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11 Uhr 7 von Gleis 5

11 Uhr 7 von Gleis 5

 

8 Uhr

„Jan Malte, gibst du mir bitte die Wurst ?“

„Ja, Mama.“ Silke nimmt sie und reicht die Kaffeekanne weiter an ihren Mann Ralf. „Na, freut ihr euch schon, heute geht es in den Urlaub, 11 Uhr 07 von Gleis für, die Koffer sind gepackt, das Taxi zum Bahnhof bestellt, Österreich, wir kommen.“ Ralf gießt sich Kaffee nach. „ Noch einmal Nebensaison, bevor der Kleine nächstes Jahr in die Schule kommt.“

 

9 Uhr

„Sag mal, warum hängt der Haustürschlüssel noch am Brett?“ Silke schwenkt das Bund in der Hand. „Du solltest ihn doch zu deiner Mutter bringen, damit sie die Blumen versorgt.“

„Was, ich? Ich dachte, du wolltest das erledigen, heißt das, Mutter hat keinen Schlüssel?“

„Scheint so,“ meint Silke. „Komm, bring ihn schnell noch rüber, das Taxi kommt erst in einer Stunde.“

 

9 Uhr 10

Ralfs BMW verlässt mit quietschenden Reifen die Hofeinfahrt. „Jan Malte, wieso liegen diene Hemden wieder im Schrank?“ Silke seht im Kinderzimmer, die Hände in die Hüften gestemmt. „Aber Mama, sonst passt Teddy Theobald doch nicht in den Koffer, aber der soll doch auch mit nach Österreich!“

„Hör mal mein Sohn, das hatten wir doch schon, also raus mit dem Plüschmonster, und was ist das für ein Umschlag hier auf dem Tisch?“

 

9 Uhr 30

Ralf fährt den Wagen wieder in die Garage. „Du brauchst gar nicht erst auszusteigen.“ Silke kommt zum Auto gelaufen, in der Hand einen großen Umschlag. „Au Backe,“ murmelt Ralf. „Ich hatte meinem Boss versprochen, die Unterlagen noch abzuschicken, wo waren die eigentlich?“

„Im Kinderzimmer, wer die da wohl hingelegt hat?“

 

9 Uhr 35

Ralfs BMW verlässt mit quietschenden Reifen die Hofeinfahrt. „Trainiert Ihr Mann für den Nürburgring?“ Nachbar Rudolf, stets gelangweilter, weil rüstiger Rentner, schaut neugierig von der andern Straßenseite herüber. „Nein,“ gibt Silke spitz zurück, „er verabschiedet sich nur von seinem Auto, schließlich sind die beiden zwei Wochen getrennt.“ Rudolf trollt sich zurück ins Haus.

„Los, Jan Malte, geh noch mal aufs klo, ich bringe schon mal die Koffer an die Straße. Das Taxi kommt gleich, hoffentlich beeilt sich dein Vater.“

 

10 Uhr

Das Taxi und Ralf kommen gleichzeitig an. „Los Ralf, lade das Gepäck ein,“ gestikuliert Silke, „ich schau noch mal nach, ob alles abgeschlossen ist.“

„Hat doch gut geklappt.“ Ralf lümmelt sich lässig in den Beifahrersitz.

 

10 Uhr 05

Der Stau vor der geschlossenen Schranke hat eine enorme Länge. „Sonst fährt um diese Zeit hier nur der Zug nach Osnabrück durch,“ murmelt der Fahrer in seinen blonden Wikingerbart, „so einen langen Güterzug habe ich noch nie gesehen.“

„Mama:“ Jan Malte rutscht auf dem Rücksitz hin und her. „Mama, ich glaube, ich muss mal aufs Klo.“

 

10 Uhr 30

Das Taxi hält vor dem Bahnhof. „Wo sind die Fahrkarten?“ Silke wühlt nervös in ihrer Handtasche. „Ich weiß genau, ich habe sie eingesteckt!“

„Wohl doch nicht,“ grummelt Ralf, „also noch mal zurück.“

„Mama, ich glaube, ich muss jetzt dringend mal aufs Klo!“

 

10 Uhr 31

„Fahrer, halten Sie mal an der Hecke da vorn, der Kleine macht sich sonst noch in die Hose.“

 

10 Uhr 32

„Was machen Sie da mit dem Jungen, haben sie keine Toilette zu Hause?“ Die grünberockte Polizistin schaut grimmig auf Jan Malte und seine Mutter herab. „Haben wir schon,“ faucht Silke zurück, „aber so sparen wir uns das Wasser für die Spülung.“

„Kommen Sie mir ja nicht so, und zeigen sie mir mal ihren Ausweis!“

 

10 Uhr 42

„So was Kleinkariertes!“ Mutter und Sohn sitzen wieder im Auto. „Und dann auch noch fünf Euro Ordnungsgeld, so etwas gibst es auch nur in Deutschland!“

 

10 Uhr 46

Die Schranke ist wieder zu, jetzt ist es der ICE von Berlin nach Köln. „ Ich habe sie!“ Silke jubelt. „Die Tickets waren in der Mappe mit den Scheckkarten!“

„Da, wo sie auch hingehören,“ murmelt Ralf. „Also zurück zum Bahnhof.“

 

10 Uhr 59

Da Taxi hält vor dem Bahnhof. „Hundert Euro kann ich aber nicht wechseln.“ Der Wikingerfahrer zuckt mit den Schultern.

„Egal, geben sie uns, was sie haben, 11 Uhr 7 von Gleis fünf, das schaffen wir noch.“

 

11 Uhr 01

Die Familie läuft durch die Bahnhofshalle. „Siebenundzwanzig Euro Trinkgeld,“ schimpft Silke, „für den ist der Tag gelaufen.“

„Egal,“ antwortet Ralf schnaufend, „Hauptsache, wir bekommen den Zug!“

 

11 Uhr 03

Bahnsteig fünf ist erreicht. „Siehst du, Silke, wir haben es geschafft, der Zug ist noch nicht einmal eingefahren.“

„Du Ralf,“ Silke schaut misstrauisch auf die Anzeigetafel, „wieso steht da Interregio über Bielefeld nach Münster? Frag doch lieber jemanden.“

 

11 Uhr 04

„Hallo,Schaffner, der Ferienexpress nach Österreich, der fährt doch hier ab, 11 Uhr 07 von Gleis fünf?“

Fast richtig!“ Der Uniformierte lächelt verbindlich. „ Nur der fährt um 11 Uhr 05 von Gleis sieben, vielleicht sollten Sie sich etwas beeilen.“

„Was Sie nicht sagen, komm Silke, schnapp die Koffer!“

„Los Jan Malte, wir müssen rennen!“

„Mama, ich muss mal aufs Klo!“

 

11 Uhr 22

Der Zug hat die Vororte verlassen, mehr und mehr Wälder und Wiesen mischen sich unter die spärlicher werdenden Siedlungen.

„Hat doch prima gekappt,“ schmunzelt Ralf. „ Ja, ja, gerade so eben!“ Silke tätschelt Jan Maltes Kopf, der mit Teddy Theobald im Sitz kuschelt. „Wir müssen gleich morgen für den Jungen ein paar Anziehsachen kaufen, seine sind ja wohl zu Hause geblieben.“

„Du Ralf?“ Silke schaut aus dem Fenster, während der Zug über zwei Weichen rumpelt. „Ich habe doch zum Frühstück Eier gekocht?“

„Ja und?“ fragt ihr Mann abwesend.

„Weißt du, ob ich den Herd abgestellt habe?“

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2019

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