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Vor dem schwarzen Loch

 

Jonas stand auf seinem Wachturm und wartete auf den Soldaten, der ihn ablösen sollte. Da kam er endlich. Er kletterte die Leiter herauf, doch bevor er noch oben war, zog er seine Pistole hervor und richtete sie auf Jonas. Der erschrak heftig. Er hatte noch nie zuvor in das schwarze Loch einer auf ihn gerichteten Pistole geschaut. Aus diesem würde der Tod kommen. Er kannte den jungen Mann, der ihn bedrohte. Es war Harald, in der ganzen Kompanie bekannt als „der Zuhälter“. Jonas hatte sich erst gestern während der zwei Bereitschaftsstunden mit ihm unterhalten. Harald sah gut aus und war eigentlich ein netter Kerl, aber offenbar völlig unberechenbar. Er hatte schon ein Jahr im Jugendgefängnis verbracht, wegen Gewalttätigkeit. Hinter seiner Nettigkeit verbarg sich offenbar ein explosiver Charakter. Wenn er die Kontrolle verlor, war er zu allem fähig. In seinen Augen war eine stahlkalte Untiefe, ebenso schwarz wie das Loch der Pistolenmündung, und zugleich ein feuriges Flackern, ebenso heiß wie das Explosionsfeuer, das die Kugel aus der Pistole heraustreiben würde.

 

Jonas fühlte, wie Angst in ihm hochstieg. Aber zugleich überkam ihn eine ungeheure Ruhe. Wenn er überleben wollte, musste er jetzt die Ruhe bewahren. Er musste Harald aus diesem Anfall von Wahnsinn, in welchem er sich offenbar befand, herausholen. Er musste ihn wieder mit den Füßen auf den Boden stellen, ihn „erden“, und das hier vier Meter über dem Erdboden, auf der wackeligen Holzleiter eines Armeewachturms.

 

Der Gedanke an seine schwangere Frau drängte sich auf. Sie war im sechsten Monat. Sollte Jonas jemals sein Kind sehen können, so musste er diese Situation überleben. Er musste irgendetwas Kluges sagen, irgendetwas, das diesen außer Kontrolle geratenen Wahnsinnigen wieder zur Vernunft brachte.

 

Er erinnerte sich, dass gestern, während der Bereitschaftsstunden, Harald etwas Merkwürdiges gesagt hatte. Mit einer für ihn ungewöhnlichen Weichheit in der Stimme hatte er Jonas erklärt, dass er die Zuhälterei eigentlich leid sei, dass er aus seiner Situation herauswollte, dass er eigentlich gern etwas ganz anderes beginnen würde, etwas Anständiges, etwas Bürgerliches.

 

„Was machst du denn eigentlich?“, hatte Harald gefragt.

„Ich studiere Französisch“, hatte Jonas geantwortet.

„Wozu ist das gut? Was kann man damit machen?“

„Nun, man kann Übersetzer werden oder Dolmetscher oder Lehrer.“

„Verdient man da gut?“

„Nein, aber man kann davon leben.“

„Ich verdiene sicher mehr. Aber meine Situation ist beschissen. Ständig musst du alle kontrollieren, die Nutten, die Kunden und die Konkurrenten. Wehe, wenn der Eindruck entsteht, dass du nicht alles unter Kontrolle hast. Dann bist du fertig. Du musst immer den harten Macker spielen, den brutalen, den rücksichtslosen, den unmenschlichen.“

„Dabei bist du gar nicht unmenschlich, Harald, oder?“, fragte Jonas mit einem vorsichtigen Lächeln.

„Ich weiß nicht, was ich bin. Ich kenne mich selbst nicht. Ich weiß, dass ich keine Lust mehr habe auf das, was ich gerade mache. Wenn ich hier rauskomme, aus dieser sogenannten „Bundeswehr“, dann muss ich ein neues Leben beginnen, irgendwie.“

 

Das war das Ende des Gesprächs gewesen, denn danach mussten sie raus. Seitdem waren vierundzwanzig Stunden vergangen. Was war inzwischen passiert? Jonas dachte, er hätte mit Harald eine Art von „freundschaftlichem“ Einverständnis erreicht, warum also das jetzt? Warum richtete er die Pistole auf ihn? Hatte jemand ihn angeschwärzt, irgendetwas Falsches erzählt? Keine Ahnung. Jonas schaute in das schwarze Loch der Pistole, aus dem gleich der Tod kommen würde, wenn er jetzt nicht sofort irgendetwas Schlaues, irgendetwas Lebenrettendes sagen würde.

 

Plötzlich kam aus seinem Munde, ohne dass er lange darüber nachgedacht hätte:

„Man erschießt seinen Lehrer nicht, besonders nicht, wenn dieser Lehrer einen zu einem neuen Leben verhelfen kann.“

Auf Haralds Gesicht, das bis zu diesem Moment nur von einer eiskalten Miene beherrscht gewesen war, erschien zum ersten Mal etwas anderes, nämlich Erstaunen.

„Was meinst du damit?“

Jonas versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen und so ruhig und gelassen wie möglich zu sprechen:

„Ich gebe dir Französisch-Unterricht, in den Bereitschaftsstunden. Innerhalb eines Jahres wirst du soweit sein, dass du dich nach deiner Entlassung auf einen Job als Sekretär bewerben kannst. Mit dem Hinweis auf deine Französisch-Kenntnisse hast du große Chancen, in einem Betrieb eine Anstellung zu finden, der mit Frankreich Handel treibt.“

„Verdient man da viel?“

„Sehr viel. Denn der Betrieb ist ja abhängig von dir. Ohne dich sind sie aufgeschmissen. Also bezahlen sie dich gut.“

„Hört sich gut an“, sagte Harald nachdenklich.

„Jetzt“, begann Jonas, mit einem eindrücklichen, fast hypnotisierenden Ton in der Stimme, „nimmst du die Knarre runter und steckst sie in dein Halfter. Ich werde keine Meldung machen. Wir vergessen diesen Vorfall, und morgen beginnt der Unterricht.“

Tatsächlich senkte Harald die Pistole und steckte sie weg.

„Alles gut. Lass mich vor. Ich übernehme deine Wache. Aber wehe, du hast mich belogen! Dann ist dein Leben schneller zu Ende, als dir lieb ist.“

„Du kannst dich auf mich verlassen“, sagte Jonas und kletterte die Leiter hinunter. Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, zum Wachgebäude. Dort ließ er sich auf einem Stuhl nieder und atmete aus. Er hatte es geschafft. Er lebte.

 

Und er hielt sich an sein Wort. Er erstattete keine Meldung an die Vorgesetzten. Auch kein Sterbenswörtchen über den Vorfall an seine Kameraden. Diese wunderten sich nur, als sie sahen, dass fortan Harald und Jonas in den Bereitschaftsstunden beisammen saßen. Es war nicht zu fassen: Der hartgesottene Zuhälter Harald lernte Französisch. Und Jonas zeigte eine Engelsgeduld dabei. Denn Harald hatte nicht die geringste Ahnung, wie man eine Sprache lernt. Aber er wollte es. Er wollte in einem Jahr was anderes beginnen.

 

Die Zeit verging. Schon nach einigen Monaten besaß Harald einige Grundkenntnisse, denn er war wirklich nicht dumm. Er hatte nur noch nie die Ausdauer gehabt, sich ein Wissen oder eine Fähigkeit anzueignen. Und Jonas nährte die Hoffnung in ihm, die Hoffnung auf ein nicht-kriminelles Leben.

 

Doch eines Tages musste Jonas fort. Er wurde versetzt. Der Kontakt zu Harald brach ab und konnte auch nicht aufrechterhalten werden. Ob Harald es je geschafft hatte, seinem Leben eine andere Richtung zu geben, oder ob er wieder in die alte Spur zurückgefallen war, Jonas wusste es nicht und hatte es auch nie in Erfahrung bringen können. Und warum überhaupt Harald ihn damals bedroht hatte, dort auf dem Wachturm, auch das hatte er nie herausfinden können.

 

Wie auch immer, er lebte. Und nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr, wartete am Tor seine Frau auf ihn, mit dem kleinen Mädchen, das schon ein halbes Jahr alt war.

 

 

© JHD Spreemann September 2021

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Tag der Veröffentlichung: 30.09.2021

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