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Das Ende der Eiche


Laurin konnte mal wieder nicht schlafen. Es war vier Uhr morgens. Was hatte ihn denn nun wieder aufgeweckt? War es mal wieder der Marder gewesen, der immer nachts um das Haus schlich? Laurin war sich sicher, von irgendeinem tierischen Geschrei aufgeweckt worden zu sein. Seine Frau lag friedlich neben ihm und schlief tief und fest. Sie hörte nie etwas in der Nacht. Da hätte der Vulkan auf der gegenüber liegenden Insel ausbrechen mögen, sie hätte garantiert weitergeschlafen.

Sie hatten es eigentlich wunderschön hier in diesem einsamen Haus direkt am Meer. Wenn man aus dem Haus trat, hatte man einen wunderbaren Ausblick auf die Schären, wie die Norweger die kleinen Inseln vor der Küste nennen. Manche waren so groß, dass man ein Haus darauf hätte bauen können. Manche aber waren auch so klein, dass gerade vier, fünf Leute darauf hätten stehen können. Aber dann waren da noch die Schären, die nur bei Ebbe sichtbar waren und bei Flut gewissermaßen untertauchten und für die Boote eine reelle Gefahr darstellten. Schon manch einer, der keine Ortskenntnis besaß, war mit seinem Boot auf eine dieser tückischen Schären draufgefahren und hatte sein Boot beschädigt.

Laurin musste an den Streit mit seinem Nachbarn denken. Bjarne, dieser starrsinnige Esel! Obwohl sein Name eigentlich „brauner Bär“ bedeutete, war er ein grauer, struppiger Esel. Vor Jahren hatte er aufgehört, zum Friseur zu gehen, und jetzt hatte er eine lange Mähne und einen ebenso langen Bart. Alles grau! Eine Frau konnte er mit diesem Aussehen nicht in sein Haus locken. Seine letzte Frau hatte ihn vor vielen Jahren verlassen, hieß es. Klar, mit so einem Kerl, der kaum ein Wort über die Lippen bringt und an weiter nichts interessiert ist als an Fischfang und Ziegenhaltung, hält man es nicht lange aus.

Hatte er doch tatsächlich angefangen, sich über die große, alte Eiche aufzuregen, die etwas zu nah an seinem Grundstück stand und ihm am Vormittag die Sonne nahm!

„Wann sitzt du denn schon mal am Vormittag auf deiner Terrasse und genießt die Sonne, Bjarne?“, hatte Laurin zu ihm gesagt.

„Das geht dich überhaupt nichts an, Laurin, wann ich wo sitze und ob ich die Sonne genieße oder einen Aquavit. Das ist meine Privatsache, Laurin. Aber diese Eiche muss weg!“

„Ich kauf dir jeden Monat eine Flasche Aquavit, Bjarne! Jedes Mal, wenn du dich auf deine Terrasse setzt, nimmst du die Flasche mit und gießt dir einen ein und wärmst dich von innen, dann brauchst du keine Sonne mehr!“

„Dein Angebot von einem Aquavit-Abonnement nehme ich gerne an, aber die Eiche muss weg, Laurin!“

Diese Worte hallten noch in Laurins Ohren nach, während er hier wach in seinem Bett lag. Eigentlich hatte es keinen Zweck, noch weiter liegen zu bleiben. Er könnte jetzt genauso gut aufstehen und etwas Vernünftiges machen. Wie wäre es mit fischen gehen? Um diese Nachtzeit wimmelte das Meer von Fischen. Zwar war es etwas neblig draußen, aber Laurin kannte sich ja auf dem Meer aus. Sogar im Dunkeln würde er die Schären klug umschiffen. Bis der Tag anbrach, waren es noch etwa vier Stunden. Warum nicht?

Laurin zog sich an, trank nur eine Tasse Kaffee und ging dann hinaus. Draußen war ein leichter Wind, der das Boot, das am Steg lag, zum Schaukeln brachte. Aber nichts Furchterregendes. Da gab es ganz andere Stürme hier.

Er legte die Angelausrüstung in das Boot, dazu einen Eimer und natürlich sein gutes, altes Messer, das er mal bei einem umherziehenden Samen gekauft hatte. Ja, die Samen verstanden etwas von der Messerherstellung. Dieses Messer war groß und stabil und sehr scharf. Es hatte ihn noch nie im Stich gelassen.

Dann stieß er ab. Nach einigen hundert Metern hatte er sich an die Dunkelheit gewöhnt und erkannte die Umrisse des Küstenstreifens, wenn auch etwas unklar. Der Nebel hatte sich schwer und dicht auf das Meer gelegt. Man konnte nur hoffen, dass der leichte Wind ihn bald hinwegblasen würde.

Laurin hängte seine Angelschnur ins Wasser und begann zu warten. Wenn man so dasaß und nichts zu tun hatte, nahmen die Gedanken natürlich ihren Lauf. Und woran musste er denken? Natürlich an Bjarne, den Esel, der eigentlich ein Bär war, wenn er nicht so halsstarrig gewesen wäre.

Laurin dachte an die Schulzeit zurück. Bjarne und er waren in dieselbe Klasse gegangen. Zeitweise hatten sie sogar nebeneinander gesessen, obwohl sie sehr verschieden waren. Aber wie heißt es doch? Gegensätze ziehen sich an.

Bjarne war immer ein Raufbold gewesen. Kein Wunder bei seiner Größe und Körperkraft. Seine Interessen hatten immer den praktischen Dingen gegolten, deswegen war Handwerk sein liebstes Fach gewesen. Danach kam gleich die Tierkunde, aber nicht etwa, weil er Tiere liebte, sondern weil er wissen wollte, wie sie funktionierten. Wenn man irgendwo eine Katze panisch herumlaufen sah, weil sie versuchte, vor der an den Schwanz gehängten Blechdose zu fliehen, so war das garantiert Bjarnes Werk gewesen.

Laurin hingegen liebte die norwegische Literatur. Und während Bjarne vor Langeweile gähnte, als sie Ibsens „Peer Gynt“ im Unterricht durchnahmen, war Laurin Feuer und Flamme. Eine Welt ging ihm auf, wenn er solche Dramen las. Und Geschichte war immer sein zweitliebstes Fach gewesen. Doch im Sport konnte er nicht glänzen, da war er eigentlich eine Null.

Immer wenn beim Fußballspielen Bjarne mal wieder mit einem Donnerschuss den Ball ins Tor gesetzt hatte und er freudestrahlend übers Feld lief, von allen beklatscht, lief er bei Laurin vorbei und rief:

„Hast du gesehen, wie man das macht? Mach das mal nach, du Jammerlappen! Aber das kriegst du nicht hin. Du bist so dünn und schwach, dass sogar der Sommerwind dich umpustet! Hast du dich eigentlich schon beworben in der Bibliothek, als Bücherwurm? Kriegst bestimmt eine feste Anstellung.“

Und dann lachte er schallend, mit seinem lauten Bärenlachen, und machte seinem Namen alle Ehre.

Als es aber dann später, im letzten Schuljahr, darum ging, sich an die Mädchen ranzumachen, da hatte Bjarne nicht so großes Glück. War vielleicht auch nicht so verwunderlich, denn nicht alle Mädchen waren von so einem Riesenvieh wie Bjarne beeindruckt. Die meisten waren doch eher an intelligenten, gut aussehenden jungen Männern interessiert, solchen also, denen vielleicht eine akademische Laufbahn bevorstand und die später in der Gesellschaft eine wichtige Position bekleiden würden.

Aber dass ausgerechnet das Donnerweib Oda hinter Laurin her war, war für ihn mehr als erstaunlich. Das Donnerweib - so nannten sie alle Jungen, wegen ihrer Riesenbrüste und ihrem enormen Hinterteil - war wirklich ein nettes Mädchen, aber für Laurin weniger interessant. Sie war eine der sechs Töchter des Ziegenbauern in dem Dorf und musste – wenn sie nicht gerade in der Schule war – tagaus, tagein im Stall helfen oder auf der Weide. Über hundert Ziegen besaß der Ziegenbauer. Das war für Laurin doch eine fremde Welt.

Doch ausgerechnet sie kam eines Tages auf Laurin zu – es war nach dem Gottesdienst in der Kirche des Dorfes – und fragte ihn, ob sie am Nachmittag einen kleinen Spaziergang machen könnten, zum Jörenwogsee. Laurin war zwar überrascht, aber er sagte es zu.

So kam es, dass sie einige Stunden später an dem Ufer des einsamen Jörenwogsees entlang gingen und plauderten. Laurin lauschte ihren Erzählungen, von dem Leben auf dem Hof, von ihren Verwandten und vom Sommerfest, das bald stattfinden würde und wo alle aus dem Dorf eingeladen werden würden. Sie war ein nettes Mädchen, zweifelsohne, aber Laurin empfand, dass er in ihre Welt nicht ganz hineinpasste. Außerdem kam er sich so klein vor neben ihr. Doch gerade auf diese Tatsache wollte er keine weiteren Gedanken verschwenden.

Plötzlich hielt Oda abrupt an, stellte sich vor Laurin hin, so dass ihr Riesenbusen seiner Nase gefährlich nahe kam, und sagte zu ihm:

„Laurin, nimm mich mit. Wenn du nach der Schule nach Trondheim gehst, auf die Universität, bitte nimm mich mit. Ich mache alles für dich. Ich will weg vom Ziegenhof, Laurin, ich halte es nicht mehr aus. Ich will hier nicht enden. Ich kann keine Ziegen mehr sehen. Ich will ein anderes Leben. Laurin, du bist meine einzige Chance. Du bist klug, du bist schön, und ich weiß, du bist ein lieber Kerl. Bitte, nimm mich mit. Du sollst alles von mir bekommen, was ich dir geben kann.“

Und damit begann sie, vorne an ihrer Bluse zu nesteln und einen Knopf nach dem anderen langsam zu öffnen.

Laurin merkte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Es war, als ob er in eine Falle geraten wäre. So ähnlich musste es sich anfühlen, wenn jemand einem die Pistole an den Kopf hielt, so wie dieses Mädchen jetzt ihre Riesenbrüste seinen Augen darbot.

„Ich – ich kann nicht“, begann er zu stottern.

„Was heißt, du kannst nicht?“, fragte sie ängstlich.

Inzwischen hatte sie ihre Bluse ausgezogen und wollte sich nun auch noch ihres Büstenhalters entledigen.

„Warte, bitte“, sagte Laurin verzweifelt, „ich will dir nicht weh tun, Oda, aber ich glaube, das geht jetzt etwas zu schnell. Ich bin noch nicht soweit, dass…“

„Dass was?“, fragte sie, und ihre Augen begannen, feucht zu werden.

„Oda, sei mir nicht böse, aber ich glaube nicht, dass das mit uns zwei was werden kann. Lass mich lieber ehrlich sein, auch wenn es jetzt weh tut. Besser ich gehe jetzt, bevor wir uns gemeinsam ins Unglück stoßen.“

Und damit drehte Laurin sich um und lief davon, die enttäuschte und verzweifelte Oda hinter sich lassend.

Gerade als Laurin, in seinem Boot sitzend, an diese Szene zurückdachte, ruckte es in der Angelschnur. Schnell holte Laurin sie ein und erblickte eine große, zappelnde Makrele am Haken. Er löste sie, tötete sie und warf sie in den Eimer. Dann warf er die Angelschnur wieder aus.

Wieder glitten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Er hatte später nie wieder etwas von Oda gehört. Wie es ihr ergangen war, wusste er nicht. Er war ja tatsächlich an die Universität gegangen, aber nicht in Trondheim, sondern in Oslo, und das war weit weg. Dann war er Lehrer geworden und hatte praktisch zweiundvierzig Jahre Norwegisch und Geschichte unterrichtet und es hatte ihm großen Spaß gemacht. Aber als er dann Rentner geworden war, hatte es ihn hierhin zurückgezogen, in seine Heimat, in dieses einsame Dorf am Meer und gerade in dieses Haus, von wo aus man den herrlichen Blick auf die Welt der Schären hatte. Auch seine Frau war mit diesem Umzug einverstanden gewesen, seine geliebte Hedda, die seine Kollegin gewesen war an der ersten Schule, an der er unterrichtet hatte.

Und als sie nun hier wohnten, war alles wunderbar und wäre es auch geblieben, wenn nicht plötzlich jemand das Nachbargrundstück gekauft hätte. Und dieser Jemand war ausgerechnet Bjarne, sein ehemaliger Schulfreund oder Schulfeind, wie man eher sagen sollte.

Wie kam nun Bjarne hierher? Laurin hatte nicht den Mut gefunden, ihn selber zu fragen, denn er vermutete, dass Bjarne seinen Charakter nicht geändert hatte und immer noch nicht gut auf ihn zu sprechen war. Aber von einigen Dorfbewohnern hatte Laurin doch einiges in Erfahrung bringen können. Demnach hatte er zunächst auf einer der Ölplattformen Arbeit gefunden und hatte enorm viel Geld verdient. Er hatte sich dann ein Haus gekauft in Kristiansund und sogar eine Frau gefunden, die bereit war, das Leben mit ihm zu teilen. Aber das war nach einigen Jahren schief gegangen, warum genau, wusste niemand. Auf jeden Fall soll die Frau ihn verlassen haben. Danach war Bjarne weg. Irgendjemand glaubte zu wissen, dass Bjarne als Matrose auf einem Containerschiff angeheuert hatte, aber das war nicht sicher. Mehrere Jahrzehnte hatte ihn niemand gesehen. Man begann schon, ihn für tot zu halten, als er plötzlich wieder auftauchte, mit einer langen, grauen Mähne und einem langen, grauen Bart. Kaum jemand war in der Lage ihn wiederzuerkennen, wenn da nicht der Name gewesen wäre. Ja, doch, er musste es sein.

Und nun hatte er ausgerechnet das Nachbargrundstück gekauft und hatte – kaum dass ein Monat vergangen war – angefangen, sich an dieser Eiche zu stören, die ihm angeblich die Sonne auf seiner Terrasse stahl. Aber Laurin hatte keine Lust, so einfach nachzugeben. Denn eigentlich hatte Bjarne keine juristische Handhabe, da die Eiche mindestens drei Meter von der Grundstücksgrenze entfernt stand.

Wieder ruckte es in der Angel. Laurin versuchte, die Angelschnur einzuholen, merkte aber, dass es nicht so leicht war. Das musste ein schwerer Fisch sein, der am Haken hing. Er übte starken Widerstand aus. Das aber weckte Laurins Jagdinstinkt. Er stemmte die Beine in die Querbalken des Bootes und zog rhythmisch an der Angel, dabei immer wieder ein wenig nachlassend, aber zugleich ständig die Schnur einholend. Es wurde ein harter Kampf. Das Boot wurde von dem Fisch gezogen. Laurin erwog einen Augenblick, die Schnur zu kappen, denn er hatte keine Ahnung, wohin das Boot gezogen wurde. Immer noch war es neblig und dunkel.

Plötzlich gab es einen lauten Krach, verbunden mit dem Lärm von splitterndem Holz. Das Boot war auf eine Schäre aufgelaufen und war leck geschlagen. Laurin sah, wie Wasser eindrang. Immerhin lag das Boot nun schräg auf einem Felsen und saß irgendwie fest, nur von den Wellen hin- und hergeschaukelt, und konnte so nicht untergehen. In der Hand hielt Laurin immer noch die Angel, aber da war offenbar nichts mehr dran. Der Fisch musste sich losgerissen haben. Laurin stieg aus. Nun stand er auf dem Felsen und versuchte zu erkennen, um welche Schäre es sich handelte.

„Verflucht! Tatsächlich, das Drecksweib!“, rief er aus, als er die längliche Form des Felsens erkannte, der sich etwa zehn Meter hinaus erstreckte.

„Drecksweib“ war der Name, den der Volksmund dieser Schäre gegeben hatte, oder „Mökkakjerringa“, wie es auf Norwegisch heißt. Das war sicherlich ein bisschen ungerecht. Denn was können die Frauen dafür, dass diese Schäre mal über, mal unter dem Wasser war und so ständig eine Gefahr für die hier umherfahrenden Boote darstellte. Und tatsächlich hatten sich schon etliche Bootsbesitzer ihr Boot an dieser Schäre kaputt gefahren.

Aber Laurin hatte nun ein viel größeres Problem als ein kaputtes Boot. Denn es war Flut und schon in einer Stunde konnte die Schäre völlig vom Wasser bedeckt sein. Und dann stand er da, mit den Füßen im Wasser und konnte zuschauen, wie das kalte Wasser immer höher und höher stieg und ihn dann irgendwann mitnehmen würde, mit irgendeiner der stärkeren Wellen. Sein Boot war hinüber, das konnte er nicht mehr benutzen.

Er hatte nur eine einzige Chance, sein Leben zu retten. Er musste sich bemerkbar machen. Vielleicht fuhr ja irgendein Boot oder Schiff hier vorbei und konnte ihn hier wegholen?

Aber das war eigentlich eine törichte Idee. Um diese Zeit kam hier niemand vorbei. Ringsum war nur Nebel und Dunkelheit. Niemand würde ihn hören, niemand ihn finden.

Es war sein Ende. Er musste es nur einsehen. Ihm war der Tod beschieden. Ein nasser Tod. Sein Schicksal halt.

Er setzte sich auf den kalten Felsen und dachte an seine Frau. Die lag in ihrem Bett und schlief und träumte süße Träume. Am nächsten Morgen würde sie ihn nicht an ihrer Seite finden und würde nicht wissen, wo er hingegangen war.

Vielleicht würde sie hinuntergehen zum Steg und aus der Tatsache, dass das Boot nicht dalag, schließen, dass er zum Angeln hinausgefahren war. Aber da würde es schon zu spät sein. Seine Frau stand immer erst auf, wenn es helllichter Tag war. Da würde er schon der Raub der Wellen geworden sein. Vielleicht würde seine Leiche ans Ufer gespült werden. Oder aber sie würde hinausgetragen werden in die weite Nordsee.

Sein Blick fiel auf das Boot. Da plötzlich kam ihm eine Idee. Er konnte ein Feuer machen. Das würde man auch von weither sehen, wenigstens solange die Schäre nicht von Wasser überspült war.

Laurin nahm sein Messer zur Hand und begann, aus dem Boot, besonders dort, wo es schon kaputt war, Bretter oder Stücke von Brettern herauszureißen. Er schichtete sie an der höchsten Stelle der Schäre auf. Dann nahm er ein paar Späne und entzündete sie. Ein Norweger, muss man wissen, hat immer ein Feuerzeug in der Hosentasche. Es gelang ihm tatsächlich, das Feuer in Gang zu bringen. Nach einigen Minuten loderte es hoch auf. Es wurde sogar recht heiß, so heiß, dass Laurin sich in das Wasser stellen musste, um nicht mit den Flammen in Berührung zu kommen.

Jetzt kam es darauf an. Das Wasser stieg. In einer halben Stunde würde die Flut das Feuer löschen. Dann hieß es Abschied nehmen. Laurin stand mit den Füßen im Wasser. Unten war ihm kalt, oben war ihm warm.

Die Minuten vergingen. Das Wasser stieg und mit ihm Laurins Verzweiflung. Die brennenden Bretter, die außen lagen, wurden vom Wasser ergriffen, mit einem Zischen gelöscht und dann fortgetragen.

„Vater unser“

Laurin begann zu beten.

Plötzlich hörte er in der Ferne das Tuckern eines Bootsmotors.

„Oh Gott! Hast du mich erhört?“, rief Laurin aus.

Das tuckernde Geräusch kam näher. Allmählich konnte Laurin die Konturen des Bootes erkennen. Ein Mann stand darin und hielt eine Lampe hoch.

„Hierher!“, rief Laurin, obwohl er wusste, dass es unnötig war.

Als das Boot nur noch ein paar Meter von der Schäre entfernt war, rief eine kräftige Stimme:

„Du musst durchs Wasser hierher kommen. Ich kann nicht näher ran, wegen des Felsens!“

Laurin erschrak. Die Stimme kannte er. Das konnte nicht wahr sein! War es wirklich Bjarne? Wie auch immer. Nun musste er dorthin schwimmen.

Laurin stürzte sich ins Wasser und hielt auf das Boot zu. Es gelang ihm, die zehn Meter, die es entfernt war, schwimmend zu überwinden. Dann klammerte er sich am Bootsrand fest. Plötzlich wurde er von starken Armen aus dem Wasser und in das Boot hineingezogen.

Laurin saß triefend in der Mitte des Bootes und schaute seinen Retter an. Es war Bjarne.

Der schaute ihn an und begann dann ganz langsam zu grinsen.

„Mensch, Laurin, ich hab dir immer gesagt, halt dich von den Drecksweibern weg, besonders von denen hier draußen im Meer.“

Er lachte laut. Es war sein typisches Bärenlachen, und zum ersten Mal fand Laurin dieses Lachen schön. Eigentlich hatte es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Klang der Glocke in der Dorfkirche, zumindest erschien Laurin es jetzt so, jetzt, wo er neugeboren war.

„Du hast Recht, Bjarne!“

Dann fuhr Bjarne ihn an Land.

„Jetzt komm noch mit rein. Oder willst du dich etwa mit den nassen Klamotten ins Bett zu deiner Frau legen?“

Wieder lachte Bjarne sein Bärenlachen.

Zum ersten Mal betrat Laurin das Haus seines Nachbarn. Im Kamin loderte ein angenehm warmes Feuer.

„Zieh deine nassen Klamotten aus. Ich hol dir was Trockenes. Und dann trinken wir einen Kaffee zusammen. Und einen Aquavit.“

Obwohl es Laurin ein bisschen peinlich war, zog er sich aus und hängte die nassen Sachen in der Nähe des Feuers zum Trocknen auf.

Bjarne kam mit einer Hose und einem Hemd herein und sagte:

„Mensch, Junge, du hast ja immer noch nicht zugenommen! Hast du eigentlich eine Anstellung als Bücherwurm in der hiesigen Bibliothek bekommen, oder nicht?“

In Ermangelung von Kleidung, die ihm hätte passen können, schlüpfte Laurin in Bjarnes Hose und Hemd.

Als Bjarne ihn darin sah, brach er in schallendes Gelächter aus.

„Du siehst aus wie …“, prustete er, „nein, wirklich, nichts für ungut, aber du siehst aus wie…“

Und er lachte und lachte, so dass Laurin schließlich mitlachen musste.

„Wie eine Vogelscheuche, meinst du, Bjarne, nicht wahr?“

„Ja, genau, wie eine Vogelscheuche!“

Nachdem sie sich beruhigt hatten, schenkte Bjarne dem Laurin Kaffee ein und ein Gläschen Aquavit. Das tat gut, tat aber auch gleich seine Wirkung.

Irgendwie sah die Welt plötzlich ganz hell aus, und Laurin konnte gar nicht glauben, dass das, was er gerade erlebt hatte, wirklich geschehen war.

„Sag mal, Laurin“, begann Bjarne, „erinnerst du dich an das Donnerweib?“

„Du meinst Oda vom Ziegenhof?“

„Ja, genau die. Weißt du eigentlich, dass ich dir was schuldig bin?“

„Wieso?“

„Weil Oda meine Frau war.“

„Wie? Oda war deine Frau?“, fragte Laurin erstaunt.

„Ja, ich muss dir was erzählen. Ich war damals richtig scharf auf Oda, damals, also im letzten Jahr, als wir noch auf der Schule waren. Ich hatte mich in sie verliebt. Aber ich kam nicht an sie ran. Ich hatte zwar immer wieder versucht, sie für mich zu gewinnen, aber es klappte nicht. Sie wies mich immer wieder zurück. Aber dann, plötzlich, wies sie mich nicht mehr zurück. Plötzlich sagte sie ja. Und es dauerte nicht lange, dann wurde sie meine Frau. Ich hatte Arbeit auf der Ölplattform gefunden und sehr gut verdient. Konnte mir davon ein Haus kaufen in Kristiansund. Dort zogen wir ein. Aber in all den Jahren war es mir immer ein Rätsel gewesen, was damals den Umschwung bewirkt hatte, warum sie plötzlich ja zu mir sagte. Weißt du, warum?“

„Nein, keine Ahnung“, sagte Laurin zögernd, obwohl ihm schwante, dass er damit etwas zu tun haben konnte.

„Mensch, Laurin, ich hab sie aus deinen Armen empfangen. Du wolltest sie nicht. Sie hatte von einem Leben an deiner Seite geträumt, an der Seite eines Akademikers, weit weg vom Ziegenhof. Aber der Traum zerschlug sich. Dann kam sie zu mir, und ich war glücklich. Damals wusste ich ja nicht, dass ich die zweite Wahl gewesen war.“

„Und wann hast du das erfahren?“

„Als sie auszog, da erzählte sie es mir. Wir gingen auseinander, aber im Frieden. Irgendwie sind wir nicht glücklich zusammen geworden. Ich konnte ihr nicht das bieten, wonach sie eigentlich suchte. Ein paar Jahre hielten wir es zusammen aus. Geld hatten wir ja genug. Aber weißt du, das ist es nicht, das Geld. Das erzeugt kein Glück. Zumindest war sie ehrlich. Irgendwann erzählte sie mir die Geschichte, diese Szene da am Jörenwogsee. Sie sagte, sie wolle mir nicht wehtun. Aber es könne doch nichts mit uns werden. Es wäre besser, wir würden uns trennen. Kinder hatten wir ja noch keine. Und so kam es dann. Sie zog aus, und ich heuerte auf einem Schiff an. Bin jahrzehntelang auf allen Weltmeeren rumgeschippert und hab alles vergessen, oder zumindest fast vergessen.“

„Und was macht Oda jetzt? Weißt du, wo sie ist?“

„Sie zog damals nach Oslo, wollte irgendeine Ausbildung machen, was genau, wusste sie damals noch nicht. Was aber dann aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Ich war mehr als drei Jahrzehnte auf See.“

„Mein Gott, Bjarne, was für Schicksale sind das alles! – Aber sag mal, ganz was anderes: Wie kam es eigentlich, dass du mich gerettet hast? Warst du wach heute Nacht?“

„Ja, Laurin, ich bin aufgewacht, so um vier Uhr ungefähr. Konnte nicht mehr einschlafen, weil ich an diese verdammte Eiche denken musste und an den Streit mit dir. Bin im Haus rumgewandert und hab Kaffee getrunken. Einmal stand ich am Fenster und schaute aufs Meer hinaus. Und da sah ich in der Ferne ein Licht, ein flackerndes Licht. Konnte nur ein Feuer sein. Ein Feuer, mitten im Meer, Bjarne! Das war nicht normal. Das musste eine Notsituation sein. Bin dann raus mit dem Boot und hab auf das Feuer zugehalten. Und hab dann auf der Drecksweib-Schäre einen nassen, zitternden Bücherwurm gefunden. Und da ich Bücherwürmer mag, hab ich ihn gerettet und nach Hause gebracht.“

Laurin stand auf, ging zu Bjarne rüber und streckte ihm die Hand entgegen:

„Freundschaft?“

Bjarne grinste und ergriff die Hand: „Freundschaft“, sagte er in einem freundlich-brummigen Ton, so wie halt Bären machen, wenn sie zufrieden sind.

„Und übrigens“, fügte Laurin hinzu, „die Eiche wird morgen gefällt. Und du kriegst das Holz, hier für deinen Kamin.“

„Alles klar“, grinste Bjarne, „auf gute Nachbarschaft und auf erholsame Stunden auf meiner Terrasse. Ich nehme an, du kommst öfter mal rüber.“

„Klar doch, und immer mit einer Flasche Aquavit in der Hand!“, lachte Laurin.

So kam es, dass die schöne, alte Eiche, die schon viele Jahrhunderte erlebt hatte, doch gefällt wurde. Was dem einen sein Leben, ist dem andern sein Tod.

 

© JHD Spreemann 2021



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.12.2021

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