich es nicht genau erkennen, also nehme ich das Fundstück einfach mit nach draußen. Ungeschickt lande ich auf meinen lädierten Hintern und fluche Lauthals.

„Tamara, alles in Ordnung?“, fragt Sophie besorgt. Ich nicke. Dann fällt mir wieder ein, dass sie mich ja nicht sehen kann.

„Ja. Aber der Lüftungsschacht ist eine Sackgasse.“

Ich kann hören, wie sich der kleine Trupp draußen unterhält. Scheinbar suchen sie nach einer Lösung meines Problems.

Ich ziehe die Aktentasche an mich heran und staune nicht schlecht. Das helle Leder ist zwar ausgeblichen, aber ansonsten sehr gut erhalten. Ich öffne die Schnalle und werfe einen Blick hinein.

Vorsichtig ziehe ich einige Papiere heraus, einen alten Kalender und ein Diktiergerät aus Omas Jugendzeiten. Das es so etwas damals schon gab? Ich runzle verwirrt die Stirn.

Auf den Papieren erkenne ich eine Zeichnung. Mein Herz schlägt wie wild. Das ist …. Liam! Mein Partner sieht mich mit leuchtenden Augen an und hat sein Fell, wie zum Angriff, aufgestellt.

Ich durchsuche die anderen Blätter und muss feststellen, dass das endlich einzelne Seiten aus Liams Akte sind. Scheinbar hat der Flüchtling von vor 70 Jahren diese Blätter gestohlen und wollte sie über den Lüftungsschacht nach draußen bringen.

Was aber passiert ist, weiß ich nicht und eigentlich will ich es mir auch nicht vorstellen. Ich entdecke einen alten Lebenslauf von Liams erster Herrin. Oben in der Kopfzeile steht mit dicken Buchstaben der Name: Magdalena Ashtray. Das verblichene Bild sieht mich klagend an.

Und wie ich es geahnt habe, ist sie auch die Frau von dem ersten Foto. Streng und irgendwie arrogant. Schnell blättere ich um. Auf den andern Seiten finde ich einzelne Trainingsberichte. Alle wurden sie von Magdalena persönlich verfasst. Ihre Handschrift ist sehr akkurat und wirkt streng und unnahbar.

Leider fehlt das Blatt mit der genauen Zusammensetzung. Aber anhanden von Magdalenas Aufzeichnungen sollten wir neue Hinweise gewinnen. Ich nehme mir vor das alles in Ruhe zu sichten, wenn wir wieder im Institut sind. Aufgeregt wühle ich in der Tasche und fische ein weiteres Foto an die Oberfläche. Dieses mal erkenne ich Magdalena sofort. Ihre militärisch zusammengebundenen Haare, ihr stählerner Blick und die gebügelten Hosen zeigen, dass sie eine sehr strenge Frau gewesen sein muss.

Sie sitzt an einem Tisch und vor ihr liegt wohl Liams Akte. Neben ihr lächelt eine junge Frau in die Kamera. Auch vor ihrer Nase liegt eine dicke Akte und in der Hand hält sie einen alten Füller.

Jetzt weiß ich, wer diese Frau ist, die mir auch schon von dem anderen Foto bekannt vorkam. Rosalinde.

Waren Magdalena und Rosalinde einst Freunde gewesen?

Ich hole das andere Bild aus meiner Hosentasche und stecke es mit dem neuen Fund wieder in die Aktentasche zurück.

Von draußen kann ich schon wieder das Donnern hören. Liam hat scheinbar die Geduld verloren und mit seiner Befreiungsaktion von vorne angefangen. Ob er in der Lage ist diese Wände einzureißen?

Meine Lunge krampft sich plötzlich zusammen und mir wird kurz schwindlig. Kleine schwarz Punkte tanzen in der Luft. Schnell räume ich alles wieder in die Tasche zurück. Dann stehe ich vorsichtig auf und schnappe mir den dicken Ordner von Rosalinde.

Die losen Papiere aus dem Schrank stopfe ich lieblos in eines der vielen Fächer der Aktentasche. Dann suche ich mir noch zwei leichtere Ordner, die ich tragen kann und kehre so bepackt an meine Eingangswand zurück.

Erschöpft lehne ich mich an und ziehe die Knie an meinen Körper. Ich umklammere die Akten und drücke sie an meine Brust.

„Beeilt euch bitte. Mir geht die Luft aus.“ Meine Stimme entweicht mir nur noch als flüstern. Mein Körper gibt plötzlich zu schnell nach. Ich schließe die Augen und kämpfe um mein Bewusstsein. Verdammt. Warum muss immer ich in solche Situationen geraten. Dabei bin ich doch nur eine einfache Erzieherin aus einer Kleinstadt, die nicht mal in der Lage ist ohne fremde Hilfe Feuer zu machen.

 

Liams Brüllen reißt mich aus meinem Dämmerzustand. Seine Krallen schaben wie verrückt über das Metall. Die ganze Wand beginnt zu beben.

„Liam, hol mich hier raus. Ich ersticke gleich“, flehe ich mit lahmer Zunge. Sein Brüllen wird immer mächtiger. Gefährlicher. Spürt er das die Zeit knapp wird?

Auf einmal dringt wieder das Summen unzähliger Flügelschläge durch die dicke Wand. Sie sind zurück. Ich höre wie Caleb und Kati zeitgleich laut fluchen. Die Schläge gegen die Wand werden immer stärker, drängender.

Wenn ich doch nur wüsste, wie ich hier herauskomme.

Meine Augen tasten noch einmal die Wand ab. Irgendetwas muss es doch geben. Irgend ein Mechanismus oder eine Art Hebel. Meine Augen gleiten über die Wand, suchen, suchen und suchen. Plötzlich bleibt mein Blick an einer Unebenheit hängen. Was ist das? Eigentlich sollte die Wand glatt sein, doch an einigen Stellen kann ich kleine Dellen erkennen.

Mein Blick irrt hektisch über die anderen Wandabschnitte. Nur an dieser Stelle gibt es diese Dellen.

Jeweils fünf davon bilden einem Halbkreis. Ihre Abstände sind fast gleichmäßig. Was ist wenn …? Zweifelnd und hoffend zugleich rutsche ich an die Wand heran. Ich lege meine Beute auf meinen Schoß und setze mich genau gegenüber der Vertiefungen.

Das Donnern von draußen hat nachgelassen. Liam brüllt dafür umso wütender.

Kraftlos lege ich meine Fingerspitzen genau auf die Dellen und drücke. Nichts. Ich drücke fester, aber es geschieht immer noch nichts. Seufzend lasse ich meinen Kopf gegen die undurchdringliche Mauer sinken.

Ich sauge den restlichen Sauerstoff tief in meine Lungen ein und stemme mich nochmal mit aller Kraft dagegen. Mit viel Schwung gibt die Wand endlich nach und ich plumpse unsanft auf den Boden.

Die Akten und die Tasche landen unter mir und stechen in meine Hüfte. Meine Lunge giert nach dem frischen Sauerstoff und trinkt sich satt. Langsam weicht die Benommenheit und ich rolle mich auf den Rücken.

Geschockt blicke ich dem Chaos entgegen. Der Wespenschwarm greift uns wieder an. Es scheinen mehr geworden zu sein. Kati blutet an einem Arm und versucht den Angreifern auszuweichen. Sie tritt gegen die fetten Leiber. Ihre Waffen liegen achtlos auf dem Boden. Wahrscheinlich ohne Munition.

Kati´s Bestie steht an ihrem Rücken. Auch sie sieht sehr mitgenommen aus. Ihr rinnt Blut am ganzen Körper herab. Beide kämpfen Rücken an Rücken und verschaffen so ihrem Partner Deckung.

Liam springt weiter oben von Insekt zu Insekt. Seine Augen glühen rot und gefährlich. Mist. Er ist wieder im Berserkermodus. Er hat die Kontrolle verloren. Seine Klauen und Zähne zerfetzen förmlich ihre Gegner mit Leichtigkeit. Die toten Leiber rieseln in die Tiefe, wie ein heftiger Sommerregen. Kleine Bluttröpfchen verteilen sich in der Luft und legen sich auf mir nieder. Ich erschaudere. Die Luft stinkt nach Blut, Tod und Eingeweiden. Widerlich!

Sophie drängt sich hinter den General und blickt mit großen Augen zu mir. Caleb hat alle Hände zu tun, um die fünf Wespen aufzuhalten die unaufhörlich auf ihn ein stürmen.

Dann höre ich ein unheilvolles Summen an meinem Ohr. Langsam drehe ich mich um und fluche ungehalten. Eine der Wespen hat mich entdeckt und angepeilt. Oh, Scheiße.

Schnell umklammere ich meine Beute, rapple mich auf und nehme die Beine in die Hand. Ohne groß darüber nachzudenken rase ich auf den Abgrund zu. Mein Pulsschlag hat sich auf 180 erhöht. Gequält pumpt mein Herz den gerade erst gewonnen Sauerstoff in meine Muskeln und versorgt mich mit genügend Adrenalin.

Ich sprinte um mein Leben. Dicht hinter mir ist die Wespe. Ohne anzuhalten springe ich mit geschlossenen Augen in den Abgrund.

„LIAM!!“ Mein Schrei wird von den Wänden wiedergegeben. Ein lautes Brüllen antwortet. Als ich die Augen öffne rast der Abgrund auf mich zu.

Kein Liam.

Wo ist er?

Ich drehe mich in der Luft und muss feststellen, dass mein Retter von einem dicken Schwarm Wespen aufgehalten wird.

Panik! Hilfe! Die Luft saust an mir vorbei oder sause ich an der Luft vorbei? So hatte ich mir das nicht gedacht. Ich kreische nach meinem Partner, doch der kann sich einfach nicht von seinen Angreifern befreien.

Ein verzweifeltes Jaulen dringt an mein Ohr. Ich schließe meine Augen und bete. Immer diese Kurzschlussaktionen.

 

Kapitel 4.3 - Freizeit

 

Wie Sie ihre Freizeit gestalten ist Ihnen überlassen.

Nutzten Sie sie für ihre wohlverdienten Erholungsphasen

und zur persönlichen Weiterentwicklung. Falls Sie das

Gelände während ihrer Freizeit verlassen wollen,

dann stellen Sie einfach einen Antrag bei ihrem

Vorgesetzten.“

 

 

Etwas zischt an mir vorbei und plötzlich wird mein Körper von zwei kräftigen Armen umfangen. Ich öffne meine Augen und blicke zwei schlitzförmigen Pupillen entgegen. Mit einem Ruck landen wir sanft auf einem der Absätze. Der Abgrund ist nicht mehr weit entfernt. Das war knapp!

Blinzelnd wird mir klar, wer mich da aufgefangen hat: Caleb.

„Bist du wahnsinnig?“, faucht er mich an. „Ich glaub,wir müssen mal ein ernstes Wörtchen reden!“

Ich versuche liebenswürdig zu lächeln. „Es hat aber funktioniert.“

„Was hat funktioniert?“, fragt mein Retter skeptisch und immer noch außer sich.

„Ich wurde aufgefangen!“ Mit Humor versuche ich meine Todesangst zu überspielen. Beinahe wäre ich auf dem Boden aufgeknallt. Beinahe wäre ich wirklich gestorben! Zum dritten Mal für heute! Was für eine Bilanz.

Bevor Caleb seinem Frust Luft machen kann durchbricht ein Schrei unsere kleine Auseinandersetzung. Fluchend setzt er sich wieder in Bewegung. Ich klammere mich mit einem Arm an seinem Hals fest, um ja nicht noch einmal beinahe den Boden zu küssen. Mit dem anderen drücke ich meine Beute fest an meinen Körper. Jetzt ist es wichtig nichts zu verlieren, sonst wäre diese ganze Aktion hier umsonst gewesen.

Mit mir im Gepäck schlängelt er sich an den Wespen vorbei. Geschmeidig weicht er ihnen aus und wir jagen Blitzschnell nach oben, landen dann eine Etage über Sophie.

Ich suche nach Liam und stelle erleichtert fest, dass er seine Gegner endlich abschütteln konnte. Jetzt thront er bedrohlich vor Sophie und versucht sie zu beschützen. Sofort wärmt sich mein Herz für diese treue Seele.

Sein silberner Blick wandert kurz zu Caleb. In einer stummen Abmachung nicken beide mit ihren Köpfen und Caleb macht sich weiter an den Aufstieg. Wie gelingt es Caleb bloß sich mit Liam zu verständigen? Ist das so ein Männerding? Zum Glück hat sich Liam etwas beruhigt und er ist wieder er selbst.

Kati klettert ungeschickt auf den Rücken ihrer Bestie und folgt uns. Ich werfe einen Blick über Calebs Schultern und stelle erleichtert fest, dass Liam sich um Sophie kümmert. Er trägt sie wie ein Junges im Maul und schließt sich uns ebenfalls an.

Die Wespen bemerken unseren Fluchtversuch und wollen ihn verhindern. Sie attackieren uns in der Luft. Transparente Flügel und spitze Stachel verschwimmen in einem gefährlichen Strudel. Caleb weicht immer wieder elegant aus. Dabei gerät er so gut wie nicht außer Atem. Wie macht er das nur?

Doch diese Kreaturen geben einfach nicht auf. Eine der Wespen zielt mit ihrem Stachel auf Calebs Rücken. Ich schreie erschrocken und versuche ihn zu warnen. Instinktiv strecke ich meine Hand aus, um sie aufzuhalten. Der Stachel trifft direkt auf meine Handfläche und schabt schmerzhaft über meinen Knochen.

Tränen treten in meine Augen. Ich blinzle sie hektisch fort und beiße meine Zähne fest aufeinander. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die anderen mit meiner Verletzung abzulenken. Vor allem, da ich nicht wirklich eine Hilfe bin. Ich darf ihnen nicht zur Last fallen. Also versuche ich meine Hand, so gut wie es geht, zu verbergen und den scharfen Schmerz weg zu atmen.

Caleb dreht sich in der Luft und tritt der Wespe mit solcher Wucht gegen den Körper, dass sie nach unten kracht. Wir durchstoßen dann endlich die rettende Glaskuppel und landen auf dem Waldboden. Scherben regnen glitzernd auf uns herab. Die Sonne ist bereits untergegangen und die Dunkelheit umfängt uns mit einer trügerischen Friedlichkeit.

Der General gönnt sich keine Pause und sprintet zu unserem Auto. Mit Leichtigkeit überwindet er den Abstand und kommt vor der Tür des Geländewagens zum stehen. Er öffnet sie und schmeißt mich auf die Rückbank. Sekunden später krabbelt Sophie zu mir ins Auto und verschließt die Tür.

Mit hämmernden Herzen und außer Puste sehen wir uns an. Ein Klicken lenkt meine Aufmerksamkeit nach draußen. Die verdunkelten Scheiben machen es schwer irgendetwas zu erkennen.

Plötzlich öffnet Caleb den Kofferraum und ein langes Schwert blitzt hervor. Seine Klinge glänzt schwarz und verschwindet fast in der Dunkelheit. Kati und ihre Bestie landen ebenfalls.

Die junge Soldatin rüstet sich flink mit neuer Munition und einer Schnellschusswaffe aus. Sie schultert eine weitere Waffe mitsamt Munitionsring und stellt sich neben Caleb. Gemeinsam warten sie auf unsere Angreifer.

Schon ist das Summen zu hören. Wir sind alle angespannt. Der Schweiß läuft in Bächen über meinen Rücken und mein Herz schlägt wie wild gegen meine Rippen, ganz so als ob es in die Freiheit wolle. Gedankenversunken kratze ich an meiner Hand und zucke gleich wieder zusammen.

Die Wunde ist dick und brennt wie verrückt. Blut und eine grünliche Flüssigkeit quellen hervor und mischen sich mit meinem Schweiß. Schnell verstecke ich die Hand unter meinen Pullover. Panisch versuche ich meine Verletzung zu verdrängen. Sophie hat zum Glück noch nichts davon mitbekommen, wer weiß wie sie darauf reagieren würde.

Wir warten eine ganze Weile, doch nichts geschieht. Nach weiteren qualvollen Minuten löst sich das bedrohliche Summen im Wind auf.

Die Wespen sind fort. Erleichtert atme ich auf. Gleichzeitig frage ich mich, warum diese riesigen Insekten plötzlich aufgegeben haben? Und was wollten sie in dem Labor oder besser gesagt von uns?

 

Ein Poltern verrät mir, dass sich Liam auf dem Dach positioniert hatte und nun herunterspringt. Das bedeutet wohl wirklich, dass uns keine Gefahr mehr droht, wenn er seine Verteidigungsstellung aufgibt. Ich öffne die Tür und lasse meinen angehaltenen Atmen entweichen. Wie sind gerettet!

Caleb verstaut die Ausrüstung wieder im Kofferraum und setzt sich sofort ans Steuer. Kati kauert sich auf den Beifahrersitz. Auf ihrer Stirn glänzen Schweißperlen und ihr Gesicht ist schmerzverzerrt.

Besorgt frage ich nach ihrem Befinden, doch sie schüttelt nur leicht den Kopf.

„Wir müssen hier schnell weg. Schnallt euch an,“ befiehlt uns der General.

Kurz schenke ich Liam einen tröstenden Blick durch die dunkle Fensterscheibe. Ob er ihn wohl sehen kann? Dann konzentriere mich auf die Fahrt.

„Woher kamen die?“, frage ich nach einer Weile des Schweigens.

„Ich weiß es nicht“, flüstert Sophie kraftlos. „Aber eins steht fest. Diese Wespen wurden Genmanipuliert. Aber bei Gimini Intercorbs gibt es eigentlich keine Abteilung, die Insektenbestien züchtet. Also bleibt die Frage, wer sie geschickt hat.“

„Warum haben sie uns überhaupt angegriffen?“, will ich wissen.

„Sie haben uns nicht angegriffen“, meint Caleb grimmig. „Sie hatten es auf dich abgesehen.“

Ich versuche mit ihm Blickkontakt aufzubauen, um zu begreifen, wie er auf solch eine abwegige Idee kommt. Doch er weicht mir aus.

„Wie kommst du darauf? Warum sollten mich diese fiesen Wespen angreifen wollen?“ Ich lasse nicht locker. Ich will antworten!

Sophie dreht sich mit dem Oberkörper in meine Richtung. Ihre Augen schimmern traurig.

„Ich weiß es nicht. Aber als du hinter der Wand verschwunden bist, haben sich auch die Wespen zurück gezogen. Und kurz bevor du wieder aufgetaucht bist, kamen sie zurück. Diese Wespen hatten dich die ganze Zeit über im Visier. Das war deutlich zu erkennen. Wir standen ihnen nur im Weg.“

Ich schlucke. Kann das wahr sein? Wollten sie mich? Wenn das stimmt, dann bin ich daran schuld, dass Kati und ihre Bestie so verletzt wurden. Dann bin ich daran schuld, dass das Leben aller in Gefahr war. Diese Vorstellung schmeckt mir ganz und gar nicht. Heiße Tränen brennen in meinen Augen.

Mir wird schlecht.

„Anhalten“, brülle ich verzweifelt.

Caleb tritt überrascht auf die Bremse. Schnell reiße ich die Tür auf und stolpere ins Freie. Nur mit äußerster Mühe gelingt es mir mich zum nächsten Busch zu schleppen bevor ich mein Essen wieder hochwürge. Meine Speiseröhre brennt wie Feuer und mein Magen krampft sich zusammen. Irgendwer hält meinen Zopf und streicht mir sanft über den Rücken. Nach einer halben Ewigkeit beruhige ich mich. Sophie hilft mir mich auf einen Baumstamm zu setzten.

Caleb reicht mir eine Wasserflasche und lässt sich neben mir nieder. Auch Liam ist an meiner Seite. Mit großen besorgten Katzenaugen blickt er zu mir auf und beobachtet jede meiner Regungen. Seine Ohren sind angelegt und sein Schwanz zuckt nur ganz sachte hin und her.

„Es tut mir leid.“ Jetzt rollen wieder Tränen über meine Wangen. Ich kann sie einfach nicht aufhalten. Schon wieder reagiere ich überempfindlich. Normalerweise bin ich nicht so eine Heulsuse. Ich weiß selbst nicht, weshalb ich derartig schwach bin.

„Schon gut“, versucht mich Sophie zu beruhigen. Sanft legt sie mir ihre Hand auf die Schulter. Immer wieder wiederholt sie diese Worte. Meine Tränen verebben zum Glück schnell wieder. Für heute habe ich wahrlich genug geweint.

„Du kannst nichts dafür!“, meint Kati mit fester Stimme. Sie hat recht, aber trotzdem fühle ich mich schuldig.

„Was ist das?“ Calebs besorgte Stimme fordert meine gesamte Aufmerksamkeit. Er greift nach meiner verletzten Hand und hält sie hoch.

„Eine der Wespen hat mich erwischt, als sie dich angreifen wollte“, gebe ich kleinlaut zu. Wieder sorge ich für den Ärger. Wieder werde ich zur Last. Dieses Selbstmitleid geht mir auf den Kecks!

„Sophie!“ Die Wissenschaftlerin braucht Calebs Befehl nicht um sich die Wunde selbst anzusehen. Vorsichtig wischt sie mit einem Tuch die nun gelbliche Flüssigkeit weg und betrachtet sie eingehen.

„Gift nehme ich an. Fühlst du dich irgendwie schlecht?“, fragt sie mit ernsten Ton.

„Ehrlich gesagt nicht besonders. Mir geht es soweit gut.“ Das stimmt sogar. Nach dem ich alles Vollgekotzt habe fühle ich mich viel besser. Die Hand kribbelt leicht, schmerzt aber nicht mehr.

Sophie zwickt mir in die Handfläche, genau neben der Wunde. Erschrocken halte ich die Luft an.

„Ich fühle es nicht!“ Meine Hand gleitet nach unten und fällt leblos auf meinen Oberschenkel.

„Wir müssen dich sofort entgiften! General schnell! Wir müssen zurück!“, die Panik in ihrer Stimme macht mir Sorgen. Ist es wirklich so schlimm?

Plötzlich legt Liam seine Pfote auf mein Handgelenk und fixiert es so auf meinem Schoß. Mit sanftem Druck gibt er mir zu verstehen, dass ich still halten soll. Die Augen auf mich gerichtet, versichert er sich, dass ich mich füge. Ich nicke automatisch. Wieder kommt er mir so menschlich vor. So als ob er jeden Moment mit mir sprechen würde. Seine Nase drückt sich ganz sanft und zärtlich in die Wunde. Vorsichtig versuche ich mich zu befreien. Ich will nicht, dass das Gift auch ihn irgendwie ansteckt. Doch ich ernte nur ein leises Fauchen.

„Liam. Nein!“

Seine dicke Zunge schnellt auf einmal hervor und leckt rau über die Verletzung. Ich zucke zusammen. Mehrmals leckt er über meine Hand. Erstaunt sehe ich mich um. Keiner erwidert meinen Blick. Sie alle beobachten Liam angespannt.

Dann holt Sophie zischend Luft und flüstert: „Das ist doch unmöglich.“

Ich wende meinen Blick wieder meiner Hand zu und mache große Augen. Die Wunde hat sich fast wieder verschlossen und mit einem Prickeln kommt das Gefühl zurück. Wie kann das sein? Was hat Liam da gemacht?

„Sophie … was war das gerade?“ frage ich verblüfft und lasse meinen Wunderheiler nicht aus den Augen. Liam sieht mich noch ein letztes Mal an und lässt dann meinen Arm wieder los. Genüsslich räkelt er sich im Gras und fängt an seine Pfote zu putzen, als wäre es das natürlichste der Welt.

„Ich weiß es nicht genau. Dazu brauche ich eine Probe von seinem Speichel und meine Instrumente. Aber scheinbar kann XS-707-GP4 den Heilungsprozess beschleunigen.“

Ok. Das wird ja immer verrückter. Erst eine Metalllegierung und nun heilende Kräfte. Was zum Henker ist mein Liam eigentlich?

„Das müssen wir später klären. Wenigstens scheinst du erst einmal außer Gefahr zu sein. Kommt, Lukas wartet sicher schon auf uns!“ Caleb erinnert uns so daran, dass wir nicht unendlich viel Zeit haben. Also setzen wir uns wieder ins Auto und führen den Heimweg fort.

Unterwegs versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Viel zu viele Eindrücke stürmen auf mich ein. Für die kommenden Wochen reicht der Vorrat an irrem Zeug vollkommen aus. Ich werde lange brauchen um alles zu verdauen was ich heute erfahren habe. Immer wieder streichle ich über meine frisch verheilte Hand. Sie prickelt noch leicht, tut aber überhaupt nicht mehr weh.

 

Der Tunnel empfängt uns mit seinen dunklen Armen. Seufzend lasse ich die freie Natur hinter mir und begebe mich wieder in die unbarmherzigen Tentakel von Gimini Intercorbs.

Die Neonröhren flackern und werfen dabei unheimliche Schatten an die Wand. Ich will nicht wieder in dieses fensterlose Gefängnis. Wie mein Trainingsplan für morgen wohl aussehen mag?

Immer wieder reibe ich über meine verletzte Hand. Das Gift scheint meinen Körper verlassen zu haben, denn die Betäubung ist nun gänzlich verschwunden. Auf einmal erinnere ich mich an die wundersame Heilung, als ich das erste Mal durch Liams Krallen verletzt wurde.

Langsam lichtet sich der Nebel. Auch damals hat Liam mir über den Rücken geleckt und fast zeitgleich habe ich mich besser gefühlt. Hat Dr. Jung nicht behauptet, dass das Gift der Bestien nur von seinem Serum geheilt werden kann? Heißt, dass das Liam dieses Heilserum irgendwie selbst herstellen kann? Kann er dann auch andere Krankheiten heilen? Wie weit reichen seine Fähigkeiten eigentlich?

Wieder überschwemmen mich tausende Fragen, auf die es wohl so schnell keine Antwort geben wird. Ich nehme mir vor Liam dazu zu überreden einige Proben an Sophie abzutreten, um der Lösung etwas näher zu kommen. Und vielleicht finden wir auch in den Aufzeichnungen einige Hinweise. Das Tor vor uns öffnet sich wie auf Knopfdruck und wir gleiten vorsichtig in die Parkanlage.

„Verdammt.“

„Oh oh.“

„Scheiße.“

Eine Triade an Flüchen sammelt sich plötzlich im Wagen an. Ich sehe mich geschockt um. Eine wütende Armee umzingelt uns und richtet seine Waffen auf uns. Mist.

„Steigt ganz langsam aus“, ermahnt Caleb, wieder vollkommen im Generalmodus. Ich befolge seinem Befehl und sehe mich gleich nervös um. Calebs Anwesenheit gibt mir wenigstens ein Minimum an Sicherheit.

Ein Fauchen kommt aus der Menge und Liam schiebt sich in voller Größe an den Soldaten vorbei. Scheinbar war er uns dicht auf den Fersen. Er macht sich dreist Platz und schiebt jeden Störenfried mit Leichtigkeit beiseite. Mit einem provokativen Schnauben lässt er sich neben mir fallen und unterstreicht so seine Position. Seine gesamte Körperausstrahlung gleicht einer tödlichen Drohung: Fasst ja nicht an was mir gehört!

Dankbar lehne ich mich an seine Seite und staune insgeheim über seine bedingungslose Loyalität. Er scheint zu wissen, dass er mich nur schützten kann, wenn er allen demonstriert, wer sein Master ist.

Caleb gesellt sich zu meiner anderen Seite und stärkt mich so von links. Sophie und Kati stehen etwas abseits. Dabei stützt Sophie die verletzte Soldatin. Keiner sagt einen Ton. Wir alle wissen, dass unser Ausflug Konsequenzen haben wird. Was ich äußerst albern finde. Was ist schon so schlimm daran eine alte Ruine zu besichtigen und mal ein paar Stunden an der Frischen Luft zu genießen. Wir können immerhin nicht Jahrelang hinter diesen Mauern leben.

Von der Ziege fehlt jede Spur.

Plötzlich bilden die Soldaten rechts von uns eine Gasse und ein Mann in Uniform zieht selbstsicher an ihnen vorbei. Seine ganze Erscheinung sprüht vor knallharter Autorität. Dem würde ich nicht gerne im Dunklen begegnen.

Seine schwarzen Haare sind nach hinten gekämmt. Einzelne graue Haarsträhnen durchziehen seine strenge Frisur. Sein Blick schweift kurz zu mir, dann klebt er sich an Caleb.

„Wie kannst du es wagen gegen unsere Regeln zu verstoßen!“ Ein Wandel durchläuft, den sonst taffen General und er wird mit einem Schlag unterwürfig.

 

Kapitel 4.4 - Regelverstoß

 

Wir hoffen sehr, dass dieser Fall niemals eintritt.

Sollten Sie dennoch einmal gegen unsere Regeln

verstoßen, so wird der Rat zusammentreten und

über die jeweilige Sanktion abstimmen.

Sollten Sie noch Fragen zu dem Thema: „Regeln“

haben, dann empfehlen wir Ihnen im Regelhandbuch

nachzulesen.“

 

 

Angespanntes Schweigen umhüllt uns. Auch ich halte die Luft an. Meine Hand krallt sich in Liams Fell und findet Trost. Seine regelmäßigen Atemzüge erinnern mich daran endlich wieder Luft zu holen. Mit flauem Gefühl im Magen beobachte ich jede noch so kleine Regung, die durch die Menschen in meiner Umgebung geht. Eine Welle von stählerner Kälte umfängt meine Sinne. Die Soldaten wirken unnahbar, ja fast unmenschlich.

Mein Blick schweift zu unserem General. Was meine Augen entdecken überrascht und verunsichert mich zutiefst. Er wirkt nach außen hin standfest und robust, doch sein Rücken ist angespannt wie ein Bogen. Caleb starrt den Ranghören an. Sagt aber kein Wort. Mit fest zusammengepresstem Kiefer versucht er jeden Laut zu verschließen, der sich ungewollt zwischen seinen Lippen durchschieben könnte. Wer ist der Mann? Warum hat Caleb so viel Respekt vor ihm? Mein Herz macht einen ungewollten Satz. Angst keimt in mir auf.

„Ich wiederhole mich nur ungern General!“, donnert die Stimme des Neuankömmlings. Wie ein Donner halt sie in meinem Kopf wider. Eine Gänsehaut überkommt mich und lässt mich erschaudern. Ich weiß sofort, dass ich diesen Mann nicht leiden kann.

Schweigen. Die nächste Welle bringt Wut an uns heran. Ich erbebe. Am liebsten würde ich mich in meiner Bestie verkriechen. Dann holt Caleb plötzlich tief Luft und setzt endlich zu unserer Verteidigung an: „Wir wollten Frau Morel nur etwas frische Luft gönnen“, versucht er unseren Ausbruch zu rechtfertigen.

Ein abfälliges Schnauben zeigt, dass der strenge Mann ihm kein Wort glaubt. Caleb zuckt zusammen, versucht aber gleich wieder seine autoritäre Haltung zurückzugewinnen. Vergebens.

Plötzlich durchbricht ein lautes Husten das Schweigen.

Ich sehe zu Kati und muss leider feststellen, dass sie angefangen hat Blut zu spucken. Angst umklammert mein Herz. Sie muss unglaubliche Schmerzen haben. Ich bin schuld an ihrem schlechten Zustand und nun bin ich wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass diese ganzen Soldaten uns umzingeln und verhindern, dass Kati ärztlich versorgt werden kann.

Leise regt sich mein Beschützerinstinkt und flüstert mir von der Ferne ins Ohr.

„Und wie kommen Sie auf die Idee, dass ich Ihnen ihre lahme Erklärung abnehme?“ Der Anführer sieht Caleb einschüchternd in die Augen. Keiner wendet seine Aufmerksamkeit Richtung Katis Hustenanfälle. Krampfhaft versucht diese sich zu Kontrollieren und ihren Husten zu unterdrücken. Das Röcheln lässt mein Blut in den Andern gefrieren. Da Caleb keine Anstalten macht etwas zu erwidern, trete ich vor. Dabei versuche ich so selbstsicher wie möglich zu erscheinen. Ich räuspere mich, um so die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

„Wir können das auch später noch erklären. Aber Kati braucht jetzt dringend einen Arzt. Wenn sie so nett wären uns vorbei zu lassen.“ Höflich aber bestimmt blicke ich dem Mann in die Augen. Ich versuche meine eigene Angst zu verbergen. Hoffentlich gelingt es mir, sonst verliere ich an Glaubwürdigkeit.

Ich fühle praktisch wie sich Caleb hinter meinem Rücken noch mehr versteift. Warum ist er so angespannt? Das beunruhigt mich, aber meine Quelle der Kraft spannt sich leicht unter meinen Händen an. Dankend kralle ich meine Finger tiefer in sein Fell und lasse die animalische Kraft in mich fließen.

„Wie war das?“, fragt der Anführer arrogant und schenkt mir ein gemeines Lächeln. Seine gesamte Haltung nervt mich gewaltig. Er sieht, dass einer seiner Offiziere schwer verletzt ist. Anstatt erst einmal zu fragen was passiert ist und dafür zu sorgen, dass sie behandelt wird, versucht er seine eigene Stellung zur Schau zu stellen.

Dieser Mann erinnert mich an die Zeit, als ich eines meiner Praktika in einer Einrichtung für schwer erziehbare Kinder machen musste. Die Erzieher, denen ich dort begegnet bin, wirkten genauso unnachgiebig und autoritär. Ständig versuchten sie ihre Macht mit allen Mitteln zu beweisen. Was ihnen auch gelang. Mit starken Sanktionen schufen sie sich eine Position, in der niemand es wagte gegen ihre Ansagen zu handeln. Nicht nur die Kinder haben darunter gelitten. Auch wir Praktikanten hatten es nicht leicht. Zu der Zeit musste ich mich immer wieder mit derartigen Persönlichkeiten herumschlagen. Ich musste mich abhärten und lernen mich durchzusetzen, auch wenn ich danach unglaublich unfaire Konsequenzen tragen musste.

Dieser Anführer vor mir wirkt auf mich genauso unnachgiebig, rechthaberisch und autoritär. Ich glaube kaum, dass sich irgendwer in seinen Weg stellt. Also ist er es wahrscheinlich auch nicht gewohnt Widerworte zu hören.

Innerlich danke ich nun zum ersten Mal für das Praktikum und glaube fast, dass mich das Schicksal auf diese Begegnung vorbereiten wollte. Also krame ich alle gesammelten Erfahrungen aus ihrer verstaubten Schublade und versuche sie jetzt zu meinem Vorteil zu nutzen. Natürlich könnte ich mir auch mit meiner großen Klappe gleich gehörig die Finger verbrennen. Aber all meine Bedenken lösen sich in Luft auf, als ich Kati ein weiteres mal schmerzerfüllt Luft holen höre.

Mit mehr Nachdruck zeige ich nochmal auf die verletzte Frau. „Sie braucht dringend Hilfe!“, meine ich erbost. Irgendwann muss dieser Fakt ja auch mal in seinem Spatzenhirn ankommen.

„Was Frau Phol braucht ist kein Arzt, sondern ein Disziplinarverfahren. Sie hat sich entgegen unserer Regeln heraus geschlichen und sich einer Gruppe von Deserteuren angeschlossen.“ Kühl und berechnend kommt seine Erwiderung. Hat er auf solch eine Gelegenheit gewartet? Er wirkt Schadenfroh. Insgeheim scheint er sich über unser Fehlverhalten zu freuen.

Jetzt heftet sich sein Blick an Sophie. „Ich habe auch nichts anderes von Ihnen erwartet Professor Gillian. Sie zeigten schon immer ein äußerst unerwünschtes rebellisches Verhalten und einen viel zu leichten Umgang mit unseren Regeln.“

Sophie zieht ängstlich den Kopf ein. Ihre Augen jagen hilfesuchend zu Caleb, aber er würdigt ihr keinen einzigen Blick. Wut keimt in mir auf. Feigling! Er hat wohl selbst erst einmal mit seinem inneren Schweinehund zu kämpfen. Diese Tatsache erschüttert mich sehr. Bis jetzt wirkte er auf mich wie jemand, der sich nicht so schnell in die Schranken weisen lässt. Wie jemand, der als Schild für seine Leute auftritt.

Doch nun steht er schweigen neben mir. Seine Hände sind geballt und sein Blick leicht auf den Boden gerichtet. Sollte er uns nicht eigentlich als General unterstützen und in Schutz nehmen? Stattdessen steht er hier wie ein hilfloser, kleiner Bengel, der dabei erwischt wurde, wie er aus Omas Keksdose genascht hat und jeden Moment die größte Standpauke seines Lebens kassieren wird.

Es hilft alles nichts. Ich muss das Zepter an mich reißen. Dieses Mal liegt es an mir, meine Freunde zu beschützten. Zum Glück war ich bei Wortgefechten schon immer gut und konnte meinen Kontrahenten am Ende immer in seine Schranken weisen. Egal ob derjenige ein aufmüpfiges Kind war oder ein übellauniger Mentor, der alles andere als ein Vorbild war.

Ich hole tief Luft, um uns zu verteidigen.

„Wir sind keine Deserteure!“, rufe ich in die Runde und blicke jeden in meiner näheren Umgebung tief in die Augen. Ich zeige mein Entsetzten deutlich. Ich weiß von den Berichten meines Cousins, dass Deserteure bei dem Militär nicht gerade beliebt sind, darum will ich uns diesen Ruf ersparen. „Sie haben kein Recht einfach über uns zu urteilen!“ Aufgebracht schleudere ich meinen giftigsten Blick in die Runde.

Von hinten höre ich Caleb warnend zischen. Er will dass ich mich zurückhalte. Flüsternd teilt er mir mit, dass ich sonst alles nur noch schlimmer mache und niemanden damit geholfen sei. Doch ich lasse mir nichts mehr von diesem Feigling sagen. Da der ganze Ausflug ja indirekt meine Schuld ist, übernehme ich jetzt die Verantwortung! Ich mache noch einen Schritt auf den Anführer zu. Er sieht mich zwar an, scheint mich aber nicht ernst zu nehmen.

„Wir sind keine Deserteure!“, wiederhole ich mit noch mehr Nachdruck, „Sophie hat mich nur begleitet, weil ich sie darum gebeten habe. Das gleiche gilt für die Anderen.“

Ich deute zuerst auf die Wissenschaftlerin, dann zeige ich auf Kati und Caleb. Ich wage noch einen Schritt näher an den arroganten Scheißkerl heran. Liam bleibt an meiner Seite.

„Ich wollte mal an die frische Luft! Ich ersticke noch in eurem blöden Gebäude!“

„Und Sie nehmen an, dass ich Ihnen das abkaufe, weil …. ?“ Gelangweilt blickt er sich um, dann wieder zu mir. Jetzt nehmen seine Augen einen giftigen Schimmer an und fixieren mich ohne Gnade. Bevor ich auf seine Frage etwas erwidern kann, schneidet er mir mit seinen Worten den Ton ab.

„Frau Morel, Sie lehnen sich hier zu weit aus dem Fenster. Keiner von Gimini Intercorbs hat Ihnen bis jetzt genügend Aufmerksamkeit geschenkt, um sie für wichtig zu erachten. Sie sind lediglich eine kleine Unannehmlichkeit! Diesen Platz sollten Sie mittlerweile kennen! Also halten Sie sich aus den Dingen heraus, die Sie nichts angehen, sonst erleben Sie noch ihr blaues Wunder!“

Ich schnaube herablassend und lasse mich nicht von ihm einschüchtern. Ich musste mich schon viel zu oft mit Wichtigtuern auseinandersetzen.

Ich strecke meine Hand aus und fahre demonstrativ lässig über Liams Kopf. Damit zeige ich allen, wem hier die unberechenbare Bestie gehört. Mein Gegenüber kneift seine Augen zu schlitzen zusammen und scheint den Wink zu verstehen.

Ich wecke meine innere Erzieherin aus ihrem Winterschlaf, um dem Typen eine Lehre zu erteilen die jeder in meinem Geburtsort bereits verinnerlicht hat: Lege dich niemals mit einer Morel an!

Ich lache betont gekünstelt. „Wenn ich so eine unwichtige Nebensache bin, dann frage ich mich, warum sie so ein großes Aufheben machen, nur weil wir kurz weg waren? Immerhin war ich nur mit meinen Freunden etwas spazieren!“

„So, so. Spazieren. Und warum befinden sich dann ihre Freunde in solch einem schlechten Zustand?“, fragt er schadenfroh. Er glaubt wohl den Schwachpunkt in meiner Ausrede gefunden zu haben. Aber nicht mit mir. Ich bin mit meinen Argumenten noch lange nicht am Ende. Wütend funkle ich ihn an.

„Weil es scheinbar Leute gibt, die glauben dass ich gar nicht so unwichtig bin. Sie wollten mich mit Hilfe von riesigen, genmanipulierten Wespen töten!“

Seine Augen weiten sich unmerklich, aber mir fällt es sofort auf. Doch er lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.

„Und das soll ich Ihnen glauben?“

Von weiter hinten dringt plötzlich ein leises Gemurmel an mein Ohr, fast zeitgleich schiebt sich eine elegante Frau durch die Menge. Ihre Augen saugen sich an Liam fest. Doch meine treue Bestie bemerkt es nicht. Sie sieht nur mich an. Liams bewundernde Augen blicken mir entgegen und ein grinsen umspielt sein Maul. Es wirkt fast so, als wolle er mich ermutigen. Sein Vertrauen gibt mir viel mehr Kraft, als alles andere auf dieser Welt. So gestärkt kann ich auch dem Neuankömmling gegenübertreten.

„Ratsherr Blackthrone“, grüßt sie ihn mit einem respektvollen Nicken.

Mein Atmen stockt. Blackthrone? Ist er mit Caleb verwandt? Verhält sich unser General deshalb so merkwürdig? Mein Blick wandert zu der Frau. Sofort erkenne ich die markanten Gesichtszüge und den schlanken Körperbau. Beides ähnelt denen von Magdalena.

Diese Frau hat ihr mattbraunes Haar zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Ein dunkelgrauer Hosenanzug sitzt wie angegossen auf ihrem wohlgeformten Körper. Leider muss ich eingestehen, dass sie äußerst attraktiv erscheint. Außerdem verstrahlt auch sie eine eiserne Autorität. Dunkle Augen funkeln mir entgegen. Sie kann mich anscheinend nicht besonders leiden. Diese Frau muss Silvana Ashtray sein. Vor ihr hatte mich Kati vorhin noch gewarnt. Silvana, die ehemalige Freundin von Sophie und Familienoberhaupt der Ashtrays. Ich muss leider zugeben, dass sie sehr Einflussreich und einschüchternd auf mich wirkt.

„Frau Morel, Sie sollten sich lieber bedeckt halten. So weit es mir bekannt ist, sind Sie nicht gerade als vertrauenswürdig bekannt.“

Ich schnaube ungläubig. „Ich wüsste nicht was Sie das etwas anginge. Außerdem ist es mir egal, ob Sie mir vertrauen oder nicht. Momentan interessiere ich mich nur für Katis Wohlergehen, doch Herr Blackthrone verzögert die ärztliche Versorgung. Außerdem macht er aus einer Mücke einen Elefanten!“

Meine Zunge ist wieder einmal schneller als mein gesunder Menschenverstand. Aber ich habe nun mal recht. Was mischen die sich da alle ein? Warum machen die so ein großes Aufheben aus unserer kurzen Abwesenheit? Wir sind doch keine Gefangenen! Oder doch?

„Wie können Sie es wagen!“, faucht Silvana mich an. Sofort reagiert mein Beschützer auf den scharfen Ton und erwidert das Fauchen. Gefährlich und leise, aber drohend.

Silvana sieht ihn sofort an und lächelt in sich hinein. Liam schnaubt und rückt ein bisschen näher an mich heran. Sein Schwanz peitscht aggressiv hin und her. Er wirkt, als ob er sich nur schwer beherrschen kann. Ob er weiß, dass vor ihm gerade der Nachfahre seiner ersten Herrin steht?

„Ich wage mir so einiges. Vor allem, da ich beinahe getötet wurde.“ Müde und gereizt sehe ich mich um. Wie lange muss ich noch um Katis Versorgung und meinen wohl verdienten Schlaf kämpfen? Die Soldaten stehen immer noch da und beobachten uns. Silvana verzieht keine Miene. Stattdessen wirft sie mir all ihre Verachtung entgegen.

„Das ist ihr eigens Verschulden. Sie hätten das Gelände nicht unerlaubt verlassen dürfen!“

Hat sie mir die Wespen auf den Hals gehetzt?

Ich funkle sie wütend an. „Was wissen Sie über diese Wespen?“

„Mehr als Ihnen lieb ist, Frau Morel. Und nun halten Sie sich endlich zurück! Es gibt wichtigere Dinge zu regeln, als die Versorgung einer Offizierin, die für solche Situationen trainiert wurde.“

Kaltherziges Miststück! „Da ich nicht darauf trainiert wurde, meine Freunde leiden zu sehen, werde ich mich auch nicht zurück ziehen!“

Silvanas Blick verdunkelt nicht. Auch sie gehört wohl zu der Kategorie, die nie Wiederworte erhält.

„Muss ich Sie erst daran erinnern, dass wir ihrem Leben leicht ein Ende bereiten können, wenn wir feststellen, dass Sie eine Bedrohung für Gimini Intercorbs darstellen. Wir können die gescheiterte Exekution gerne nachholen.“ Ihre Drohung schwebt langsam an mich heran. Blinzeln traue ich meine Ohren nicht. Wut wallt in mir auf. Langsam reicht es mir aber! In diesem Laden scheint es jeder auf mein Leben abgesehen zu haben. Überall wittere ich Verschwörungen. Erst Luka und Kati, dann Calebs Giftgasversuch, vorhin die lästigen Wespen und nun dieses Duo, bestehen aus dem zweiten Blackthrone und der nervigen Silvana. Mein ganzer Körper vibriert unter meiner Wut. Zornig fixiere ich sie mit den Augen.

„Sie glauben doch nicht, dass Sie meinen Tot so einfach überleben würden?“, drohe ich ebenfalls. Wie kann die es wagen! Was sie kann, dass kann ich schon lange!

„Haben Sie etwa bereits ihren letzten Versuch vergessen? Wenn ich sterbe, wird Liam außer Kontrolle geraten und das gleiche mit diesem Labor anstellen, wie mit dem ersten. Dann werde ich ihn nicht mehr aufhalten können. Das dürften für mehr Unannehmlichkeiten sorgen, als Sie verkraften könnten!“ Silvana hält entsetzt die Luft an. Ihre selbstsichere Maske bekommt ihren ersten Riss.

Ich sehe provokativ zu Liam und seine Körperhaltung verrät mir, dass er mir zustimmt. Er stellt sich neben mir auf. Knurrt drohend, verleiht so meiner Aussage mehr Kraft. Sein Schwanz peitscht wütend hin und her. Sein ganzer Körper scheint anzuschwellen. Wie ein wütender Bär baut er sich neben mir auf.

Wir sehen uns kurz in die Augen und ich weiß sofort, dass er meine Drohung wahr machen würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein stilles Versprechen. Ein stummer Schwur. Ein wenig fürchte ich mich vor seiner Brutalität. Aber andererseits schenkt sie mir Kraft und Vertrauen. Ich weiß dass ich mich immer auf Liam verlassen kann. Jetzt und in Zukunft. Er sorgt für meinen Schutz. Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

Und bei diesem Gedanken setzt sich etwas ganz tief in mir in Gang. Mit einem sanften Klicken rutscht ein Teil meiner Selbst an die richtige Stelle. Wärme erfüllt mein Herz. Dieser kurze Augenblick der Zärtlichkeit gleitet aber schnell wieder vorbei.

Ich sehe zu Silvana und bemerke ihre schock geweiteten Augen. Auch die Soldaten in meiner unmittelbaren Umgebung werden unruhig. Treten von einem Bein aufs andere. Angespannt halten sie den Atem an und umklammern ihre Waffen. Liam hat seine Wirkung nicht verfehlt. Meine Drohung ebenso wenig. Nie hätte ich gedacht, dass ich mal das Leben eines anderen bedrohen müsste, um mich selbst zu schützen.

Ihre Angst und Unsicherheit ist praktisch in der Luft zu schmecken. Sie zergeht mir auf der Zunge und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Ich glaube, dass sich mein Aufenthalt ab heute schwieriger gestalten wird und immer mehr Hindernisse auftauchen werden.

Der einzige, der sich nicht hat beeindrucken lassen, ist der alte Blackthrone. Wie ein Fels in der Brandung thront er vor mir und beäugt mich mit abwegigen Blicken. Ich ignoriere ihn, so gut es geht und konzentriere mich auf meine Freunde.

Ich winke Kati und Sophie an mich heran. Mit vereinten Kräften hieven wir die Verletzte auf Liams Rücken. Dann marschiere ich voran und führe meinen kleinen Trupp durch die Masse. Ich habe keine Lust mehr mich weiter mit den Beiden abzugeben und lasse sie einfach links liegen.

Keiner wendet etwas ein. Keiner traut sich, sich uns in den Weg zu stellen. Diese Schlacht habe ich wohl gewonnen.

Adrenalin pulsiert in meinen Adern. Und ich schwebe wie auf einer Wolke. Dieses Machtgefühl berauscht meine Sinne. Das tut gut. Endlich habe ich mal die Kontrolle. Seit meiner Ankunft bei Gimini Intercorbs fühle ich mich endlich mal wieder selbstsicher. Ich fühle mich endlich wieder, wie ich selbst.

Caleb bleibt zurück. Wir angewurzelt steht er auf seinem Fleck. Nur seine Augen verfolgen mich und blitzen bewundern auf. Ich weiß nicht wie ich ihm helfen soll. Ich habe auch keine Ahnung, warum der alte Blackthrone ihm solch einen Respekt einflößt. Allein bleibt er auf dem Schlachtfeld zurück, umzingelt vom Feind. Schuldgefühle und Mitleid drohen mich zu überwältigen. Beinahe wäre ich zurück gegangen, um Caleb abzuholen. Aber Katis stöhnen hält mich an ihrer Seite gefangen. Sie braucht jetzt dringender meine Hilfe. Um meinen General kann ich mich später auch noch kümmern.

Fest entschlossen mich nicht noch einmal in die Schublade für „leichte Beute“ pressen zu lassen marschiere ich zu dem nächsten Treppenaufgang, Richtung Krankenstation.

 

Kapitel 4.5 - Krankenstation

In jeder der Einrichtungen gibt es eine Vielzahl

an professionell ausgebildeten Medizinern. Sie dienen

zur gesundheitlichen und ärztlichen Versorgung der

Master und Trainer.

Mit Hilfe modernster Technologien sind sie in der

Lage viele Verletzungen ohne Operationen schnell

und effizient zu versorgen.

Die Krankenstationen sind täglich 24 Stunden geöffnet

und frei zugänglich.“

 

 

Müde kneife ich die Augen zu. Nachdem das Adrenalin aufgebraucht ist, fühle ich mich schlapp und erschlagen. Aber wen wundert das? Immerhin habe ich einen mordsmäßigen Tag hinter mir.

Wir befinden uns auf der Krankenstation. Ich habe mir eine ruhig Ecke gesucht und mich an eine Wand zurückgezogen. Schlapp sitze ich auf den Boden und genieße die Kühle des gefliesten Bodens, die meinen überhitzen Körper etwas erfrischt. Liam hat sich zu meiner Linken niedergelassen und döst leise vor sich hin. Ich beneide ihn dafür.

Kati wird gerade von dem netten Dr. Jung behandelt. Es hat sich herausgestellt, dass sie sich eine ihrer Rippen gebrochen hat, als sie von einer Wespe gegen die Wand geschleudert wurde. Diese gebrochene Rippe bohrt sich nun in ihre Lunge und sorgt für ganz schön viel Ärger.

Aber Dr. Jung scheint sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Seine Assistentin. Eine schokoladen- braune Krankenschwester mit giftgrünen Augen unterstützt ihn mit flinken Fingern. Ihre atemberaubende Schönheit erinnert mich an mein eigenes zerrupftes Aussehen. Ich seufze.

Beide verwenden eine Reihe von seltsamen Instrumenten um die Rippe zu richten, ohne Kati auf schneiden zu müssen. Tapfer lässt die Offizierin die Prozedur über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn ich da an Liam denke und wie anhänglich er ist, frage ich mich, warum die Ziege seine Herrin einfach links liegen gelassen hat und nirgends zu finden ist.

Liam würde mir keinen Millimeter von der Seite weichen, wenn ich auf diesem Tisch liegen würde und behandelt werden müsste. Kati tut mir wirklich leid.

Peinlich berührt mache ich mich klein und versuche mit der Wand zu verschmelzen. Wie ich so verdreckt wohl auf den Ratsherrn Blackthrone gewirkt habe? Kein wunder, dass er mich erst nicht ernst genommen hat.

Sophie lässt sich neben mir nieder. Sie ist die ganze Zeit über still geblieben und in ihren eignen Gedanken versunken gewesen. Doch jetzt scheint sie mit mir wieder Kontakt aufnehmen zu wollen. Langsam streckt sie ihre Beine aus. Auch bei ihr hat der lange Tag seine Spuren hinterlassen. Ihr Zopf hat sich gelöst und die einzelnen blonden Haare hängen strähnchenweise in ihr Gesicht. Ihre schwarze Kleidung ist mit Dreck und Blut dekoriert. Die sonst so steril wirkende Wissenschaftlerin sieht aus, als ob sie direkt von einem Schlachtfeld käme.

„Du weist schon, dass du dir gerade mächtige Feinde gemacht hast, oder?“ Ihre Stimme bricht das Schweigen und holt mich aus meinem Dämmerzustand.

Ich schnaube. „Du meinst eher, dass diese hohen Tiere sich selbst einen mächtigen Feind gemacht haben.“ Mit einem Blick auf Liam stiehlt sich ein hinterhältiges Lächeln auf meine Lippen.

„Tamara das ist nicht witzig!“ tadelt mich die Wissenschaftlerin.

„Das weiß ich doch selbst!“, fauche ich gereizt zurück. „Aber wie sollte ich sonst mit dieser Situation umgehen? Kati war verletzt und Caleb hat uns nicht unterstützt. Wer hätte es sonst tun sollen? Mir gehen diese Fremden auf den Keks die den Wert meines Lebens bestimmen wollen! Ich musst einfach mal meinen Senf dazugeben. Die mussten merken, dass ich mich nicht herumschubsen lasse.“

„Es tut mir leid“, erwidert Sophie kleinlaut. Ihre gesamte Körperhaltung ist kraftlos. Mitleid keimt in mir auf.

„Nein es tut mir leid. Du kannst ja auch nichts dafür. Mich frustriert nur diese ganze Situation und ich fühle mich heillos überfordert.“

Ich sehe wieder zu Liam und Tränen brennen in meinen Augen. Da ich aber für heute schon genug geweint habe wollen sie nicht über meine Wangen kullern.

 

Sophie lässt sich später ebenfalls untersuchen. Abgesehen von einigen Quetschungen und Prellungen ist sie soweit in Ordnung. Ich atme erleichtert auf. Im großen und ganzen haben wir beide es unbeschadet überstanden. Wir verabschieden uns von der schlafenden Kati und machen uns auf den Weg in die Quartiere. Vor meiner Tür rät mir Sophie noch, dass ich den Unterricht von Morgen erst einmal ausfallen lassen sollte, da sie die Lage abklären will.

Was auch immer sie damit meint, ich stimme bereitwillig zu. Ich brauche dringend eine Atempause.

In dem kleinen Zimmer, dass sich schon fast wie ein zuhause anfühlt, kann ich endlich mal wieder aufatmen. Erleichtert schleudere ich meine Schuhe in die Ecke und genehmige mir erst einmal eine schnelle Zwischenmahlzeit.

Irgendwer hat vorausgedacht und mir netter Weise ein Sandwich in den Aufzug gestellt. Ein Glas Milch rundet den Snack ab. Danach ziehe ich mich ins Bad zurück und genieße eine heiße Dusche. Seufzend begrüße ich die Wärme auf meinem geschundenen Körper. Jeder einzelne Tropfen liebkost ihn und spült den Dreck fort.

Als ich fertig bin und mich endlich wieder sauber fühle lasse ich meine Hände über den angelaufenen Spiegel gleiten. Braune Augen blicken mich müde an. Sie haben für heute genug gesehen und träume bereits von meiner Erholungspause.

Ich greife nach der Creme und reibe damit meinen geschundenen Körper ein. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass sich einige meiner Fettreserven verflüchtigt haben. Die lange Gefangenschaft mit Dörrfleisch und Obst Diät, der viele Stress und die ungewohnten Anstrengungen haben dafür gesorgt, dass ich um einige Kilo erleichtert wurde. Was für ein netter Nebeneffekt. Ich schnappe mein Handtuch und wickle es leicht um meinen Körper.

 

Es dauert eine Weile, bis ich aus dem Bad heraustrete. Der Dampf meiner heißen Dusche trifft auf die kühle Luft im Zimmer. Ich seufze auf. Meine Körpergliedmaßen sind so schwer wie Blei. Sie sehnen sich nach meinem Bett.

Liam wartet bereits auf mich. Er hat sich auf der Matratze lang gemacht, mir aber eine Seite frei gehalten. Ausnahmsweise nehme ich mir vor, ihn nicht von meinem Bett zu verweisen. Er hat seine Sache heute sehr gut gemacht und verdient eine Belohnung. Mein träger Kater mustert mich stumm. Ich trete an den Schrank und suche mir ein großes T-Shirt raus. Vorsichtig streife ich es über meinen schmerzenden Körper. Jede Bewegung kostet mich unglaubliche Kraft.

Lustlos lasse ich das Handtuch auf dem Boden liegen und geselle mich neben meinen Freund. Ich strecke mich aus und drehe mich auf die Seite, stumm wickle ich meine Arme und Beine um seinen kräftigen Körper und versenke mein Gesicht in sein weiches Fell.

Diese Wärme tut so gut. Mehrmals atme ich seinen Duft ein. Wohlig und herb. Auf diese Weise gelingt es mir endlich mich zu entspannen. Zärtlich streichle ich über seinen Rücken. Liam schnurrt leise vor sich hin. Seine Laute vibrieren in meinem Körper. Es kitzelt und ein Lachen löst sich aus meiner Seele.

„Ach Liam. Wo hast du mich nur mit reingezogen?“ Ich setzte mich auf und sehe ihm tief in die Augen.

„Weiß du, dass ich dich manchmal echt verflucht habe?“, werfe ich ihm vor. „Du hast mich einfach aus meinem normalen Leben gerissen und mich solchen Gefahren ausgesetzt.“ Schuld blitzt in seinen Augen auf.

Ich ziehe eine ernsthafte Miene. „Ja genau! Es ist deine Schuld, dass ich in diesem alten Labor beinahe verhungert wäre und dass ich von den Leuten von Gimini Intercorbs hierher verschleppt wurde. Es ist auch deine Schuld, dass ich mich mit diesen machtbesessenen Männern und Frauen auseinander setzten muss. Ich wäre heute sogar mehrmals beinahe gestorben. Um ehrlich zu sein nicht nur heute.“

Mit jedem Satz wird mein Liam immer kleiner. Er drückt sich ins Bett und fängt an zu winseln. Scheinbar ist er sich dessen wohl bewusst. Aber ich selbst kann und will dieser reinen und unschuldigen Kreatur keine Schuld zuweisen.

Sanfter und liebevoller setze ich fort:

„Es ist auch deine Schuld, dass ich so eine gute Freundin wie Sophie getroffen habe. Dank Dir durfte ich diesen wundersamen Teil unserer Welt kennenlernen. Außerdem konnte ich endlich das geheimnisvolle verschwinden meiner Großtante aufklären und somit ein langjähriges Rätsel meiner Familie lösen. Es ist auch deine Schuld, dass ich Freundschaft mit diesem unglaublichen, faszinierenden General geschlossen habe.“ Kurz mache ich eine Pause und muss Lachen. Bei meinem letzten Satz verzieht sich Liams Gesicht zu einer mürrischen Fratze.

„Und es ist vor allem deine Schuld, dass ich dich kennen und lieben lernen durfte.“ Ich drücke ihm zärtlich einen Kuss auf die Stirn. Mit einem Mal entspannt er sich, da er merkt, dass ich ihn nicht tadele, sonder lobe.

Mein Liam. Er hat mich zwar erst in diese Welt gebracht, doch hier zu bleiben und mir einen Platz zu schaffen, das habe ich ganz alleine entschieden. Weder der Rat, noch Liam haben diese Entscheidung getroffen. Nein. Ich ganz alleine.

Ich möchte mehr über die Welt erfahren, in der Rosalinde aufgewachsen ist. Diese Welt, in der die Bestien erschaffen werden ist unglaublich faszinierend. Klar gibt es da noch das Problem mit dem Ratsherrn Blackthrone und Silvana. Ach ja. Da wäre ja auch noch der durchgeknallte Professor Gillian.

Aber im Herzen weiß ich, dass ich hier hin gehöre. Ich möchte bleiben und kämpfen. Ich will an Liams Seite bleiben. Ich will bei Sophie, Caleb und Kati bleiben. Vielleicht kann ich ja irgendwann einmal tief durchatmen und mich hier richtig wohl fühlen.

Wieder sehe in Liams Augen. Er wirkt leicht irritiert. Ich lächle ihn an und versuche ihm mit meinem Herzen zu verdeutlichen, wie wichtig er mir geworden ist. Meine Einstellungsänderung scheint ihm nicht ganz so geheuer zu sein. Aber ich werde mir Mühe geben, damit er merkt, dass es mir ernst ist. Langsam lasse ich mich wieder in die Kissen gleiten und rutsche enger an meinen kuscheligen Partner heran.

„Weißt du was mein Freund? Es wäre alles um einiges Leichter, wenn du sprechen könntest. Dann könntest du mir einige meiner Fragen beantworten. Aber irgendwie schaffen wir das auch so. Wir beide müssen einfach zusammen halten.“

Es stimmt schon, dass alles viel einfacher wäre, wenn mein Partner ein Mensch wäre. Aber wäre er dann immer noch mein Liam? Ich weiß es nicht. Eigentlich gefällt er mir so wie er ist. Ich brauche ihn nicht in menschlicher Gestalt, sondern einfach nur an meiner Seite.

Ich seufze und streiche ihm über den Rücken. „Ich verspreche dir mein Freund, dass ich immer an deiner Seite bleibe, komme was wolle. Darum verlass mich bitte nicht.“ Ein Nicken seinerseits besiegelt unseren Treueschwur. Mit diesen Worten fallen meine Augen zu. Liams Gegenwart schenkt mir einen ruhigen und tiefen Schlaf.

 

Langsam erwacht mein Körper zum neuen Leben. Ich gähne und kuschle mich noch ein wenig an den warmen Leib. Ich will mich noch nicht bewegen. Insgeheim weiß ich aber, dass ich mich nicht ewig in dem Bett herumdrücken kann. Sophie wird bestimmt bald vor der Tür stehen und mir von der derzeitige Lage berichten wollen.

Mein grummelnder Magen treibt mich dann schließlich an. Ich schiebe meinen Bettgefährten sanft zur Seite und reibe mir die Augen. Meine Muskeln strecken sich in die Luft und ich gähne noch einmal genüsslich. Der Schlaf hat gut getan und mich erfrischt. Ich glaube so kann ich mich dem, was heute kommen mag gut widmen.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits Mittag ist. Noch verträumt sehe ich über die Schultern und will meinen Liam wecken, damit wir den Tag gemeinsam angehen können. Doch anstatt einer großen, mit Fell bedeckten Gestalt entdecke ich nur einen nackten Mann in meinen Bett. Seine langen Beine und Arme umklammern die Bettdecke, als würde sie ihm gehören. Seelenruhig schläft der Fremde, sein Oberkörper bewegt sich sanft bei jedem Atemzug.

Ich schreie und der Eindringling schreckt auf, faucht und hockt sich auf mein Bett. Seine Augen suchen die Gegend ab, dann trifft sein stahlgrauer Blick auf mich. Wir sehen uns schweigend an.

Als er merkt, dass es hier wohl keine Gefahr gibt, entspannen sich seine Muskeln sichtlich und er macht sich wieder breit. Wie ein junger Gott lümmelt er in meinen Laken und sieht mich süffisant an. Gähnend streckt er sich und ich bekomme einen guten Ausblick auf seinen wohlgeformten Körper.

Alles an ihm erinnert mich an Liam. Sein Gebären. Seine geschmeidigen Bewegungen. Aber vor allem seine klugen, stahlgrauen Augen. Ein Liam in menschlicher Gestalt. Das ist doch unmöglich. Oder? Ich schlucke. Dann grinst er mich an.

Gerade als ich mich damit angefreundet habe, einen Vierbeiner meinen besten Freund zu nennen, verschwinden über Nacht plötzlich zwei der vier Beine. Der Schock sitzt tief.

Unsicher stehe ich langsam auf und mache einen Schritt in Richtung Wand. Liam lässt mich nicht aus den Augen. Sein Blick gleitet kurz über mein Gesicht, dann wandert er meinem Körper herab. Plötzlich kommt mir das T-Shirt viel zu kurz vor. Hätte ich doch nur Unterwäsche angezogen! Ich fühle mich nackt.

Verlegen zupfe ich daran und ernte einen belustigten Blick. Meine Füße weichen weiter zurück. Ich kann nicht anders und muss ihn ebenfalls mustern. Dieser junge Mann wirkt nicht älter als Anfang 20. Seine Gesichtszüge sind weich und geschmeidig. Die Arme lang und schlank. Der Oberkörper wirkt gut durchtrainiert und ein leichtes Sixpack perfektioniert den Anblick.

Meine Augen gleitet ungeniert an seinem Bauchnabel vorbei bis zu den Hüften. Ich kneife sie schnell zu und spüre wie sich meine Wangen röten. Ich sollte mich jetzt nun wirklich auf wichtiger Dinge konzentrieren, als auf seine stattliche Ausstattung.

Mehrmals muss ich tief durchatmen um meinen Pulsschlag wieder zu beruhigen. Dann sehe ich ihm wieder ins Gesicht.

„Liam?“, flüstere ich in Richtung Bett. Seine Antwort besteht aus einem leichten Lächeln. Er ist es also wirklich. Mein Liam hat sich tatsächlich in einen Menschen verwandelt. Mist. Was mache ich jetzt nur mit ihm?

 

 

 

 

Kapitel 5 - Reflexion

 Kapitel 5.1 - Verhaltensreflexion

 

 

„Nach Beendigung der Aufträge empfehlen wir Ihnen

intensive Eigenreflexionen zu nutzen um die Qualität

der Zusammenarbeit mit ihrer Bestie zu steigern.

Analysieren Sie ihr eigenes Verhalten und erkunden

Sie ihre Reaktionen auf die Verhaltensmuster

ihrer Bestie. So können Sie nicht nur mehr über

sich selbst lernen, sondern auch ein Gefühl dafür

entwickeln, wie sie bestimmtes Verhalten ihrer

Bestie hervorrufen können.“

 

 

Tief durchatmen Tamara. Tief durchatmen. Natürlich muss immer alles auf einmal kommen, besonders dann wenn Du nicht damit rechnest! Also lass dich nicht so einfach aus der Ruhe bringen. Dann ist Liam eben ein Mensch. Na und. Dann zieht er dir dein T-Shirt eben mit seinen Blicken aus. Na und! Tief durchatmen.

Egal wie sehr ich es auch versuche. Es hilft nichts. Ich kann mich nicht runter fahren. Meine Schnappatmung will nicht nachlassen. Diese Situation ist gerade so surreal. So eigenartig.

Ich dachte immer, falls sich Liam wirklich verwandeln könnte. Nur falls. Dass er dann dieser Ziege mit Hose ähneln würde. Dass er mehr … nun ja … mehr Liam wäre.

Aber so wirkt er wie ein Model. Gepflegte, haarlose Haut. Schulterlange, dunkelgraue, glänzende Haare. Strahlende Augen, die mich nicht loslassen wollen.

Wie gehe ich jetzt mit dieser Situation um? Soll ich Sophie holen? Oder soll ich ihm erst mal was zum anziehen beschaffen? Keine Ahnung. Mein Gehirn ist total überfordert und dieser nackte Typ da hilft mir nicht gerade dabei meine Gedanken zu klären.

Ich sehe ihm nochmal in die Augen, doch mein Blick schweift ab und tastet sich lieber auf dem Boden entlang. Plötzlich fühle ich mich schüchtern und unsicher. Mist. Das kann ich gerade ganz und gar nicht gebrauchen. Aber leider muss ich zu meiner Schande mir selbst eingestehen, dass es das erste Mal ist, dass ich einen nackten Mann sehe.

Es nützt aber alles nichts. Ich kann nicht ewig an der Wand stehen und Liams Blicken ausweichen, wie eine eingeschüchterte junge Braut vor ihrer ersten Nacht. Ich muss die Gelegenheit nutzen. Ich muss endlich mit ihm reden und Antworten erhalten! Aber wie stelle ich das am besten an?

Unruhig scharre ich mit dem blanken Fuß über den Boden. Meine Hände greifen in einander und suchen Sicherheit und Kraft. Ich atme mehrmals durch und finde mich selbst gerade total albern.

Das da auf dem Bett ist mein Liam. Also sei nicht so schüchtern Tamara! Mach endlich deinen Mund auf! Du hast doch sonst keine Probleme damit!

Ich räuspere mich und starte meinen ersten Versuch: „Warum …?“. Doch meine Zunge fühlt sich so rau an wie Schmirgelpapier und verweigert mir ihren Dienst. Ich sammle all meine Spucke an und versuche so das raue Gefühl los zu werden.

„Warum hast du dich jetzt erst verwandelt?“ Endlich! Und meine Stimme klang ja recht normal. Ich sehe hoch. Liam richtet sich in meinem Bett auf und blickt sich kurz im Raum um. Dann zuckt er lässig mit den Schultern und grinst mich wieder an. Er krabbelt vor zur Bettkante und lässt seine Füße auf den Boden gleiten. Mit den Händen stützt er sich auf der Bettkante ab und lehnt sich ein wenig nach vorne. Zu mir. Zu nah.

Ich will weiter zurückweichen, doch mein Rücken presst sich bereits gegen die Wand. Schüchtern blicke ich auf und warte auf seine Antwort. Doch Liam starrt mich nur an und sagt keinen Ton. Was soll das? Was hat dieser Blick zu bedeuten?

„Was ist?“, frage ich etwas mutiger. Langsam gewöhne ich mich an seinen nackten Anblick. Innerlich kämpfe ich gegen meine verflixte Schüchternheit an. Immer wieder rede ich mir ein, dass das da vor mir kein Mann ist, sondern Liam. Meine Bestie. Doch so leicht ist das nicht. Leider.

Liam mustert wieder mein T-Shirt, dann meine nackten Beine. Unter seinem forschen Blick bekomme ich eine Gänsehaut und es läuft mir eiskalt den Rücken runter. Ich kenne diese Augen.

So hat er mich schon einmal angesehen. An unserem ersten Tag bei Gimini Intercorbs, als er mich das erste Mal nackt im Badezimmer gesehen hat, hat er mich auf die gleiche Art und Weise gemustert.

Wieder räuspere ich mich und versuche seine Aufmerksamkeit auf meine Stimme zu lenken.

„Liam. Kannst du mit mir reden?“ Bitte. Oh bitte, lass ihn mit mir sprechen. Ich flehe innerlich. Das wäre so eine Erleichterung. Endlich könnte ich ihm tausende Fragen stellen und dazu auch noch die Antworten bekommen. Er könnte mir von Rosalinde und Magdalena erzählen. Und mir endlich erklären, warum er mich mitgenommen hat. Am meisten interessiert es mich aber, warum er sich erst jetzt verwandelt hat. Ich gebe zu, dass es schon seine Vorteile haben könnte, nachdem er sich endlich dazu entschlossen hat mir als Mensch gegenüber zu treten.

Er legt seinen Kopf schief. Seine Lippen bewegen sich und formen stumm einige Silben, so als ob er erst einmal testen müsste, ob sie funktionieren. Dann gibt er einen leisen Laut von sich. Rau. Unbeholfen. Er versucht es immer wieder. Räuspert sich. Schluckt.

Seine Zunge schnellt kurz über seine Lippen. Dabei lässt er mich nicht aus den Augen. Er beobachtet jede meiner Reaktionen. Dann endlich gelingt es ihm zusammenhängende Laute von sich zu geben. Seine Augen leuchten vor Freude auf, ganz so als ob er gerade eine Schlacht gewonnen hätte.

„Ja. Es ist nur zu lange her.“ Da sind sie. Die ersten Worte. Mit kratziger Stimme, die aus der Übung zu sein scheint. Nur sehr leise kommt die heiß ersehnte Antwort von seinen Lippen. Perlt von ihnen ab und fliegt direkt in meine Ohren. Eine Gänsehaut überkommt mich und freudige Erwartung jagt einen Schauer über meinen Rücken.

Ich strahle ihn vor an, endlich kann ich mit ihm richtig kommunizieren. Dann runzelt sich meine Stirn. Es ist lange her?

„Was meinst du damit?“

Er nickt zögernd und mustert mein Gesicht. Scheinbar achtet er auf meine Reaktion und will testen wie ich darauf reagiere. Wovor hat er angst? Dass ich ihn verstoße? Oder dass ich ihn wieder anschreie?

„Wirklich? Heißt das auch, dass du dich schon mal verwandelt hast?“, frage ich ihn neugierig.

Er nickt.

„Warum verwandelst du dich dann erst jetzt?“

Er zuckt mit den Schultern und sieht weg. Liam will wohl auf dieses Thema nicht weiter eingehen. Plötzlich keimt eine unerklärliche Wut in mir auf.

„Wenn du dich eher verwandelt hättest, dann hätten ich mir so einigen Ärger ersparen können. Ist dir das Bewusst? Warum Liam? WARUM erst jetzt?“

Der dreiste Typ auf meinem Bett rollt ungeniert mit den Augen. Scheinbar hatte er bereits voraus gesehen, dass ich wiedermal die Beherrschung verliere. Mist dieses Biest hat mich also schon durchschaut.

Ungehalten stampfe ich mit dem Fuß auf. „Rede endlich!“

Er zuckt mit den Schultern. Dann schluckt er mehrmals, um seine Stimmbänder in Gang zu bringen, um endlich zu einer Antwort anzusetzen.

„Hab vergessen wies geht“, meint er gelangweilt. Mir platzt der Kragen.

„Vergessen? Wie kannst du so etwas wichtiges vergessen?“, frage ich außer mir.

„Es ist nicht wichtig.“

„Ist es sehr wohl!“ Wie kann diese Tatsache nicht wichtig sein?

„Für mich nicht“, kommt es angenervt von ihm. Ich verstehe ihn einfach nicht. Frustriert lasse ich die Schultern hängen. Da kann er endlich sprechen und bringt mich damit doch nur zur Weißglut. Ich seufze. Also ehrlich. Wenn es ihm so unwichtig ist, warum hat er seine Gestalt dann verändert?

Liam macht Anstalten aufzusehen. Er sieht mich an und tastet sich vorsichtig in meine Richtung. Wie ein Räuber der seine Beute nicht verschrecken will.

Warum will er mir auf die Pelle rücken? Ich halte eine Hand hoch um ihn auf Abstand zu halten. Verwirrt bleibt er zwei Schritte vor mir stehen.

„Bleib bitte weg. Ich brauche Luft zum Atmen und muss erst einmal meine Gedanken sortieren.“ Meine Brust kommt mir viel zu eng vor und mein Herz schlägt zu laut. Ob aus Wut oder Anspannung oder aus einem anderen Grund, kann ich nicht klar deuten. Und diese Tatsache beunruhigt mich gewaltig.

Immerhin ist er eine Bestie. Und ich fühle mich ausgerechnet von ihm angezogen. Das kann doch nicht normal sein. Mein Bauch kribbelt vor lauter Aufregung und meine Knie werden weich.

Ein jaulender Laut dringt aus seiner Kehle und verdeutlicht mir den Bestienanteil in seinen Genen um so mehr. Plötzlich wird mir das alles zu viel. Ich dränge mich an ihm vorbei und verkrieche mich im Bad. Mit einem lauten Knall fliegt die Tür hinter mit zu.

 

Ich lasse mich auf dem Badewannenrand nieder und stütze meinen Kopf auf die Hände. Warum muss alles immer auf einmal kommen? Gerade habe ich mich damit abgefunden, dass meine Großtante ein Mitglied von Gimini Intercorbs war und dass ich mir den Ratsherrn zum Feind gemacht habe.

Genau zu diesem Zeitpunkt muss sich mein Liam in einen Menschen verwandeln, der es nicht als wichtig empfindet, dies schon eher zu tun. Ich meine. Ich hätte mir unglaublich viel Ärger und Unannehmlichkeiten ersparen können, wenn Liam von Anfang an als Mensch herumgelaufen wäre.

Ich weiß nicht wie lange ich grübelnd im Bad sitze, aber irgendwann habe ich die Nase voll vom Selbstmitleid. Ich muss mir wirklich mal angewöhnen mich nicht mehr so schnell aus der Bahn werfen zu lassen.

Immerhin will ich hier Fuß fassen, da kann ich nicht jedes mal am Rande eines Nervenzusammenbruchs sein, wenn ich mit einer unbekannten Situation konfrontiert werde. Ich muss endlich stärker werden! Außerdem habe ich Liam gestern noch versprochen bei ihm zu bleiben. Komme was wolle! Er ist immerhin noch mein Liam. Oder?

Mit diesem Vorsatz atme ich mehrmals durch und beruhige mich allmählich. Ich verdonnere mich dazu, dass alles Rational zu betrachten. Jeden Aspekt des bisher Erlebten nüchtern zu sehen, es mir nicht zu Herzen zu nehmen. Bleib Cool Tamara! Eine Morel bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Naja, eigentlich.

Ich putze mir die Zähne, wasche mein Gesicht und kämme mir die Haare. Danach trete ich aus dem Bad und an den Schrank. Als ich mich umsehe und meine Bestie in Menschengestalt suche, entdecke ich sie neben der Badezimmertür.

Liam hat sich auf den Boden gehockt und funkelt mich von unter her an. Warum wirkt er auf einmal wütend? Er richtet sich langsam auf und kommt in meine Richtung. Ich drehe mich um und suche mir Kleidung raus. Dabei versuche ich nicht so nervös zu wirken, wie ich mich eigentlich fühle. Immerhin kommt ein splitterfasernackter Kerl geradewegs auf mich zu. Und ich habe nicht viel mehr an.

Ich wähle eine Hose, ein Tanktop und saubere Unterwäsche. Mit dem Bündel in der Hand will ich wieder ins Bad gehen, doch Liam versperrt mir den Weg.

„Was soll das?“ Wieder diese raue, ungeübte Stimme.

Mein Rückgrat fängt an zu kribbeln. Ich darf mich von ihm nicht einschüchtern lassen. Ich bin der Master! Das muss ich ihm deutlich machen. Mühsam kratze ich meine wenigen Fachkenntnisse zusammen, die mir bis jetzt beigebracht wurden. Caleb meinte immer, dass ich Liam gegenüber dominanter auftreten solle. Also wage ich den Versuch.

„Was soll was?“, schnaube ich ihm entgegen. Liam greift nach meinem Arm, doch ich dränge mich vorbei. Mit den Schultern mache ich mir platz und verschwinde schnell im Bad. Erleichtert schließe ich die Tür hinter mir zu und ziehe mich in Rekordzeit um. Wenn ich die Oberhand in unseren Auseinandersetzungen behalten will, dann muss ich Liam schleunigst etwas zum anziehen besorgen.

Als ich fertig bin trete ich wieder an den Schrank und ignoriere den wütenden Blick meiner Bestie. Er hat sich wieder auf das Bett gesetzt und brummt vor sich hin. Ich wähle eine groß wirkende Jogginghose und ein extra langes T-Shirt. Dann werfe ich beide Sachen aufs Bett und sehe Liam an.

„Hier. Das kannst du anziehen.“ Ich versuche ihn anzulächeln. Doch meine Gesichtsmuskeln fühlen sich an, als würde ich ihm eine Grimasse schneiden. Sein Kopf dreht sich etwas zur Seite und er erwidert meinen Blick störrisch. Die klaren grauen Augen glänzen herausfordernd.

„Warum sollte ich?“

„Damit du nicht frierst“, argumentiere ich verdutzt. Was soll das jetzt? Sind wir hier im Kindergarten gelandet?

„Ich friere nicht.“ Bockig wie ein Kind schubst er die Kleidung auf den Boden und sieht mich an.

„Aber als Mensch zieht man nun mal Kleidung an.“

„Ich weiß.“

„Na dann ...“ Ich zeige auf die Kleidung und fordere ihn stumm auf sie einzusammeln.

„Ich bin aber kein Mensch. Ich bin eine Bestie“ trotzig und mit rauer Stimme lässt er meinen Blick nicht entwischen. Was für ein kleiner Mistkerl.

Ich zucke lässig mit den Schultern. „Wie du meinst“, sage ich und drehe mich um. „Dann verwandle dich doch wieder. Dann brauchst du keine Kleidung.“

Ich ignoriere sein Schnauben und gehe zum Essensaufzug. Der kleine Bildschirm blinkt auf und zeigt mir, was es heute zu Essen gibt. Ich wähle zwischen den einzelnen Menüs und bestelle mir Bratkartoffeln mit Schnitzel. Dazu gibt es einen Schokoriegel. Mir läuft bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen und ich kann es kaum erwarten, dass das Essen hier ankommt.

Ein leiser Klingelton verrät mir, dass ich mich bedienen kann. Ich stelle den Teller auf den Tisch und mache mich an mein Mittagessen.

Dabei ignoriere ich den schmollenden Kerl auf meinem Bett und widme mich ganz meiner Mahlzeit. Vielleicht klappt ja meine Taktik, die ich schon oft im Jugendclub angewandt habe. Da konnte ich auch den einen oder anderen Rebellen bändigen, indem ich ihn einfach links liegen ließ, wenn er über die Grenzen geschritten war. Nach einiger Zeit kam der kleine Rebell dann meiner Bitte nach und ich konnte siegreich ins Feld ziehen.

Meine Ausbildung als Erzieherin sollte mir doch bei der Erziehung meiner Bestie gewisse Vorteile verschaffen. Vor allem da mich Liams Mentalität oft an ein kleines, trotziges Kind erinnert oder manchmal sogar einen pubertierenden Teenager.

Auch dieses Mal funktioniert es. Nach einer Viertelstunde lässt er sich angezogen an meinem Tisch nieder. Griesgrämig, weil ich gewonnen habe, verschränkt er seine Arme vor der Brust.

Durch die Augenwinkel mustere ich ihn. Er wirkt ganz und gar nicht wie eine wilde Bestie, die früher brüllend und fauchend ihren Willen durchgesetzt hat. Er könnte glatt als normaler Mensch durchgehen. Aber beim genaueren Betrachten sticht sein animalisches Wesen überdeutlich hervor. Seine Augen glänzen Raubtierhaft und obwohl er lässig dazusitzen scheint, ist jeder seiner Muskeln angespannt und sofort bereit seinen Gegner anzugreifen. Ich schlucke. Leider muss ich zugeben, dass die Kleidung ihn nur noch attraktiver wirken lässt. Schnell wende ich meinen Blick wieder ab.

„Hast du keinen Hunger?“ Meine Frage durchbricht die trotzige Stille.

„Nein“, brummt es mir entgegen. Ich sehe von meinem Teller auf. Mein Bauch ist gut gefüllt. Mit dem letzten Rest Wasser spüle ich den Schokoriegel runter. Dann lehne ich mich an.

„Warum nicht?“, frage ich neugierig. Das wollte ich schon immer mal wissen. Warum frisst Liam so gut wie nie?

„Darum.“ Oha. Er hat wohl wenig Lust auf mein Frage-und-Antwort Spiel.

„Warum bist du so bockig?“

„Ich bin nicht bockig!“

„Doch Liam, das bist du“, meine ich mit mehr Nachtruck. Sag ich doch. Die Mentalität einen Kindes. Wieder fixieren mich seine unglaublichen Augen.

„Was ist los?“, frage ich sanft nach, um ihn zum Regen zu bringen.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, erwidert er mürrisch.

Dieses Mal rolle ich genervt mir den Augen. „Welche Frage?“

Mit einem ruppigen Kopfnicken zeigt er auf die Badezimmertür. Ich runzle verwirrt die Stirn.

„Warum bist du weg gelaufen?“

„Ach so. Das meinst du. Ich musste erst einmal Nachdenken und alles Sortieren.“

„Warum?“ Will er das wirklich wissen?

„Diese ganze Situation ist einfach nur seltsam, weißt du? Normalerweise verwandeln sich keine Tiere in Menschen. Und das einfach über Nacht.“

Ein verständnisloser Blick von Liam. „Ich bin aber kein Tier. Ich bin eine Bestie.“

„Und ich bin nicht mit Bestien aufgewachsen. Sophie meinte, dass du dich nicht verwandeln könntest. Selbst Professor Gillian hatte seine Zweifel. Warum hätte ich die Meinungen von zwei Genetikern in Frage stellen sollen, die euch züchten und studieren?“

Seine Augen hellen sich auf. Scheinbar beginnt er zu begreifen.

„Also sag mir bitte, wie du vergessen konntest, dass du dich verwandeln kannst?“

Liam sieht mich belustigt an. „Ich verwandle mich nicht. Ich passe mich nur an.“

„Aha. Und warum erst jetzt?“, frage ich neugierig. Endlich wird Liam gesprächiger

Er überlegt. Dabei bleiben seine Augen auf mir kleben. Er mustert mich intensiv und wieder überkommt mich dieses seltsame Kribbeln in meinem Bauch.

„Ich habe mich einfach wieder daran erinnert, wie es es geht.“

Oh ha. Liam ist da wohl ein Licht aufgegangen.

„Und was war der Auslöser?“

„Ich wollte mich anpassen.“ Irgendwie drehen wir uns im Kreis.

Ich seufze. Muss ich ihm alles aus der Nase ziehen? Er könnte mir ruhig etwas entgegen kommen und mehr von sich aus berichten. Aber ich sollte froh sein, dass er mir überhaupt antwortet.

„Und woran wolltest du dich anpassen?“

Er grinst. „An dich.“

Meine Augen weiten sich. „Wieso?“

 

Kapitel 5.2 - Reflexion mit Hilfe von Außenstehenden

 

Setzen Sie sich mit ihrem Züchter oder Trainer in

Verbindung, um gemeinsam den letzten Auftrag

auszuwerten. Reflektieren Sie gründlich ihre Taktiken

und Vorgehensweisen. Seien Sie offen für konstruktive

Kritik. Nur so können Sie die Erfolgsquote ihrer Aufträge

erhöhen.“

 

 

Wir starren uns eine Weile schweigend an. Irgendwann halte ich seinen intensiven Blick nicht mehr aus. Da Liam keine Anstalten macht mir zu antworten stehe ich auf, um mich zu beschäftigen.

Mit wenigen Handgriffen habe ich den Tisch abgeräumt und wieder sauber gemacht. Liam lässt mich, wie soll es auch anders sein, immer noch nicht aus den Augen. Sein Blick brennt sich in meine Seele. Ruhig Blut Tam. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen! Als er noch in Gestalt einer Bestie war hat mich sein beobachtender Blick nicht gestört, aber nun. Mein ganzer Körper kribbelt und ich fühle mich einfach nicht mehr wohl in meiner Haut.

Als ich mich wieder hinsetzen will, um vielleicht Antworten auf andere Fragen zu erhalten, klopft es laut an meiner Tür. Plötzlich wird mir eiskalt bewusst, dass ich hier einen menschlichen Liam sitzen habe. Wie soll ich das erklären?

Ich schiebe mich an die Tür und flüstere Liam zu, dass er sich nicht vom Fleck bewegen soll. Auf einmal wird er ganz ruhig und seine Nasenflügel blähen sich auf, als er Witterung aufnimmt. Seine Körperhaltung verrät mir, dass er sich in Verteidigungsstellung begibt, um mich zu beschützen wenn es notwendig sein sollte.

Mein Herz blüht auf. Schnell verstecke ich diese unsinnige zarte Pflanze ganz weit hinten in meinem Bewusstsein. Dieses Gefühl kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Zögernd öffne ich die Tür einen Spaltbreit und atme erleichtert auf. Sophie. Sie grinst mir neckisch entgegen. Scheinbar hat sie gute Nachrichten. Ich schlucke. Nun gut. Augen zu und durch. Bevor ich Sophie herein bitte sehe ich sie eindringlich an.

„Jetzt bitte nicht ausflippen!“

Verwirrt starrt sie zurück und schiebt sich an mir vorbei. Ihr Tatendrang und ihre gute Laune platzen nur so aus ihr heraus, doch bevor sie mich mit den neuesten Nachrichten beschießen kann stoppt sie mitten im Zimmer. Ihr Blick bleibt an Liam hängen und sie sieht ihn mit einem Stirnrunzeln an. Dieser scheint sich bei ihrem Anblick zu entspannen, da er weiß, dass von Sophie keine Gefahr ausgeht. Lässig lehnt er sich in seinem Suhl zurück und seine Augen kleben sich wieder wie zwei Magnete an mir fest. Ohne erbarmen. Ohne Pause.

Die junge Wissenschaftlerin räuspert sich und wirkt etwas verlegen. Mit roten Wangen sieht sie zu mir und fängt an mich anzugrinsen.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du dir einen süßen Offizier geangelt hast. Wann hattest du denn Zeit dafür?“, flüstert sie in meine Richtung. Dabei wirkt sie merkwürdiger Weise erleichtert. Seltsam.

Meine Augen weiten sich. Sie denkt doch etwa nicht, dass das da mein One nightstand ist. Schnell schüttle ich wie wild mit dem Kopf. Meine Haare wirbeln herum und tanzen in der Luft. Ich will nicht, dass sie auf solch einen absurden Gedanken kommt. Liam ist doch meine Bestie.

„Nein. So ist das nicht! Das ist Liam“, verteidige ich mich mit Nachdruck.

Wieder schwappt mir Verwirrung entgegen. Dann dreht sie sich nochmal zu Liam um und mustert ihn genauer. Ihre Wangen röten sich. Plötzliches Verstehen dringt zum Vorschein. Sie sieht wieder zu mir und strahlt mich an. Die Wissenschaftlerin in ihr ist hoch begeistert und beginnt Liam mit professionellen und aufdringlichen Augen zu analysieren.

Sie stellt sich neben mich. Es dauert eine Weile bis sie anfängt mich mit Fragen zu bombardieren: „Wann ist das passiert? Wie ist es passiert? Welche Bedingungen braucht XS-707-GP4 für die äußerliche Veränderung? War seine Veränderung schmerzhaft? Kann er sie Rückgängig machen?Kann er sprechen?“

Atemlos und mit einem immensen Wissensdurst blickt sie mich an und erwartet die Antworten auf all ihre Fragen. Doch ich zucke nur mit den Schultern. Woher soll ich denn diesen ganzen Kram wissen? Ich konzentriere mich auf die Fragen die ich beantworten kann. Leider sind sie in der Minderheit.

„Als ich heute morgen aufgewacht bin, war er schon so. Und ja, er kann sprechen.“ Ich sehe ihn an und er erwidert meinen Blick mit einem wissende Lächeln. Sophie setzt sich auf einen der Stühle am Tisch und deutet mir mich neben ihr nieder zu lassen.

„Befehle ihm mir zu antworten.“

Ich zucke wieder mit den Schultern.

„Liam ist nicht Taub. Frage ihn doch direkt.“

Sophie wirkt skeptisch, richtet sich aber dann doch selbst an Liam: „Kannst du mir bitte antworten?“

Ein Tiefer Blick. Ein abweisendes Schnauben. Dann ein: „Kein Bock.“

Ich dachte es mir schon, als er mich mit diesem verschwörerischem Blick bedacht hat. Warum ist er so gehässig? Die arme Sophie kann einem ja richtig leid tun. Ich sehe ihn missbilligend an. Liam seufzt. Ich stelle meinen Ellenbogen auf dem Tisch ab und stütze den Kopf auf die Handfläche, dabei sehe ich zu meiner Freundin.

„Hab ich mir gleich gedacht. Er ist sturer als ein Esel.“ Für diesen Kommentar ernte ich ein abfälliges Schnauben. Doch ich kümmere mich nicht darum. Sophie sieht mich traurig an.

„Was hast du für Neuigkeiten mitgebracht?“, versuche ich sie abzulenken. Ich strafe meine gemeine Bestie mit Ignoranz. Das hat er nun davon! Scheinbar gefällt Sophie mein plötzlicher Themenwechsel nicht, aber ihr bleibt nichts anderes übrig als mir zu antworten.

Sie holt tief Luft und beginnt mit ihrem Bericht: „Also zuerst habe ich Lukas kontaktiert. Er hat mir gesagt, dass keiner herausgefunden hat, dass er uns geholfen hat. Das ist gut. Denn so kann er uns weiter Informationen beschaffen.“

„Wie konnte er sich denn verbergen?“, hake ich neugierig nach.

„Nun ja. Unseren genauen Aufbruchszeitpunkt kennt der Rat nicht. Lukas ist es gelungen für einen Stromausfall zu sorgen der die Systeme bei unserem Verschwinden lahm gelegt hat. So waren alle damit beschäftigt den Schaden zu beseitigen und wir konnten unbemerkt entkommen.“

„Oh. Wie tragisch.“ Wir grinsen uns beide an.

„Lukas hat bereits im Vorfeld für sich ein wasserdichtes Alibi besorgt und war dabei das gleiche für uns zu tun. Nur leider hat ihm Silvana dazwischengefunkt. Sie wollte XS-707-GP4 unbedingt kennenlernen und hat darauf bestanden Kontakt mir dir aufzunehmen. Da ist ihnen deine Abwesenheit klar geworden. Und einem der Verantwortlichen für die Fahrzeuge ist das Fehlen des Geländewagens von Caleb aufgefallen. Da hat Ratsherr Blackthrone eins und eins zusammen gezählt.“

„Ach, so ein Mist!“

„Du sagst es.“ Sophie blickt kurz zu Liam. Aber ihre Augen verraten mir, dass sie nicht schlau aus ihm wird. Mit einem Stirnrunzeln sieht sie mich an. Dann schüttelt sie kurz den Kopf. Ich würde alles geben um genau jetzt in ihren Kopf blicken zu können.

Ich versuche nicht vom Thema abzuschweifen. Denn es gibt da noch einige unbeantwortete Fragen. Wäre diese Silvana nicht aufgetaucht, dann hätte unser Plan sicher funktioniert.

„Aber warum war im Keller dann trotzdem Licht, als wir los gefahren sind?“

„Da gibt es ein Notaggregat. Wegen den Pflanzen. Die Kameras aber sind an das normale Stromnetz angeschlossen und waren so für kurze Zeit nicht funktionstüchtig.“

„Hat sich denn keiner über den plötzlichen Stromausfall gewundert? Ich meine der Zufall mit unserem heimlichen Ausbruch und dem Kameraausfall muss doch jemanden aufgefallen sein.“

Sophie lächelt mich an. Ihr gefällt wohl, dass ich das bedenke. „Deshalb hat auch Lukas diesen Zusammenhang Ratsherrn Blackthrone gemeldet.“

Verdutzt richte ich mich auf.

„Warum?“

„Na um sich selbst aus der Schusslinie zu ziehen und um uns später noch weiter helfen zu können.“

Das klingt logisch. So oder so wussten sie ja schon von unserem Verschwinden. Indem Lukas den Zusammenhang feststellte und sofort meldete, bewies er seine Loyalität. Es muss sich ja nicht gleich jeder mit dem Ratsherrn anlegen.

Auf einmal fällt mir etwas ein. Verdammt, wie konnte ich das bisher nur vergessen?

„Was ist mit den Akten?“

„Welche Akten?“

„Ich habe aus dem geheimen Labor Akten mitgenommen und sie in dem Geländewagen liegen gelassen.“ Sophies Augen weiten sich vor Überraschung. Damit hat sie wohl nicht gerechnet. Sie überlegt kurz.

„Das Auto sollte unbewacht sein. Ich glaube kaum, dass jemand vermutet, dass da noch etwas drin sein könnte. Ich werde es Caleb sagen. Da es sein Wagen ist kann er sich unauffällig darum kümmern.“

Das beruhigt mich ungemein. Ansonsten würde die Akte über Rosi einem Fremden in die Hände fallen. Das will ich nicht. Ihr Leben geht niemanden etwas an.

„Warum war der General eigentlich so merkwürdig drauf?“, frage ich besorgt.

Unruhig rutscht Sophie auf dem Stuhl hin und her. Sie ringt mit der Antwort. Ihr scheint es unangenehm zu sein. Mit zusammengefalteten Händen und starren Blick gibt sie mir die gewünschte Information: „Ratsherr Blackthrone ist Calebs Vater. Er übt sehr viel Druck auf ihn aus und hat ihn fest in der Hand. Er ist der einzige, dem sich Caleb niemals widersetzten würde.“

So ist das also. Irgendwie ist es ja verständlich, dass man seinem eigenem Vater nicht die Stirn bieten will. Vor allem nicht, wenn er so einschüchternd ist wie der Ratsherr.

Aber was ist, wenn sich der Rat plötzlich gegen mich entscheidet und Caleb zwischen die Fronten gerät? Wen würde er dann unterstützen?

 

Sophie versucht im Laufe des frühen Nachmittags immer wieder Liam zum Reden zu bringen, doch der schweigt stur. Nach einiger Zeit wird ihm die Fragerei zu blöd und er rollt sich auf meinem Bett zusammen. Das sollte kein ungewohnter Anblick sein, aber irgendwie finde ich es schon eigenartig einen ausgewachsenen Mann in meinem Bett liegen zu sehen, der nicht mit mir verwandt ist.

Wir nutzen die Gelegenheit, als klar wird, dass er tatsächlich eingeschlafen ist. Ich ziehe mich mit Sophie in die entlegenste Ecke zurück. Im Flüsterten unterhalten wir uns und ich hoffe im geheimen, dass Liam wirklich nichts mitbekommt.

„Was hältst du von der ganzen Sache?“, frage ich leicht verlegen.

„Ich weiß es noch nicht genau. XS-707-GP4 ist die einzige Bestie, die mir so viele Fragen aufwirft. Ich würde zu gerne seinen gesamten genetischen Code entschlüsseln.“

„Und wie soll das jetzt weitergehen? Was ist wenn Silvana nach ihm fragt?“

„Ich finde du solltest diese Fähigkeit ausnutzen. XS-707-GP4 ist immerhin deine Bestie. Dass er sich gänzlich in einen Menschen verwandeln kann, kommt dir nur zu Gute. Demonstriere deine Macht.“

Das leuchtet mir schon ein, aber soll ich mich wirklich nur auf Liams Fähigkeiten verlassen? Kann ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Vor allem mein Stolz wehrt sich vehement dagegen.

Ich war schon immer unabhängig. Hatte nur sehr wenige Freunde. Um genau zu sein, ist mein fast gleichaltriger Cousin mein einziger dauerhafter bester Freund. Bei ihm fällt es mir leicht mich fallen zu lassen und um Hilfe zu bitten.

Wie kann ich mich da vollkommen einem einzigen Wesen hingeben, dass ich so gut wie nicht kenne und mich nur noch auf ihn verlassen? Bis vor kurzen konnte ich noch Kraft aus seiner animalischen Stärke und Treue schöpfen. Aber jetzt ist alles anders. Nutze ich Liam nicht nur aus? Immerhin bringt es nur mir Vorteile, wenn er an meiner Seite bleibt. Was hat er davon? Warum ist er so treu? Wird das immer so bleiben, oder wird er hier in dem Institut vielleicht eines Tages einen anderen Master finden. Einen der besser mit ihm umzugehen weiß. Vielleicht lernt er ja Silvana näher kennen und lieben.

Bei dem Gedanken krampft sich mein Magen zusammen. Was soll dann aus mir werden, wenn Liam sich tatsächlich dazu entschließt mich zu verlassen? Wäre es da nicht besser ihn zuerst zu verlassen? Ich will nicht verletzt werden. Andererseits kann ich mir meinen Alltag ohne meine Bestie nicht mehr vorstellen. Auch wenn sie jetzt zwei Beine hat und verdammt verführerisch ist. Mein Blick wandert wieder in seine Richtung. Ich seufze verträumt vor mich hin, dabei ignoriere ich den besorgten Gesichtsausdruck meiner Freundin.

Sophie informiert Caleb telefonisch über die Akten und er verspricht ihr sich darum zu kümmern. Gegen vier Uhr kommt dann Lukas kurz vorbei. Er überreicht mir eine Tüte mit meinen Fundstücken und die Aktentasche. Caleb hat ihm die gewünschten Materialien übergeben und ihn beauftragt sie an mich weiter zu reichen. Was ihn wohl davon abgehalten hat sie mir persönlich zu bringen? Ein wenig bin ich enttäuscht. Ich hätte mich gerne mit Caleb über Liam unterhalten, vor allem da er der erste war, der sich gefragt hat, ob sich Liam in einem Menschen verwandeln kann. Äh, ich meine anpassen.

Liam habe ich vor den neugierigen Augen natürlich vorerst versteckt. Ich bin mir noch nicht sicher, in wie weit ich Lukas vertrauen kann, darum will ich ihm meinen menschlichen Partner nicht zeigen. Vor allem da ich mich noch nicht ganz entschieden habe, wie ich mit der aktuellen Situation umgehen werde.

Ich überreiche Sophie die Akten der fremden Herrn und die losen Blätter aus dem Aktenschrank. Dabei verschweige ich ihr, dass es noch mehr gibt. Ich weiß, dass das nicht fair ist. Mein Schlechtes Gewissen verpasst mir eine Ohrfeige, aber dennoch will ich den Rest erst einmal selbst eingehend studieren.

Liams Blätter, die Fotos und die Akte von Rosalinde behalte ich also vorerst für mich. Dann verabschiedet Sophie sich und verspricht mir, mich morgen früh wieder zu besuchen. Wir wollen die Daten, die sie gewinnen konnte gemeinsam auswerten und unsere nächsten Schritte besprechen.

Sobald ich wieder alleine bin regt sich mein Liam wie auf Kopfdruck und gesellt sich wieder zu mir an den Tisch. Lässig legt er ein Bein über das andere und lehnt sich zurück. Seine klugen Augen mustern mich. Ich wüsste zu gerne was er gerade denkt.

Innerlich zucke ich mit den Schultern. Diese Bestie ist wie ein Buch mit sieben Siegeln. Nur leider fehlen mir die passenden Schlüssel, um an den Inhalt zu gelangen. Ich genehmige mir einen Kaffee und widme mich den ersten Seiten von Rosalindes Akte. Noch werde ich Sophie nichts von ihr erzählt. Ich bin einfach noch nicht bereit um schon darüber zu sprechen.

 

Kapitel 5.3 - Intensive Pflege als Reflexionsmittel

 

„Nach der Eigen- und Fremdreflexion, steht

die Pflege ihrer Bestie im Vordergrund. Hier

können Sie die Art der Pflege nach der Leistung

ihrer Bestie während des letzten Auftrages

intensivieren. So lernt die Bestie ihr eigenes Handeln

zu überdenken und wird sich beim nächsten Auftrag

mehr Mühe geben, um die gewünschte Belohnung

zu erhalten.“

 

 

Ich stelle die Kaffeetasse ab und öffne den Ordner. Die Uhr zeigt mir, dass es nicht mehr lange dauert und das Abendessen schon wieder ruft. Trotzdem kann ich nicht anders und muss in der Akte von Rosi weiterlesen. Der Duft von altem Papieren dringt in meine Nase. Er ist nicht unangenehm und lockt mich umso mehr den Inhalt in mich aufzusaugen.

Noch einmal wandern meine Augen über die Zeichnung von XF-606-GP4. Jedes einzelne Detail dieser einzigartigen Kreatur dringt tief in mein Bewusstsein ein. Am meisten faszinieren mich die schwarzen, eleganten Federn. Aber auch seine Augen schlagen mich in den Bann. Sie wirken sehr sanftmütig und liebevoll. Ob diese Bestie wohl ein treuer Gefährte für meine Großtante geworden ist?

Ich wünschte, ich hätte ihr begegnen können. Ich frage mich, ob auch Rosis Bestie zu einem Menschen werden konnte. Scheinbar wurde auch sie von Professor Gillian dem ersten gezüchtet. Das „X“ und die Endung „GP4“ bestätigen meine Vermutung, die auf den gleichen Züchter hinweist.

Auf der nächsten Seite lächelt mir Rosi entgegen. Ich lächle zurück und blättere behutsam weiter.

Der erste Eintrag meiner Großtante stammt aus dem Jahre 1941. Genau ein Jahr nach ihrer Entführung. Da war sie gerade mal 14. Was wohl in dem Jahr passiert ist, das nicht dokumentiert wurde. Meine Augen gleiten gebannt über die elegant geschriebenen Worte:

 

27.Oktober 1941

 

Es ist das erste Mal, dass ich meine Erlebnisse dokumentieren muss.

Der Professor bat mich sehr genau zu schreiben, um ihm bei seinen

Nachforschungen zu helfen.

Natürlich will ich ihn so viel unterstützen wie ich kann, denn immerhin

hat er mich wie ein Familienmitglied aufgenommen. Dafür bin ich ihm

unendlich dankbar.

Als der Professor mir dann auch noch verkündete, dass ich zum ersten Mal

auf meine Bestie treffen werde, konnte ich mein Glück nicht fassen. Endlich

durfte ich mich mit XF-606-GP4 vertraut machen.

Ich habe in dem vergangen Jahr sehr viel über die Bestien erfahren und

dem Grund, warum ich zum Master erwählt wurde.

Nun habe ich sogar meine eigene Bestie bekommen. Ich war sehr nervös,

denn der erste Eindruck zählt ja bekanntlich.

Aber auch meine Bestie war aufgeregt. Das habe ich ihr sofort angemerkt.

Ich mag sie sehr. Sie ist so wunderschön, wild aber gleichzeitig auch sanftmütig. Und sie scheint mich zu mögen.

Leider war die erste Begegnung viel zu kurz.Ich freue mich schon auf

Morgen und kann unser erstes Training kaum erwarten.

 

Rosalinde Blum

 

Die Art und Weise, wie Rosi schreibt, zeigt, dass sie bereits sehr erwachsen für ihr Alter ist. Viel zu erwachsen! Das macht mich traurig. Ihr ist einiges von ihrer Kindheit verloren gegangen. Andere Mädchen ihres Alters hätten sich wahrscheinlich eher den Jungs aus ihrer Nachbarschaft gewidmet. Ich sehe sie beinahe vor mir, wie sie kichernd in der Ecke stehen und sich leise über die Bengel unterhalten. Auch Rosi hätte unter ihnen sein können. Diese Erfahrung wurde ihr allerdings verwehrt und sie musste viel zu schnell erwachsen werden.

Sie verbrachte ihre Zeit damit, sich auf ein Leben als Master vorzubereiten und den Verlust ihrer Familie zu verkraften. Dass der Professor so liebevoll mit ihr umgegangen ist und ihr Heimweh ein wenig lindern konnte freut mich. Sophie kommt definitiv nach ihrem Urgroßvater.

Andererseits macht mich meine junge Tante auch unheimlich Stolz. Es ist ihr gelungen sich anzupassen, aber gleichzeitig ihre Persönlichkeit bei zu behalten. Sie musste bereits mit 13 Dinge durchleben, die anderen Kindern ihres Alters fern geblieben sind. Ohne Eltern, ohne Bekannte wurde sie in eine fremde Welt gerissen. Dennoch ist aus ihr scheinbar eine junge Frau geworden, die sich selbst nie vergessen hat.

Die folgenden Seiten beschreiben ihr Training mit der Bestie und die vielen erfolgreichen Aufträge. Gemeinsam machen sie große Fortschritte. Rosi und ihr Partner wachsen immer mehr zusammen und werden zu einer Einheit. Ich bin froh, dass XF-606-GP4 so gut auf meine Verwandte aufgepasst hat. Genauso, wie Liam jetzt auf mich acht gibt.

Kurz schiele ich zu meinem Partner. Er mustert mich interessiert. Seine Augen sehen mich schon wieder so intensiv an, dass es mir die Schamesröte in die Wangen treibt. Schnell wende ich mich wieder der Akte zu. Der nächste Eintrag der mein Interesse weckt und meinen Atem raubt stammt von 1946:

 

12.August 1946

 

Der Professor stellte mir heute Magdalena Ashtray vor.

Bis zu diesem Zeitpunkt war sie jemand vollkommen ungreifbares

für mich. Nur aus der Ferne konnte ich mein Vorbild beobachten.

Doch war es soweit. Endlich durfte ich Magdalena persönlich

treffen.

Der Professor meinte, dass ich so gute Arbeit geleistet hätte,

dass ich doch tatsächlich als Ratsmitglied nominiert wurde.

Ich fasse es noch nicht. Ich und ein Ratsmitglied, unglaublich!

Zeitgleich durfte ich den berühmten XS-707-GP4 kennenlernen.

Diese Bestie ist die „reinste Perfektion“, wenn ich den Worten des

Professors glauben schenken kann.

Allerdings ist XS-707-GP4 ganz anders als mein Partner. Er ist still

und in sich zurückgezogen. Sein Blick ist sehr kühl und gefühllos.

Irgendwie macht er mir Angst.

Ich muss mich zusammen reißen! Denn immerhin wird mich Magdalena

ab Morgen trainieren, damit ich die Nominierung bestehe und

vielleicht wirklich in den Rat aufgenommen werde.

 

Rosalinde Blum

 

Ich atme mehrmals durch. Dann blicke ich zu Liam. Er ist also meiner Verwandten tatsächlich schon einmal vor über sechzig Jahren begegnet. Seine Augenbrauen ziehen sich fragend zusammen. Ob er ahnt, dass ich mit Rosalinde verwandt bin? Sehen wir uns ähnlich? Ich wage es und versuche ein paar Informationen aus ihm herauszubekommen.

„Kanntest du Rosalinde?“, frage ich angespannt.

Ich halte die Luft an und hoffe, dass er kooperiert. Liam dreht den Kopf leicht zur Seite und sieht mich fragend an. Ich hole das Foto aus der Tasche, auf dem Rosi und Magdalena am Schreibtisch sitzen. Er wirft einen flüchtigen Blick darauf. Ich versuche seine Emotionen zu lesen, doch kann nichts besonderes ausmachen. Wie fühlt er sich wohl, wenn er ein Bild seiner ehemaligen Herrin sieht?

Mein Partner zuckt lässig mit den Schultern und nickt ganz leicht. Beinahe wäre mir diese Zustimmung entgangen. Er hat scheinbar wenig Lust zu antworten. Doch ich kann und will nicht nachgeben. Mein Wissensdurst schreit nach Befriedigung.

„Wie war sie denn so?“

Er seufzt. „Wieso? Ist das wichtig?“

„Für mich ja.“ Jetzt mustert er mich eindringlicher. Sieht zur Akte, dann wieder zu mir.

„Warum stocherst du in der Vergangenheit herum?“

Wie soll ich ihm darauf antworten? Die Wahrheit? Nein, dafür ist noch nicht die rechte Zeit. Vor allem da ich nicht einschätzen kann, ob es bei ihm gut ankommen würde oder nicht.

„Sag es mir. Bitte.“ Dieses Mal versuche ich es mit Betteln. Ich ahme den Dackelblick nach, dem ich selbst schon so oft verfallen war, wenn einer meiner Kinder ihn gegen mich verwendet hatte.

Ein weiteres Seufzen. Dieses Mal aber resignierend. Langsam glaube ich, dass Liam mir keine Bitte abschlagen kann.

„Sie war nett.“ Ist das alles? Na toll.

„Wie nett?“

„Sehr.“ Er zuckt mit den Schultern.

„Komm schon Liam. Erzähl mir mehr von ihr“, drängle ich mit dem nächsten Dackelblick, nur um ihn noch etwas mehr weich zu kochen.

Er überlegt. Zuckt dann aber wieder mit den Schultern. „Sie war nett. Nichts weiter.“

Langsam verliere ich die Geduld. Vor mir sitzt ein wandelndes Geschichtsbuch, das für meinen Geschmack viel zu wenig preis gibt. Verdammt. Aber vielleicht habe ich auch nicht die richtigen Fragen gestellt.

„Hat sie sich gut mit deinem Master verstanden?“ Kurz sieht er mich fragend an, dann scheint es ihm zu dämmern, dass ich mit „Master“ nicht mich, sondern Magdalena meine.

„Eher weniger. Am Anfang ja. Aber später nicht so.“

Wieder so eine knappe Antwort. Ich sehe ihn an, aber Liam weicht meinem Blick aus. Ihm scheint die Vergangenheit unangenehm zu sein. Dennoch habe ich nicht vor so schnell locker zu lassen.

„Und warum nicht?“

„Keine Ahnung. War nicht wichtig.“ Gelangweilt mustert er die Tapete. Dabei spielen seine Finger an der Tischkante herum. Naja. Für eine Bestie sind menschliche Angelegenheiten wohl weniger Interessant.

„Und wie war XF-606-GP4 so? Mochte er seinen Master? War er ihr treu?“

„Glaub schon.“ Er sieht wieder zu mir. Missbilligend runzelt er die Stirn. „Warum interessiert dich eine tote Bestie?“

„Nur so“, versuche ich auszuweichen.

Liam schnauft ungehalten. Er wandert mit dem Blick zum Aktenordner und dann wieder zu mir. Seine Augen fangen plötzlich an zu glühen und ein mulmiges Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Seine Handflächen knallen mit einem Mal lauthals auf den Tisch und er springt auf die Füße. Ich zucke vor Schreck zusammen und sehe ihn mit geweiteten Augen an. Langsam beugt sich Liam zu mir vor und verschlingt mich förmlich.

„Jetzt bin ich dran“, flüstert er mir entgegen.

Seine Nase bleibt ungefähr eine Handbreit vor meinem Gesicht stehen. Sein Geruch dringt mir entgegen. Herb und männlich. Ganz und gar nicht unangenehm. Ich schlucke. Mein Herz beginnt wie wild zu hämmern. Nervös zupfe ich an dem Blatt vor mir.

„Was meinst du damit?“, kommt es zögerlich aus mir heraus.

„Ich will fragen stellen.“

„Was für Fragen?“ Ich schlucke. Irgendwie steigt eine Ahnung in mir auf, dass sein plötzlicher Themenwechsel nichts gutes bedeuten kann. Er schmunzelt. Sieht mir tief in die Augen, sodass ich beinahe darin versinke. Mir krabbeln tausende Ameisen durch den Körper. Ich glühe innerlich. Was ist das nur für ein Gefühl?

„Darf ich ...“, setzt er an.

Ich versuche durch mehrmaliges Schlucken meine trockene Zunge zu beleben.

„Darfst du was?“, frage ich dümmlich.

„Darf ich … dich ... küssen?“ Er dreht seinen Kopf fragend zur Seite und mustert mein Gesicht. Spitzbübisch schleicht sich ein dreistes Grinsen auf seine Lippen. Ihm entgeht nicht, wie ich knallrot anlaufe. Kurz herrscht gähnende Leere in meinem Hirn. Dann kommt es ratternd wieder in Gang.

Ich schiebe mich vom Tisch weg und versuche erst einmal auf Abstand zu gehen. Der Stuhl schabt bei meiner Flucht lauthals über den Boden. Die Frage hallt in meinem Kopf wider. Ein unendliches Echo seiner verführerischen Stimme und der Unschuld die darin steckt.

„Wie kommst du da so plötzlich drauf?“, platzt es aus mir heraus. Gerade eben haben wir uns noch über Rosi und ihre Bestie unterhalten und nun so eine Frage. Wie aus dem Nichts ist sie aufgetaucht und hat für eine für mich unangenehme Stimmung gesorgt.

Er zuckt nur lässig mit den Schultern und antwortet mir nicht. Stattdessen wartet er wohl eher auf meine Antwort. Verflixt. Wie komme ich da nur wieder raus?

„Warum willst du mich … küssen?“, stottere ich verlegen.

„Weil ich es will.“ Seine Augen wandern langsam zu meinen Lippen und verziehen sich zu einem lüsternen Grinsen. O oh. Er will doch nicht wirklich... „Mir ist langweilig. Lass uns Spaß haben.“ Er will doch.

Mir stockt der Atmen. Gequetscht kriege ich gerade so ein „Nein“ heraus. Ich bin total durcheinander. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Diese heiße Anziehungskraft fühlt sich anders an als bei Caleb. Sie ist viel intensiver. Zu intensiv. Sie droht mich in einen bodenlosen Abgrund zu reißen, aus dem es kein Entkommen gibt. Ich schüttle den Kopf und versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Warum will Liam mich küssen? Warum küssen Bestien? Hatte Sophie nicht gemeint, dass sie keinen Sexualtrieb besitzen würden. Verdammt sie meinte auch den Bestien fehle es an gewissen Körperteilen. Aber heute morgen konnte ich mich nur allzu deutlich vom Gegenteil überzeugen.

Leider weiß ich viel zu wenig über meine rätselhafte Bestie und kann ihn nur sehr schwer einschätzen. Ist das alles nur ein Spiel für ihn oder steckt doch mehr dahinter? Schon bei dem Gedanken wird mir ganz flau im Magen.

Liam aber wirkt Cool und gelassen. Er mustert mich immer noch. Meine Antwort scheint ihm nicht zu schmecken. Er wirkt angesäuert, aber leider nicht mal ansatzweise so, als ob er aufgeben würde.

Mit einem Satz überwindet er die letzte Distanz. Er kommt auf mich zu und greift nach der Stuhllehne in meinem Rücken. Links und rechts umfangen mich seine Arme wie ein Käfig und seine Augen saugen sich förmlich an meinen Lippen fest.

Beweg dich! Flehe ich meinen Körper an. Doch dieser Verräter rührt sich keinen Millimeter. Stattdessen wartet er ab. Versteift sich und klebt auf dem Stuhl. Mein Unterleib kribbelt vor lauter Vorfreude. Diese verfluchte Verräter! Meine Augen weiten sich, als sich Liam mir nähert.

Schritt für Schritt. Mein Herz hämmert mir bereits in der Kehle und meine Lunge protestiert, weil ich einfach nicht mehr atmen kann. Uns trennen nur noch wenige Sekunden. Gleich. Gleich wird er mir meinen ersten Kuss stehlen.

Seine Lippen streifen mich erst sanft. Ganz zärtlich, als ob er meinen Widerstand fortspülen wolle, dann wird er etwas forscher. Er drückt sie hart und unnachgiebig auf meine. Ich presse den Mund fest zusammen und versuche mich diesem animalischen Kuss so gut es geht zu entziehen. Doch seine Hitze spült über mir hinweg. Reißt meine Mauer fort und erobert meinen Körper. Mein Hirn wirft das Handtuch und weigert sich vernünftig zu arbeiten. Jeder Muskel der in meinem Körper zu Eis erstarrt ist schmilzt. Ich werde zu flüssigem Honig und biege mich langsam seinem Körper entgegen. Mir wird schwindlig, der Schweiß bricht mir aus und ich fange an es zu genießen. Meine Fingernägel krallen sich in den harten Sitz, um mir Halt zu geben.

Liam neckt mich, indem er mit der Zunge kurz über meine Lippen fährt. Ich spüre sein Grinsen. Seine Augen blicken in meine. Tief und aufdringlich. Ich halte es nicht mehr länger aus und schließe die meinen, kann seinem Blick nicht mehr standhalten.

Leider spüre ich so seinen Kuss nur noch intensiver. Mein Herz hämmert in meinem Körper und droht zu platzen. Dann lässt er kurz von mir ab. Japsend sauge ich den Sauerstoff ein. Enttäuschung macht sich in mir breit. Meine Lippen beginnen bereits seine Hitze zu vermissen. Mit einem Mal greifen seine Hände nach meinem Gesicht und während ich noch Luft hole verschließt er meinen Mund wieder.

Dieses Mal gelingt es ihm seine Zunge in meinen Mund zu schmuggeln. Sie trifft auf meine und nimmt sie fordernd in Beschlag. Verspielt saugt er an ihr und erforscht dann meine Mundhöhle. Alles was ich noch wahrnehmen kann, sind mein hämmerndes Herz, sein animalischer Kuss und das Klopfen im Hintergrund.

Klopfen? Mein Bewusstsein befreit sich aus dem Nebel. Es reißt sich von den stählernen Fesseln los und nimmt seine Arbeit wieder auf. Ich stoße Liam mit aller Kraft von mir, geschockt von der sexuellen Energie, die überall im Raum herumtreibt. Ein widerwilliges Knurren dringt mir entgegen. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Dann kommt er wieder auf mich zu, leckt sich über die Lippen und will offensichtlich fortfahren. Er hat wohl noch nicht genug und ich eigentlich auch nicht. Und das macht mir angst.

Ehe ich mich ihm nochmal ergebe, springe ich von meinem Stuhl und rase an die Tür. Mein Rettungsanker. Es klopft noch einmal und ich öffne atemlos. Mir ist egal, dass ich aussehen muss, als ob ich gerade beim Sündigen erwischt wurde. Hauptsache ich entkomme meiner Bestie für einen kurzen Augenblick, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.

Doch leider wünsche ich mir in dem Moment, in dem ich die Tür öffne, dass ich es nicht getan hätte. Schnell schließe ich sie hinter mir, damit keiner in das innere Blicken kann.

Vier Unteroffiziere stehen schwer bewaffnet vor mir und sehen mich mürrisch an. Einer von ihnen tritt nach vorne. Wie glühende Kohlen stechen mir seine Augen entgegen.

„Frau Morel, wir sind hier um Sie zu ihrer Verurteilung zu begleiten. Der Rat wird nun ihre Bestrafung verkünden.“

Oh, Scheiße!

 

Kapitel 6 - Grundkenntnisse über den Rat

 

Kapitel 6.1 – Der Hüter der Regeln



„Nicht nur die Bestien müssen sich an gewisse Regeln

halten. Auch Sie sollten sich an die Gesetze halten,

die der Rat zu ihrem eigenen Wohl und zum Schutz

von Gimini Intercorbs entworfen hat.

Sollten sie gegen eines oder mehrerer unserer Gesetze

verstoßen, so wird der Rat zusammentreten und über

ihre Maßregelung entscheiden.

Wir hoffen, dass dies nicht eintreten wird.

Ansonsten kann es passieren, dass Sie von ihrem Amt als

Master entbunden werden.“

 

 

Der Nebel in meinem Hirn ist noch nicht ganz abgezogen, trotzdem weiß ich, dass ich nun die Konsequenzen meines gestrigen Handelns tragen muss. Zögerlich lecke ich über meine prickelnden Lippen und schmecke meine Bestie auf ihnen. Kurioserweise gibt das mir etwas Halt und schenkt mir Mut. Ich straffe meine Schultern und blicke meinem Gegenüber tief in die Augen.

Innerlich ermahne ich mein Herz ruhig zu schlagen. Ich darf jetzt keine Schwäche zeigen. Sonst stehe ich auf der Verliererseite. Ich warte und atme tief durch. Ein Räuspern durchbricht die unangenehme Stille, doch als der Unteroffizier gerade weitersprechen will, öffnet sich meine Tür plötzlich und Liam tritt heraus.

Seine bloße Anwesenheit verleiht mir Selbstvertrauen und Kraft, um das Ganze hoffentlich heil zu überstehen. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sein Blick pures Gift versprüht. Die Reaktionen der Männer vor mir sind Beweis genug.

Der Sprecher, ein junger Mann mit Glatze, lässt sich aber nicht so leicht einschüchtern. Er sieht immer noch finster drein. Mit der Hand am Hohlster deutet er mir näher zu treten.

„Es wird Zeit“, schnaubt er mir entgegen.

Ich sehe kurz zu Liam und weiß sofort, dass er mich nicht alleine gehen lassen wird. Erleichtert atme ich durch. Seine Augen halten den glatzköpfigen Soldaten gefangen. Er nimmt jede noch so kleine Bewegung wahr und ist sprungbereit, sollte Gefahr für mich bestehen. Ich hoffe nur, dass er nichts Unbedachtes macht, was meine Situation verschlechtern könnte.

Sanft schiebt er mich mit der Schulter weiter nach vorne und verschließt unser Reich vor den Blicken der Fremden. Dann platziert er sich neben mich und legt mir eine Hand auf die Schulter. Besitzergreifend. Bedrohlich. Gefährlich. Er knurrt.

Mir läuft ein heißer Schauer über den Rücken und meine Lippen fangen wieder an zu kribbeln. Der Kuss streift meine Gedanken und irrsinniger Weise wünsche ich mir mehr davon.

Verflucht jetzt ist nicht der richtige Moment dafür! Reiß dich zusammen Tamara!

Ich atme mehrmals durch und mache dann einen Schritt nach vorne. Mein Herz hämmert wie wild. Dieses Mal pumpt es nicht so wild aufgrund kribbelnder Aufregung und einiger atemraubender Küsse, sondern aus nackter Angst.

Wie wirkt Liam wohl auf die Soldaten mit ihren Waffen und den perfekt sitzenden Uniformen?

In der viel zu großen Jogginghose und dem zu langem T-Shirt verschwindet sein gut gebauter Körper ungesehen. Wenn man ihn in dieser Aufmachung betrachtet kommt es einem so vor, als wäre er viel zu jung um hier inmitten von Soldaten zu stehen und sein Revier zu markieren.

Doch seine Ausstrahlung macht das alles wieder wett. Er erscheint animalisch aggressiv. Seine Augen glühen leicht in dem fahlem Neonlicht. Die gesamte Mimik strahlt nur vor Autorität und Selbstbewusstsein. So erscheint er einem größer als er eigentlich ist. Wie macht er das nur? Ich sollte mir davon eine Scheibe abschneiden.

„Sie bleiben hier, Soldat!“, wird Liam von der Seite angeschnauzt. Natürlich müssen sie ihn für einen Soldaten halten, der sich auf meiner Seite befindet. Immerhin trägt er die Freizeitkleidung, die wohl als Standard in jedem Kleiderschrank zu finden ist.

Ich weiß nicht ob es eine so gute Idee ist ihn jetzt schon zu enttarnen, aber länger kann ich es wohl nicht hinausschieben. Außerdem könnte mir diese neue Fähigkeit meiner Bestie mehr Respekt einbringen. Immerhin messen die Leute von Gimini die Macht eines Masters an den Kräften seiner Bestie. Das ist zwar lächerlich meiner Meinung nach, aber für mich nur von Vorteil.

„Das ist kein Soldat, sondern meine Bestie“, tadle ich den Mann mit der Glatze sanft.

Er sieht mich schweigend an und hält mich wohl für verrückt. Ich schenke ihm nur einen Blick, der sagt, dass das doch total Einleuchtend ist. Doch er nimmt diesen Blick nicht ernst. Er sieht zu Liam und findet wohl, dass er ganz und gar nicht nach einer vierbeinigen Bestie aussieht.

„Reden sie keinen Unsinn, Frau Morel!“ Ein fettes Grinsen macht sich auf seinen Lippen breit. Am liebsten hätte ich es zerschlagen. Ein Blick auf Liam und ich weiß, dass ich so wohl nicht weiterkomme. Immerhin kann ich meine Aussage schlecht beweisen, ohne dass ich erlaube, dass Liam Amok läuft. Also warum darauf bestehen? Sie sind selber schuld, wenn sie meinen Begleiter unterschätzen.

Also gehe ich einfach los, dabei ignoriere ich die stechenden Blicke, die sich über mich amüsieren. Wahrscheinlich glauben diese Männer, dass ich nicht mehr alle Latten am Zaun habe.

Mit gestrafften Rücken marschiere ich einige Schritte voran. Liam bleibt an meiner Seite. Seine Hand wandert zwar von meiner Schulter und nimmt mir so die kräftigende Verbindung, aber seine bedrohliche Aura umhüllt dafür meinen Körper wie einen schützenden Kokon. Verwirrt sehen die Männer mir hinterher.

„Liam wird mich begleiten, ob sie wollen oder nicht. Ich übernehme für seine Anwesenheit die volle Verantwortung. Also weisen sie mir endlich den Weg! Sie sind doch gekommen, um mich zu begleiten, oder etwa nicht?“ Ich lege so viel Arroganz in meine Stimme, dass sie nicht anders können, als sich endlich in Bewegung zu setzten.

Trotz Liams menschlicher Gestalt trauen sich die beiden Soldaten, die uns am nächsten stehen, nicht näher an ihn heran. Seine bedrohliche Ausstrahlung und das leichte Knurren, dass aus seiner Kehle entweicht flößt ihnen Angst ein. Klitzekleine Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn, sie schlucken fast zeitgleich und ihr Körper versteift sich merklich. Der uralte Überlebensinstinkt wird geweckt und geht ihn Fluchtbereitschaft. Unterbewusst nehmen sie Liams animalische Bedrohung wahr.

Der Soldat mit der Glatze übernimmt die Führung. Die anderen drei kreisen mich und Liam ein. Als ob wir abhauen würden. Als ob einer dieser Amateure meinen Liam aufhalten könnte! Lächerlich!

 

Wir marschieren im straffen Schritt den Korridor entlang, bis zum Verbindungsturm. Doch statt den Fahrstuhl zu nutzen, entscheiden sich diese herzlosen Mistkerle mich mit den Treppen zu quälen. Nach der vierten Etage aufwärts fange ich schon an wie ein Fisch auf dem trockenen nach Luft zu schnappen. Meine Beine schmerzen von dem schnellen Aufstieg und mein Herz droht aus der Brust zu springen.

Jetzt wünsche ich mir meinen tierischen Liam wieder zurück. Dann könnte ich auf seinem Rücken reiten und wäre in null Komma nichts oben. Doch nein. Mein Partner läuft mit beschwingten Schritten neben mir her und erfreut sich meiner Unsportlichkeit. Immer wieder sieht er mich grinsend an. Dafür könnte ich ihn umbringen!

Ich nehme mir vor, meiner Unsportlichkeit endlich mal entgegen zu treten. Bei der nächsten Gelegenheit frage ich Caleb, ob er mir helfen kann fitter zu werden. Dann kann ich dieses uncoole Hecheln endlich hinter mir lassen.

Die lockere Haltung und die schelmischen Blicke meines Partners wirken wie Balsam auf meinen blank liegenden Nerven. Er lässt mich diese ganze Situation entspannter angehen. Er ist wirklich gut, wenn es darum geht meine Gedanken in andere Bahnen zu lenken.

Mein Blick wandert zu seinen vollen Lippen, die er zu einem liebevollen Spott verzogen hat. Das erinnert mich an unsere Knutscherei von gerade eben. Wenn ich sie in einem anderen Licht betrachte, dann kommt es mir so vor, als ob Liam mich damit ablenken wollte. Warum hat er das gemacht? Ist es ihm unangenehm über die Vergangenheit zu sprechen?

Meine Lunge ächzt nach Sauerstoff und meine Muskeln flehen um Erbarmen. Doch mein Stolz treibt mich immer weiter voran. Stufe um Stufe schleppe ich mich nach oben, ohne einen Ton zu sagen. Ich will keine Schwäche zeigen. Also reiße ich mich zusammen.

Einer der Unteroffiziere gleicht seinen Schritt mit meinem an und schenkt mir ein anerkennendes Lächeln. Er wirkt auf mich freundlicher als die anderen. Ich Lächle zurück. Man kann ja nie wissen, ob wir uns später noch einmal begegnen. Also versuche ich mir seine hellen Haare, sein markantes Kinn und das Muttermal, das neben seinem Auge ist, einzuprägen.

Mein kleiner Trupp wird von fremden Augen beobachtet. Überall stehen Soldaten und Herrn mit ihren Bestien herum und lassen uns nicht aus den Augen. Das Getuschel weht in meine Richtung, doch ich kann keine der Worte ausmachen. Das einzige was mir auffällt, ist dass es eine Vielzahl von Fremdsprachen gibt. Französische Laute vermischen sich mit italienischen und japanischen Klängen. Hier und da glaube ich etwas englisches zu verstehen.

Männer und Frauen in weißen Kitteln reihen sich an ein Geländer und schnattern aufgeregt miteinander. Das müssen die Wissenschaftler sein. Ob sie sich wohl wundern, wo ich meine Bestie gelassen habe?

 

Nach einer geschlagenen Ewigkeit und einer halben Milliarde an Stufen kommen wir endlich in der 4. Etage an. Alles was ich will, ist es mich auf der Stelle hinzusetzen und mich von dem Aufstieg zu erholen, doch leider fängt die richtige Tortur erst an.

Wir bleiben vor einer großen Holztüre stehen. Einfache Schnitzereien verzieren das helle Holz und verleihen ihm so einen rustikalen Anblick. Dieses Bild wirkt auf mich irgendwie Surreal. Immerhin besteht das gesamte Gebäude aus Stahl, Beton und noch mehr Stahl. Da wirkt diese riesige Eichentür fehl am Platz.

Der Mann mit Glatze bleibt vor mir stehen. Er sieht mich und Liam wütend an, so als ob wir gerade seinem einjährigem Sohn den Lutscher geklaut hätten. Der Typ ist echt gruselig. Ich weiß einfach nicht was sein Problem ist.

Plötzlich schwingt das große Holztor auf. Langsam und geschmeidig öffnet es den Pfad zu meiner ganz persönlichen, eigenen, kleinen Hölle. Ein Schatten tritt aus dem Inneren hervor.

Ich traue meinen Augen kaum. Vor mir erscheint doch tatsächlich die Ziege mit Hose, äh Anzug. Oh man. Ich blinzle kurz, fühle mich aber dann gleich ein wenig besser. Immerhin kenne ich meinen neuen Führer schon, was meine strapazierten Nerven beruhigt.

Die Soldaten wenden mir den Rücken zu und machen sich ohne ein weiteres Wort auf den Rückweg. Ein wenig bin ich darüber erleichtert, obwohl mir die nächste Begegnung garantiert weniger schmecken wird.

Leise ächzend setzt sich das Tor auch schon wieder in Bewegung. Ich beeile mich und folge meinem alten Bekannten. Mit großen Schritten hole ich zu ihm auf und höre, wie das Tor sich wieder vollkommen verschließt. Liam ist natürlich immer an meiner Seite.

„Was machst du hier?“, frage ich neugierig. Irgendwie finde ich es schon seltsam, dass diese Ziege überall auftaucht, wo es wichtige Leute gibt. Obwohl. Gestern Abend war sie plötzlich verschwunden, als wir von Blackthrone und seinen Soldaten erwartetet wurden.

„Ich vertrete die Bestien.“ Sie vertritt die Bestien? Was soll das bedeuten? Ich dachte die Bestien wären nur Werkzeugen und hätten kein Mitspracherecht.

„Was hat das mit mir zu tun?“ Statt mir zu antworten sieht sie nach hinten und runzelt die Stirn. Ich schnaube genervt. Diese Ziege hält sich scheinbar für zu fein, um mit mir zu reden. Ich versuche es erneut. Dieses Mal mit einer anderen Frage: „Was passiert jetzt mit mir?“, schießt sie etwas zu laut heraus. Meine Worte hallen in dem dunklen Gang wieder. Ich blicke flüchtig nach oben, kann aber die Decke nicht erkennen.

Doch statt einer Antwort ernte ich nur eine bemitleidenden Blick. Na toll. Jetzt werde ich auch noch von einer Ziege im Anzug bemitleidet. Tiefer kann ich nicht mehr sinken!

Die Ziege studiert meinen Liam eindringlich. Scheinbar interessiert sie sich mehr für meine Bestie, als für mich. Als ihr einleuchtet, was da hinter mir her läuft saugt sie gierig die Luft ein. Ihre Augen blitzen leicht auf, als sie die Erkenntnis überkommt, dass der Typ hinter mir kein Mensch, sondern eine Bestie ist. Sie beginnt an ihm zu schnüffeln, zieht sich dann aber abrupt zurück.

„Wie ist das möglich?“, flüstert sie leise vor sich hin. Ich zucke mit den Schultern und Liam grinst sie an.

Noch bevor wir das Thema vertiefen können kommen wir an einen kreisrunden Raum. Riesige Lampen hängen von den Decken und ein sehr wuchtiger, langer Tisch steht in der Mitte. Schattenhafte Gestalten haben an ihm platz genommen, doch ich bin noch nicht dazu bereit mich mit dem Rat auseinander zu setzten. Also studiere ich erst einmal meine Umgebung.

Dieser Raum wird anstatt von den üblichen kahlen Betonwänden, von meterhohen Kreuzfenstern umzäunt. Tageslicht strömt herein. Die Abendsonne taucht den Ratsraum in ein tiefes Rot und verbreitet so eine unheilvolle Atmosphäre.

Zwischen den Fenster thronen riesige Säulen. Ich traue meinen Augen kaum, als ich die kleinen Wasserfälle sehe, die von den Säulen herab fließen. Sie werden am Boden von kunstvoll gefliesten Becken aufgefangen. Das Rauschen wirkt bedrohlich und zerrt an meinen

Nerven. Insgesamt befinden sich zwölf Wasserfälle an zwölf unterschiedlich verzierten Säulen. An der Säule, die mir am nächsten steht, erkenne ich eine eingeritzte fabelhafte Gestalt. Ein Mensch mit Löwenkopf und Stierbeinen. Seine vier Schwänze greifen um die Säule und scheinen sie festzuhalten. Innerlich korrigiere ich mich. Das ist keine fabelhafte Gestalt, sondern eine Bestie.

Leider bleibt mir keine Zeit die Säulen genauer unter die Lupe zu nehmen. Da die Männer und Frauen mich förmlich mit ihren Blicken erdolchen und ich mich doch endlich meinen Gastgebern zuwenden muss.

Die Ratsmitglieder sitzen an dem Tisch, sechs auf jeder Seite, und starren mich an. Ich komme mir vor wie eine Kuriosität, die alle paar Jahre ausgestellt wird. Jedes Gesicht wirkt ernster als das andere. Jede Statur bedrohlicher und einschüchternder als die davor.

Auch ich beginne mit meinen Studien. Ich mustere einen Mann mit fast schwarzer Haut, Glatze und bedrohlichen Augen, eine Frau im Kimono die eine Eleganz verströmt, die mir den Atem raubt. Russland, England, Korea, Indien, Türkei. All diese Länder sind hier vertreten. Die traditionelle Aufmachen verrät ihr Heimatland. Die anderen kann ich nicht genau bestimmen, aber ich glaube dass die kleine Frau mit der Hochsteckfrisur aus Frankreich kommen könnte und der alte Mann mit dem braunen Bart aus Tschechien? Oder Polen?

Ich kann es einfach nicht fassen wie viele Länder bei der Erschaffung der Bestien beteiligt sind. Zwar hatte ich von Sophie gehört, dass Gimini Intercorbs Tochterlabore erschaffen habe und diese auf der ganzen Welt verstreut seien, aber dass es wohl gleich 12 gibt, hätte ich mir nie erträumt.

Wie viele Bestien wurden bis jetzt eigentlich erschaffen? Und wie viele werden in Zukunft noch erschaffen werden?

Inmitten dieser fremdländischen Gesichter erkenne ich ein mir wohlbekanntes: Silvana Ashtray. Seltsam, ich dachte, sie wäre nur das Familienoberhaut der Ashtrays und kein Ratsmitglied.

Ein Klingeln ertönt aus der Ferne und mit einem Mal erheben sich sämtliche Ratsmitglieder. Eine weitere mir bekannte Gestalt betritt die Bühne: Ratsherr Blackthrone. Und auf einmal werde ich wieder wütend. Dieser arrogante Mistkerl glaubt wohl, mir einen Strick aus meinem gestrigen Benehmen knüpfen zu können.

An seiner Seite erscheint Silvana. Moment mal. Verwirrt blicke ich zu dem Ratsmitglied Silvana und dann zu der Frau neben dem Ratsherrn. Es gibt zwei Silvanas? Zwillinge?

Bei genauerem hinsehen weiß ich sofort welche von beiden die war, mit der ich mich gestern angelegt habe. Das Ratsmitglied wirkt weicher und freundlicher, als die Schreckschraube die einst mit Sophie befreundet war und jetzt neben Blackthrone stehen beleibt. Ihr Blick sucht kurz nach dem meinen und schickt mir ein triumphierendes Lächeln. Eine ungute Vorahnung macht sich in mir breit. Was haben die beiden nur ausgeheckt?

Der Rat begrüßt die beiden Neuankömmlinge stillschweigend mit einem Nicken und nimmt dann wieder Platz. Blackthrone sieht mich mit seinem stechend Blick an. Ich komme mir vor, wie ein Insekt, dass gleich zerquetscht wird.

Halt suchend blicke ich mich um. Die Ziege hat sich zurückgezogen und steht wie ein stiller Beobachter am Rand. Wieder dieser mitleidige Blick. Dann suche ich nach Liam, um Halt zu finden aber ohne dass ich es bemerkt habe ist er zurückgewichen und in dem Schatten einer Säule verschwunden. Aus diesem Winkel kann er von niemanden beachtet werden, dafür aber alles gut im Blick behalten. Er verhält sich ruhig und wirkt gelassen. So erregt er keine Aufmerksamkeit und verschmilzt mit seiner Umgebung. Am liebsten würde ich es ihm gleich tun, denn die vierzehn Augenpaare, die jetzt auf mich gerichtet sind, sind alles andere als angenehm.

Liam schickt mir einen aufmunternden Blick zu und deutet mir stark zu bleiben. Ich gebe mir alle Mühe. Ich frage mich, wie sie ihn nicht bemerken konnten, oder haben sie den kleinen, schlampig gekleideten, jungen Mann mit Absicht ignoriert?

„Frau Morel“, eröffnet Ratsherr Blackthrone seine Ansprache.

Ich halte angespannt den Atem an und wappne mich fürs schlimmste, was auch immer das sein mag.

„Der Rat hat sich zusammengesetzt und entschieden. Hiermit werden Ihnen sämtliche Rechte als Herrin von XS-707-GP4 entzogen. Diese Bestie wird ab dem heutigen Tag der rechtmäßigen Erbin seiner Gene übertragen.“

Ein hämisches Grinsen macht sich auf Silvanas Lippen breit. Ich balle meine Hände vor Wut zusammen.

„Frau Silvana Ashtray besitzt nun den alleinigen Anspruch auf die Bestie mit der Codierung XS-707-GP4. Sie Frau Morel werden von unserer Hauptbasis in Deutschland abgezogen und in unserer Tochterbasis in Brasilien untergebracht. Dort werden ihnen passendere Aufgaben zugeteilt. Das Urteil ist unwiderruflich. Leben Sie wohl, Frau Morel.“

Ich könnte platzen vor Wut!

 

Kapitel 6.2 - der -Aufbau des Rates

 

 

„Im Laufe Ihrer Tätigkeit als Master werden Sie

den Rat kennenlernen.

Der Rat wurde gegründet, um über die Einhaltung

der Regeln, die Züchtung der Bestien und die Verwaltung,

sowie Genehmigung der Aufträge zu wachen.

Der Rat besteht aus 12 Mitgliedern, die aus den jeweiligen

Tochterlaboren anreisen, um an der Versammlung teil

zu nehmen. Der Ratsherr steht dem Rat vor und organisiert

die Treffen. Zudem trägt seine Stimme bei den Entscheidungen

mehr Gewicht.“

 

Die Worte des Ratsherrn hallen in meinem Kopf wider. Wie ein endloses Echo bis ich jede einzelne Silbe aufgenommen und verarbeitet habe.

Sie wollen mir Liam wegnehmen? Sie wollen mich nach Brasilien verbannen? Spinnen die? Das lasse ich mir nicht gefallen! Schon wieder bilden sich diese Fremden ein über mein Leben bestimmen zu können!

Ich koche vor Wut. Nur mit äußerster Anstrengung kann ich mich zusammenreißen und falle nicht mit ausgefahrenen Krallen über das siegessichere Gesicht des Ratsherrn her. Ich atme tief durch und trete einen Schritt nach vorne.

Ein Meer aus kalten Gesichtern blickt mir entgegen. Blackthrone sieht ganz so aus, als ob er nur darauf warten würde, dass ich heulend zusammenbreche und um Gnade bettle. Darauf kann er lange warten!

Mit ausgestreckten Schultern und lodernder Zunge lege ich los:

„Was bilden Sie sich ein? Nur weil Sie hier vielleicht das Sagen haben, heißt das noch lange nicht, dass ich nach Ihrer Pfeife tanzen werde!“

Einvernehmliches einatmen und geschockte Zischlaute dringen an mein Ohr. Ich mache noch einen Schritt nach vorne und lasse meine Hände hart auf den Tisch knallen. Das Brennen in meinen Handflächen hilft mir mich zu konzentrieren.

„Sie glauben, dass Sie über mein Leben bestimmen können. Da irren Sie sich aber gewaltig! Ich bin mein eigener Herr!“

Der Ratsherr verzieht seine Mundwinkel zu einem kranken Schmunzeln.

„Sehen sie meine verehrten Mitglieder. Ich habe Ihnen bereits von dem unzähmbaren Temperament dieser Person berichtet.“ Bei dem Wort Person sieht er mich angewidert an. „Unsere Entscheidung Sie als Herrin zu entlassen war demnach richtig.“

Ich schnaube abfällig und blicke in jedes einzelne Gesicht. Vorhin kamen sie mir noch so unnahbar vor wie der weite Himmel, doch jetzt sehe ich in ihren Zügen menschliche Regungen. Ein Teil von ihnen sieht mich bedauernd an, andere stimmen Blackthrone nickend zu.

„Ich glaube, dass Sie sich irren“, wende ich mich nun ruhiger an den Rat. „Ich habe gestern bereits Herrn Blackthrone gesagt, dass Liam niemals meine Seite verlassen wird. Also ist diese Strafe lächerlich.“

Der Ratsherr setzt sich noch steifer auf seinen Stuhl, wenn das überhaupt möglich ist, und mustert mich abfällig.

„Wenn ich mich recht erinnere Frau Morel, dann haben sie uns damit gedroht, dass XS-707-GP4 uns angreifen und das Labor zerstören wird, sobald wie Sie töten. Da wir aber Ihr Leben verschonen, dürfte das ja keine Gefahr mehr für uns darstellen.“

„Ich glaube kaum, dass Ihre Rechnung aufgeht, Ratsherr.“ Ich schnaufe. Scheinbar will er es einfach nicht begreifen. Dummer, einfältiger, arroganter Scheißkerl.

„Wir haben unsere eigenen Methoden, um unsere Ziele zu erreichen“, näselt er betont langsam und gefährlich.

Ich weiß einfach nicht was ich darauf antworten soll. Also versuche ich es mit vernünftigen Argumenten.

„Ratsherr. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann wollen Sie mich als Herrin entbinden, weil ich mich unerlaubt vom Gelände entfernt habe und Ihnen gegenüber unhöflich war. Aber haben Sie ihrem Rat auch erklärt, dass ich nur Unhöflich wurde, weil Sie einer Ihrer Soldatinnen die ärztliche Versorgung verweigert haben, die sie dringend benötigt hat? Fragen Sie Dr. Jung. Er kann bezeugen, dass Frau Kathrin Pohl gestorben wäre, wenn er sie nicht rechtzeitig behandelt hätte.“

Ich beobachte die Reaktion des Rates. Die Japanerin tauscht einen überraschten Blick mit der Inderin. Auch der Russe und der Mann mit dem Bart wirken etwas durcheinander. Aber ansonsten sehe ich nur eiskalte Gleichgültigkeit.

„Frau Pohl hatte sich mit Ihnen und Professor Gillian unerlaubt entfernt. Und das ohne eine vernünftige Erklärung zu liefern.“

„Und warum bin ich dann die Einzige die hier steht und bestraft wird?“, frage ich skeptisch. Das alles riecht für mich nach einer Verschwörung. Vor allem, da er seinen eigenen Sohn nicht erwähnt. Diese Silvana wollte von Anfang an nur meinen Liam und Ratsherr Blackthrone konnte mich gleich zu Beginn sowieso nicht leiden. Warum auch immer.

Jetzt scheinen sie sich gegen mich verbündet zu haben, um ihre eigenen Ziele zu erreichen und mich nebenbei aus dem Weg zu räumen. Aber nicht mit mir! Auch ich habe Klauen und Zähne!

Der Blick des Generals bohrt sich tief in meine Augen. „Wie Sie selbst gesagt haben, befindet sich Frau Pohl im kritischen Zustand. Allerdings hat sie bereits viel nützliches für Gimini Intercorbs beigetragen. Das gleiche gilt für Professor Gillian. Deshalb wird bei ihnen ausnahmsweise nur eine Verwarnung nötig sein.“

Ach auf einmal sorgt er ich also um Kati. Dieser Mistkerl. Der nutzt sämtliche Fakten wie es ihm gerade in den Kram passt, selbst wenn er dabei seine eigenen Aussagen herumdrehen muss, damit alles zusammen passt.

Er lächelt mich wieder hämisch an. „Sie allerdings sind nicht nur eine nutzlose Zivilistin, die sich unaufgefordert hier herein gedrängt hat. Sie haben außerdem noch rein gar nichts für unsere Organisation unternommen und sich somit unseren Respekt verdient.“

Tief durchatmen Tam, tief durchatmen. Es fällt mir schwer einen klaren Kopf zu behalten. Ich meine in einer anderen Situation und unter anderen Bedingungen klängen diese Argumente sehr einleuchtend. Ich bin hier der Eindringling. Ich habe hier für Chaos gesorgt und zwei, nein drei unbefleckte Mitglieder mit hineingezogen.

Aber zum Teufel noch mal! Ich habe mir den Anfang von dieser ganzen Tragöde nicht ausgesucht, aber das Ende will ich selbst bestimmen!

„Da haben sie wohl Recht.“ Ich versuche mit der Zustimmung vernünftig rüber zu kommen und ernte zum Dank einen verwirrten Blick vom Ratsherrn.

„Allerdings müssen Sie bedenken, dass ich von XS-707-GP4 entführt wurde. Diese Bestie hat mich gefangen gehalten. Später wurde ich von Frau Pohls Team hier hergebracht und von Ihnen, dem Rat, als Mitglied geduldet. Wenn man das so betrachtet, hatte ich keine Möglichkeit dem allem hier zu entgehen.“

Wieder sehe ich mich um und beobachte meine Wirkung. Hier und da erkenne ich bemitleidende Blicke. Verständnisvolles Kopfnicken. Aber auch wieder Verachtung und eiskalte Ablehnung.

„Also verehrte Ratsmitglieder, bitte ziehen Sie diese Fakten in ihrer Beurteilung meines Handelns mit ein“, spreche ich sie direkt an. Vielleicht erreiche ich nichts bei Blackthrone, aber scheinbar ist der Rat eine demokratische Angelegenheit. Wenn ich also die anderen Ratsmitglieder auf meine Seite ziehen könnte, dann könnte ich das Blatt vielleicht noch herum drehen.

Die Japanerin meldet sich unerwarteter Weise zu Wort. Sie spricht in einem fast akzentlosen Deutsch: „Frau Morel, können Sie uns denn sagen, warum Sie sich von unserer Basis entfernt haben?“

Ihre Worte klingen rein und freundlich. Sie nickt mir aufmunternd zu. Ich glaube sie will mir damit noch eine Chance geben, um mich zu rechtfertigen. Also rücke ich einfach mal mit der Wahrheit heraus, mal sehen was passiert.

„Ich wollte nochmal zu der Ruine zurück, in der mich XS-707-GP4 gefangen gehalten hat.“

Interesse keimt auf. Die Blicke sind alle auf mich gerichtet und dieses Mal kommt mir eine Welle von ehrlicher Neugierde entgegen. Dieses Gefühl nutze ich um meinen Bericht so sachlich wie möglich zu halten und die Aufmerksamkeit an mich zu ketten.

„Sie wissen ja bestimmt, dass die genetische Zusammensetzung von XS-707-GP4 unbekannt ist. Dadurch kennen wir weder sein volles Potenzial, noch seine Grenzen und Schwachpunkte. Also hatte Professor Gillian die Idee mit XS-707-GP4 noch einmal zum Labor zurückzukehren und Nachforschungen anzustellen. Immerhin war das vorher ja nicht möglich, weil Liam dieses Labor beschützt hat.“ Den letzten Satz vermute ich nur, aber durch gelegentlich zustimmendes Nicken wird meine Vermutung bestätigt.

„Caleb Blackthrone und Kathrin Pohl sollten uns vor eventuellen Gefahren beschützen“, schließe ich meine knapp gehaltene Zusammenfassung ab.

Der Russe richtet dieses Mal sein Wort an mich. „Und, haben sie etwas entdecken können?“

„Nein leider nicht.“ Sie müssen ja nichts von den Akten erfahren. Jedenfalls noch nicht jetzt. „Allerdings wurden wir von riesigen Wespen angegriffen. Sie wollten mich töten und wir sind nur knapp entkommen.“

Die Halle erbebt plötzlich durch das aufgeregte Gemurmel, das ausbricht. Nicht einmal das Plätschern der Wasserfälle kann es überdecken.

„Wespen? Das ist unmöglich!“, meint die Inderin pikiert. Der Koreaner und der Afrikaner nicken eifrig.

„Woher kommen die?“, zwitschert die Französin.

„Gimini Intercorbs züchtet keine Wespen.“ Der sachliche Unterton des Bärtigen bekräftigt Sophies Aussage.

Ein stämmiger Mann mit orangeroten Haaren schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Das können nur diese Verräter sein!“ Seine grimmige Stimme findet viele Zuhörer.

„Rede keinen Unsinn, Cillian.“ tadelt ihn die sanfte Stimme der Japanerin.

„Natürlich Sumi, denk doch nur an den letzten Angriff in Schottland. Das dortige Labor wurde vollkommen zerstört! Von einer Horde Stiere so groß wie Elefanten und Hörnern scharf wie Schwertern! Aye, das waren garantiert wieder diese Bastarde. Jetzt suchen sie die deutsche Basis!!“

Allgemeines Schweigen breitet sich aus. Ratsherr Blackthrone nutzt die Stille und zieht die Aufmerksamkeit auf seine Seite des Tisches.

„Wir sind hier, um Frau Morels Urteil zu verkünden und nicht um uns vor einer Zivilistin über die Rebellen zu unterhalten. Cillian beruhige dich bitte. Ich weiß, dass du wütend über den letzten Angriff bist, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“

Die zwölf Männer und Frauen murmeln ihre Zustimmung und widmen sich nun wieder voll und ganz meiner Wenigkeit. Mist.

„Frau Morel, die Entscheidung des Rates ist endgültig und unwiderruflich. Egal wie sehr Sie sich dagegen wehren und versuchen sich aus Ihrer Schuld herauszureden, bringt es Ihnen nichts. Also akzeptieren Sie ihr Schicksal und übergeben Sie uns XS-707-GP4.“

„Gibt es wirklich keine Möglichkeit das anders zu lösen?“, frage ich in dem letzte Versuch noch einmal an ihr Mitgefühl zu appellieren.

Ich schiele zu Liam herüber und erkenne von hier aus seine glühenden Augen. Er ist bereit zu kämpfen und dieser Kampf wird eine unschöne Angelegenheit. Unruhig fummle ich an meiner Hosennaht. Was kann ich nur noch sagen oder tun, um das Gemetzel zu vermeiden? Da sich in diesem Raum kein einziger Soldat und abgesehen von der Ziege keine andere Bestie befindet, sind die Mitglieder und der Ratsherr meiner Bestie schutzlos ausgeliefert.

Ich will das nicht. Ich will nicht, dass Liam etwas tut, was er später bereuen könnte. Und ich will nicht, dass er für mich tötet.

Meine Frage wird nur von der Japanerin beachtet. Die anderen Ratsmitglieder tuscheln unterdessen aufgeregt. Scheinbar können sie das Thema um die Rebellen doch nicht so einfach fallen lassen.

„Leider nicht, Frau Morel. Diese ganze Angelegenheit würde nur anders verlaufen, wenn Sie einer Familie entstammen würden, die aus Bestientrainern oder Mastern bestehen würde oder wenn sie mindestens ein Ratsmitglied in ihrer Ahnenreihe hätten. Da das unmöglich der Fall sein kann, müssen Sie sich unseren Gesetzen beugen“, meint Sumi mitleidig. Sie sieht mir tief in die Augen und scheint sich für das Geschehene entschuldigen zu wollen.

Aber als die Worte in meinem ausgelaugten Gehirn ankommen, jagt mir ein aufgeregtes Kribbeln durch die Knochen. Da habe ich nämlich noch ein Ass im Ärmel und ich glaube jetzt ist der richtige Zeitpunkt es auszuspielen. Hoffentlich hat sich der letzte Eintrag von Rosi erfüllt und sie ist wirklich zum Ratsmitglied aufgestiegen.

Leises Bedauern, dass ich ihre Akte noch nicht ganz durchgearbeitet habe überkommt mich, aber ich versuche es einfach mal mit einer gehörigen Portion Spekulation und einer Prise Glück.

„Ich habe aber einen Vorfahren, der bereits für Gimini Intercorbs gearbeitet hat. Er hatte eine Bestie und wurde in den Rat aufgenommen.“

Sumi hält gebannt die Luft an. Meine Worte verteilen sich lautstark in der Halls, so dass die anderen Ratsmitglieder sich endlich wieder mir widmen. Als der Sinn meiner Aussage bei jedem endlich ankommt, bricht wieder eine laute Diskussionen aus. Dieses Mal bin ich der Mittelpunkt.

Ich warte bis sich alles etwas beruhigt hat. Silvana wirft einen wütenden Blick auf mich und der Ratsherr sieht auch nicht gerade begeistert aus. Doch an ihrer Haltung erkenne ich, dass sie glauben ich würde bluffen.

„Ach wirklich? Auf einmal Frau Morel? Ich dachte sie wären unbeabsichtigt und unwissend bei Gimini Intercorbs gelandet“, spottet Blackthrone mir entgegen.

Ein kurzer Blick zu Liam macht mir auch seine Verwirrung deutlich. Er beruhigt sich zum Glück wieder etwas und lauscht meinen Worten.

„Bin ich auch. Aber ich habe auch gelogen. Ich hatte doch behauptet, in den Ruinen nichts gefunden zu haben, aber das stimmt nicht. Mir ist ein altes Foto in die Hände gefallen auf dem der erste Professor Gillian, Magdalena Ashtray und meine Großtante abgebildet waren. Das kann ich Ihnen später gerne zeigen.“

„So, so und wie hieß ihre angebliche Großtante?“

Ich hole tief Luft und sorge so für noch etwas mehr Spannung.

„Rosalinde Blum.“

Stille.

Auch der Ratsherr ist sprachlos. Die Ziege mit Anzug sieht mich auf einmal merkwürdig an. Dann leuchten ihre Augen auf. Langsam pirscht sie sich in meine Richtung und zwinkert mir beruhigend zu. Moment mal. Sie zwinkert?

Ich konzentriere mich lieber wieder auf Blackthrone, der plötzlich seine Stimme wieder gefunden hat.

„Sagen Sie da die Wahrheit?“

„Ja“, antworte ich klar und deutlich, mit so viel Stolz, wie ich nur aufbringen kann.

„Wie wollen Sie das beweisen?“

Mh. Das könnte etwas schwieriger werden. Das Bild allein reicht nicht aus.

„Sie könnten doch Nachforschungen innerhalb meiner Familie anstellen. Immerhin wurde doch schon immer Buch geführt. Sie brauchen nur den Lebenslauf von Rosis Schwester, meiner Oma Meta verfolgen. Dann finden sie die Verbindung.“

Silvana sieht mich hämisch an. Zeitgleich meldet sich ihr Zwilling zu Wort: „Da die Unterlagen von Früher alle zerstört sind, können wir diese Behauptung nicht beweisen. Was ist, wenn Sie zufällig eine Frau in ihrer Ahnenreihe haben, die ebenfalls Rosalinde Blum heißt.“

Miststück. Aber dieses Argument ist leider sehr schwer zu widerlegen. Es sei denn ich reiche ihnen die Akte meiner Tante. Aber das kommt für mich auf keinen Fall in Frage.

Ich überlege. „Über dem Kamin meiner Oma hängt ein altes Familienportrait. Dort ist Rosalinde als dreizehnjähriges Mädchen zu sehen. Vergleichen Sie es mit dem Foto, dass ich gefunden habe.“

„Wenn stimmt was sie da sagen, dann ändert das alles.“ Die wohlmeinende Stimme der Japanerin wärmt mich innerlich und schenkt mir neuen Mut.

Kapitel 6.3 - Mitgliedschaft im Rat

Wenn Sie sich bereits viele Jahre lang im Dienste

von Gimini Intercorbs befinden und nachweislich

Ahnen zu verzeichnen haben, die einst im Rat tätig

waren, so haben auch Sie die Chance Mitglied im Rat

zu werden. Natürlich nur so lange, wie ihre Akte

keinerlei Regelverstöße enthält und sie sich

für Gimini Intercorbs Interessen eingesetzt haben.

Außerdem muss das vorangegangene Ratsmitglied

mit Ihrer Nominierung einverstanden sein.“

 

 

 

 

Mir stockt der Atem. Dann ändert das alles? Habe ich es tatsächlich geschafft. Bin ich der Strafe durch den Rat entkommen?

Ich beobachte die einzelnen Mitglieder. Als erstes treffen mich die leuchtenden Augen von Sumi, dann der bewundernde Blick des Russen. Cillian, der wahrscheinlich aus Schottland kommt wirft mir dafür einen skeptischen Blick hin. So geht es die Runde herum. Jedes Ratsmitglied hat seine eigene Meinung, aber wenn mich meine Menschenkenntnis nicht trügt, dann ist jetzt die Mehrzahl auf meiner Seite.

Auch Blackthrone entgeht diese Tatsache nicht. Er räuspert sich und sieht sich ungehalten um. Die Atmosphäre scheint ihm nicht zu gefallen. Tja, Pech gehabt! Lege dich nie mit einer Morel, in diesem Falle wohl eher Blum, an!

„Was meinen Sie damit?“, hake ich etwas skeptisch nach.

Immerhin will ich endlich wissen was diese Kerle vor haben. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, dass sich Liam zwar beruhigt hat, kann aber den genauen Hintergrund seines unergründlichen Gesichtsausdrucks nicht erkennen.

Etwas streift mich an der Seite. Die Ziege. Sie steht so dicht neben mir, dass ihr mit Fell bewachsener Arm gegen meinen Streift. Seltsamerweise fühle ich mich so irgendwie sicherer als zuvor.

„Ich schlage zur Versicherung einen Gentest vor“, meint mein neuer Freund.

Zustimmendes Gemurmel unterstützt den Vorschlag. Soll das heißen, dass es noch Genproben von meiner Großtante gibt? Wie kann das denn sein?

„Wir werden die Verkündung ihrer Strafe vertagen und die neuen Umstände mit einbeziehen. Sie sind vorerst entlassen, Frau Morel.“

Die Worte des Ratsherrn kommen erst gar nicht bei mir an, doch tröpfchenweise sickern sie in mich hinein. Ich kann also gehen. Vorerst? Das war es? Lassen die mich jetzt im Ungewissen?

Die Ziege zupft an meinem Ärmel. Ich sehe in ihr Gesicht und frage mich was sie will. Ihre Lippen formen ein paar Silben, die erst keinen Sinn ergeben, doch dann weiß ich was sie mir sagen möchte.

Ich soll dem Rat von Liam erzählen. Wie bitte? Das kann doch nicht ihr ernst sein! Ich schiele zu meinem, nun menschlichen Partner. Auch er ist wohl der Meinung, dass mein Auftritt jetzt noch nicht endet. Er kommt nun endlich aus dem Schatten heraus und schlendert gemütlich in meine Richtung. Na toll, der hat natürlich die Ruhe weg.

„Wer sind Sie denn? Woher kommen Sie auf einmal?“ Der trockene Akzent der Inderin schallt in meinen Ohren. Alle Augen richten sich nun auf Liam. Verwirrung und Unglauben vermischen sich mit Empörung und Wut.

Er aber ignoriert all diese Emotionen und gesellt sich zu meiner linken Seite. Cool und unbeeindruckt. Er legt mir seine Hand wieder stärkend auf die Schulter. Dann sieht er mich herausfordernd an. Er will wohl testen, ob ich genug Mut habe, um mich dem Kommenden zu stellen.

Na gut, wenn diese beiden Bestien es so wollen. Bitte schön! Das könnt ihr haben!

Ich kratze den letzten Rest meiner Kraft zusammen und sehe abermals in die vielen Gesichter des Rates.

„Das ist XS-707-GP4.“

Schweigen. Ich atme tief durch.

„Das ist bestimmt schwer zu glauben, aber er hat sich heute Nacht in seine menschliche Gestalt verwandelt“, versuche ich etwas sicherer, als ich mich fühle zu erklären.

„Unsinn!“ Lautes Gelächter greift mich von der Front an. Silvana sieht zu mir, als wäre ich tatsächlich nicht mehr ganz dicht. Liam allerdings fängt an zu knurren. Erst leise, dann immer lauter, bis das Vibrieren in seiner Brust über seinen Arm in meinen Körper geleitet wird.

Alle starren sie ihn an. Ungläubigkeit. Skepsis. Fassungslosigkeit. Selbst ich kann es noch gar nicht wirklich glauben.

Silvana wird mit einem Mal blass um die Nase. Auch der Rest des Rates, Blackthrone eingeschlossen, sieht nicht gerade gesund aus. Ich werfe einen Blick auf Liam und erkenne seine rotglühenden Augen wieder. Die Augen einer Bestie in Rage. Na toll.

„Liam.“ Ich streichle sanft über seine Hand auf meiner Schulter. Er wendet seinen Blick zu mir. In den unendlich tiefen Augen meiner Bestie lodert blanke Wut. Er mag es scheinbar nicht, wenn seine Herrin ausgelacht wird.

„Alles ist gut. Beruhige dich.“ Ein krampfhaftes Lächeln umspielt seine Lippen, dann verblasst das Glühen, wie eine kleine Laterne die ausgeblasen wird. Mein normaler, mein beherrschter Liam ist wieder da. Gott sei dank.

„Wie sie sehen können, sage ich die Wahrheit.“

Blackthrone fängt sich als erster wieder: „XS-707-GP4, warum wandelst du dich erst jetzt?“, will er aufgebracht wissen. Tausende Fragen zeichnen sich in seinem Gesicht wieder. Ich kann die kleinen Zahnräder praktisch hören, die in seinem Gehirn in Gang geraten sind.

Tja aber wenn der Ratsherr glaubt hat, dass mein Liam wie selbstverständlich antwortet, dann täuscht er sich gewaltig. Meine Bestie in Menschengestalt sieht ihn zwar an, aber seine Miene zuckt nicht einen Millimeter.

„Das ist ja unglaublich“, kommt es dieses mal von Silvana. Sie mustert meinen Liam hungrig und wirft einen sehnsüchtigen Blick in die Richtung ihrer Zwillingsschwester. Diese nickt sanft und auch in ihrer Miene erkenne ich eine unbändige Sehnsucht.

O oh. Das kann nichts gutes bedeuten.

Beide richten wieder ihre Augen auf mein Eigentum. Ich knurre. Verwundert blinzelt mich Liam an. Nur er und ich haben dieses Knurren vernommen. Ich selbst bin über meine Reaktion erschrocken. Ich wusste gar nicht das ich so etwas kann. Das muss wohl an Liams Einfluss liegen.

„XS-707-GP4 du solltest wissen, wer deine rechtmäßige Herrin ist. Du wurdest einst für meine Großmutter Magdalena Ashtray gezüchtet und nach ihrem bedauerlichen Ableben gehen sämtliche Genrechte an ihren Nachfolger über: Mich.“

Liam schnauft und verspottet sie somit auf seine, ganz eigene Art und Weise.

„Ich gehöre Master Tamara Morel.“

Stolz überkommt mich. Es ist das erste Mal, dass er mich als sein Master bezeichnet. Seine Hand drückt sanft meine Schulter, um seine Worte zu bekräftigen.

„Und das bleibt so.“ Mit einem leisen Fauchen unterstützt er diese unwiderrufliche Aussage.

„Das ist nicht rechtens. Du. Gehörst. Mir.“ Sie betont jedes einzelne Wort ihres letzten Satzes dermaßen besitzergreifend, dass mir schlecht wird. Ich trete einen Schritt vor und kann mich nicht länger zurückhalten.

„Pech für dich, dass Liam mich gewählt hat“ zische ich scharfzüngig zurück. Eifersucht brandet in mir auf und droht mich mit sich weg zu spülen.

„Es geht hier aber nicht ums wählen, sondern um die Rechte seiner Gene.“ Einstimmiges Nicken vom Rat untermauert Silvanas Aussage.

Jetzt reicht es mir. Kochende Wut treibt meinen Adrenalinpegel nach oben. Jeder in diesem Raum, abgesehen von mir und Liam, ist wohl der Meinung, dass er ein Gegenstand sei, der der Familie Ashtray zustünde. Diese Erkenntnis bringt das Fass zum überlaufen. Ich explodiere!

„Liam ist doch kein Ding! Er ist ein Lebewesen und kann selbst denken und entscheiden. Wer gibt Ihnen das Recht über ihn zu bestimmen!!“, brülle ich der Masse entgegen. Fassungslos schieße ich mit meinem Blick wild im Raum umher.

„Das ist doch total Krank! Als ob die Bestien bei der Wahl ihrer Erschaffung mitbestimmen könnten. Als ob der Mensch dass Recht hätte über ein anderes Leben zu bestimmen! Die Bestien sind intelligent. Sie können sich anderen Mitteilen und sind im Besitz von menschlichen Erbanlagen. Das heißt, dass sie auch zum Teil Mensch sind und somit auch wie ein MENSCH die Freiheit besitzen sollten über ihr Leben selbst zu bestimmen!“, schnauzte ich sie an ohne Luft zu holen.

Ich sehe Blackthrone wütend an: „Ich denke wir leben in einer demokratischen Welt mit Meinungs- und Entscheidungsfreiheit! Woher nehmen Sie sich das Recht, diese einfachen Regeln zu brechen? Ihr spielt hier alle Gott. Wer gibt dem Menschen überhaupt das Recht einfach irgendwelche Geschöpfe zu erschaffen und sie dann wie Vieh zu besitzen? Das ist unmenschlich. Einfach total Abartig!!“

Aufgebrachtes Stimmengewirr trifft auf mein erhitztes Gemüt. Plötzlich Applaudiert jemand in der hinteren Ecke. Es ist der Türke. Er erhebt sich aus seinem Stuhl und sein Gewand flattert um seinen hageren Körper, seine Miene strahlt mir entgegen.

„Endlich. Das ist doch der Streitpunkt der uns seit Generationen verfolgt. Danke Frau Morel.“ Er verbeugt ich vor mir.

Verwirrt blicke ich mich um. Mehrere Augen sind auf mich gerichtet. Der Russe, Sumi und die Inderin betrachten mich mit Bewunderung. Erstaunt stelle ich fest, dass ich wohl doch nicht die einzige bin, die diese Meinung vertritt.

„Ruhe!“, brüllt der Ratsherr Fassungslos. „Wie können Sie es wagen derartig respektlos zu sein? Zügeln Sie ihre Zunge Frau Morel!“ Die Drohung kommt an.

Mein Herzschlag beschleunigt sich reflexartig bei seinem scharfen Ton und Angst umklammert meinen Körper. Die Wut verraucht, und das Adrenalin verliert seine Wirkung. Mist, ich bin wohl mal wieder über das Ziel hinausgeschossen.

Die Ziege tritt einen Schritt nach vorne. „Wenn ich mich zu Wort melden darf, verehrte Ratsmitglieder.“ Die etwas raue Stimme hat eine beruhigende Wirkung auf mich.

Seltsam. Ich habe die Ziege noch nie so viel sprechen gehört, trotzdem kommt mir ihre Stimmfarbe so vertraut vor.

Als von dem Rat kein Einwand kommt, spricht sie weiter: „Ich verstehe Master Morels Einwände sehr gut. Wie Sie ja bereits wissen, lebe ich seit Anbeginn der Gründung der zweiten Basis unter Ihnen. Und als bisher älteste Bestie, die in der Lage ist frei zu denken und die Angelegenheiten der Bestien zu vertreten, haben Sie mir gewährt als Sprachrohr zu fungieren und die Beziehungen zwischen Mensch und Bestie zu beobachten und untereinander zu vermitteln. Nur leider kommen meine Worte nicht da an, wo sie eigentlich Gehör finden sollten. Auch Master Morels Worte scheinen kein Gehör finden zu können, obwohl sie das Ausspricht, was wir schon lange hinterfragen.“

Die Ziege macht eine Pause und blickt sich jetzt auf die gleiche Weise um, auf der ich es getan habe. Auch sie schätzt die Reaktionen der Mitglieder ab.

„Ich will nicht bezweifeln, dass einige Ratsmitglied ihr Bestes tun, um die Interessen der Bestien zu vertreten. Doch leider sind diese noch in der Minderheit und meine Funktion als Sprachrohr ist demnach nicht besonders erfolgreich.

Dank einiger Recherchen gelang ich an die Information, dass es zu den Zeiten des ersten Labors ein Gremium gab. Dieses widmete sich allein diesen speziellen Interessen. Ich bin der Meinung, dass wir endlich einen Schritt in die richtige Richtung gehen und dieses Gremium wieder ins Leben rufen sollten.“

Wieder eine Pause. Die vier Parteien, die mich vorhin unterstützt haben, sehen interessiert zu der Ziege und lauschen den Worten. Der Ratsherr und einige andere Mitglieder wirken dagegen geradezu übertrieben gelangweilt.

„ZP-984 dieses Thema hatten wir bereits“, versucht der Ratsherr die Ziege abzuwimmeln. Doch so leicht gibt sie nicht auf.

„Richtig. Aber es hat sich eine neue Instanz ergeben. Ich habe weiter geforscht und bin dabei auf die Zusammensetzung des damaligen Gremiums gestoßen. Laut den Aufzeichnungen war die Gründerin Ratsmitglied Rosalinde Blum.“

Diese Nachricht sorgt für ganz schönes durcheinander. Auch ich halte den Atem an. Diese Information hatte ich noch nicht. Sie überrascht mich, macht mich aber zugleich Stolz. Denn das hieße ja, dass Rosi der gleichen Meinung war wie ich. Dass sie die Bestien nicht nur als Vieh ansah, sondern auch als frei denkende Geschöpfe wahrgenommen hat.

„Als damaliges, sehr geschätztes Ratsmitglied veranlasste sie die Gründung eben dieses Gremiums. Professor Gillian der Erste unterstützte sie dabei. Außerdem war auch verzeichnet, dass XS-707-GP4 als Sprachrohr der Bestien fungierte. Da die Erbin des Blumgeschlechtes nun ihren Weg zu uns gefunden hat und XS-707-GP4 sich ebenfalls wieder unter uns befindet, glaube ich dass es nur rechtens ist dieses Gremium endlich wieder in Gang zu setzen. Deshalb dürfen diese beiden Partner nicht getrennt werden. Sie könnten für einen großen Schritt in die richtige Richtung sorgen.“

Der Ratsherr wird bleich. Jeah. Eins zu Null für die Ziege im Anzug! Gut gemacht. Ich erkenne meine Chance und trete schnell an ihre Seite.

„Es wäre mir eine Ehre dieses Erbe anzunehmen. Ich erkläre mich dazu bereit dem Rat beizutreten und die Interessen der Bestien zu unterstützen.“

„Wir sollten abstimmen“, kommt es besonders eifrig von dem türkischen Mitglied. Zustimmendes Gemurmel unterstützt ihn.

Blackthrone mustert mich abschätzig. Seine Augen glühen vor Verbitterung. Wenn er die Abstimmung zulässt und sie zu meinen Gunsten ausfällt, dann hat er wohl ein ernst zunehmendes Problem. Denn dann würde er mich nicht mehr so schnell los werden können.

„Nun gut. Dann stimmen wir ab. Diejenigen die für das Gremium sind stehen bitte auf und vertreten ihre Meinung.“ Ein leuchten in seinen Augen verrät mir, dass er eine weitere Gemeinheit geplant hat. Mist. Doch ohne zu zögern meldet sich der erste zu Wort:

Der Türke.

„Ich, Jalenur Yildrim, stimme für das Gremium. Da die derzeitigen Entwicklungen beweisen, dass die Bestien mehr sind als bloße Tiere und sie ebenfalls das Recht haben sollten, ihre Interessen und Meinungen auszudrücken, glaube ich, dass dieses spezielle Gremium perfekt dafür ist. Frau Moral hat mit ihren Worten gerade eben bewiesen, dass sie mehr als geeignet für diese Aufgabe ist.“ Mit einem breiten Grinsen sieht er in meine Richtung und ich nicke ihm zum Dank zu.

Als zweites erhebt sich Sumi.

„Ich, Sumi Hikari, stimme ebenfalls dafür. Ich vertrete die Meinung, dass wir dem Rat zu dem alten Glanz, wie zu Professor Gillians Zeiten verhelfen sollten. Da darf natürlich das Gremium der Bestien nicht fehlen.“ Auch sie sieht mich an. Ihr sanftes Lächeln schenkt mir Mut dem Ganzen stand zu halten.

Als dritter steht der Russe auf.

„Ich, Sergei Sokolow stimme dafür. Ich bin ebenfalls Sumis Meinung. Wir sollten den ruhmreichen alten Glanz des ersten Rates wieder herstellen. Darum stimme ich für das Gremium.“

Dann steht die Inderin auf.

Das überrascht mich, denn sie hat sich bis jetzt kaum von meinen Äußerungen beeindrucken lassen „Ich, Sakshi Verma, stimme dafür. Ich glaube, dass wir die Kreaturen, die Brahma erschaffen hat nicht unterschätzen dürfen und sie mit dem Gremium unterstützen sollten.“

 

Das war´s.

Nur vier von zwölf Mitgliedern sind auf meiner Seite. Ich habe verloren. Ein Blick in Richtung des Ratsherren verrät mir, dass ich Recht behalte. Er sieht mir triumphierend in die Augen und freut sich wie ein Schneekönig. Mist.

Alle guten Vorsätze der Ziege, ihre Ansprache und ihre Unterstützung waren umsonst. Das tut mir leid. Auch tut es mir leid, dass ich das Erbe meiner Großtante nicht erfüllen kann. Ich wäre stolz gewesen, wenn ich ihre Meinung hätte vertreten können. Wenn ich mit Liam ihre Arbeit hätte weiterführen können.

Bedrückt sehe ich meinen Partner an. Er runzelt die Stirn und fängt dann an zu Grinsen. Mit einem Kopfnicken weist er wieder auf den Tisch, an dem die Ratsmitglieder sitzen.

Ein Kratzen von weiteren Stühlen holt mich aus meiner Benommenheit. Drei weitere Mitglieder haben sich erhoben und das siegessichere Grinsen auf Blackthrones Gesicht verblasst.

Cillian lächelt mich verschmitzt an.

„Ich, Cillian Mac Gowan stimme dafür. Ich bin für das Gremium, um das Erbe des ersten Gillian zu erhalten. Er war ein großer Mann und ich finde wir sollten sein Erbe auf keinen Fall mit den Füßen treten.“

Auch Afrika gesellt sich zu den Fürsprechern.

„Ich, Abasi Okafor stimme dafür. Ich glaube zwar nicht, dass Frau Morel dieser Aufgabe gewachsen ist, finde aber die Idee ein Gremium für die Bestien zu erschaffen annehmbar. Immerhin könnten wir sie so besser überwachen.“

Der Dritte im Bunde ist der Mann mit dem Bart.

„Ich, Jacek Pajak stimme dafür. Ich bin der gleichen Meinung wie Abasi. Wir sollten die Bestien noch strenger im Auge behalten und hierfür könnte solch ein Gremium gute Dienste leisten. Allerdings glaube ich auch nicht, dass Frau Morel für diese Aufgabe geeignet ist. Dennoch kann sie von mir aus vorerst den führenden Sitz einnehmen, bis wir eine geeignetere Person dafür gefunden haben.“

Nun gut die letzten beiden Stellungnahmen übergehe ich einfach mal. Die Mehrheit ist auf meiner Seite. Das siegessichere Lächeln ebenfalls. Zwei zu Null für das Team mit der Ziege.

Blackthrones Unterkiefer zuckt wütend. Dann ergreift die Ziege wieder das Wort:

„Da Sie als Ratsherrn leider nicht an dieser Wahl teilnehmen dürfen, erkläre ich nun im Amte des Sprachrohres der Bestien, Tamara Morel als offizielles Oberhaupt des Bestiengremiums.“ Sie dreht sich zu mir um, um reicht mir ihre Hand.

„Es wird mir eine Ehre sein, mit Ihnen zusammen zu arbeiten, Master Morel.“

Mein Kopf fühlt sich an wie benebelt. Ich ergreife zwar die Hand und nehme mein neues Schicksal an, dennoch gelingt es mir nicht wirklich alles zu begreifen was hier gerade passiert ist.

Kapitel 6.4 - Rangordnung

 

Kapitel 6.4 - Rangordnung



 

"Innerhalb des Rates gibt es verschiedene

Stufen der Rangordnung. Um einen genauen

Überblick der Befehlshierarchie zu erhalten

wird empfohlen sich direkt an einen Trainer zu

wenden und die notwendigen Informationen

einzuholen."

 

 

 

Mein Herz springt mir beinahe aus der Brust. Mit beständigem Rhythmus hämmert es gegen meine Rippen. Auch meine Lungen saugen gierig den Sauerstoff ein, als ich mich auf meinem Bett herum wälze. Endlich kann ich wieder frei Atmen. Der raue Stoff der Zudecke dient mir als Anker. Er kratzt über meine Arme und Beine und bestätigt mir, dass ich mich in der Realität befinde und das alles nicht nur geträumt habe.

Ich kann es immer noch nicht fassen. Gestern Abend dachte ich noch, dass ich von Liam getrennt werde und man mich in ein fremdes Land ins Exil schicken würde. Wer hätte gedacht, dass sich das alles noch abwenden lässt.

Mich hat es überrascht, dass ich es tatsächlich geschafft habe die mir vollkommen fremden Menschen zu überzeugen und für mich einzunehmen. Mit ihrer Hilfe habe ich mehr Freiheit erlangt und eine höhere Position.

Ich bin jetzt offiziell der Vorstand für das Bestiengremium. Fünf von zwölf Ratsmitgliedern haben sich für mich entschieden. Sie vertrauen darauf, dass ich für die Interessen der Bestien eintrete und dafür sorge, dass das Zusammenleben besser funktioniert. Was für eine große Verantwortung! Ich seufze. Bin ich dem wirklich gewachsen? Außerdem bereiten mir die letzten beiden Stimmen Sorgen. Sie waren zwar für das Gremium, aber nicht für mich. Außerdem glaube ich, dass sich unserer Ziele beißen werden.

Dennoch. Die Vorstellung endlich meinen Platz in Gimini Intercorbs gefunden zu haben lässt mich aufatmen. So kann ich bei Liam bleiben und anfangen mir hier ein neues Leben aufzubauen. Vielleicht gelange ich irgendwann mal an genügend Einfluss, um meine Familie zu besuchen.

Ich lasse mir den Abend nach der Versammlung noch einmal durch den Kopf gehen. Nach der Abstimmung verlief alles wie im Zeitraffer. Ratsherr Blackthrone verwies auf die überprüfung meiner Behauptung und will erst einmal abwarten, was bei dem Gentest herauskommt, bevor er mir den Platz im Gremium zusteht.

Dann hatte er sich erhoben und mit den Ashtray Zwillingen zurückgezogen. Die Mitglieder, die für mich gestimmt haben sind an mir vorbei gelaufen und haben mich anerkennend oder auch etwas skeptisch angesehen. Sumi und Jalenur sind auf mich zugekommen und haben mir gratulierend auf die Schulter geklopft. Gemeinsam sind wir dann aus diesem Raum voller Veränderungen und neuen Erkenntnissen geflüchtet.

Ich kann mich nur noch verschwommen an unser Gespräch erinnern, aber ich glaube, dass mich Sumi in die Ratsbibliothek eingeladen hat, um etwas sehr wichtiges mit mir zu besprechen. Wie ich wieder hier her gekommen bin weiß ich nicht. Der Schlaf ist an mir viel zu schnell vorbei gezogen und ich fühle mich nicht ansatzweise erholt.

Liam hat die Nacht grübelnd am Tisch verbracht. Ich weiß, dass irgendetwas in ihm vorgeht, kann aber nicht sagen was es ist. Seine Augen mustern mich, doch seine Gedanken hat er wieder einmal versiegelt.

Langsam wälze ich mich aus meinem Bett. Das Frühstück ruft.

 

Mit viel Schwung erhebe ich mich und suche mir erst einmal etwas zu Essen, um mich zu stärken und den neuen Morgen zu begrüßen. Mein Magen meldet sich lauthals und meine Kehle ist staubtrocken. Unentschlossen tippe ich auf dem Bildschirm herum, bis meine Augen eine energiegeladene Mahlzeit erspähen.

Oh ja. Pfannkuchen, mit extra viel Sirup. Ich brauche jetzt unbedingt etwas süßes. Dazu bestelle ich einen Früchtetee mit ebenfalls extra viel Zucker. Während ich auf mein Essen warte, schiele ich verstohlen zu Liam. Lässig sitzt er auf einem der Stühle am Tisch und sieht mich direkt an. Seine Körperhaltung gleicht wieder der Grazie einer Katze. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er versucht mir mit seinen klaren, klugen Augen in die Seele zu blicken.

Dieses Geschöpf erscheint mir immer noch wie ein Traum. Anmut, Stärke, Weisheit. All diese und noch mehr Eigenschaften stecken in der köstlichsten Hülle, die ich je gesehen habe. Bei seinem Anblick fängt mein Körper an zu kribbeln und insgeheim schäme ich mich über diese Anziehung, die Liam auf mich ausübt. Die Frau in mir reagiert auf das Gesamtpaket und fragt sich, wann er sie wohl das nächste mal küssen wird.

Peinlich berührt schüttle ich mich und drehe mich schnell wieder dem Essensaufzug entgegen.

Ich frage mich, warum der Ratsherr und die anderen Ratsmitglieder derart lässig mit Liams Veränderung umgegangen sind. Am Anfang waren sie zwar etwas Erschrocken, doch dann schien es eher normal und sie haben ihn einfach mit einbezogen. Ob es noch mehr Bestien gibt, die sich verwandeln können? Ist das für die Ratsmitglieder alltäglich? Vor allem Blackthrone schien am wenigsten beeindruckt. Hat er Liam nicht sogar gefragt, warum er sich erst jetzt verwandelt hat? Warum weiß Sophie dann nichts davon?

Liam wirkt plötzlich etwas aufgebracht. Scheinbar läst er sich auch die Geschehnisse des Tages durch den Kopf gehen. Das beweist wieder wie intelligent er eigentlich ist. Unruhig rutscht er auf dem Stuhl herum und fixiert mich mit einem seiner magnetischen Blicke.

Ein leises Ping signalisiert, dass mein Essen angekommen ist. Ich nehme es aus dem Fahrstuhl und setzte mich zu ihm an den Tisch.

"Was ist? Bedrückt dich etwas?", frage ich mit vollem Mund. Der Pfannkuchen zergeht förmlich auf meiner Zunge. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Zucker, Zucker und noch mehr Zucker. Leise tickt die Uhr und erinnert mich daran, dass es nicht mehr lange dauert und ich mich wieder einem Ratsmitglied stellen muss.

"Blackthrone hat sich gedrückt," schnauft er unzufrieden.

"Wie meinst du das?" Schnell schiebe ich mir das nächste Stück in den Mund und schlürfe geräuschvoll von dem süßen Tee.

"Du solltest nicht nur zum Vorstand des Gremiums gewählt werden, sondern zum Ratsmitglied."

Ich überlege. Ja, da hat er recht. Am Anfang ging es darum, dass ich Rosi´s Position im Rat einnehme und als Ratsmitglied das Gremium leite. Irgendwie hat der Ratsherr es geschafft dieses Detail unter den Tisch fallen zu lassen.

"Mh, das ist doch nicht so wichtig. Ich wollte sowie kein Ratsmitglied werden. Das habe ich nur gesagt, um dich nicht zu verlieren. Das ist aber auch schon alles. Ich bin vollkommen zufrieden mit der Position des Gremiumsvorsitzenden." 

"Ich aber nicht." Ich runzle die Stirn. Warum regt sich Liam dermaßen auf?

"Warum nicht? Ich bin froh darüber. Du musst diesen Job ja dann nicht machen. Ich habe die ganze Arbeit an der Backe."

"Der Platz im Rat steht dir zu." Oh man. Was für ein Esel. Plötzlich ändert sich seine Haltung und er sieht mir direkt in die Augen. Ein eiskalter Schauer rinnt meinen Rücken herab.

"Warum hast du mir verschwiegen, dass du mit Herrin Blum verwandt bist?"

Ich zucke mit den Schultern. "Dachte nicht, dass es wichtig ist."

Plötzlich klopft es wie wild an der Tür und Sophie kommt hereingestürmt. An ihrer Seite befindet sich ZP. Erschrocken richte ich mich auf und verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. Hustend schiele ich sie an. Sophie kommt zu mir gedüst und klopft sanft auf meinen Rücken. Als es mir besser geht setzt sie sich neben mich an den Tisch. Die Ziege lässt sich ungefragt auf einem Stuhl nieder. Heute trägt sie kaki farbene Latzhosen und einschwarzes T-shirt. Wie sie wohl ihren Kleiderschrank füllt? Ob Kati für die Ziege shoppen geht oder ob Mr. Ziegenbock bei e-bay bestellt? 

"Ich habe alles gehört. ZP-984 hat mir die gestrige Ratssitzung haargenau geschildert. Das ist ja unglaublich. Du bist die Nachfahren der legendären Rosalinde Blum? Und jetzt bist du auch noch Vorsitzende des Bestiengremiums geworden. Ich kann das einfach nicht glauben. Sumi Hikari, Jalenur Yildrim, Sergei Sokolow, Cillian Mac Gowan, Sakshi Verma, Abasi Okafor und Jacek Pajak haben für dich gestimmt. Obwohl die letzten beiden eher für Ärger sorgen könnten, als wirklich eine Stütze zu sein. Warum hast du mir nie etwas von deiner Vorfahrin erzählt? Das ändert wirklich alles. Seit wann weißt du das? Wie hast du von ihr erfahren? Was ..."

Schnell halte ich die Hand hoch und stoppe somit Sophies Redeschwall. Wie ein Maschinengewehr schießen die Worte aus ihr heraus. Mein noch mitgenommenes Hirn kann grade mal ein Drittel von dem Verarbeiten, das mein Gehör ihm zusendet.

Sophie holt tief Luft und wartet auf eine Antwort. Wo soll ich nur anfangen?

"Erinnerst du dich an die Akten aus dem ersten Labor?"

Sie nickt eifrig, schnell fahre ich fort, bevor Sophie wieder anfängt mich mit ihrer eigenen Rede zu überrumpeln.

"Ich habe da nicht nur die Informationen über die Bestien gefunden, sondern auch die persönliche Akte von Rosalinde. Außerdem ist mir ein Foto in die Hände gefallen, auf der sie zu sehen ist. Ich habe sie sofort erkannt", erkläe ich. Sophie nickt mir zu und scheint zu verstehen. Dann legt sie ihre Stirn in Falten.

Schnell beginne ich mein Handeln zu begründen: "Ich fand die Einträge, die Rosi geschrieben hat sehr persönlich, darum wollte ich sie selbst behalten. Ich meine, wenn jemand ihre tagebuchähnlichen Aufzeichnungen lesen darf, dann wohl ich. Immerhin befinden wir uns in einer ähnlichen Situation und sind dazu noch verwandt. Darum sei mir bitte nicht böse, dass ich es vor dir geheim gehalten habe."

Wieder nickt mir Sophie verstehend zu und die Falten glätten sich. "Da hast du wohl recht." 

Sie scheint kurz über etwas nachzudenken, dann wandert ihr Blick zu der Ziege. Diese beobachtet mich seit ihrem Auftreten in meinem Zimmer unablässig. Peinlich berührt rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her.

"Ach ja. Da gibt es etwas was ich dir noch nicht erzählt habe." Schuldbewusst senkt Sophie kurz ihren Blick, dann aber sieht sie mich wieder entschlossen an. "Das ist jetzt eine Information, die nur einem Ratsmitglied zusteht, aber da du ja der Nachkomme eines Mitgliedes bist, kann ich es dir jetzt ohne schlechtem Gewissen erzählen."

Sophies Augen leuchten auf und die beiden Bestien beobachten uns mit angespannter Miene. "Tamara, was glaubst du, woher wir die menschlichen Gene für die Bestien beziehen?"

"Keine Ahnung." Ich weiß es wirklich nicht und darüber habe ich mir ehrlich gesagt auch noch keine Gedanken gemacht.

Sophie holt tief Luft. "Die ersten Bestien wurden mit Hilfe der Gene von Freiwilligen gezüchtet. Mein Urgroßvater hat hierfür die Gene aller Freiwilligen getestet und dabei kam heraus, dass das Erbgut bestimmter Familien am besten geeignet ist. Es war wichtig, dass die Anlagenträger eine geringe Voraussetzung für Erbkrankheiten haben. Sie sollten sportlich, intelligent, widerstandsfähig und anpassungsfähig sein. Das Beste Genmaterial konnte mein Großvater aus den Ashtrays, Vermas, Peres, Blackthrones, Gillians, Petits, Yildrims und Blums gewinnen."

Ich halte den Atem an. Mein Puls rast und das Blut rauscht mir in den Ohren.

"Später sind noch einige andere Familien dazu gekommen. Um das kurz zu fassen, stammen fast alle Genspender aus dem Rat."

Oh mein Gott. Ich brauche eine Weile um das alles zu verkraften. "Heißt das, dass auch Rosi ihr Genmaterial zur Verfügung gestellt hat?"

"Ja. Allerdings gibt es nach dem Tod meines Urgroßvaters und dem Vorfall im ersten Labor aus ethischen und praktischen Gründen eine neue Regelung. Die Spenden der aktuellen Ratsmitglieder müssen eingefroren und verwahrt werden, bis dieser stirbt. Erst nach seinem Tod dürfen die eingefrorenen Gene verwendet werden. So dienen die Bestien als eine Art Vermächtnis."

Ich traue mich kaum, aber diese Frage muss ich einfach stellen.

"Wie viele Bestien wurde aus den Genen meiner Großtante erschaffen?" Wieder halte ich angespannt den Atem an.

"Herrin Blum konnte vor ihrem Ableben nur ein einziges Mal spenden, weshalb auch nur eine Bestie als ihr Erbe hinterlassen werden konnte." Erleichtert lasse ich die angehaltene Luft heraus.

"Eine Bestie?", flütere ich. Schon allein der Gedanke, dass da draußen eine Bestie herumläuft, die auf skurrile Art und Weise mit mir verwandt ist, macht mir Angst.

"Welche?" Gespannt sehe ich Sophie an. Welche Kreatur wurde wohl aus unserer Erblinie erschaffen?

"ZP-984"

Geschockt weiten sich meine Augen. Ich sehe zu der Ziege und einen Moment lang blicken wir uns nur schweigend an. Langsam dämmert es mir, warum sie sich plötzlich so anders verhalten hat, als sie von meiner Verwandtschaft mit Rosi erfahren hat. Schweigend nickt sie mir zu.

"Die Ehefrau meines Lehrers, Zoe Reinhold, hat sich den Genen von verstorbenen Ratsmitgliedern gewidmet. Sie wollte das Erbe vor allem von denen Erhalten, die als Fürsprecher für die Bestien galten. Sie vertrat die gleiche Meinung wie mein Mentor und wollte so diese Ratsmitglieder ehren. Darunter war auch deine Tante Rosalinde.

Aber wie gesagt. Es gab nur eine Probe. Doch zum Glück war die Züchtung erfolgreich. Später wurde Kati als Herrin ausgewählt."

"Was heißt dass jetzt für mich?", wende ich mich fragend an die Wissenschaftlerin.

"Nun ja, nach den Gesetzten von Gimini Intercorbs heißt es, dass sämtliche Bestien, die aus den Spenden eines ehemaligen Familienmitgliedes erschaffen wurden, den Nachkommen gehören."

"Aber ich habe doch schon eine Bestie", wende ich stirnrunzelnd ein.

"So meine ich das auch nicht. ZP-984 gehört dir. Das heißt du hast das Recht einen passenden Herrn zu finden und die Einnahmen des Herrn, sowie der Bestie zu verwalten. Da es damals keinen Erben gab, gehörten alle Rechte dem Ratsherrn. Aber nun ändert sich das. Du hast nun das Vorrecht auf diese Bestie. Wenn du also einen speziellen Auftrag hast, für den du ZP-984 und seine Herrin brauchst, dann darfst du diesen ihm stellen, selbst wenn andere Ratsmitglieder ihn ebenfalls brauchen. Außerdem darfst du auch Aufträge ablehnen, denen ZP-984 nicht nachkommen soll. Am besten unterhälst du dich mit Kati außführlicher darüber." 

"Diese Regelung ist doch total verwirrend. Würde es dann nicht auch bedeuten, dass ich für den Genspender von Liam arbeite, beziehungsweise für dessen Nachkommen?"

"Normalerweise schon, aber bei Liam ist alles anders. Erstens kennen wir Liams Spender nicht, und zweitens greift diese Regelung erst ab 1977. Die Bestien die davor erschaffen wurden gelten als Freiwild. Allerdings ist Liam auch die einzige bekannte Bestie die vor 1977 erschaffen wurde. Darum glaubt auch Silvana, dass sie Anspruch auf Liam erheben kann. Als Nachfahrin seiner früheren Herrin könnte sie bei weniger mächtigen Mitgliedern von Gimini Intercorbs Recht bekommen."

In meinem Gehirn rattert es. So viele Gedanken schießen mir durch meine müden Windungen. Diese ganze Besitzer-Sache nimmt auf einmal vollkommen andere Maßstäbe an.

"Wie viele Bestien unterstehen denn einem Ratsmitglied. Gib es eine maximale Anzahl die nicht überschritten werden darf oder kann jedes Ratsmitglied so viele Bestien mit den Genen seiner Vorfahren erschaffen wie er will?"

Sophie sieht mich bedrückt an.

"Jedem Ratsmitglied unterstehen, je nach Macht, Einfluss und Beziehungen ein oder mehrere Wissenschaftler. Es kommt darauf an, wie viele Spenden von seinen Vorfahren eingefroren wurden und wie viele der Bestien die Züchtung überleben. Danach richtet sich die Anzahl der unterstehenden Bestien und somit auch Herrn, Ausbilder und dessen Einflusses im Rat."

"Das bedeutet also, dass zum Beispiel ein Ratsmitglied mit einer längeren Ahnenreihe und fleißigen Spendern in der Familie beliebig viele Bestien züchten kann. Hauptsache er kann die Wissenschaftler bezahlen. Und wer viele Bestien hat braucht auch viele Herren und dafür braucht er gute Ausbilder, um möglichst viele mächtige Bestien mit Herrn auszubilden."

Sophie nickt. "Der Ratsherr selbst steht ganz oben auf der Rangordnung. Er darf einem Ratsmitglied auch Grenzen bei der Züchtung setzten und so die Erschaffungsrate kontrollieren. Außerdem darf er als einziger auf sämtliche Wissenschaftler zurückgreifen, um sie für sich arbeiten zu lassen."

"Und wer setzt dem Ratsherrn dann Grenzen?"

Sophie sieht mich an und ich weiß sofort, dass ihm keine Grenzen gesetzt werden. Was für ein Wahnsinn.

Wir schweigen eine Weile. Ich sehe zu Liam. Auch er sieht mich bedrückt an. Seine Augen spiegeln diese unmoralische Massenzucht wieder. Trauer, Wut, Unverständnis treiben an ihren Oberflächen. Wer weiß was sich noch alles darunter verbirgt.

Kapitel 6.5 - weltweiter Einfluss

 

„Im Laufe der Entwicklung von Gimini Intercorbs

wurden auf der ganzen Welt verstreut Tochterlabore

aufgebaut. Diese werden einem jeweiligen

Ratsmitglied anvertraut um den stetigen

Wachstum zu unterstützen.“

 

 

Nach dem ganzen, dass ich heute erfahren und erlebt habe kann mir mein zuckersüßer Pfannkuchen auch nicht mehr weiterhelfen. Trotzdem will ich das alles nicht ausblenden, egal wie beängstigend es auch ist.

„Wie viele Bestien sind derzeit im Umlauf?“, frage ich vorsichtig.

Sophie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich habe seit meinem offiziellen Dienstbeginns als Züchterin rund 1000 Bestien erfolgreich gezüchtet, davon ist ein Achtel bereits verstorben. Was die anderen Züchter vollbracht haben, vor allem die, die länger im Dienst sind, weiß ich nicht.“

„Muss das denn nicht aufgezeichnet werden? Bei den vielen Laboren verliert man doch sonst den Überblick. Außerdem sollte es doch ab einer Bestimmten Anzahl schwieriger werden die Öffentlichkeit im Unklaren zu lassen.“

„Ja diese Tatsache macht mir auch Sorgen. Es wird zwar genau Buch geführt, doch gibt es scheinbar bereits Bestien die nicht aus unseren Laboren Stammen. Selbst der Rat verliert langsam den Überblick, will dies aber nicht wahr haben. Er will immer noch im Hintergrund arbeiten und unentdeckt bleiben. Aber durch die vielen Aufträge in den Kriegsgebieten wird dies noch mehr erschwert. “

Ich schlucke.

„Welche Länder sind denn eigentlich beteiligt? Ich habe den Rat gestern zwar kennen gelernt, aber ich konnte nicht alle Länder benennen.“

Sophie holt tief Luft: „Indien, Polen, Russland, Schottland, Afrika, Südkorea, Japan, Frankreich, Amerika, Türkei, Ägypten, Brasilien.“

Diese Bandbreite macht mich Sprachlos. Ich hatte ja schon vermutet, dass die 12 Ratsmitglieder aus verschiedenen Ländern stammen, aber die Realität aus dem Mund von Sophie schockt mich gewaltig.

Wie kann solch ein Ausmaß an menschlichem Übermut nur entstehen? Entschlossen schüttle ich den Kopf. Ich darf mich davon nicht zurückschrecken lassen. Ich will meinen Teil in dem Ganzen beitragen. Vielleicht gelingt es mir ja irgendetwas in Bewegung zu setzten. Aber dafür muss ich erst einmal meine Möglichkeiten erforschen.

 

Sophie erklärt mir noch einige Hintergründe zu Gimini Intercorbs. Doch mich interessiert es nicht wie sie die einzelnen Labore aufgebaut haben oder wie sie versuchen sich noch weiter auszubauen.

„Sag mal, wenn Kati mir jetzt untersteht, muss sie dann noch Befehle von Blackthrone entgegen nehmen?“, frage ich.

Sophie scheint von meinem plötzlichen Themenwechseln leicht irritiert, fängt sich aber schnell wieder.

„Nein. Du bist jetzt praktisch ihre Vorgesetzte.“

Irgendwie freue ich mich darüber. Das Schicksal schlägt manchmal seltsame Wege. Da setze ich mich vor dem Rat und gegenüber Blackthrone doch tatsächlich für die Soldatin ein, die am Ende zu mir gehört. Triumphierend grinse ich in mich hinein.

Da fällt mir noch jemand ein über den ich schon länger nicht mehr nachgedacht habe.

„Was ist eigentlich mit Caleb?“

Traurig zuckt Sophie mit den Schultern. „Seit dem Vorfall habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

Das macht mich stutzig. Wo er jetzt wohl ist? Ob ihm etwas zugestoßen ist?

Plötzlich ertönt ein leises Fauchen direkt neben mir. Warnend. Gefährlich. Ich drehe mich um und blicke den funkelnden Augen meiner Bestie entgegen. Nervös schlucke ich. Wo kommt auf einmal mein schlechtes Gewissen her.

Sein Blick spricht dafür tausend Bände. Mich graust es schon vor dem Moment, an dem wir wieder unter uns sind. Vor kribbelnder Erwartung zieht sich mein Unterleib zusammen. Verflucht! Wieder frage ich mich, wo diese plötzliche Anziehung herkommt. Doch ein verstohlener Blick in dieses wohlgeformte Gesicht liefert mir bereits den ersten von unzähligen Gründen. Ich würde mich gerne mit Sophie darüber unterhalten und über die Tatsache, dass sie etwas über das Bestiengremnium gewusst haben musste. Warum dann will sie mir nicht glauben, wenn ich behaupte, dass Bestien uns Menschen ähneln und zu Gefühlen fähig sind? Aber solange ich von meiner eigenen Bestie nicht aus den Augen gelassen werde traue ich mich nicht dieses Thema anzuschneiden. Also lasse ich es erst einmal sein.

Genau in diesem Moment erhebt sich Sophie. „Ich muss wieder gehen. Wenn du nichts dagegen hast werde ich ZP-984 zu Kati bringen damit er auf sie aufpassen kann und sie auf den neuesten Stand bringt.“

„Wie geht es ihr überhaupt?“

„Besser. Dr. Jung kümmert sich sehr gut um sie und Schwester Samantha hat sich mit ihr angefreundet. Du solltest später nochmal in mein Labor kommen, dann werde ich den DNA Test in die Wege leiten, damit dir dein Platz im Gremium sicher ist.“

Erleichtert atme ich aus. Ich verabschiede mich von den Beiden und verspreche Sophie zu Sumi zu gehen und ihr danach alles haarklein zu berichten.

Ich schließe hinter ihnen die Tür und frage mich insgeheim wie es wohl sein wird einem der Ratsmitglieder unter vier Augen zu begegnen. Ohne Blackthrone im Nacken. Einfach ungezwungen in der Bibliothek.

 

Als ich mich umdrehe werde ich sofort wieder an meine kleine eifersüchtige Bestie erinnert. Liam erhebt sich sofort, als er merkt, dass er meine gesamte Aufmerksamkeit besitzt und schlendert gemütlich in meine Richtung.

Langsam lässt er seinen Blick an mir herabgleiten, dabei überkommt mich wieder dieses leichte Kribbeln im Magen und tiefer.

Er kommt erst wieder zum stehen, als seine Nase beinahe die meine berührt. Seine Augen versinken in meinen. Ich kann seinen Atem auf dem Gesicht spüren. Wohlig. Warm. Alles andere als unangenehm. Mein ganzer Körper spannt sich an und ich weiß nicht wie ich reagieren soll.

„Warum fragst du nach dem Halbmenschen?“, flüstert seine raue Stimme. Betörend und sinnlich dringt sie in mich ein und beschleunigt meinen Herzschlag.

Ich schlucke und bin verwirrt. Halbmensch?

„Was meinst du?“, flüstere ich zurück. Eine Gänsehaut überkommt mich, als Liam seine Hände neben meinem Kopf platziert. Seine langen, sehnigen Arme rahmen mich ein und halten mich gefangen. Mein Atem entweicht mir nur noch stoßweise. Unwillkürlich kleben meine Augen an seinen Lippen und meine Knie werden weich wie Wackelpudding. Warum hat Liam nur solch eine Wirkung auf mich? Ich verstehe es nicht. Er ist doch immer noch der Selbe. Nur eben auf zwei Beinen, mit einem attraktivem Gesicht und den sinnlichsten Lippen der Welt. Ich seufze.

„Blackthrone“, schnurrt er ungeduldig.

Aber mein Gehirn ist leider viel zu benebelt um sich zu konzentrieren. So kommen wir nicht weiter! Entschlossen drücke ich Liam von mir weg und versuche so etwas Luft zum Atmen zu bekommen, doch der sture Esel rückt keinen Millimeter von mir fort. Mein Körper wird gegen dir Tür gepresst und Liam schiebt sein Bein zwischen meine Schenkel. Der viel zu kurze Stoff des Schlafshirts rutsch ein klein wenig nach oben.

Ich schüttle meinen Kopf um den Nebel so zu vertreiben und versuche mich auf die weit entfernte Wand hinter Liams Rücken zu konzentrieren und sein aufdringliches Bein zu ignorieren.

„Was meinst du mit Halbmensch?“

„Warum interessiert dich das?“

Ich schnaube. So kommen wir auch nicht weiter. Dieser Egoist will immer nur Antworten auf seine Fragen.

„Ich habe Caleb einiges zu verdanken. Er ist mir ein guter Freund geworden. Für gute Freunde interessiert man sich eben“, erkläre ich genervt.

„Du küsst also gute Freunde?“ Verwirrt blicke ich ihm in die Augen. Ich runzle die Stirn. „Wir haben uns nicht geküsst.“

„Ja, aber nicht weil du es nicht wolltest.“

„Liam“, zische ich genervt, „lass die alten Kamellen ruhen! Außerdem wollte ich es doch nicht. Ich war froh, dass du ihn aufgehalten hast.“

Unzufrieden schnauft er vor sich hin. Wieso rechtfertige ich mich bloß vor ihm. Ich komme mir wir eine Ehefrau vor, die beim Fremdgehen erwischt wurde. Ich verstehe sein Problem einfach nicht. Gut er ist besitzergreifend und dominant. Und er kann Caleb nicht leiden.

Wütend fahren sich seine Krallen aus. Sie schlagen sich in in die Tür und auf einmal wird mir wieder bewusst, dass der Junge vor mir eine wilde Bestie ist, die noch vor wenigen Tagen mein erstes Zimmer zu Kleinholz verarbeitet hat. Nur weil ich nicht bei ihm war.

Ich straffe meinen Rücken und verfluche das Kribbeln, dass immer noch nicht nachgelassen hat.

„Verdammt jetzt fahr dich wieder runter!“

Liam schnauft, dabei packt er mein Kinn mit der Linken und macht Anstalten mich wieder zu küssen. Ich presse meine Lippen zusammen und drücke so meinen Widerwillen aus. Meine Augen sprühen Funken. Wenn der sich einbildet, dass ich mich schon wieder von ihm küssen lasse, um mich abzulenken, dann kann er sich auf was gefasst machen!

Liam fällt natürlich meine Stimmung auf und lässt seine Hand abrupt sinken. Wütend wendet er sich ab und Brüllt lauthals in den Raum.

„Liam, was ist dein Problem?“, frage ich sanft. Ich will ihn nicht noch weiter provozieren und versuche ihn mit meiner Stimme zu beruhigen. Es dauert einige Herzschläge bis er sich mir wieder zuwendet.

„Ich will dich nicht teilen“, antwortet er mit angerauter Stimme. „Darum habe ich meine Gestalt geändert. Dieser Halbmensch bekommt dich nicht!“

„Was meinst du damit? Warum hast du dafür deine Gestalt verändert?“

„Du fühlst dich mehr zu dem menschlichen Halbmensch hingezogen. Nicht zu meinem Bestien Ich. Das kann ich riechen und das treibt mich in den Wahnsinn!“

Ich weiß nicht was ich sagen soll. Hat er sich nur aus Eifersucht verwandelt? Wieder sieht er mich mit dem alles verschlingenden Blick an.

„Jetzt stehen die Chancen gleich.“

„Aber ich mochte dich in Bestiengestalt doch auch.“

„Aber erst, als ich meine Instinkte unterdrückt habe und zum Schoßhund wurde“, knurrt er.

Schoßhund? Wenn ich so zurückblicke stimmt schon was er sagt. Am Anfang war er wild und nur von seinen Instinkten geleitet. Damals hatte ich sehr große Angst vor ihm. Erst als er begonnen hat sich mir zu nähern und „menschlicher“ zu werden, konnte ich mich ihm auch annähern. Der wilde Liam hat mich abgeschreckt. Doch mit dem zahmen Liam konnte ich umgehen.

„Wie kannst du mir das verübeln? Ich kannte vor dir noch keine Bestien. Außerdem bist du bei jeder Kleinigkeit ausgerastet und hättest mich mit deinen Klauen töten können. Wie sollte ich dich da auch akzeptieren können?“

„Ich weiß“, erwidert er mit knirschenden Zähnen. „Das halte ich dir auch nicht vor. Es war anstrengend mich zu ändern. Aber dann kommt dieser Halbmensch und will sich mit dir paaren und du reagierst darauf.“

Ja ok. Es gab Situationen in denen ich mich von Caleb angezogen fühlte. Moment mal. Warum rechtfertige ich mich hier eigentlich?

„Liam du bist eine Bestie. Eine Art Tier oder so. Ich sehe dich nicht als Mann. Außerdem hat Sophie gesagt, dass ihr euch … nun ja … nicht paart. Ihr besitzt noch nicht mal die Voraussetzungen dafür. Ach das ist doch lächerlich. Bis vor Kurzen warst du nicht einmal ein Mann. Also habe ich dich nie als einen angesehen, sondern nur als guten Freund, als Partner. “ Mit dem letzten Satz leugne ich die offensichtliche Anziehung, der ich ihm gegenüber unterliege. Sie ist tausend mal stärker, als bei Caleb. Ich habe schon nach seiner Verwandlung angefangen in ihm mehr zu sehen, als nur eine Bestie. Aber darf ich mir das eingestehen?

„So, du siehst mich also nicht als Mann?“ Das bittere Grinsen in seinem Gesicht verheißt nichts gutes.

Mit einem Satz schmeißt er mich über seine Schultern und lässt mich im nächsten Moment auch schon wieder auf dem Bett fallen. Er springt über mich und leckt sich die Lippen. Mein Innerstes zieht sich genussvoll zusammen. Liam legt seinen Mund ganz zärtlich auf den meinen und mein Körper wird weich. Dieser jämmerliche Verräter!

 

Kapitel 6.6 Wachstum

 

 

Zum Wohle des Friedens gab es bereits

während der Gründung von Gimini Intercorbs

den Rat, um die Interessen der Menschheit zu wahren.

Durch einige Fehlschläge der Vergangenheit konnte

die 2. Generation aus den Fehlern lernen und die

Zusammenarbeit zwischen Mastern und Bestien perfektionieren.“

 

 

 

Wieder einmal hat es Liam geschafft mein Gehirn leer zu fegen. Er beugt sich über meinen Hals und beginnt ihn mit sanften Küssen herab zu wandern. Halbherzig versuche ich ihn aufzuhalten. Aber meine Sinne spielen verrückt.

Sie genießen diese Liebkosung und betteln aufgeregt nach mehr. Noch nie wurde ich so zärtlich berührt. Ein leises Brummen kommt aus Liams Kehle und dringt in meinen Körper ein. Diese Kombination von Vibrationen und Küssen treibt mich beinahe in den Wahnsinn.

Eine seiner frechen Hände wandert an meinem Oberschenkel herauf und gleitet unter mein Schlafshirt. Ich stöhne und erschrecke mich selbst damit. Liam hebt seinen Kopf und grinst mich süffisant an.

„So so. Dafür, dass du mich nicht als Mann betrachtest reagierst du aber sehr sensibel und willig auf meine Berührungen.“

Ich werde rot. Scham überkommt mich. All meine Bedenken hatten sich für einen kurzen Moment in Luft aufgelöst.

„Liam, warum ich?“, flüstere ich ihn an.

Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Durch meine Verwandlung in eine Bestie hat sich mein menschliches Bewusstsein in den Hintergrund gezogen. Man könnte sagen, dass ich nur aus Instinkten bestanden habe.“

„Heißt das, dass mich dein Instinkt gefunden hat?“, frage ich neugierig.

„Das könnte man so sagen. Dein Geruch hat mich wieder zu Bewusstsein gebracht. So bin ich nach und nach wieder ich selbst geworden. Eines Tages bin ich dann aufgewacht und du warst mit mir in dem Labor.“

Das heißt ja, dass er mich wirklich nicht aus Böswilligkeit entführt hat, sondern dass er instinktiv gehandelt hat. Wie ein Tier. Da lag ich mit meiner anfänglichen Vermutung gar nicht mal so falsch. Dennoch finde ich es seltsam, dass er mich gewählt hat und nicht eine meiner Kolleginnen. Die Antwort wird mir wahrscheinlich für immer ein Rätsel bleiben, da ich ja schlecht seinen Instinkt fragen kann.

„Zu welchem Zeitpunkt bist du denn wieder aufgewacht?“

„Keine Ahnung.Ich hatte das Zeitgefühl verloren, aber ich glaube es war kurz bevor ZP-984 aufgetaucht ist. Vorher ist alles nur undeutlich und Blass. Mal war ich wie in Trance und habe mein eigenes Handeln beobachtet, dann habe ich wieder geschlafen. Das ging eine ganze Weile so.“

Das erklärt auch seine menschlichen Züge, dann wieder seine tierischen Reaktionen. An manchen Tagen meiner Gefangenschaft hatte Liam mehr wie eine wilde Bestie gewirkt, als an anderen.

„Aber du hast selbst gesagt, dass du deinen Instinkt abgeschaltet hast, um mein Vertrauen zu gewinnen“ erinnere ich mit laut an eine unserer ersten Konversationen.

„Ja, das stimmt auch. Trotz meines bewussten Erwachens steckte viel zu viel Bestie in mir. Immerhin geht das nicht von jetzt auf sofort. Ich habe viel zu lange in meiner Bestiengestalt gelebt. Darum habe ich auch vergessen, dass ich mich anpassen kann. Es war als Bestie eben nicht wichtig.“

So war das also. Die Wutanfälle nach seinem Erwachen sind wohl auch ein Zeuge dafür, dass er sich nur schwer beherrschen konnte und noch Probleme hatte, die Bestie in sich zu unterdrücken.

„Kannst du dich denn an deine Zeit mit Magdalena erinnern?“, frage ich gespannt.

Liam seufzt. Sein Atem kitzelt in meiner Nase. Er lässt sich neben mir fallen und greift nach einer meiner Haarsträhnen. Er wirkt viel zu menschlich. Eigenartig. Als sei es für ihn das normalste auf der Welt.

„Ja. Zu der Zeit war ich abwechselnd in Menschen- und Bestiengestalt.“

Ich schlucke. Wird er mir endlich mehr über seine Vergangenheit erzählen? Ich wage einen Versuch.

„Wie war sie denn so? Dein erster Master?“, frage ich angespannt.

Liam sieht mir tief in die Augen. „Warum interessiert dich das?“

„Darf es mich nicht interessieren?“, fauche ich gereizt. Es regt mich auf, dass er mir nichts von seiner Vergangenheit erzählen will. Warum die Geheimnistuerei?

Er zuckt mit den Schultern und erhebt sich. Mit dem Rücken zu mir sitzt er angespannt auf dem Bett. Ich traue mich nicht zu atmen oder mich zu bewegen. Alles was ihn ablenken könnte versuche ich zu vermeiden.

„Sie war sehr streng. Hat mich oft versucht mit körperlicher Gewalt zu maßregeln. Ich sollte zu ihrem treuen Hund werden.“ Er schnauft und sieht wieder zu mir. Auch ich erhebe mich endlich und setzt mich aufrecht hin.

„Wie hat sie auf deine Verwandlung reagiert?“

„Sie hat es sich erhofft. Professor Gillian hatte mich und meine Brüder so gezüchtet, damit wir uns an die menschliche Gestalt anpassen können.“ Also gab es tatsächlich noch mehr von Liams spezieller Art. „Aber nach meiner Verwandlung habe ich mich ihr umso mehr widersetzt.“ Ein schelmischer Blick trifft auf meinen.

Ich kann mir Magdalenas Unmut nur allzu gut vorstellen, als sie merkt, was für ein Dickkopf mein Liam ist.

„Und wie bist zu dem Gremium gekommen?“

„Das war die Idee des Professors. Im Gegensatz zu meinen Brüdern war ich der einzige der sich getraut hat seinen Mund zu öffnen und sich gegen seinen Master zu stellen.“

„Das verstehe ich nicht. Wurdet ihr denn nicht vom Professor erschaffen, um euren Mastern zu dienen?“

Liam streckt seine Hand nach meinem Unterschenkel aus und beginnt mit seinen Fingern darauf zu spielen. Scheinbar passiert das unterbewusst, denn er selbst setzt mit seinen Erzählungen ungerührt fort.

„Nein. Der Professor wollte von Anfang an, dass wir Bestien uns mit unseren Mastern anfreunden und ihre Partner werden, nicht ihr Werkzeug. Der Rat aber war sehr stur und wollte dem einen Riegel vor schieben. Weil sich die Zeiten änderten und die Bestien immer mehr zu Sklaven erzogen wurden, begann der Professor damit uns mehr menschliche Gene zu verleihen. Er wollte erreichen, dass wir uns zur Wehr setzen können.“

Also war der Professor von Anfang an gegen dieses Master und Bestien Projekt. Was Sophie wohl dazu sagen würde?

„Aber warum hat der Professor dann nicht einfach aufgehört Bestien zu züchten?“ Immerhin hätte er so dem Ganzen einen Riegel vor schieben können.

„Das hätte nichts gebracht. Es gab noch unzählige andere Wissenschaftler die damals bereits mitmischten.“

Ach so ist das. Das ergibt natürlich Sinn.

„In Rosalinde hatte er eine starke Verbündete gefunden. Sie hat ihre Bestie von Anfang an als Partner betrachtet. Ihr Charme hat weitere Verbündete angelockt. So auch einige wichtige Persönlichkeiten im Rat.“

„Dann hat sie wohl auf dieser Basis das Gremium gegründet“, fasse ich zusammen. Das macht mich stolz. Vor allem da ich auch in Liam Anerkennung für meine, damals noch sehr junge, Tante erkenne.

„Ja.“

„Wie hat Magdalena darauf reagiert?“, komme ich wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

„Nicht besonders gut. Sie hat den Professor dafür angeklagt, dass er mich falsch gezüchtet habe. Daraufhin musste der Professor sein Amt nieder legen, durfte aber weiterhin im Labor leben.“

Ich halte den Atem an. Also war es indirekt Liams Schuld, dass der Professor überhaupt angeklagt wurde.

„Was ist dann passiert?“

„Ich habe Magdalena zur Rede gestellt. Aber die blieb stur.“

„Hast du sie deshalb getötet?“

„Nein“, antwortet er knapp und gleichgültig.

„Warum dann?“

„Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich erinnere mich nur noch daran, dass nach dem Rücktritt des Professors ständig Nachrichten von gescheitert Aufträgen kamen. Auffälliger weise waren es die Mitglieder des Gremiums, die alle nach und nach verstarben.

Der Professor hatte dann eine böse Vorahnung und empfahl den übrig gebliebenen zu verschwinden. Auch er bereitete alles darauf vor, das Institut zu verlassen. Als dann auch noch die Nachricht kam, dass Rosalinde ebenfalls versagt habe, stand sein Beschluss fest. Doch bevor er mit seiner Familie untertauchen konnte ist er gestorben.“

Tränen kommen in mir hoch. Das alles klingt nach einer Verschwörung gegen das Gremium und meiner Tante. Garantiert steckte der Rat dahinter, wenn nicht sogar Magdalena selbst.

„Nach seinem Tod habe ich mich in meine Bestiengestalt zurück gezogen“, meint Liam bedrückt. Ihm steckt ein Kloß im Hals. Scheinbar mochte er Sophies Großvater sehr. „Immer mehr meiner Brüder sind gestorben oder spurlos verschwunden, bis nur noch ich übrig war. Eines Tages habe ich dann mein menschliches Bewusstsein zurückgezogen und meinem Instinkten die Führung überlassen.“

So war das also. Liam hat das Labor wohl nicht bewusst zerstört. Er hatte auch seine Herrin nicht mit Absicht getötet. Die Bestie in ihm hat die Zügel in die Hand genommen und ist irgendwann Amok gelaufen. Genau wie die anderen Bestien, nur mit dem Unterschied dass Liam um einiges Mächtiger war als die anderen.

„Ich habe erst von meinem Werk erfahren, als Sophie dir davon erzählt hat.“ Das muss ein gewaltiger Schock für ihn gewesen sein.

Ich blicke Liam an und versuche ihn mit meinen Augen zu trösten. Doch er fängt sich schnell wieder und grinst mir entgegen.

„Aber das alles ist eh Vergangenheit. Nun zu dir.“

Ich weite meine Augen. „Was meinst du?“

„Musst du nicht langsam zur Bibliothek?“ Erleichtert atme ich aus.

Liam lacht. „Was hast du denn gedacht?“

Schnell springe ich auf und mache mich fertig. Als ich frisch geduscht und angekleidet aus dem Badezimmer trete, kommt mir ein seltsamer Gedanke.

„Sag mal Liam, warum wäscht du dich nie?“

Mein Frage überrascht ihn. „Hab ich doch.“ Er schnüffelt an sich und sieht mich dann wieder an. Auf meinen fragenden Blick antwortet er mir mit einem schelmischen funkeln in den Augen: „Während du geschlafen hast, habe ich das Bad für mich genutzt. Aber wenn du willst können wir uns ab jetzt gegenseitig waschen.“

Geschockt weiche ich zurück. Und Liam lacht schon wieder. Solch ein lauthalses Lachen habe ich noch nie von ihm gehört. Es gefällt mir wie locker er geworden ist. Innerhalb von zwei Tagen hat er sich mir geöffnet und beginnt immer menschlicher zu wirken. Wenn das so weiter geht werfe ich alle meine Bedenken über Bord und schmeiße mich ihm an den Hals.

 

Dank Sumis vorhergehender Beschreibung finde ich die Bibliothek schnell. Mit Liam im Schlepptau fahren wir mit dem Fahrstuhl in die 7. Etage. Unterwegs treffen wir auf einige Unteroffiziere und ihre Bestien.

Dieses Mal aber kommt mir keine offenkundige Feindseligkeit mehr entgegen, sondern Respekt und Anerkennung. Die Neuigkeiten meines Stammbaumes haben sich anscheinend schnell herum gesprochen.

Als wir vor der großen Tür zum stehen kommen, überkommt mich ein mulmiges Gefühlt. Was mich wohl in dem Gespräch mit Sumi erwarten wird? Liam drängt sich an mir vorbei und öffnet die Tür. Ich folge ihm und trete in ein Märchenland voller Bücher. Hunderte Regale stehen neben einander aufgereiht im Raum und begrüßen uns Neuankömmlinge. Sumi und ihre Bestie erwarten uns bereits.

 

Kapitel 6.7 - Die Ratsbibliothek

 

Kapitel 6.7- Die Ratsbibliothek

 

„Die Ratsbibliothek besteht bereits seit mehreren Generationen.

Sie wird mit Hilfe der Wissenschaftler, Trainer und

Ratsmitglieder immer wieder aktualisiert.

Direkten Zugang besitzt nur der Rat selbst.

Es gibt Ausnahmeregelungen für bestimmte

Master oder Trainer, die das Privileg die Bibliothek zu

betreten von einem Ratsmitglied erhalten.“

 

 

 

 

 

 

Wie vom Blitz getroffen bleibe ich mitten in der Bibliothek stehen. Meine Augen jagen über die Bestie des Ratsmitgliedes. Wiedereinmal wird Sophies erste Unterrichtsstunde auf den Kopf gestellt. Wie war das? Die Bestien sollen aus Tieren zusammengestellt werden, die sich in Größe, Lebensraum und Gewicht ähneln.

Ich glaube davon hat die kleine Japanerin vor mir noch nichts mitgekommen. Ihre Bestie ist gigantisch. Sie reicht in Sachen Größe locker an Liams Berserkerzustand heran. Hier kann ich den Bären deutlich erkennen. Klare blaue Augen mustern uns. Die weiße Schnauze reckt sich in die Luft um Prüfend unseren Geruch einzusaugen.

Die Form des Kopfes gleicht einem Eisbären, der Körper hingegen einem Panda. Die breiten Pfoten liegen still auf dem Laminat, während der Stummelschwanz leicht zu zucken beginnt. Wenn man diese Kombination sieht fällt einem als Bestienmaster nichts ungewöhnliches auf. Gewicht und Größe passen einigermaßen zueinander. Lebensraum … naja. Eher weniger. Doch ein kleines Detail passt nicht so ganz an den wuchtigen Bärenkörper. Und zwar ein paar schneeweiße Flügel.

Ein fliegender Bär. Wie soll das gehen? Der Körper an sich ist doch viel zu schwer, als dass ein paar zart wirkende Flügel ihn in der Luft halten könnten.

Verwirrt runzle ich die Stirn und blicke zu Sumi. Diese lächelt mich grüßend an und steht auf. Wieder trägt sie einen eleganten Kimono. Die gelbe Seide mit Schmetterlingsaufdruck umschmeichelt den zierlichen Körper. Sie reicht mir ihre Hand zur Begrüßung und hat für ihren kleinen Körper einen äußerst kräftigen Händedruck. Sumi reicht mir geradeso bis zur Nasenspitze. Ich hatte mich selbst nie für besonders groß gehalten, aber die Japanerin erscheint mir im Gegenzug gerade winzig.

„Guten Tag, Frau Morel.“

„Guten Tag.“

Sie wendet sich meinem Begleiter zu. „Guten Tag, XS-707-GP4.“

Liam nickt ihr leicht zu, beachtet sie aber nicht weiter. Was für ein unhöflicher Kerl.

Sumi bittet uns darum ihr gegenüber platz zu nehmen. Liam nimmt sofort den Stuhl neben mir in Anspruch, setzt sich aber so dass er zwischen mir und dem Bären eine unüberwindbare Mauer bildet.

„Haben Sie nach den gestrigen Ereignissen gut schlafen können?“, kommt es von dem Ratsmitglied.

Ich nicke. Plötzlich besinne ich mich meiner guten Kinderstube und antworte ihr ausführlicher.

„Ja. Der Schlaf war zwar kurz aber erholsam. Danke der Nachfrage.“

„Gut. Dann möchte ich Ihnen erst einmal meine Bestie vorstellen“, mit ihren manikürten Fingernägeln zeigt sie auf ihren Bären, „Das ist YM-787, aber unter uns nenne ich sie Nana.“

Noch einmal wandern meine Blicke gierig über die neue Bestie. Jetzt erst erkenne ich die Eleganz und Anmut die in ihr steckt. Und die gleichen klugen Augen, die ich auch bei Liam von Anfang an erkennen konnte. Ich nicke ihr Begrüßend zu und schäme mich dafür, Nana erst jetzt die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, die sie eigentlich verdient. Als Vertreterin des Bestiengremiums sollte es mir zur Selbstverständlichkeit werden, die Bestien genauso höflich zu behandeln wie ihre Master.

Meine Neugierde lässt mich einfach nicht in Ruhe und ich vage den Versuch mehr über dieses wunderschöne Wesen zu erfahren.

„Darf ihn Ihnen eine Frage stellen?“

„Natürlich. Dafür bin ich ab sofort da. Ich werde Sie als ihr Mentor begleiten und Sie in die Aufgaben des Rates einführen. Durch mich werden Sie neue Kontakte knüpfen, die Ihnen weiterhelfen werden. Also fragen Sie mich was Sie wollen.“

Ich bin froh, dass Sumi diese Aufgabe übernimmt und nicht einer der Ratsmitglieder, die mich von vornherein abgelehnt haben.

„Ich weiß nicht, ob es sehr höflich ist das gleich bei unserem ersten Treffen zu fragen, aber mich interessiert es sehr, wie sie ihre Bestie zusammengestellt haben. Ich habe bei Sophie gelernt, dass die tierischen Anteile sich eigentlich in Größe, Lebensraum und Gewicht ähneln sollten. Aber Ihre Bestie scheint mir da eine Ausnahme zu sein. Auch Herr Professor Gillian scheint sich nicht an diese Regelung zu halten.“ Innerlich schüttle ich mich bei der Erinnerung an die Schlangenbestie.

Sumi schmunzelt. Sie blickt liebevoll zu ihrem Partner und scheint auf eine stumme Art und Weise mit ihm zu kommunizieren. Der Bär nickt leicht um ihren inneren Dialog zu bestätigen. Es ist das erste Mal, dass ich solch einen Umgang zwischen Master und Bestie beobachten kann.

Die junge Frau wendet sich wieder mir zu. „Ich habe Nana vor gut 10 Jahren in meinem eigenen Labor in Japan züchten lassen. Sie ist eine der seltenen Vierbeinern die Flügel besitzt und tatsächlich fliegen kann.“

Wie zur Bekräftigung breitet die Bestie ihre wundervollen, schneeweißen Flügel aus. Sie sind doch größer, als ich sie mir vorgestellt habe und um einiges kräftiger. Das Gefieder schimmert wie Seide und reflektiert das Licht der Bibliothek. Ich halte staunend den Atem an.

„Sophie hält sich sehr streng an die drei Kriterien, die eine erfolgreiche Zucht garantiert. Deshalb ist sie auch die einzige Wissenschaftlerin weltweit, die eine geringe Fehlschlagsrate vorweisen kann. Außerdem hat sie sich auf Wasserbestien spezialisiert. Weshalb sich dort Lebensraum, Größe und Gewicht leichter miteinander verbinden lassen. Die anderen Labore sind hingegen experimentierfreudiger. Leider liegt hier auch die Rate der Fehlschläge um einiges höher.

Ich habe mich bei der Züchtung von Nana für Eisbär, Panda, Mensch und Schneeeule entschieden. Die Zusammensetzung an sich war schon problematisch, aber zum Glück von Erfolg gekrönt. Jetzt ist sie zu meinem engsten Vertrauten geworden.“

Ich staune wieder über die Zärtlichkeit, die sich die beiden hin und her senden. Aber andererseits ist es auch ein Schockt zu hören, dass es so viele Fehlschläge gibt, nur weil die Master mit den Genen herumexperimentieren müssen. Ich will gar nicht erst wissen wie so ein Fehlschlag aussieht. Schon alleine bei der Vorstellung kommt mir das Grauen.

Sumis Kimono raschelt leise, als sie sich auf dem Stuhl zurücklehnt.

 

„Nun, wollen wir zum eigentlichen Thema kommen?“

Ich sehe sie an und der plötzlich ernste Blick der meinen zu verschlingen droht macht mir deutlich, dass unser Treffen nicht nur aus nettem Geplänkel bestehen wird.

„Ja gerne.“ Auch ich lehne mich zurück, rutsche dabei näher an Liam heran. Seine bloße Präsenz lässt Schmetterling ein meinem Bauch fliegen. Er sitzt schweigend neben mir und beobachtet das Ganze.

„Erst einmal zu den Formalitäten. Ich werde Ihnen zweimal die Woche zur Verfügung stehen, um Sie in ihre Aufgabe, als zukünftiges Ratsmitglied einzuweisen. Es wird einiges an trockenen Stoff geben den Sie auswendig lernen müssen. Außerdem stelle ich Ihnen die anderen Ratsmitglieder vor, die auf ihrer Seite sind, um Ihnen ihren Einfluss zu sichern.“

Ich unterbreche Sumi in ihren Erklärungen, denn ein Sachverhalt will sich mir nicht erschließen. „Was meinen Sie damit, dass Sie mich auf das Amt als Ratsmitglied vorbereiten wollen? So weit wie ich das verstanden habe, gelte ich nach dem Gentest erst mal nur als Vorsitzende des Bestiengremiums. Ratsherr Blackthrone hat mit keiner Silbe erwähnt, dass ich in den Rat aufgenommen werden soll. Außerdem ist der Rat bereits vollkommen besetzt. Ich will niemanden von seinem Platz drängen.“

Nervös spiele ich mit meinen Fingern. Ich habe keine Lust mir den Unmut der anderen Ratsmitglieder zuzuziehen, weil ich mich zu weit aus dem Fenster lehne und Anspruch auf eine Position erhebe die mir nicht zusteht.

„Sie brauchen sich darum keine Sorgen zu machen“, versucht mich Sumi zu beruhigen. „Der Ratsherr hat mit Absicht Ihren Platz im Rat nicht erwähnt, obwohl er Ihnen zusteht. Wahrscheinlich war er der Hoffnung, dass keiner genauer darauf eingehen wird. Doch einige Ratsmitglieder sehen das anders. Durch Ihre Abstammung steht Ihnen ein Platz im Rat zu. Außerdem können Sie nur so mehr Gewicht und Aussagekraft in ihrem Amt als Gremiumsvorsitzende erhalten.“

Gut das erscheint mit logisch, dennoch …

„Aber ich dachte, dass der Rat aus 12 Mitgliedern besteht, die aus 12 verschiedenen Ländern stammen. Jedes Mitglied hat außerdem, wenn ich das richtig verstanden habe, sein eigenes Tochterlabor. Ich komme weder aus einem anderen Land, noch habe ich ein eigenes Labor. Ich will auch eigentlich gar keins haben.“

Sumi schmunzelt.

„Sie scheinen zu vergessen, dass es hier in Deutschland auch ein Labor gibt.“

Mich überkommt ein ungute Vorahnung.

„Ich weiß. Aber dieses Labor gehört doch dem Ratsherrn.“

„Ja, da haben Sie recht.“ Die Japanerin sieht mich intensiv an. „Aber Sie vertreten Deutschland. Der Ratsherr vertritt den Rat. Das ist ein großer Unterschied.“

„Das verstehe ich nicht.“

Verwirrt blicke ich zu Liam. Dieser mustert mich und ein schelmisches Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus. Jetzt meldet er sich zum ersten Mal zu Wort.

„Ratsmitglied Blum vertrat damals ebenfalls Deutschland. Auch in der Vergangenheit gab es für jedes Land, das sich an dem Projekt beteiligte einen Sprecher der einen Sitz im Rat belegte. Nur besaßen sie damals noch keine eigenen Labore. Der erste Ratsherr Lucian Blackthrone schwor seinem Heimatland ab. Er übernahm dafür die Aufgabe den Rat anzuführen und somit unter den Ländern zu vermitteln.“

Das bedeutet also, dass es damals für Deutschland einen Sitz gab. Aber was ist daraus geworden? Ich nehme an, dass es nach Rosi´s Tod niemanden gab, der ihren Platz eingenommen hat. Sonst würde es ja heute noch jemanden geben, der für Deutschland einsteht.

„Warum gab es bis jetzt keinen Ersatz für Rosalinde?“, frage ich in den Raum hinein.

„Da es keinen offiziellen Erben gab, konnte sich Adrian Blackthrone mit der Unterstützung seines Vaters damals den Sitz von Deutschland aneignen. Nach der Fertigstellung des 2. Labors übernahm er nach dem Tod seines Vaters, Lucian Blackthrone, den Sitz im Rat. Außerdem erhob er Anspruch auf das Hauptlabor. So hat er sich beides gesichert. Den Platz im Rat und den Sitz als Ratsherrn. Bis jetzt konnte niemand etwas dagegen einwenden“, erklärt mir Sumi.

Ich rutsche unruhig hin und her. Langsam setzt sich ein Bild in meinem Kopf zusammen, dass mir garantiert viel Ärger beim Ratsherrn einbringen wird.

So wie es aussieht will Sumi, dass ich Rosalindes Erbe annehme und den Sitz für Deutschland beanspruche. Das würde aber auch heißen, dass der Ratsherr einiges an Einfluss verliert.

„Aber warum wollt ihr, dass ich den leeren Platz einnehme, wenn es bisher keine Probleme gab.“

„Ich habe nie gesagt, dass es keine Problem gab“, meint Sumi bitter. Sie streicht ihrer Bestie über den Kopf und versucht sich selbst damit zu beruhigen. Diese Geste erwärmt mein Herz. Auch ich suche Liams Nähe, wenn ich aufgewühlt bin und etwas brauche, was mir Sicherheit verleiht.

„Der Ratsherr hat automatisch die höhere Stimmgewalt. Das heißt, dass bei Abstimmungen im Rat seine Stimme von Anfang an doppelt so viel wiegt, wie die Stimme eines Ratsmitglieds. Dann hat er die Stimme des deutschen Sitzes in Anspruch genommen und somit eine dritte Stimme bei der Wahl erhalten.

So kommen wir, die Fürsprecher für Bestienrechte nicht mehr gegen ihn und seine Verbündeten an. Das ist alles sehr frustrierend, weshalb sich einige Fürsprecher zurück gezogen haben. Dadurch kann er eine diktatorische Position einnehmen, die für viele Unstimmigkeiten unter den Ratsmitgliedern sorgt.“

Ihre Miene hellt sich auf. „Jetzt kommen Sie ins Spiel. Wenn Sie ihren Sitz annehmen, erhalten Sie die Stimme für Deutschland. Und Blackthrone hat weniger Einfluss.“

„Aber hat er nicht trotzdem mehr Stimmgewalt. Außerdem hat er doch noch seine Verbündeten.“

Sumi runzelt die Stirn. „Das stimmt zwar, aber ich hoffe, dass einige unserer Fürsprecher zurückkommen, wenn Sie in den Rat aufgenommen werden. So verliert auch Blackthrone Stimmen.“

Dabei kommt mir die Abstimmung von gestern in den Sinn. „Warum hat ZP dann behauptet, dass der Ratsherr bei der gestrigen Abstimmung nicht mitmachen durfte?“

Sumi´s Augen blitzen verschwörerisch auf. „Nun ja, er hat ihm wohl ihm indirekt einen Seitenhieb verpasst. Blackthrone konnte sich dem nicht widersetzten, da er sich momentan in einer Grauzone befindet. Hätte er öffentlich dagegen gestimmt, dann hätte er damit die Aufmerksamkeit auf deine potentielle Tätigkeit im Rat gelenkt. Hätte er für dich gestimmt hätte er sich selbst widersprochen. Also hat er sich entschieden sich raus zu halten. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass er sämtliche Verantwortung ablehnt sollte irgendetwas schief gehen und das Gremium für Ärger sorgen.“ Also hat der Ratsherr binnen von Minuten einen Ersatzplan geschmiedet, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und Handlungsspielraum zu bekommen. Ob er sich jetzt wohl darauf vorbereitet sich mit mir einen Kampf um Deutschland zu liefern?

Liam hüstelt. Unsere Augen richten sich auf ihn. Er lehnt sich nach vorne, um sich unserer Aufmerksamkeit zu sichern. „Es gibt noch eine Stimme, die ihr wieder ins Leben zurück rufen könnt.“ Sein verschwörerischer Ton lässt mich den Atem anhalten. Was hat er ausgeheckt?

„Wie meinst du das?“, fragt Sumi genauso gespannt wie ich.

„Das Gremium der Bestien wurde ursprünglich gegründet, um auch den Bestien eine Stimme zu verleihen.“

Mein Atem stockt, als ich begreife worauf er hinaus will. „Du meinst also …“ setze ich an.

Der siegessichere Blick meiner Bestie bestätigt meine Vermutung. „Genau. Der Sprecher der Bestien der im Gremium die Bestien vertritt, erhält auch eine Stimme im Rat. Das hat der erste Ratsherr Lucian Blackthrone damals persönlich abgesegnet. Ich glaube kaum, dass sich sein Sohn dagegensetzten kann.“

„Das eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten“, meint Sumi begeistert. Meine Begeisterung hält sich dafür zurück. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob ich mich wirklich mit dem Ratsherrn anlegen will. Dieser steinige Weg macht mich unsicher. Bin ich wirklich die Richtige für diese Aufgabe?

Sumi merkt meine Zweifel. Sie greift nach meiner Hand und drückt sie zärtlich.

„Aber bevor wir große Wellen schlagen und alles in die Wege leiten, warte ich auf Ihre Entscheidung.“

Entscheidung? Ich sehe sie überrascht an.

„Ich will Sie nicht zu einem Amt zwingen, dass Sie sich nicht zutrauen. Ich brauche Sie nicht als Marionette, sondern als Partnerin. Die anderen Ratsmitglieder sehen das genauso. Darum lassen wir Ihnen Zeit, um darüber nachzudenken und sich aus freien Stücken für den Sitz zu entscheiden.“

Ich schlucke gerührt. Es ist das erste Mal, dass ich die Wahl habe. Bisher wurde mir jede Entscheidung abgenommen. Ich habe mir zwar eingebildet, dass ich mich für den Sitz im Gremium selbst entschieden habe, aber im Grunde war er einfach nur mein Rettungsanker, um meine Trennung von Liam zu verhindern.

Sumi aber lässt mir die Wahl. Ich verspreche ihr gründlich darüber nach zu denken und ihr in zwei Tagen eine Antwort zu geben.

 

Wir erheben uns und machen uns auf den Rückweg zu unseren eigenen kleinen Aufgaben. Sumi muss heute noch zurück nach Japan. Scheinbar gibt es in ihrem Labor derzeit einige Probleme. Sie geht aber nicht genauer darauf ein.

Wir verlassen die beruhigende Stille der Bibliothek. Ich muss mit Liam zu Sophie, um den Gentest hinter mich zu bringen. Aber ehrlich gesagt würde ich mich mit ihr viel Lieber über die Entwicklung der Ereignisse unterhalten. Ob ich Liam überreden kann mich mit ihr alleine zu lassen? Vor der Tür will ich mich gerade von Sumi verabschieden als mir eine bekannte Stimme entgegenweht.

Sofort zweifle ich an meinen Verstand. Blitzschnell drehe ich mich zu der Quelle und blicke Ratsherrn Blackthrone in die Augen. Links neben ihm steht Caleb. Er zwinkert mir leicht zu, doch ich beachte ihn kaum.

Ein Kreischen löst sich von meinen Lippen und ich ernte die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Mit Tränen in den Augen springe ich dem brünetten Mann in die Arme, der an der Rechten des Ratsherrn steht und klammer mich an ihm fest. Meine Tränen drohen mich fortzuspülen.

 

Kapitel 7- Das Team

 

Kapitel 7 – das Team

Kapitel 7.1 - Beziehungen

 

Es ist wichtig mit der Zeit Kontakte mit anderen

Mitgliedern von Gimini Intercorbs zu knüpfen.

Diese können bei der Erfüllung Ihrer Aufträfe von

Vorteil sein.

Außerdem helfen Verbindungen zu anderen

Mastern, Züchtern, Wissenschaftlern und

Ratsmitgliedern ihnen Ihre Position zu sichern.“

 

 

Verunsichert blicke ich mich im Raum um. Soweit wie ich es erkennen kann sind wir die einzigen und das erleichtert mich ungemein. Innerlich bereite ich mich schon mal auf das folgende Gespräch vor.

Caleb mustert mich von oben bis unten. Aber dieses Mal überkommt mein Körper ein unangenehmer Schauer. Es ist das erste Mal, dass ich mich nicht von seinen Augen angezogen fühle. Ob es nun an mir und meinen Veränderungen liegt, oder an seiner Haltung kann ich schwer sagen.

Liam lässt sich in der Nähe auf einem Tisch nieder. Elegant und geschmeidig lümmelt er scheinbar lässig mit angewinkelten Beinen. Dennoch lässt er keinen von uns aus den Augen. Wie immer ist er stets auf der Hut um notfalls einzugreifen.

Ich frage mich, was ihn zu diesem Verhalten veranlasst. Ich meine, gerade in diesem Moment befindet sich niemand in diesem Raum, der mir gefährlich werden könnte. Warum ist er so misstrauisch? War er zu Magdalenas Zeiten auch so?

Ich setzte mich zu Sophie. Bisher hat sie sich gut geschlagen. Sie wirkt zwar wie ein nervöses, kleines Kind und scheint sich nur schwer zurück halten zu können, hält aber trotzdem den Mund. Caleb ist der erste, der diese Stille unterbricht:

„Was war das gerade für eine Aktion?“

Ich atme tief durch. „Liam wahr wohl eifersüchtig oder so.“ Vorsichtig schiele ich zu meiner unberechenbaren Bestie rüber. Diese versucht nicht einmal ansatzweise sich zu verteidigen. Mistkerl!

„Das habe ich gesehen.“, erwidert der General mit einem trockenen Lachen. „Daran musst du unbedingt arbeiten.“

Schulterzuckend versuche ich ihm deutlich zu machen, dass ich auch keine Ahnung habe, wie ich dieses Verhalten dem arroganten Kerl abtrainieren soll. Aber Caleb hat recht. Ich will nicht dass Liam jedes mal so austickt, wenn ich mich einem anderen Mann nähere.

„Gut dann wüsste ich auch noch gerne, warum du meinen neuen Rekruten einer derartigen Gefahr ausgesetzt hast“, der tadelnde Blick lässt mich nervös auf dem Stuhl herumrutschen. Ich fühle mich wieder in meine Kindheit zurück versetzt. Ganz so als ob ich jetzt von meinem Lehrer einen gewaltigen Anschiss bekommen würde, nur weil ich im Unterricht etwas zu laut war.

„Ich wusste ja nicht wie Liam reagiert. Außerdem konnte ich nicht mehr klar denken.“

„Achso, darum fällst du fremden Männer einfach mal so um den Hals. Oder versuchst du so neue Verbündete zu finden.“ Sein gemeiner Unterton und der abwertende Blick verletzten mich zuriefst. Sophie zuckt ebenfalls zusammen. Diese Bemerkung war wirklich unpassend und ich kann mir nicht erklären, warum es Caleb so sehr aufregt, dass ich einen anderen Mann umarmt habe. Ich seufze resigniert und versuche diese Worte nicht allzu nah an mich heran zu lassen.

„Markus ist mein Cousin und ich habe ihn heute das erste Mal seit einer halben Ewigkeit wieder gesehen. Ich hätte nie gedacht dass ich ihn überhaupt wiedersehen. Also entschuldige bitte meine überschwängliche Freude.“ Ok. Es ist mir doch nicht gelungen die Bitterkeit aus meinem Unterton zu entfernen, Mist.

Sophie atmet erleichtert auf. Auch Calebs Körperhaltung entspannt sich sichtlich.

„Gut. Das erklärt einiges. Entschuldige. Ich wollte dich nicht verletzten. Aber du musst verstehen, dass das Augenmerk des Rates jetzt voll und ganz auf dir liegt. Jeder Fehltritt wird dementsprechen hart bestraft.“

Ich nicke gütig und entspanne mich auch. Er hat schon recht. Dass auch gerade vor dem Ratsherrn dieses Chaos veranstaltet habe, verschafft mir bestimmt nicht unbedingt Pluspunkte auf der Beliebtheitsskala.

Sophie holt für uns alles etwas zu trinken. Sie bietet Liam sogar eine Cola an, die er aber kopfschüttelnd ablehnt. Wieder einmal frage ich mich, ob er nie etwas zu Essen oder zu Trinken benötigt.

„Caleb hat mir alles erzählt und mich auf den neuesten Stand gebracht“, meint Sophie. Ich frage mich, wer Caleb auf den neuesten Stand gebracht hat. Woher konnte er von meinem Gespräch mit Sumi wissen?

„Was hast du jetzt vor?“, fragt sie mich schüchtern. Dabei beobachtet sie mich aus ihren klugen Augen.

„Ich weiß es nicht.“ Überfragt und verunsichert nippe ich an meiner Dose und begrüße das prickelnde Gefühl auf meiner Zunge, dass mich etwas erfrischt.

„Ich glaube, dass ich Sumi´s Angebot annehme. Ich werde mich dem Rat stellen und das Labor von Deutschland beanspruchen.“

Langsam reift eine wahnwitzige Idee in mir heran. Vielleicht kann ich ja mein Labor dafür nutzt, um ein Vorbild für die andern zu werden. Wenn es mir gelingt die andern Master davon zu überzeugen, dass die Bestien mehr sind als nur von Instinkten geleitete Kreaturen, dann könnten wir für sie einen Ort schaffen, der zu einem richtigen Zuhause wird. Ohne Vorurteile. Wer weiß?

Caleb sieht mich mit einem Blick an der teils aus Bewunderung und teils aus Ehrfurcht besteht. Das mach mich etwas Stolz und verstärkt meinen Entschluss.

„Dafür braucht du ein Team, dass dich unterstützt. Du braucht Master, Züchter, Trainer und ein paar Mitglieder des Rates, sowie Sponsoren auf deiner Seite.“

„Also auf mich kannst du immer zählen“, versichert mir Sophie. Darüber freue ich mich sehr. „Und auf Kati und Lukas auch.“

Auch wenn ich immer noch kein genaues Bild von Lukas habe frage ich mich, warum ich seine Loyalität verdient habe. Ich kann es mir einfach nicht erklären. Diesen Gedanken spreche ich laut aus und Sophie strahlt mich an.

„Naja. Er ist dir sehr dankbar für das, was du für Kati getan hat. Er unterstützt sie, wo er nur kann.“

„Sind die beiden denn … ähm … zusammen?“

Sophie grinst mich verschwörerisch an. „Wenn es nach ihm ginge, wären sie schon längst verheiratet, aber Kati lässt sich nicht so leicht erobern.“ Ich grinse zurück. Lukas ist mir gleich um einiges Sympathischer. Ich glaube, dass er gut zur selbstbewussten Soldatin passen würde.

Caleb erhebt wieder das Wort: „Dr. Jung und Samantha werden sich ebenfalls uns anschließen. Er ist schon lange ein Fürsprecher der Bestienrechte. Sein Einfluss kann uns gute Dienste leisten.“

Es gibt genau zwei Dinge die mich verwundern. Das eine ist die scheinbar selbstverständliche Tatsache, dass Dr. Jung auf meiner Seite steht, die andere dass Caleb von „uns“ spricht. Will er sich tatsächlich mit dem Ratsherrn anlegen?

„Bist du dir sicher? Ich meine der Ratsherr ist doch dein Vater“ meine ich kleinlaut.

Calebs Blick verdunkelt sich für einige Sekunden, dann hellt er sich deutlich wieder auf und strahlt entschlossener, als ich es jemals zuvor gesehen habe.

„Ja. Absolut. Es wird Zeit, dass ich meine Krallen ausfahre.“ Ich lächle ihn dankend an. Dann muss ich wieder an Markus denken.

„Glaubst du, dass ich meinen Cousin aus dem allen hier heraushalten kann?“

Vorsichtig schüttelt Caleb seinen Kopf. „Ich kenne ihn jetzt schon eine Weile und demnach ist er sehr stur und gibt nicht gerne nach. Ich glaube kaum, dass er dich hier alleine lassen wird. Ich habe in der letzten Zeit immer wieder von seiner verschollen Verwandten gehört. Ich dachte nur nicht, dass du das bist. Deshalb glaube ich nicht, dass er dich noch einmal aus den Augen lässt. Außerdem weiß er bereits zu viel von Gimini, als dass er ohne Probleme einfach wieder nach hause gehen könnte.“

Jetzt sieht mich Sophie an. „Und wenn ich richtig liege, dann ist er ebenfalls ein direkter Nachfahre von Rosalinde Blum und dementsprechend besitzt er ab sofort mehr Einfluss und könnte uns super unterstützten.“ Ihre Wangen fangen an erfreut zu glühen. Auch ich muss Zugeben, dass seine Anwesenheit auf egoistische Art und Weise mir mehr Mut und Sicherheit gibt. Innerlich freue ich mich ihn bei mir zu haben.

„Kann ich dich dann um etwas bitten Sophie?“ Sie nickt. „Könntest du eine Bestie für ihn erschaffen. Ich glaube, dass eine Wasserbestie perfekt für ihn wäre.“

Stolz streckt sie ihren Rücken. „Das wäre mir eine Ehre.“

„Gut dann kümmere ich mich um die Formalitäten. Da er mir unterstellt ist, habe ich die Entscheidungsgewalt“, mischt sich Caleb ein.

„Danke.“

 

Den Rest der Zeit halte ich mich zurück. Caleb und Sophie beratschlagen sich, wen sie noch alles mit ins Boot holen könnten. Welche Sponsoren geeignet für unsere Sachen wären und welche Trainer sich uns anschließen könnten. Ich verstehe nur die Hälfte, da ich keine Gesichter zu den Namen habe und lehne mich entspannt zurück.

Es tut gut die beiden an meiner Seite zu haben. Ein wenig mehr fühle ich mich langsam zu hause. Zwar habe ich Angst vor der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem Ratsherrn, dennoch will ich nicht kneifen.

Es gibt scheinbar viele Mitarbeiter von Gimini, die auf solch eine Wendung gewartet haben. Gegen halb Zehn verabschiedet sich Caleb. Er meint noch, dass er sich um den Rest kümmern wolle und ein Treffen mit den andern vereinbaren wolle. Schon jetzt bin ich aufgeregt und kann meine Nervosität kaum zurückhalten.

 

Ich brauche eine Menge an Geduld und Überredungskunst, um Liam dazu zu bringen mich mit Sophie alleine zu lassen. Murrend macht er sich auf den Weg in unser Zimmer.

Sophie sieht mich vielsagend an und gemeinsam laufen wir in Richtung der Wassertanks. Es wundert mich, dass sie mich nicht mit in ihr Zimmer nimmt und stattdessen die Nähe ihrer Bestien sucht. Aber vielleicht schöpft sie hier Kraft und kann sich einfach besser entspannen. Immerhin ist das hier ihr Reich in dem sie die Kontrolle besitzt.

Als ich meinen Blick über die unterschiedlichen farbenfrohen Kreaturen gleiten lasse, muss ich wiedereinmal zugeben, dass sie mich verzaubern.

Sophie kommt vor dem Becken von SP-924 zum stehen. Dort steht eine weiße Ledercouch, die es zuvor hier nicht gegeben hat. Sie lässt sich seufzend darauf nieder und blickt in das klare blaue Wasser. Auch ich mache es mir gemütlich, nehme eines der Kissen und drücke es gegen meinen Bauch.

Eine ganze Weile lang sagt keiner von uns etwas. Plötzlich kann ich eine Bewegung im hinteren Teil ausmachen. Aus der Höhle kommt ein kleiner Lichtblitz, gefolgt von einer eleganten Gestalt. Anmutig und vorsichtig nähert sich uns die Bestie. Die Wellen die er erzeugt bringen die Unterwasserpflanzen zum Tanzen. Er kommt langsam angeschwommen und mustert uns neugierig. Als sich sein Blick an Sophie heftet kann ich ein leises seufzen vernehmen.

SP-924 kommt vor uns zum stehen und lässt sich sanft treiben. Es wirkt surreal und fantastisch. Wie eine Gestalt aus den Mythen schillert seine Haut leicht bläulich. Er trägt immer noch die gleiche Badehose wie beim letzten Mal. An seinem rechten Oberarm kann ich ein Band erkennen und einen Anhänger der das Licht der Neonröhren leicht spiegelt. Das war mir beim letzten Mal nicht aufgefallen.

Seine schwarzen Haare umrahmen wie ein Kranz aus Seetang seinen Kopf. Er bleibt regungslos, beobachtet und verschlingt Sophie förmlich mit seinen Augen. Sein Körper erinnert mich an Liams und ein leichtes Ziehen in der unteren Gegend macht mir bewusst, dass ich meine Bestie irgendwie vermisse.

„Ich habe nachgedacht“, die zarte Stimme der Wissenschaftlerin durchbricht meine Gedanken. Ich erwidere nichts und lasse Sophie Zeit von alleine weiter zu sprechen.

„Seit unserem letzten Gespräch habe ich immer mehr Zweifel an meiner Einstellung gegenüber der Bestien bekommen. Ich habe sehr lange mit mir gekämpft, bin aber auch immer wieder zum gleichen Entschluss gekommen.“ Sie macht eine Pause.

Dann wendet sie sich mir zu: „Du hast wohl Recht. Ich glaube ich war einfach zu ängstlich, um die Wahrheit zu sehen, obwohl es bereits seit meiner Kindheit immer wieder klare Hinweise gegeben hat. Ich glaube, es gibt wirklich Bestien, die wie wir denken und fühlen. Und Sp-924 gehört wohl auch dazu.“

Kapitel 7.2 - Züchter als Partner

 

Kapitel 7.2 – Züchter als Partner

 

„Im Laufe Ihrer Kariere als Master

werden sie unter Anderem viel Kontakt zu

zu den unterschiedlichen Züchtern aufbauen.

Dabei wird sich für Sie herausstellen, dass

einige Züchter gern partnerschaftliche

Beziehungen zu den Mastern bilden, um die

Wissenschaft voran zu treiben.

Dies kann von beidseitigen Interesse sein.“

 

Irgendwie macht es mich stolz das zu hören. Immerhin bedeutet es, dass es mir gelingt etwas in Bewegung zu setzten. Meinungen zu überdenken und Gimini vielleicht ein klein wenig zu ändern. Angeheizt von diesem euphorischen Gefühl kann ich meine Fragen nicht mehr zurück halten.

„Heißt es, dass du jetzt daran glaubst, dass auch Bestien Gefühle wie Zuneigung oder Hass empfinden?“

Sophie lächelt mich trübe an und blickt wieder zu der Bestie. Sie lässt uns nicht aus den Augen. Sanfte Wellen lassen sie im Wasser dahin schweben. Sie wirkt so unendlich faszinierend und erinnert mich an die römischen Sagen um Neptun. Dem Gott des Wassers. Ob SP-194 versteht was wir sagen? Ob er genauso klug ist wie Liam?

Sohie seufzt und zieht so meine Aufmerksamkeit wieder in ihre Richtung.

„Naja, irgendwie hatte ich schon immer eine Vermutung. Aber wie gesagt, ich war zu feige, um es mir einzugestehen. Jetzt ist es zu spät. Und wann immer mir eine Züchtung misslingt muss ich daran denken, dass ich irgendwie ein menschenähnliches Wesen getötet habe.“

Ein eiskalter Schauer überkommt mich. Ich könnte mit dieser Verantwortung nicht leben. Sophie hingegen scheint sich damit bereits abgefunden zu haben.

„Und was wirst du jetzt mit SP-924 tun?“

Verwirrt sieht sie mich wieder an. „Was meinst du damit?“

Ich atme tief ein. „Naja, er scheint dich zu mögen. Sehr sogar. Wie wirst du jetzt damit umgehen?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Meine neue Erkenntnis ändert gar nichts an den Gegebenheiten. Er ist eine Bestie. Silvana ist sein Master und er erfüllt die Aufgaben die von ihm verlangt werden. Außerdem steht es mir nicht zu irgendetwas zu tun. Ich kann diese Entdeckung nur für die zukünftigen Züchtungen berücksichtigen und mit einberechnen. So können scheinbare Anomalien, die zur Einschläferung der Bestie geführt haben nochmal überdenkt werden.“

Schon seltsam. Da lebt Sophie seit ihrer Kindheit in dieser Welt, züchtet Bestien und kann scheinbar dennoch keinen Einfluss auf das Schicksal ihrer entwickelten Geschöpfe nehmen. Ein eiskalter Schauer überkommt mich. Wie viele Bestien mussten wohl sterben, nur weil sie zu menschlich geworden sind und einen freien Willen entwickelt haben?

Wir schweigen beide eine weile und lassen das gerade eben gesagte auf uns wirken.

Plötzlich keimt so etwas wie Wut in ihr auf. „Silvana will SP-194 umsetzten.“

Geschockt atme ich ein. „Aber ich dachte, dass das hier sein Territorium wäre und er woanders sterben würde.“

„Ja das stimmt. Aber seine letzte Umsetzung ist 10 Jahre her. Die Zeiten haben sich geändert. Und wenn du die Kontrolle über dieses Hauptlabor übernimmst, dann wird sich Silvana zurück ziehen und mit dem Ratsherrn in dem Tochterlabor ihrer Schwester niederlassen. Selbstverständlich nimmt sie ihre Bestie mit. Sie verfügt über genügend Einfluss und Backup um eine optimale Versorgung zu gewährleisten. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass sie es nicht schon früher getan hat.“

„Wo befindet sich das andere Labor denn?“ Neugierig blicke ich sie an. Die Wasserbestie bewegt sich weiterhin kaum. Aber seine Haltung verrät mir, dass er Sophies Stimmungsumschwung mitbekommen hat, was ihm scheinbar missfällt.

„Amerika.“ Oh ha. Das liegt nicht gerade um die Ecke. Dabei kommt mir ein anderer Gedanke.

„Glaubst du wirklich, dass sie Liam so leicht aufgeben wird und von hier verschwindet?“

„Nein. Sie wird eher ihre Verbündeten sammeln und zum Gegenschlag ansetzten. Darum ist es umso wichtiger, dass du dieses Labor, das Hauptlabor, übernimmst und an Einfluss gewinnst. Aber durch Calebs Unterstützung wird es um einiges leichter werden. Er hat viele Kontakte die uns als Verbündete unterstützen werden. Immerhin ist er in der Erblinie der Blackthrones der Einzige und somit der nächste Kandidat für den Platz des Ratsherrn. Und da das jetzige Ratsmitglied in jeder Ecke Gegensprecher gesammelt hat, werden die Fürsprecher für Caleb über diese Wendung erfreut in die Hände klatschen.“

Oh man. So weit habe ich noch gar nicht gedacht. Dann haben wir mit Caleb tatsächlich einen sehr mächtigen Verbündeten auf unserer Seite. Ich habe das Gefühl, dass das alles nicht gut enden wird.

„Was denkst du über Liam?“, wechselt Sophie plötzlich das Thema. Wahrscheinlich will sie nicht weiter über die Umsetzung von SP-194 und diese Machtspielchen nachdenken. Verunsichert rutsche ich hin und her.

„Ähm … er ist Ok?“

Sie kichert. Dann wird sie wieder ernst und sieht mich mit diesem Blick an, den nur Wissenschaftler beherrschen, wenn sie ein Experiment analysieren, um neue Daten zu gewinnen.

„Ich meine, wie du für ihn empfindest? Immerhin scheint er wirklich extrem stark auf dich zu stehen.“ Noch ein kichern. Ihr Lächeln löst meine Verkrampfung und innerlich freue ich mich endlich mal mit jemanden über dieses Gefühlschaos reden zu können. Immerhin befindet sich Sophie scheinbar in einer ähnlichen Situation, auch wenn sie es sich noch nicht ganz eingestehen will.

Ich verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse. „Keine Ahnung. Wenn ich ihn so, wie er jetzt ist auf der Straße sehen würde, dann würde ich ihm wahrscheinlich Hals über Kopf verfallen“, gebe ich ehrlich zu. „Aber da ich weiß, dass mehr in ihm steckt und er irgendwie auch ein Tier ist, weiß ich nicht so recht wie ich mit diesem Gefühl umgehen soll.“

Sophie nickt verstehend. „Ich weiß was du meinst. Bis jetzt war ich immer der Meinung, dass die Bestien nur aus dem Instinkt heraus handeln. Je nachdem, welche Spezies die Oberhand gewinnt. Doch jetzt sehe ich viel mehr in ihnen. Einige schienen einen freien, menschlichen Willen entwickelt zu haben.“ Wieder sucht ihr Blick nach unserem stillen Beobachter.

„Wie denkst du jetzt über den Kuss?“ frage ich etwas zurück haltend.

Sophie wird auf der Stelle knallrot. „Ähm … naja … ich weiß auch nicht so recht.“

Leise blubbert es im Tank. Verwundert wende auch ich meinen Blick auf SP. Seine Augen leuchten und seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. Oh man. Er versteht wohl wirklich jedes Wort.

Sophie springt auf und scheint den gleichen Gedanken zu haben wie ich.

Gemeinsam verschwinden wir und lassen den dreisten Spanner zurück.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es kurz vor zwölf ist. Bedauernd will ich mich für heute bei meiner Freundin verabschieden. Sophie sieht mich hingegen eindringlich an. Sie scheint mir wohl noch einiges Mitteilen zu wollen. Verunsicherung strömt mir entgegen. Ermunternd nicke ich ihr zu.

„Hat Liam versucht dich zu küssen?“ Dieses Mal werde ich rot und nicke abgehackt mit dem Kopf.

„Wie war es für dich?“

Ich atme tief durch. „Gut. Verdammt gut.“ Mein Herz beginnt bereits bei dieser Erinnerung wie wild zu hämmern. Ich schäme mich dafür.

Verlegen flüstert Sophie mir entgegen: „Der Erste war für mich eher ein Schock, als dass ich ihn hätte wirklich bewerten können. Doch der Zweite war auch ziemlich gut. Viel zu gut.“ Ihre Stirn zieht sich leicht zusammen, als sie versucht ihre Gefühle zu analysieren. Ich frage mich, was wirklich in ihr vorgeht? Ich meine, bis vor kurzem war SP nur eine Bestie für sie, die hin und wieder seltsames Verhalten an den Tage gelegt hat. Welche wissenschaftliche Erklärung gibt es wohl für seine Kussattacken?

Meine Augen weiten sich, als ich mir ihre Worte nochmal durch den Kopf gehen lasse. „Zweite?“

Sie nickt benommen.

„Ja. Nach unserem ersten Gespräch und deiner Theorie bin ich nochmal zu SP-924 gegangen, um ihr nachzugehen. Irgendetwas hat mich dazu bewegt mich seinem Tank zu nähern. Also bin ich zur Schleuse gegangen und habe das Wasser abgelassen. Er kam sofort angeschwommen und hat sein Becken ohne zu zögern verlassen, sobald ich die Tür öffnete. Keine Ahnung was mich dazu bewogen hat.“

Sie schluckt und sieht mich dabei an. Scheinbar erwartet sie von mir einen Tadel. Immerhin war sie bis dahin der Meinung gewesen, dass SP sie hatte töten wollen. Doch ich erspare mir jeden Kommentar. Ich kann sie vollkommen verstehen. Liam hat mich auch schon verrückte Dinge machen lassen, die jeder Logik entbehrten.

„Naja. Er kam so selbstsicher auf mich zu, dass ich es auch gleich wieder bereut habe. Aber anstatt mich anzugreifen hat er mich aus der Nähe beobachtet.“

„Moment mal. SP kann das Wasser verlassen?“ Diese Erkenntnis ist mir neu.

„Ja natürlich. Er muss es sogar regelmäßig, um seine Aufträge zu erledigen.“ Belustigt zieht sie ihre Augenbrauen hoch. Dann lehnt sie sich an die kahle Wand und schließt ihre Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Sie wirkt irgendwie fehl am Platz.

„Jedenfalls war ich sehr ängstlich. Das muss er wohl gespürt haben, denn er hat sich kaum bewegt und einfach nur abgewartet. Als ich mich etwas beruhigt habe konnte ich nicht anders als ihn ebenfalls zu mustern. Ich kenne ihn seit seiner Erschaffung, aber erst jetzt ist mir aufgefallen wie sehr er sich verändert hat. Gut ich habe versucht ihn zu ignorieren wegen dem Vorfall und weil ich als Züchter nicht das Recht habe einer Bestie mehr Aufmerksamkeit zu schenken als Nötig.

Aber als er da so vor mir stand und wir alleine waren, habe ich zum ersten Mal den Mann in ihm gesehen.“

Eine leichte Röte überzieht ihre Wangen. Ich kann mir gut vorstellen, wie diese Beobachtung ihre Welt gehörig auf den Kopf gestellt hat.

„Dann habe ich mich daran erinnert, dass du beschrieben hast, wie du mit Liam kommunizierst und er mittels Zeichen sein Verständnis ausgedrückt hat. Darum habe ich es auch versucht.“

Jetzt öffnet sie wieder ihre Augen. Sie leuchten vor Begeisterung. „Ich habe ihn gefragt, ob er weiß wer ich bin und er hat genickt. Ich habe viele Belanglose Fragen gestellt und seine Gesten haben meine Vermutung bestätigt. Er besitzt die Intelligenz Dinge zu bewerten und zu hinterfragen. Es war unglaublich“, begeistert lächelt sie sanft vor sich hin. Scheinbar gefällt ihr diese Vorstellung. „Dann habe ich ihn gefragt warum er mich immer so beobachtet ...“ sie schluckt und wirkt unruhig. Nervös reibt sie über ihre Hose. „Ich habe eigentlich keine Antwort erwartet. Aber irgendwas hat dies Frage bei ihm ausgelöst. Er hat mich daraufhin einfach nur angelächelt und ist näher gekommen. Ich wollte in diesem Moment nicht zurück weichen, sondern endlich heraus finden was er von mir will. Also bin ich stehen geblieben.“ Mit einem verträumten Blick und einer Gänsehaut auf den nackten Armen fährt sie fort: „Ohne weitere Umschweife ist er auf mich zugekommen und hat mich geküsst. Dieses Mal besonders zärtlich und behutsam. Dabei hat er seine Hände auf meine Hüfte gelegt. Ich hätte schwören können, dass ein leichtes Prickeln von ihnen über meinen Kittel in meine Haut floss. Als er fertig war hat er mich angeschmunzelt.“ Jetzt sieht sie mich wieder an. „Ehrlich Tamara, ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber SP-924 hat definitiv eine Art Zuneigung für mich entwickelt, die an einen Mann erinnert der sich von einer Frau angezogen fühlt. Die Körperhaltung und seine Mimik. Alles deutet darauf hin, dass er mit mir flirtet. Ich kann mir einfach nicht erklären wie so etwas passieren kann.“

Ich räuspere mich um meine Stimme wieder in Gang zu bringen. „Wie hast du ihn wieder in sein Becken bekommen. Ich glaube kaum dass er freiwillig gegangen ist oder?“

Ein Schauer überfällt die junge Frau. „Nein. Ehrlich gesagt kam er mir wieder näher und wollte wohl weiter machen. Aber in diesem Moment ist Silvana aufgetaucht. Du kannst dir sicherlich vorstellen wie sie reagiert hat, als sie SP-924 außerhalb seines Tanks gesehen hat.SP-924 hingegen hat sich verstellt. Ganz so als ob er einen Schalter umgelegt hätte. Auf einmal war er wieder nur eine Bestie. Silvana ist regelrecht ausgetickt. Sie dachte wohl, dass ich an SP -924 herum experimentiere ohne sie vorher um Erlaubnis gebeten zu haben.“

Oh ja, dass kann ich mir nur zu gut vorstellen.

„Wie verhält sich Sp denn jetzt dir gegenüber?“

Sophie lacht verunsichert. „Naja. Ich glaube er macht sich mehr Hoffnungen, als vorher. Immer wieder versucht er mich mit Blicken und Gesten dazu zu bringen die Schleusen zu öffnen, wenn wir alleine sind. Aber ich habe es nicht noch einmal zulassen. Ich weiß einfach nicht, ob ich damit wirklich umgehen kann.“

Ja. Wenn ich an Liam und seine Versuche denke, um mit mir zu flirten, dann kann ich mir vorstellen, dass die pragmatistische Sophie mit so viel Bestie in einem Mann nicht umgehen kann.

Dieses Mal verabschieden wir uns wirklich und gehen getrennte Wege. Auf dem Rückweg lasse ich mir dieses Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Innerlich danke ich Sophie dafür, dass sie in dieser kurzen Zeit so viel Vertrauen in mich gelegt hat. Ich bin wirklich froh über unsere Freundschaft und kann mir schwer Vorstellen, wie es ohne sie hier wäre.

 

Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne richtet sich Liam sofort auf. Er liegt wiedereinmal in meinem Bett. Oben ohne. Seufzend trete ich ein.

„Hat ja lang gedauert“, kommt es murrend von ihm.

Ich zucke mit den Schultern und hole mir etwas zum Umziehen. „Naja, es gab viel zu besprechen.“

Er lässt mich nicht aus den Augen. Als ich aus dem Bad zurück bin rutscht er leicht zur Seite und macht mir platz. Sofort tanzen tausende Schmetterlinge in meinem Bauch. Die Anziehung meiner Bestie bringt mein Herz zum rasen und lässt mich unschlüssig vor dem Bett herumstehen. Ich kann nur zu gut verstehen, warum Sophie SP aus dem Weg geht.

Liam hebt provokant eine Augenbraue. „Komm“, schnurrt er mir entgegen.

Zögernd schlüpfe ich unter die Decke, bleibe aber so weit wie es geht am Rand liegen. Mit einem plötzlichen Ruck werde ich an seine Brust gezogen. Zischend hole ich Luft. Sein Geruch schleicht sich in meine Nase und vernebelt kurz mein Gehirn.

Liam schnurrt zufrieden, wickelt einen seiner Arme um meine Hüfte und legt meinen Kopf auf seine nackte Brust. Sein Herz schlägt im gleichmäßigen Rhythmus und sorgt dafür, dass ich mich viel zu schnell entspannt und geborgen fühle.

Sachte streicht er mit dem Zeigefinger über einen Streifen Haut, der unter meinem Shirt hervorblitzt. Ich lausche seinen Atemzügen.

Dann räuspert er sich auf einmal. „Es tut mir leid wegen ihm.“ Ungläubig erstarre ich. Liam der sich entschuldigt. Dass ich das noch erleben darf?

Ich schweige und warte. Dann setzt er fort. „Wenn es um dich geht, setzt bei mir manchmal das logische Denken aus. Als du diesem Mann eine Seite von dir gezeigt hast, die ich noch nie zuvor gesehen habe wurde ich einfach nur wütend und wollte ihn los werden.“

„Das geht aber nicht.“ Meine Stimme versinkt in seinem Brustkorb. Er lacht trocken. „Leichter gesagt als getan.“

„Warum Liam?“, ich richte mich auf. „Warum verhältst du dich mir gegenüber so besitzergreifend? Das verstehe ich nicht.“

Seine Augen fixieren meinen Blick. Sie leuchten silbern auf. „Weil du alles bist, was ich will und brauche.“

Kapitel 7.3 - Freunde im Rat

 

Kapitel 7.3 – Freunde im Rat

 

 

 

„Es ist wichtig auch mit den andern

Ratsmitgliedern außerhalb der Versammlungen

in Kontakt zu bleiben.

So werden gemeinsame Ziele und Interessen

gefunden und die Erfolgsrate des Ausbaues

des eigenen Labors steigt.“

 

Liams Worte werden zu einem unendlichen Echo in meinem Kopf. Ich kann es einfach nicht glauben was er da sagt. Ich meine, ich habe bis jetzt nichts getan, um so ein Geständnis zu verdienen. Ich schlucke, dann richte ich mich auf, um ihm direkt in die Augen zu sehen.

„Warum Liam?“, ich kann nicht anders. Ich muss es genau wissen.

Seine Augen leuchten noch etwas intensiver. Er hebt kurz den Kopf, um an meiner Unterlippe zu knappern. Ein Schauer überfällt mich. Die Zärtlichkeit in dieser Geste raubt mir fast den Verstand.

Er legt seinen Kopf wieder aufs Kissen, dabei verteilt sich seine silberne Haarmähne um ihn herum und verstärkt seinen animalischen Glanz.

„Warum müsst ihr Menschen immer eine logische Erklärung für alles verlangen? Überlasst euch doch einfach eurem Instinkt.“

„So sind wir nun mal. Wir brauchen Antworten.“ Ich atme tief ein um mich zu sammeln. „Liam, wir kennen uns kaum. Ich meine, ich weiß so gut wie gar nichts über dich und diese ganze Situation mit Gimini Intercorbs und so ist einfach nur seltsam und viel zu oft beängstigend.“ Ich setzte mich aufrecht hin. Liam wartet ab und beobachtet mich nur.

„Ich bin vor dir noch nie einer Bestie begegnet. Geschweige denn habe ich mir überhaupt vorstellen können, dass es euch gibt. Dennoch liegst du heute neben mir im Bett. Außerdem ist es noch nicht so lange her, da warst du eine übergroße Raubkatze auf vier Beinen.“

Er schmunzelt. „Wenn du willst, kann ich mich jetzt immer noch auf meinen vier Beinen anschleichen und zum Tier werden.“

Gott, wird mir heiß! Meine Wangen verfärben sich und unanständige Bilder schummeln sich in meine Gedanken.

„Ich meine es ernst“, ein Lächeln auf meinen Lippen nimmt dem Tadel die Schärfe.

Jetzt richtet sich Liam auch auf. Er greift nach meiner Hand und streichelt sanft über meine Finger. Dabei sieht er mir tief in die Augen. Wann ist aus diesem Biest nur so ein perfekter Mann geworden? Ich könnte glatt vergessen, dass er kein normaler Mensch ist. Sein Gebärden, die Mimik und die Gesten sind dafür viel zu normal. Und „normal“ tut mir gut. Viel zu gut.

„Ich kann es nun mal nicht ändern. Ich bin was ich bin. Das habe ich mir nie ausgesucht“, meint er ernst.

„Ja, das weiß ich doch. Aber verstehe bitte, dass ich trotzdem mit all dem hier überfordert bin. Vor allem, wenn du dich so schnell veränderst. Ich hatte ja kaum Zeit zu verarbeiten, was in den letzten Tagen passiert ist.“

Resigniert wendet er seinen Blick ab. Ob ich ihn verletzt habe?

Plötzlich zieht er an meinem Arm. Ehe ich blinzeln kann liege ich halb unter ihm und sein Mund hält meinen gefangen. Feucht und heiß drängt sich seine Zunge zwischen meine Lippen. Alles in mir vibriert und nimmt was es bekommen kann.

Wann bin ich nur so süchtig nach Liam geworden? Wie eine Ertrinkende sauge ich an seiner Zunge. Es dauert nicht lange und wir verfallen in einen gleichmäßigen Rhythmus. Einen Tanz, dessen Takt nur wir angeben und der wohlige Melodien in mir zum erklingen bringt.

Als sich Liam leicht erhebt grinst er mich frech an. „Dann muss ich wohl dafür sorgen, dass du dich an mich gewöhnst.“ Ohne mir die Zeit für eine Erwiderung zu geben nimmt er meine Lippen abermals gefangen.

Dieses Mal aber wandert eine seiner frechen Hände in Richtung meines Busens und streift sanft genau auf der Wölbung entlang. Sein Bein schiebt sich zwischen meine Schenkel und erhitzt mich zusätzlich. Meine Gefühle fahren Achterbahn und ich weiß nicht, wo die Notbremse ist. Was mache ich hier nur? Doch bevor ich mich dazu aufraffen kann ihn abzuschütteln unterbricht er den Kontakt.

Liams Augen glänzen und ein Schauer überfällt auch ihn. Unsere Augen treffen sich für einen Sekundenbruchteil. Mir stockt der Atem und ich weiß, dass ich ihn eigentlich aufhalten sollte. Doch ich schaffe es nicht. Kein logisches Argument lässt sich blicken. Alle Warnhinweise meines Unterbewusstseins packen die Koffer und verabschieden sich.

Ich schlucke und meine Augen kleben förmlich an seinen Lippen. Meine Hüfte drängt sich an seine und dieses Signal reicht Liam aus. Er setzt sich wieder in Bewegung.

Leise schnurrend wie eine zufriedene Katze, folgen seine Lippen einem unsichtbaren Pfad meine Kehle entlang. Gänsehaut überkommt mich und meine Hände krallen sich ins Bettlagen, während eine innere Stimme Liam am liebsten dazu anhalten würde schneller zu wandern.

Mit zittrigem Atem registriere ich, wie seine Hand am unteren Saum meines Shirts angekommen ist. Sie schummelt sich auf meine nackte Haut. Überall da, wo seine Finger mich berühren kribbelt es wie verrückt. Die Hand schleicht geschickt über meinen Bauchnabel, dann weiter nach oben. Als sie kurz vor meinem Busen halt macht fluche ich innerlich. Gespannt halte ich die Luft an. Liams schnurrend vibriert immer noch in mir und stimuliert meine Sinne noch mehr. Vorsichtig umfasst er meine Brust und ich zucke zusammen. Seine Lippen gleiten zum gleichen Ziel, wie seine Finger und er legt sie um meine empfindliche Spitze. Begierig saugt er daran. Nur der Stoff trennt noch seinen heißen Mund von meiner Haut.

Blitze zucken vor meinem inneren Auge. Überall in meinem Körper tobt ein endlos erscheinender Sturm. Meine Mitte stößt gegen einen harten Widerstand und Liam reibt seine Hüfte an mir. Ich seufze laut auf.

Dieses Geräusch erschreckt mich. Ich zucke zusammen und beginne mich zu winden. Wenn ich das hier nicht sofort unterbreche, dann bin ich meine Unschuld schneller los, als ich mir vorstellen kann. Irgendwie gelingt es mir wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wie konnte ich nur so leichtsinnig sein?

Meine Befreiungsaktion verstärke ich, indem ich meine Hände gegen Liams Schultern presse. Seine Muskeln spannen sich unter meinen Fingern an und die Hitze seines Körpers verbrennt mich fast.

Er knurrt leise, aber warnend. Das Tier in ihm wird immer dominanter und irgendwie macht mir das Angst.

„Liam, warte“, flüsternd versuche ich seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch seine andere Hand schnellt nach oben und greift sich meine Handgelenke. Er drückt sie ins Bett und hält mich so unter sich gefangen. Auch seine Hüfte verstärkt ihren Druck. Er gibt halb knurrende halb seufzende Laute von sich, als er beginnt sich im gleichmäßigen Rhythmus gegen mich zu reiben.

Panik keimt in mir auf. Der Mund meiner Bestie saugt kräftiger an meiner Brust. Dann zwickt er mich mit seinen Zähnen. Ich spüre förmlich sein tiefes Verlangen und seine Ungeduld. Die erste Hand verlässt meinen Oberkörper und wandert jetzt in Richtung meiner Schlafhose. Liams Lippen wandern zu meiner anderen Brust, um auch ihr genügend Aufmerksamkeit geben zu können. Am Bund angekommen schiebt er sich langsam nach unten.

Ein Schauer überkommt mich, als seine Fingerspitzen einen viel zu intimen Bereich erforschen wollen. Ich strample mit den Beinen und beginne langsam zu zittern. Bizarrer Weise ist die Lust noch nicht ganz verschwunden. Dennoch beginnt meine Panik die Oberhand zu gewinnen.

„Liam“ kommt es zischend aus meinem Mund. Er knurrt. Ich versuche zu treten, treffe aber nur Luft.

„Stopp!“, brülle ich nun fast.

Ein Ruck geht durch ihn hindurch und er sieht mich endlich wieder an. Schluckend muss ich feststellen, dass sich seine Augen in flüssiges Quecksilber verwandelt haben. Ich erwidere seinen Blick. Er grinst mich frech an. Mit einem Mal verfliegt die Panik in mir.

„Das reicht wohl für heute, was?“, er sieht mich fragend an. Ich nicke heftig. „Schade.“ Ein weiteres Grinsen. Am liebsten hätte ich es ihm aus dem Gesicht geschlagen. Wie kann er mich nur derartig schocken?

Ein letzten Mal drückt er meine Handgelenke besitzergreifend ins Bettlacken, dann lässt er mich frei. Ich atme endgültig erleichtert auf. Mein hämmerndes Herz braucht allerdings noch eine Weile, bis es sich beruhigen kann.

Mir wird wieder einmal bewusst wie viel Kraft er besitzt. Ich meine, gegen einen normalen Mann hätte ich mich in so einer Situation wahrscheinlich auch nicht wehren können. Aber gegen Liam? Wenn er es ernst gemeint hätte oder er die Kontrolle verloren hätte, dann wäre ich hoffnungslos verloren gewesen.

Diese Erkenntnis sorgt dafür, dass ich mich wiedereinmal selbst frage, ob ich mich Liam´s Flirtversuchen hingeben sollte.

Meine Bestie wirkt mit sich zufrieden und legt sich wieder entspannt ins Bett. Er zieht mich an sich. Es dauert nicht lange und seine ruhigen Atmenzüge vermittelt mir, dass er eingeschlafen ist. Wie kann er nur so schnell umschalten?

Mein Herz flimmert immer noch aufgeregt in meiner Brust und ein Ziehen in der unteren Region verdeutliche mir, dass Liam mich fast verführt hätte. Wie soll ich mit dieser neuen Erfahrung nur umgehen? Kann ich ihn das nächste Mal wieder aufhalten? Will ich das denn? Dieser Gedanke macht mir Angst.

Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich mich entspannen kann. Mein Gehirn versucht noch viel zu lange das gerade eben Erlebte zu verarbeiten.

 

Am nächsten Morgen meldet sich Sumi über den Telekommunikator. Endlich weiß ich was sie meint. Als der Anruf reinkommt, fängt ein Bildschirm an der Wand plötzlich an zu vibrieren. Bis heute war er mir gar nicht wirklich aufgefallen. Die Oberfläche tanzt und es sieht so aus, als ob kleine bunte Punkte auf ihm herum springen würden. Als mich eine mechanische Stimme fragt, ob ich den Anruf annehmen will bestätige ich und Sumi´s Gesicht lächelt mir entgegen.

Wir tauschen uns aus. Ich informiere sie über die aktuellen Begebenheiten. Sie berichtet mir dafür, dass sie ein Treffen für mich und andere Ratsmitglieder veranlasst hätte, damit wir über das weitere Vorgehen sprechen können. Dann unterhalten wir uns über einige belanglose Kleinigkeiten, was mir ein Gefühl der Vertrautheit und Verbundenheit gibt. Innerlich bebe ich noch und es fällt mir schwer mich zu konzentrieren.

Liam ist die ganze Zeit über an meiner Seite, belauscht mich dreist. Sagt aber keinen Ton. Seit wir aufgewacht sind gehe ich ihm aus dem Weg. Er beobachtet mich einfach nur. Seine Augen jagen mir einen wohligen Schauer über den Körper und ich fühle mich sexy und begehrt. Was für ein eigenartiges Gefühl. Das hatte ich noch nie.

Er drängt mich nicht, sondern scheint mir Zeit zu lassen, damit ich den gestrigen Abend verdauen kann. Ich frage mich wie viel Geduld er hat und wann er einen weiteren Kuss stehlen wird?

Dieser Gedanken und das Gefühl der Vorfreude sagt mir, dass ich nichts dazu gelernt habe. Ich habe mir fast die Finger verbrannt, dennoch kann ich sie nicht von dieser Bestie lassen.

Was sagt das über mich aus? Und was fühle ich wirklich? Fange ich etwa an mich in ihn zu verlieben? Innerlich wehre ich mich noch gegen diese Vorstellung aber lange werde ich das nicht mehr können.

Kapitel 7.4 – andere Master als Unterstützung

Kapitel 7.4 – andere Master als Unterstützung

 

„Es ist immer Ratsam auch andere Master

in die bevorstehenden Aufträge mit zu integrieren.

So können Bindungen entstehen in denen Ihr euch

gegenseitig den Rücken deckt und die Erfolgsrate

für eine gelungene Mission steigt drastisch.“

 

Gegen Mittag ist die miese Stimmung in meiner Wohnung praktisch so dick, dass ich sie mit den bloßen Händen hätte greifen können. Liam sitzt auf der Bettkante, ist unruhig und lässt mich nicht aus den Augen. Seine Geduld nähert sich wohl dem Ende.

Meine Bestie hat scheinbar keine große Ausdauer, was das Warten betrifft. Aus einem inneren Bedürfnis heraus die Situation etwas aufzulockern, schlage ich vor Kati einen Besuch abzustatten.

Da ich die Erste bin, die das Schweigen bricht nimmt Liam das Angebot gnädiger Weise an und erhebt sich. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg.

Zum Glück hatte mir Caleb bei seiner kleinen Führung erklärt, wer wo wohnt und damit weiß ich genau wo ich zu suchen habe.

Die Aufregung prickelt in meinem Magen. Ich war noch nie in dem Privatbereich einer anderen Etage und ich weiß auch nicht, ob ich da einfach so vorbeischlendern darf. Scheinbar wird es sowieso nicht mehr lange dauern und dieses Labor gehört dann zu mir. Diese Vorstellung ist so bizarr und aufregend zugleich.

Insgeheim weiß ich bereits, wie ich Sumi antworten werde. Ich möchte mich der Herausforderung stellen und zum Ratsmitglied aufsteigen. Lieber nehme ich die Zügel in die Hand. In den letzten Monaten wurden mir zu oft Vorschriften gemacht und mein Leben durcheinander gebracht. Damit ist jetzt endgültig Schluss!

Liam passt seinen Schritt dem meinen an. Doch bevor wir zu Kati gehen machen wir einen Abstecher zur Krankenstation.

Markus geht es bereits besser. Wir unterhalten uns kurz. Er berichtet mir, dass er noch heute sein Zimmer beziehen wird und sich mit Sophie treffen will, um mit der Planung seiner Bestie zu beginnen.

 

Als ich mit Liam auf der 23. Etage ankomme und den Wohntrakt betrete, kommt mir der Lärm von unzähligen Stimmen entgegen. Alles hier wirkt so lebendig und geschäftig. Die unterschiedlichsten Menschen unterhalten sich, trainieren oder gehen irgend einer alltäglichen Beschäftigung nach.

Knapp 20 Frauen und Männer wuseln in dem großen Raum umher. In der Mitte gibt es einige Tische, Bänke und Stühle die besetzt sind. Die Menschen, die sich dort niedergelassen haben schwatzen leise miteinander während sie essen. Verschiedene Düfte dringen an meine Nase und irgendwie fühle ich mich fehl am Platz.

Liam´s Nasenflügel beben leicht, als er ebenfalls die verschiedenen Gerüche aufnimmt. Sein Blick zuckt im Raum hin und her. Anscheinend sucht er nach möglichen Gefahrenquellen oder er beobachtet einfach nur das Treiben aus reiner Neugierde. Schwer zu sagen.

Es gibt einige Türen, die in unterschiedliche Richtungen führen. Ich wüsste zu gerne wie viele Menschen hier leben und was es noch alles zu entdecken gibt. Ich muss Kati unbedingt bitten mich hier herum zu frühen.

Es gibt keine Fenster, dafür aber Poster und Landschaftsmalereien. Eine leise Melodie im Hintergrund gibt dem ganzen einen wohnlichen Charakter.

Am Rand steht eine Frau Mitte dreißig, mit Brille und einer freundlichen Ausstrahlung. Vorsichtig, darauf bedacht nicht unnötig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, schleiche ich mich in ihre Richtung.

Neben ihr befindet sich ein Getränkeautomat und der Eingang in die Küche. Das Klappern von Geschirr und der verstärkte Geruch nach Essen bringt meinen Magen zum Grummeln. Obwohl ich bereits ausgiebig zu Mittag gegessen habe könnte ich einen kleinen Nachtisch gut gebrauchen.

Ich konzentriere mich auf meine Aufgabe und straffe meine Schultern, um möglichst selbstbewusst zu wirken.

„Hallo“ begrüße ich die Soldatin. Ihr kurzen blonden Haare stehen in einer stacheligen Formation nach oben. Das spitze Kinn dreht sich in meine Richtung und sie beginnt mich zu mustern. Verwirrt runzelt sie die Stirn.

„Hallo, dich habe ich hier noch nie gesehen.“

Ich zucke mit den Schultern und ernte einen missbilligenden Blick. „Ich bin neu hier und suche nach Kati.“

„Und wer bist du?“

Verunsichert werfe ich einen Blick über die Schulter, doch Liam´s Aufmerksamkeit richtet sich in die andere Ecke des Raumes. Ich kann nicht wirklich deuten was ihn so fesselt, aber anscheinend ist es wichtiger, als mir bei zu stehen.

Innerlich versetzte ich mir einen Tritt. Wenn ich wirklich in den Rat aufsteigen will, dass sollte ich mit mehr Autorität auftreten und mich nicht nur hinter Liam verstecken. Ich war doch sonst auch nicht so abhängig. Ich stelle mir die kleine Japanerin vor und versuche mich an ihrer Ausstrahlung zu orientieren.

„Ich bin Tamara Morel, Vorsitzende des Bestiengremiums. Nett Sie kennen zu lernen.“

Auf einmal verändert sich die Haltung der Soldatin. Sie strafft ihren Rücken und wirkt förmlicher.

„Verzeihung. Ich hatte bereist von Ihnen gehört, aber leider sind wir uns noch nicht begegnet. Mein Name ist Maggie Hoffmann.“

Ich nicke ihr zu und freue mich, dass ich scheinbar doch mehr Respekt bekomme, als ich dachte.

„Also, wo ist Kathrin?“

„Frau Pohl befindet sich im Besprechungszimmer mit Frau Sunfire.“

Sofort setzt sich Maggie in Bewegung und bringt mich zu den Räumlichkeiten. Wir wechseln kein weiteres Wort. Liam folgt mir zwar, wirkt aber in Gedanken vertieft. Als ich ihn danach fragen will, öffnet Maggie eine Tür ohne vorher zu klopfen.

Ich folge ihr und wir betreten wieder einen kahlen, weißen Raum. Nur ein Tisch in der Mitte und mehrere Monitore an der Wand unterbrechen den sterilen Eindruck.

Kati steht mit einer älteren Dame vor einem der Bildschirme und scheint in ein Gespräch vertieft zu sein. Sie sieht kurz über ihre Schulter zu uns, dann lächelt sie mich an.

Ich geselle mich zu ihr und Maggie verlässt ohne etwas zu sagen den Raum.

Die Frau neben Katie wendet sich nun auch mir und Liam zu. Ihre streng nach hinten gesteckten, grauen Harre verstärken den abweisenden Eindruck, den ihre Augen mir senden. Sie mustert mich kurz. Als Kati mich vorstellt erhellt sich allerdings ihr Blick. Sie reicht mir eine Hand mit säuberlich manikürten Nägeln und schüttelt sie fest.

„Es ist mir eine Ehre sie kennen zu lernen. Ich bin Natalia Sunfire. Meine Aufgabe ist die psychologische Betreuung der Master.“

„Freut mich ebenfalls.“

Kati ergreift wieder das Wort. „Es trifft sich gut, dass du hier bist. Wir sind gerade eben die Profile der freien Master durchgegangen, die noch darauf warten ihre Bestie zu bekommen. Einige davon sind vielversprechend und könnten unser Team vervollständigen.“

Ich lächle. Es freut mich sehr, dass mir alle ungefragt zur Hand gehen. Jeder nutzt seine Möglichkeiten um mir zu helfen.

„Danke“, flüstere ich ihr entgegen und meine es auch so.

„Nichts zu Danken. Immerhin gehöre ich jetzt zu dir.“ Ihr zwinkern bringt mich zum grinsen.

Kati zeigt mir die einzelnen Kandidaten und erklärt mir kurz die Vorzüge der Männer und Frauen. Ich verlasse mich auf ihr Urteil und nicke alle ab.

„Ist es eigentlich nicht noch zu früh, um diese Trainer abzuwerben? Immerhin bin ich noch kein Ratsmitglied“, gebe ich zu bedenken.

„Wir sollten auf alles vorbereitet sein. Caleb wird sich um die Formalitäten kümmern und alles in die Wege leiten. Sobald du zum Ratsmitglied ernannt wurdest wird er die Verträge auf dich umschreiben.“

„Wo ist er eigentlich?“

Kati´s Stirn zieht sich zusammen und ein geheimnisvolles Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus.

„Er versucht einen gewichtigen Sponsor für uns zu gewinnen, doch dessen Ziehtochter, die das Unternehmen geerbt hat, bereitet ihm einige Schwierigkeiten.“

„Wie meinst du das?“

„Nun, diese junge Frau hält nicht viel von unserem General und weigert sich ihm zu helfen. Caleb hingen ist zu stur, um nachzugeben und versucht auf seiner Art und Weise seine Ziele zu erreichen. Das ganze ist echt komisch anzusehen.“ Sie lacht. Auch Frau Sunfire lächelt vor sich hin.

Das weckt meine Neugierde. Ich würde doch zu gerne mal Mäuschen spielen und eine Auseinandersetzung zwischen den Beiden beobachten.

„Ach ja, wolltest du etwas bestimmtes von mir?“, fragt mich Kati als sie sich beruhigt hat.

„Eigentlich nicht, ich wollte nur nicht den ganzen Tag im Zimmer herumhocken. Das Training von Caleb ist ja nun auch hinfällig. Und zu Professor Gillian wollte ich nicht unbedingt gehen.“

Kati nickt versehend. „Das kann ich nachvollziehen, du solltest trotzdem nochmal zu Professor Gillian. Es ist offen bekannt, dass er nicht von unserem derzeitigen Ratsoberhaupt hält. Er ist diesem Labor treu ergeben und wird zu einem starken verbündeten.“

Innerlich überkommt mich eine Gänsehaut. Ich mag diesen Mann nicht besonders. Aber vielleicht ändert sich etwas an seiner Haltung, wenn ich erst einen Sitzt im Rat belege und das deutsche Labor übernehme.

Kati sieht zu Liam der gelangweilt an der Wand lehnt. „Es ist schon seltsam diesen Mann in deiner Nähe zu sehen und zu wissen, dass er eine Bestie ist.“

Dieses Mal nicke ich verstehend.

Plötzlich scheint sich Kati an etwas zu erinnern. Ihre Haltung wird wieder professioneller und sie strafft ihren Rücken. Das lockere Gespräch ist wohl zu Ende.

„Dann will ich dir noch etwas anderes zeigen. Das könnte noch wichtig werden.“

Sie schaltet das Bild um. Wo uns zuvor noch ein junger Mann mit einem sonnengebräunten Teint angelächelt hat entsteht das Bild einer übergroßen Wespe.

Gespannt halte ich die Luft an.

„Lukas war nochmal in der Ruine und konnte DNA von diesen Insekten sammeln. Professor Gillian hat die Daten analysiert. Sie haben ergeben, dass es diese Art von Wespen eigentlich nur in Australien gibt. Das Gift ist extrem toxisch. Professor Gillian konnte sich auch keinen Reim darauf machen, warum sie hier sind. Er meinte, dass er so etwas noch nie zuvor gesehen habe und dieser Mann kennt sich wirklich aus.“

Wer hätte gedacht, dass der Professor doch noch andere Seite hat, als die, die ich bisher kennen lernen durfte.

„Was ist deine Vermutung?“, erkunde ich mich bei Kati. Doch diese zuckt nur mit den Schultern. Auch Natalia weiß sich keinen Rat.

„Blackthrone wird morgen zur Versammlung einige Trainer mitbringen, die sein Vertrauen besitzen.“

Ich weiß nicht was ich darauf erwidern soll. Also nicke ich nur dümmlich. Bei dem Gedanken an die morgige Versammlung wird mir ganz anders. Es wird ernst. Bald gibt es kein zurück mehr.

 

Kapitel 7.5 – Trainer als unerlässliche Stütze

Kapitel 7.5 – Trainer als unerlässliche Stütze

 

„Jedes Team braucht eine große

Bandbreite an Trainern. Durch ihre

jahrelange Erfahrung sind sie eine wertvolle

Bereicherung.“

 

 

 

Nach dem Besuch bei Kati ziehe ich mich wieder auf mein Zimmer zurück. Mir gehen so viele verschiedene Dinge durch den Kopf und mir wird dabei klar, dass es langsam ernst wird. Morgen treffe ich mich mit Sumi und wir werden das weitere Vorgehen besprechen.

Ich sehe zu Liam und frage mich zum gefühlten tausenden Male, warum er mich damals entführt hat. Instinkt hin oder her. In dem Wald gab es noch meine Kollegen, dennoch hat er ausgerechnet mich ausgewählt. Die Nachfahrin eines ehemaligen Ratsmitgliedes.

Kann das alles wirklich nur Zufall sein?

 

Liam wirkt den Rest des Tages abwesend und in Gedanken versunken. Er setzt sich auf mein Bett und starrt Löcher in den Boden. Ich weiß einfach nicht was in ihm vorgeht und das nervt mich gewaltig.

Irgendwann halte ich es einfach nicht mehr aus und meine Geduld ist am Ende. Ich setzt mich gegenüber von ihm auf einen Stuhl und starre ihn an. Sein Blick wandert zu mir und seine gesamte Körperhaltung wirkt angespannt. Er holt tief Luft und scheint sich endlich dazu zu entscheiden mich in seine Gedanken einzuweihen.

Die Luft knistert förmlich.

„Was ist los?“, fragt mein ungeduldiger Mund, der nicht länger warten will.

„Unter den Soldaten war jemand, der stark nach diesen Insekten gerochen hat. Ich konnte ihn nicht wirklich ausmachen, aber wir wurden beobachtet.“

Diese Beobachtung versetzt mir einen eiskalten Schauer.

„Glaubst du, dass sie mich nochmal angreifen werden?“ Meine Hände schwitzten vor Angst und innerlich zittere ich wie Espenlaub. Ich will so einen Angriff wie in dem Labor nicht noch einmal erleben müssen.

„Kann sein. Es gibt immer wieder Gegner des Bestiengremiums.“

„Warum? Ich verstehe nicht was so schlimm daran ist die Bestien als eigenständige Lebewesen zu betrachten?“

Liam lehnt sich leicht nach hinten und fixiert meine Lippen. Ein unbehagliches Kribbeln macht sich in meinem Bauch breit und vertreibt die Angst, die sich zuvor in mich gedrängt hatte.

„Wenn wir Bestien ähnliche Rechte erhalten, wie ihr Menschen, dann würde es für viele Master und Ratsmitglieder bedeuten, dass sie ihre Labore oder das Training nicht mehr so führen können wie bisher.“

„Ja das verstehe ich, aber wir können doch nicht ewig in der Zeit stehen bleiben. Immerhin haben sie euch erschaffen, also sollten sie sich auch der Konsequenzen bewusst werden. Ich meine, Experimente an Menschen sind für sie Tabu, aber an Bestien nicht? Das ist lächerlich. Nur weil ihr euch optisch von uns unterscheidet heißt das nicht, dass ihr keine Gefühle habt.“

Ich erschauere. Wie immer ist die Menschheit in einigen Dingen viel zu Egoistisch und stur. Ich frage mich, ob sie nie aus ihren Fehlern lernt?

Liam streckt mir eine Hand entgegen und lockt mich in seine Richtung. Wie ein Motte, die vom Licht angezogen wird folge ich meinem Instinkt und lasse mich auf seinem Schoß nieder. Er legt mir eine Hand auf den Schenkel und streicht mit der anderen sanft über meinen Nacken. Unsere Blicke treffen sich kurz und ich habe das Gefühl, als ob wir schon immer zueinander gehört hätten.

„Was tun wir jetzt?“, frage ich ihn angespannt. Wenn ich jetzt schon hier im Institut beobachtet werde, dann wird es nicht mehr lange dauern und der nächste Schwarm Insekten wird mich angreifen.

„Wir sorgen dafür, dass du so schnell wie möglich zum offiziellen Ratsmitglied ernannt wirst. Dann sehen wir weiter.“

Ich nicke. Ja das wird wohl die einzige Möglichkeit sein nicht nur mich, sondern auch meine Verbündeten zu beschützen. So müssen wir nicht mehr im Geheimen Pläne schmieden, sondern können offiziell nach den Spielregen von Gimini Intercorbs agieren.

 

Diese Nacht kann ich wieder kaum Schlafen, da ich weiß, was auf mich zukommen wird. Dennoch habe ich keine Angst. Ich weiß dass ich nicht alleine bin und das gibt mir Kraft.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf dem Weg. Sophie und Caleb holen uns ab. Wir folgen einem der vielen Gänge und es dauert nicht lange, bis wir an unserem Ziel ankommen. ZP-984 öffnet uns die Tür und wir betreten den Raum.

Sumi sitzt bereits an einem großen, hölzernen Tisch. Ich lasse meinen Blick schweifen und erkenne einige Gemälde von verschiedenen Landschaften an der Wand. Gegenüber von uns ist eine große Scheibe eingelassen. Dahinter befindet sich eine bezaubernde Unterwasserlandschaft mit vielen kleinen Fischen. Zum erstem Mal seit ich hier angekommen bin sehe ich normale Tiere, wie sie in der Natur vorkommen. Bizarr, dass mich dieser Anblick vor Freude erschauern lässt.

Liam zieht einen Stuhl für mich hervor und ich lasse mich darauf nieder. Er bleibt hinter mir stehen und demonstriert so, zu wem er gehört.

Wiedereinmal fühle ich mich in seiner Nähe sicher und geborgen. Als ich mir die andern Ansehe, erkenne ich viele Gesichter. Unter ihnen sind einige Ratsmitglieder an die ich mich noch allzu gut erinnern kann.

Dieses Mal sind sie alle in Begleitung ihrer Bestien. Es fällt mir schwer die vielen Eindrücke zu verarbeiten aber ich versuche mir den Anblick genau einzuprägen. Immerhin sind das die Menschen die sich dazu entschlossen haben mich, eine völlig Fremde zu unterstützen. Dabei riskieren sie bestimmt viel. Darum möchte ich ihnen die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen.

Ich hole tief Luft und lasse meinen Blick über die Runde wandern. Rechts von mir sitzt Sumi, die von Nana, ihrer Bestie und einem kleinen Japaner mit Brille begleitet wird.

Daneben ist die Inderin Sakshi Verma. Ihr indisches Gewand schillernd bunt im grellen Licht. Hinter ihr steht eine weibliche Gestalt die ebenfalls diese traditionelle Kleidung in ähnlichen Farbtönen trägt. Sie wirkt gut durchtrainiert. Ihre Haut glänzt grau und der Kopf ähnelt dem eines Elefanten. Das ist dann wohl ihre Bestie.

Dann kommt Cillian Mc Gowen. Der Schotte trägt eine Lederjacke und eine einfache Jeans dazu. Würde man ihm auf der Straße begegnen, so könnte er in der Masse leicht untergehen. Seine roten Haare sind kurz geschoren. Die Augen auf mich gerichtet schenkt er mir ein Lächeln und ich erwidere es. Auch hinter ihm hat sich seine Bestie aufgebaut. Sie ist über 2 Meter groß und steht auf zwei Beinen. Die Haltung ist leicht gekrümmt. Brustkorb und Oberarme sind breit und und Maskulin. Sein gesamter Körper ist von einem leichten braunen Flaum bedeckt. Lange Krallen blitzen auf, als er sich mir zuwendet und sein wolfsähnliches Maul zu einer Grimasse verzieht. Scharfe Zähne lächeln mir entgegen und ein Schauer überkommt mich. Liam knurrt leise und der Wolfsmann wendet sich ab.

Gegenüber von mir sitzt Caleb. Auch er lässt seinen Blick über die Menge schweifen. Neben ihm blicken einige mir unbekannte Gesichter entgegen. Eins markanter als das andere. Das müssen wohl die Trainer sein, die er mitbringen wollte. Sophie hat sich zu meiner linken niedergelassen.

Lukas, Kati und Frau Sunfire sind ebenfalls anwesend.

Plötzlich öffnet sich die Tür und Professor Gillian tritt ein. Wieder wird er von einer schlangenähnlichen Bestie begleitet. Diese hier aber erinnert mehr an eine Kreuzotter. Ich habe fast die Vermutung, dass der Professor sich seine eigenen kleine Bestienarmada zusammenstellt. Ich glaube, dass ich mir später darum Gedanken machen sollte.

Nach ihm betritt eine junge Frau den Raum. Sie hat kurze, blonde Haare und smaragdgrüne Augen. Ihr Anblick verschlägt mir den Atem. Sie wirkt so lebendig und feurig. Sie passt überhaupt nicht in diese Runde. Kurz sieht sie mir in die Augen, dann blickt sie zu Caleb. Ihre Mundwinkel zucken nach oben und ein gehässiges Grinsen verzieht die üppigen Lippen. Der General versteift sich sichtlich und wirkt angespannt. Ich kann erkennen, wie er seine Hände zu Fäusten ballt und den Blick stur auf mich richtet. Mir wird dabei unbehaglich zumute.

Die junge Frau setzt sich zu uns, fast zeitgleich übernimmt Sumi das Wort.

„So, jetzt ist es endlich soweit. Frau Morel hat sich dafür entschieden nicht nur das Gremnium der Bestien anzuführen, sondern auch den Platz des deutschen Ratsmitgliedes anzunehmen. Es wird also Zeit, dass wir uns einen Plan überlegen, wie wir sie unterstützen können.“

Kapitel 7.6 – Teamwork

 

Kapitel 7.6 – Teamwork

 

„Steht das Team fest kann man gemeinsame

Aufträge Planen, Aufgaben aufteilen und somit

die eigenen Effizienz erhöhen. Sie werden feststellen

das mit einem Team gemeinsam die Erfolgsrate

beträchtlich steigt und sich neue Möglichkeiten eröffnen“

 

 

 

 

Während der gesamten Besprechung gelingt es mir einfach nicht mich zu beteiligen. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich ein Teil dieses Teams bin, sondern lediglich das Objekt der Diskussion. Man redet über die Vor- und Nachteile des einen Plans, dann des anderen. Es wird mit Begrifflichkeiten um sich geworfen und von alten Gesetzgebungen gesprochen, die ich noch nie zuvor gehört habe. Das dumme an der ganzen Geschichte ist, dass ich kaum etwas von den politischen Hintergründen verstehe. Mir wird eiskalt bewusst, dass ich noch sehr viel dazu zu lernen habe, damit ich auch wirklich als glaubwürdiges Ratsmitglied auftreten kann.

Die Luft prickelt um uns herum und meine Hände fangen an zu schwitzen.

Liam steht hinter mir, wie ein Fels in der Brandung, beteiligt sich selbst aber auch nicht an den Gesprächen. Generell halten sich alle Bestien zurück. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie das Geschehen genau beobachten und abwägen was auf sie zukommen könnte.

 

Wir sitzen hier fast den gesamten Vormittag. Da ich mich nicht aktiv beteiligen kann, versuche ich dafür die Stimmung zu analysieren. Ich konzentriere mich auf die Körpersprache der einzelnen Beteiligten und versuche zwischen den Zeilen zu lesen, um ein Gefühl für die Gruppe zu bekommen.

Im Großen und Ganzen scheinen sich die Ratsmitglieder untereinander zu vertrauen. Es gibt kaum Abwehrhaltungen. Sie wirken sogar leicht entspannt, aber auch professionell.

Dr. Gillian dafür erfüllt den aggressiven Part. Er ist besonders kritisch und zynisch. Was nicht unbedingt schlecht ist, dadurch werden Lücken in der Planentwicklung entdeckt und somit einzelnen Teile wieder verworfen. Kati hatte Recht. Dieser Mann ist intelligent und weiß was zu tun ist. Nur die Art und Weise, wie er seine Gedanken mit uns teilt lässt zu wünschen übrig.

Die Trainer halten sich eher im Hintergrund und überlassen Caleb das Wort. Vereinzeltes Nicken zeigt ihre Zustimmung oder Stirnrunzeln ihre Bedenken.

Die blonde Frau, die zuletzt den Raum betreten hat, ist ebenfalls sehr aktiv beteiligt. Wie ich heraus gehört habe finanziert sie uns. Sie scheint sehr viel Geld zur Verfügung zu haben und selbst eine Menge an Kontakte mitzubringen, die dieses Labor unterstützten wollen. Sie wirkt nicht sehr viel Älter als ich es bin.

 

Als der Plan steht verabschieden wir uns voneinander. Um genau zu sein macht sich jeder auf den Weg, um seinen Teil zu meiner Ernennung zum Ratsmitglied dazu bei zu tragen.

Sophie, Liam, Kati und ich bleiben als einzige zurück. Als dann endlich der letzte Trainer den Raum verlassen hat lehne ich mich seufzend an. Die Anspannung der letzten Tage lässt endlich nach.

„Das ist doch gut gelaufen,“ meint Sophie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Ich nicke.

„Ja, das stimmt. Wie fühlst du dich Tamara?“ erkundigt sich Kati, auch sie hat sich mittlerweile entspannt auf ihrem Stuhl zurück gelehnt. Liam sitzt neben mir und wirkt leicht abwesend. Anscheinend geht er das vergangene Treffen noch einmal in seinem Kopf durch und versucht ebenso alles zu verarbeiten.

„Ganz gut soweit. Ich kann kaum glauben, dass wir bereits morgen in Aktion treten werden. Ich dachte immer, dass meine Ernennung zum Ratsmitglied mehr Zeit in Anspruch nehmen würde.“

„Normalerweise schon, aber da Ratsherr Blackthrone ein pragmatischer Mann ist und weiß, dass wir definitiv gewinnen werden stellt er sich und nicht in den Weg. Er nutzt seine Energie und Zeit lieber für den Gegenschlag.“

Kati hat recht. Er machte auf mich auch nicht den Eindruck, als ob er sich lange mit verlorenen Schlachten aufhalten würde. Die Sache mit dem Gegenschlag macht mir etwas Angst, aber gleichzeitig fühle ich mich dennoch Sicher in meiner Position.

Immerhin habe ich viele Menschen auf meiner Seite die die gleiche Meinung teilen und den Bestien endlich mehr Rechte zugestehen wollen.

Sophie atmet hörbar laut aus. „Wer hätte vor ein paar Monaten noch gedacht, dass wir uns tatsächlich mal in diese Richtung entwickeln würden.“ Unsere Augen treffen sich und ein Schwall von Gefühlen schwappt mir entgegen.

„Danke Tamara. Ohne dich würden wir uns wahrscheinlich weiterhin im Kreis drehen und die Bestien nur als Instrument ansehen, das uns im Kampf gute Dienste leistet, aber auch ersetzbar ist.“

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. „Eigentlich ist das nicht mir zu verdanken. Hätte mich Liam nicht in diese Welt geholt, dann würde ich wohl noch heute Kinder erziehen und den Tag in meinen Büchern ausklingen lassen.“

Jetzt richten wir unsere Blicke auf meine Bestie. Liam sitzt locker und lässig neben mir und grinst mich frech an. Er erwidert nichts, aber seine Augen sprechen für sich.

 

Den Rest des Tages verbringe ich mit Liam allein in unserem Zimmer. Mein ganzer Körper prickelt vor Aufregung. Liam hingegen wirkt lächerlich entspannt. Man könnte meinen, dass er diese Prozedur schon einige Male durchlebt habe und alles zur Routine geworden sei.

Unsicherheit überkommt mich. Ich tiegere aufgeregt im Raum umher. Dabei kitzelt mir der Duft von dem Steak in der Nase, dass ich mir bestellt habe. Aber irgendwie ist mir der Appetit vergangen.

„Glaubst du, dass ich ein gutes Ratsmitglied sein werde?“

„Keine Ahnung. Das wird sich zeigen.“

Na super. Das habe ich jetzt gebraucht. Wütend wende ich mich Liam zu und stütze meine Hände in die Hüfte.

„Danke. Du bist echt ein super Motivator!“, fauche ich ihm entgegen. Sieht er denn nicht, dass ich unsicher bin und jetzt eigentlich positiven Zuspruch brauche?

„Das ist nicht meine Aufgabe,“ entgegnet er mir mit einem frechen Grinsen.

Ich schnaufe frustriert. „Und was ist dann deine Aufgabe?“

Liam steht auf und pirscht sich langsam an mich heran. Dabei verschlingen mich seine Augen förmlich. Er versucht meine Hüfte zu packen, doch ich weiche ihm aus.

Ich schenke ihm einen wütenden Blick, aber er grinst mich nur weiterhin frech an. Dann schnellt er nach vorne und dieses Mal kann ich ihm nicht rechtzeitig ausweichen. Er umschlingt meine Taille und küsst mich kurz und fest. Ich drücke meine Hände gegen seine Brust, kann ihn aber nicht von mir weg schieben. Seine Muskeln reagieren auf diese Berührung und spannen sich leicht an.

„Meine Aufgabe ist es dich zu beschützen. Dich zu küssen. Dich zu lieben und zu besitzen.“ Die letzten Worte haucht er mir nur leicht entgegen.

Ich schlucke. Dieser Mann ist und beleibt ein Biest.

Ich winde mich in seinen Armen und er lässt mich los. Mein Blick wandert an seinem Körper entlang und mir wird sichtlich bewusst, wie sehr er mich begehrt. Die Beule in seiner Hose verschlägt mir den Atem und ich flüchte ins Bad.

 

Als ich in den Spiegel sehe und mein knallrotes Gesicht mich geschockt anstarrt, wird mir bewusst, wie sehr ich mich verändert habe. Ich habe mich noch nie so begehrt und gut gefühlt. Mein altes Hüftgold ist fast vollständig verschwunden. Meine eigentlich leicht angebräunte Haut ist erbleicht. Auch die Sommersprossen auf meiner Nasenspitze und meiner Wangen haben sich zurück gezogen.

Ich wasche mein Gesicht und weiß, dass ich eine Entscheidung treffen muss. Dass Liam eine Entscheidung von mir will. Aber innerlich weiß ich auch, dass ich noch nicht so weit bin.

Ich kann diese Grenze noch nicht überschreiten. Vor allem, da so viel auf mich zukommen wird, wenn ich erst Ratsherrin bin. Da möchte ich nicht auch noch ein weiteres emotionales Päckchen mit mir herum tragen.

Als ich das Bad verlasse und Liam auf meinem Bett sehe spüre ich sein Verlangen das immer noch in dem Raum herum treibt.

Doch mein Blick scheint ihm alles zu sagen und er steht wortlos auf. Ohne mich noch einmal anzusehen verlässt er unser Zimmer. Es tut mir für ihn leid. Aber mein inneres Bedürfnis mich selbst zu schützen ist einfach stärker.

Ich starre auf das leere Bett und weiß, dass ihn verletzt habe. Dafür hasse ich mich, dennoch weiß ich dass es die richtige Entscheidung war. Wir beide brauchen noch eine Weile diese Grenze.

 

Am späten Abend lege ich mich ins Bett. Liam ist immer noch nicht zurück. Langsam mache ich mir sorgen. Andererseits kann ich verstehen, dass er mich nicht sehen will. Er hat mir so oft seine Zuneigung gezeigt und bewiese. Dennoch erntet er immer wieder Ablehnung. Ich an seiner Stelle hätte auch keine Lust mehr auf dieses Spiel.

Es dauert lange, bis mich endlich der Schlaf einholt.

 

Nachwort zu Lektion 1 – Wie erziehe ich meine Bestie

 

Nachwort zu Lektion 1 – Wie erziehe ich meine Bestie

 

„Herzlichen Glückwunsch. Sie haben es geschafft und die erste Lektion

erfolgreich zu beenden.

Wir hoffen sehr, dass Ihnen dieses Grundgerüst zur Erziehung ihrer

Bestie geholfen hat und Sie in ihrer neuen Rolle als Master zurecht kommen.

Auch nach Abschluss der Grundausbildung gilt es sich in weiteren Bereichen

zu informieren und die Fachkenntnisse zu erweitern.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei ihren Aufträgen und hoffen, dass sie uns

lange als wertvolles Mitglied von Gimini Intercorps erhalten bleiben.

Zum Schluss empfehlen wir Ihnen sich mit dem Folgeband auseinander

zu setzten und sich als nächstes gründlich mit unserer Entstehungsgeschichte

zu beschäftigen.“

 

 

Gimini International Cooperation

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.06.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Veröffentlichung widme ich meinen treuen Fans von Animexx und hoffe, dass sich der eine oder andere hier her verirrt.

Nächste Seite
Seite 1 /