Hella und Ida
Von dem Alten, der auszog, um zu sterben
Rost
Goldengel für einsame Herzen
Männer sind einfach
Der königliche Briefkasten
Der Fluch des Reichtums
Die Brücke von Sant‘Ambrogio
Sie waren schon immer sehr verschieden gewesen, die beiden Schwestern. Hella, die Ältere, war von klein an daran gewöhnt worden, für ihre jüngere Schwester die Verantwortung zu tragen. Dadurch entwickelte sie schon früh eine andere Sicht auf die Welt als Ida, die Jüngere. Diese lebte in das Leben hinein, als ob es nur eine ständige Folge schöner und sinnlicher Erlebnisse wäre. An allem war sie interessiert, lief überall hin, wo es Neues und Spannendes gab, zu den Blumen, die nach einem langen Winter ihre ersten zarten Blätter emporstreckten, zu den neugeborenen, blökenden Lämmern, die die Welt mit ihren noch kindlich-zarten Stimmen begrüßten, zu dem Gast aus dem Norden, der zusammen mit dem Vater vor dem Hause saß und mit diesem in einer fremd klingenden Sprache redete. Ihr Gemüt war freudevoll und hell, wie von der Sonne durchleuchtet, ihre Bewegungen rasch und leicht, ihr Haar goldglänzend und gelockt.
Ganz anders Hella, die mit ihren dunklen Haaren und ihrem ernsten Gesichtsausdruck zum Ausdruck brachte, dass das Leben voller Aufgaben und Pflichten war und dass es galt, aufmerksam und vorsichtig zu sein und an die Gefahren zu denken, die überall lauerten.
Im Gebirge, wo sie wohnten, musste man seine Schritte vorsichtig setzen, dass man nicht fehltrat und abrutschte, musste auch Wind und Wetter beobachten, so dass man rechtzeitig umkehrte, wenn plötzlich ein Sturm von den Gipfeln der rätischen Alpen herunterzufegen und das Dorf mit kalten Regenschauern zu überschütten drohte. In den Wäldern aber hausten Luchse und Bären, und viele Male hatte der Vater seine beiden Töchter ermahnt, sich nicht zu weit vom Dorfe zu entfernen.
Als sie älter wurden und allmählich in das heiratsfähige Alter kamen, wurden sie von ihrer Mutter davon unterrichtet, was ihnen als Frauen bevorstand und welche Pflichten sie später haben würden. Hella hörte aufmerksam zu bei allem, was ihre zukünftige Rolle als Mutter betraf, während sie all das, was über das geschlechtliche Zusammenleben mit einem Mann gesagt wurde, als unangenehm, ja, sogar widerwärtig empfand. Ida aber wollte vom Dasein als Mutter gar nicht viel wissen und wurde erst munter, als die Rede auf das Geschlechtliche kam. Da begann sie, viele Fragen zu stellen, und zwar recht genaue Fragen in Bezug auf den Geschlechtsakt, wie das gehe und was man dabei empfinde und so weiter. Hella versuchte ihre jüngere Schwester zu bremsen, weil sie sich für ihre ungehemmte Art des Fragens schämte, hatte aber wenig Erfolg damit.
Nur zwei Sommer waren ins Land gegangen, da kam eine Anfrage von einem Pfahlbauern vom Wodansee, eben jenem Gast aus dem Norden, mit dem der Vater sich auf Alemannisch unterhalten hatte, ob er die ältere von den zwei Töchtern heiraten dürfe. Hella erinnerte sich an ihn. Er schien ihr ein guter Mann zu sein, ernsthaft und vertrauenswürdig, und würde sicher zu ihr passen. Als der Vater sie fragte, ob er Guntwin, wie der Freier hieß, einladen solle, so dass sie alles, was die Heirat betraf, besprechen könnten, stimmte Hella zu.
Guntwin kam, und wie es die Sitte erforderte, sprach er erst mit dem Vater, danach durfte er mit Hella sprechen. Während eines Spazierganges kamen sie sich näher, und es schien, als ob es nichts gab, was zwischen ihnen stehen könnte. Guntwin liebte die ernste, bescheidene und zurückhaltende Art seiner Zukünftigen und war zuversichtlich, dass sie ihre Rolle als Frau gewissenhaft erfüllen würde.
So wurde der Pakt geschlossen.
Als Hella am Abend in das Zimmer trat, wo sie zusammen mit ihrer Schwester schlief, bestürmte Ida sie mit ungestümen Fragen:
“Wie war er denn? Hat er dich geküsst?”
“Nein, natürlich nicht. Wir haben nur geredet.”
“Nur geredet? So langweilig! Ich hätte ihn einfach geküsst!”
“Ida, das macht man doch nicht!”
“Warum denn nicht? Er ist doch dein Geliebter!”
“Geliebter, was heißt das denn? Er ist mein zukünftiger Mann.”
“Ja, liebst du ihn denn nicht, Hella?”
“Liebe, was ist das? Ida, glaub nur nicht, dass du was davon verstehst!”
“Was muss man da groß verstehen? Wenn ich du wäre, würde ich ihn lieben. Ja, vielleicht liebe ich ihn sogar, Hella!” rief Ida lachend aus.
Hella wurde ärgerlich.
“Jetzt halt deinen vorlauten Mund, Ida, und schlaf!”
Guntwin blieb noch einige Tage bei der Familie. Er lernte alle kennen, auch die Bewohner des Dorfes. Alle schätzten ihn sehr, lobten seine Nüchternheit und Redlichkeit und beglückwünschten Hella zu der vortrefflichen Wahl. An dem Abend, bevor er abreisen sollte, gab Hellas Vater ein kleines Abschiedsfest. Man versammelte sich am Ufer des nahegelegenen Sees und briet eine von den Gänsen, die der Vater geschlachtet hatte, über dem Feuer. Dazu trank man Honigwein. Man redete, wurde lustig und lachte, und als der Mond am Himmel erschien, gab es niemanden, der nicht von der Wirkung des Weines erheitert war. Unter den Versammelten war Ida die Lustigste. Sie ging oder, besser gesagt, hüpfte von einem zum anderen, neckte und scherzte und fühlte sich offenbar wie in ihrem Element. Solches geselliges Beisammensein, das liebte sie sehr.
Zum ersten Mal beachtete Guntwin Hellas jüngere Schwester. Zwar hatte er sie schon vorher bemerkt, aber ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt wegen ihres jungen Alters - sechzehn Lenze brachte sie erst mit - und ihres kindlichen Verhaltens. Doch an diesem Abend machte sie einen stärkeren Eindruck auf ihn. Die Lebensfreude, die da aus diesem blondgelockten, quirligen Wesen hervorsprudelte, hatte wirklich etwas Erheiterndes. Es wurde ihm so leicht ums Herz, wenn er mit ihr sprach. Es schien fast, als ob ihr unerschöpflicher Frohsinn auf ihn überspringen wollte. Fast hätte er sie zum Tanz aufgefordert, aber das wäre unziemlich gewesen.
Er blickte hinüber zu Hella, die gerade im Gespräch mit ihrem Vater war. Wunderschön war sie, mit dem langen, schwarzen Haar, das ihr wohlgeformtes Gesicht umrahmte, ihrem weißlichen Teint, ihrem feingliedrigen Körper und dessen weiblichen Formen, die sich wohlproportioniert zu einem harmonischen Ganzen gestalteten, so als ob die Natur hier ein vollkommenes Bild von Schönheit präsentieren wollte. Doch in ihren Augen gab es diese tiefe Dunkelheit, in ihrem Gesicht diesen Ausdruck des Lebensernstes und in ihrer Sprache diesen Klang von Schwermut. Doch nun sollte sie seine Frau werden. - Guntwin beschloss, ihrer Schwester Ida keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.
Wenige Monate später musste Hella die Reise an den Wodansee antreten, wo ihr zukünftiger Mann Pfahlbauer war. Die Hochzeit sollte in seinem Heimatdorf stattfinden. Der Vater wollte sie dorthin begleiten. Ida wäre so gerne mitgekommen, aber er ließ es nicht zu. Er meinte, sie solle zu Hause bleiben und der Mutter während seiner Abwesenheit zur Hand gehen. Hella schenkte ihrer Schwester zum Trost eine silberne Halskette, und Ida, die ohnehin große Freude daran hatte, sich zu schmücken und schön einzukleiden, wurde dadurch wieder froh gestimmt. Sie bat aber darum, Hella in einem Jahr besuchen zu dürfen. Es würde ja sicher bald ein Kind kommen, und das wollte sie doch so gerne sehen. Hella versprach ihr, sie recht bald zu sich einzuladen.
Als Hella in ihrer neuen Heimat ankam, war sie überrascht, wie lieblich die Landschaft war. Der Wodansee war groß - das andere Ufer war nur als blaue Silhouette in der Ferne zu erkennen - doch er hatte nichts Gewaltiges oder Bedrohliches. Das Ufer war von Schilf bestanden, so dass die Wellen sich in ihm verliefen und weiter kein Geräusch erzeugten als ein leises Rascheln. Die Luft war klar und angenehm warm.
Um zu den Pfahlbauten zu gelangen, die etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt im Wasser standen, musste man auf einem morastigen Weg durch das Schilf, dann auf einem Steg weiter aufs Wasser hinaus. Da gab es so etwas wie ein Torgebäude, das offenbar verschlossen werden konnte, wenn es nötig war. Von dort verzweigten sich viele Stege zu den auf Pfählen stehenden Häusern, die wiederum durch weitere Stege kreuz und quer miteinander verbunden waren. Die Häuser hatten steile, riedgedeckte Dächer, und von den Terrassen vor den Häusern führten Leitern hinab zu den Bootsanlegestellen. Die Pfähle unter den Häusern waren von grünem Moos bedeckt, dazwischen sah man kleine Kolonien von Muscheln und Schnecken.
Als Hella in das Haus eintrat, in welchem sie nun die Hausfrau sein sollte, fühlte sie sich vom ersten Augenblick an wohl. In dem mittleren Raum, der gleichzeitig als Wohnraum und als Küche diente, war ein gedämpftes Licht, da die Fenster nur aus kleinen Spalten in den Wänden bestanden. Von diesem mittleren Raum aus kam man in weitere umliegende Räume, die entweder als Schlafräume, oder als Vorratsräume benutzt wurden. Es war eine heimelige und dämmerige Atmosphäre in dem Haus, welche einen angenehmen Kontrast bot zu der übermäßigen Lichtatmosphäre draußen, die noch verstärkt wurde durch die glitzernde, silbrige Wasserfläche. Von unten her hörte man das leise Plätschern der Wellen. In den Räumen mischten sich die derben Gerüche von nassem Holz und abgebrannter Holzkohle mit den feinen Düften von Kräutern, die an den Wänden zum Trocknen aufgehängt waren.
Es gab in der Mitte des Dorfes einen Platz, der wegen seiner Größe auf zahlreichen Pfählen ruhte. Er war groß genug, dass sich hier alle Bewohner des Pfahldorfes versammeln konnten. Hier wurde die Hochzeit abgehalten. Hella wurde sowohl von der Familie, als auch von den Bewohnern freundlich aufgenommen. Besonders der Nachbar, ein alleinlebender Mann mit dem Namen Wolfhard, gefiel ihr gut. Er schien ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch zu sein.
Die Feierlichkeiten dauerten drei Tage. Als der Vater nun abreisen musste, fühlte Hella doch einen gewissen Schmerz. Ihr wurde klar, dass sie sich nun ganz allein bewähren musste, und obwohl alle sehr freundlich zu ihr waren, empfand sie doch ein wenig Angst. Zu Hause im Gebirge, da kannte sie sich aus, doch hier war alles neu. Alle hier in dem Dorfe lebten vom Fischfang, und das war etwas, was sie kaum kannte. Doch der Vater tröstete sie und meinte, es würde schon alles gut gehen. Ihr Mann würde schon auf sie aufpassen.
Als der Vater fort war, überkam Hella Trauer. Inmitten all der Wärme und dem Licht war es ihr doch, als ob ihr etwas fehlte. Alle die, welche von früh an um sie herum gewesen waren, Vater und Mutter, die Geschwister und die Menschen ihres Heimatdorfes, alle, die sie geliebt hatte, waren nun weit fort. Sie erinnerte sich an die Frage ihrer Schwester: “Liebst du ihn denn?”
Ja, nun sollte sie all ihre Liebe auf diesen einen Mann übertragen. Ob ihr das gelingen würde? Sie wusste es nicht. Aber sie wollte es versuchen.
Die Hochzeitsnacht war eher ein schmerzliches Erlebnis gewesen. Zwar war sie von ihrer Mutter damals darauf vorbereitet worden, dass es weh tun würde und dass sie bluten würde, aber als Guntwin dann tatsächlich in sie eindrang, empfand sie es doch wie eine Gewaltanwendung. Zwar wurden in den Nächten darauf die Schmerzen weniger, aber wirklich anfreunden konnte sie sich mit dem allnächtlichen Beischlaf nicht, geschweige denn, dass er ihr Lust verschaffte.
Doch umso schneller lernte sie, was ihre Pflichten als Hausfrau waren, und binnen kurzem beherrschte sie alles, was man von ihr verlangte. Die Schwiegermutter wies sie in alles ein, und was das Leben in diesem Dorf generell betraf, so erfuhr sie so manches von ihrem Nachbarn Wolfhard, der oft zu einem Gespräch herüberkam. Er erzählte ihr von den anderen Dörfern am See, von den Bauern weiter oben im Inland, vom Handel und von den Märkten und von dem König der Alemannen, Bodo, der weiter im Norden seinen Stammsitz hatte.
So verging das erste Jahr. Guntwin, ihren Mann, lernte sie immer mehr schätzen, weil er sie mit Respekt behandelte, und, falls es mal ein Problem gab, ihr geduldig zu verstehen gab, was seine Meinung zur Sache war. Er war nie aufbrausend oder ungerecht, arbeitete viel und tat alles, was man von dem Ernährer einer Familie erwarten konnte. Er war stark, geschickt im Manövrieren des Fischerbootes, aber auch kunstfertig, was handwerkliche Dinge betraf. Außerdem war er ein guter Krieger, was er aber in jener Zeit glücklicherweise nicht unter Beweis stellen musste.
Hella fühlte sich wohl an der Seite dieses Mannes. Sie entwickelte durchaus eine große Zuneigung zu ihm, doch sicher nicht das, was ihre jüngere Schwester “Liebe” genannt hätte.
Alles, was zu ihrem Glück noch fehlte - auf jeden Fall in äußerlicher Hinsicht - war ein Kind. Doch es wollte sich keines einstellen. Sie warteten ein weiteres Jahr, aber Hella war immer noch nicht schwanger geworden.
Eines Tages erhielt sie Kunde von ihrer Schwester Ida. Diese wollte unbedingt zu Besuch kommen. Sie wollte nicht die Geburt eines Kindes abwarten, um sie besuchen zu dürfen, sondern drang darauf, dass sie jetzt kommen und über den Sommer dort bleiben dürfe. Hella willigte ein.
Ida ging ganz allein das Gebirge hinunter zum Wodansee. Eigentlich hatte der Vater sie nicht gehen lassen wollen, weil er meinte, dass es zu gefährlich sei, wegen der wilden Tiere. Aber Ida ließ sich nicht abhalten. Sie wusste mit der Streitaxt umzugehen und verstand sich auch auf Pfeil und Bogen. Angst hatte sie nicht. Leichten Sinnes schritt sie hinunter und stand nach zwei Tagesmärschen am Ufer des Sees. Sie bat einen Fischer, sie hinüberzufahren auf die andere Seite. So kam sie eines schönen Abends in dem Pfahldorf an und wurde von ihrer Schwester herzlich empfangen.
Hella erstaunte, als sie ihre jüngere Schwester sah. Zwei Jahre waren nur vergangen, aber Ida war in der Zeit eine richtige Frau geworden. Breite Hüften hatte sie bekommen und wohlfgeformte, große Brüste. Überhaupt hatte sie einen kräftigeren Körperbau, wie Hella vergleichend feststellen musste. Die gelockten, blonden Haare waren noch länger geworden und - wenn der Wind vom See heraufblies - umflatterten sie ihr schönes Gesicht und betonten den Ausdruck von Frohsinn und Munterkeit, der auf ihrem Gesicht lag.
Schon nach einer Woche war sie mit allen Bewohnern der Dorfes bekannt. Wegen ihres einnehmenden Wesens war sie bei allen sehr beliebt. Hella musste feststellen, dass die jungen Männer des Dorfes, wenn sie Ida trafen, ihren Blick länger auf ihr ruhen ließen, als notwendig gewesen wäre. Doch das, was Sorgen in Hella aufkeimen ließ, war die Tatsache, dass dies nicht nur die jungen, sondern auch einige ältere Männer taten, ja, sogar solche, die mit einer Frau zusammenlebten.
Eine Woche später sollte das Wodansfest begangen werden. Es war einer der wenigen Anlässe, wo alle Bewohner des Pfahldorfes ihre Häuser verließen und auf das feste Land gingen. Nur wenige hundert Meter vom Ufer entfernt, stand auf einer weiten Fläche eine mächtige Esche. In einem großen Ring um diesen Baum wurden zwölf Feuer entzündet.
Als es dann dunkel wurde, erschien eine alte Frau, welche Hella nie zuvor gesehen hatte, und stellte sich unter die Esche. Bei den Feuern standen zwölf Männer. Als die Alte die Arme erhob, wurden alle ganz still und schauten zu ihr hinüber. Die zwölf Männer wandten sich in ihre Richtung. In altgermanischer Sprache begann nun der Mann, der im Süden stand, laut rufend eine Frage an die Alte zu richten. Diese antwortete dann, mit einer Stimme, die für eine alte Frau erstaunlich laut und mächtig erklang. Und so ging die Reihe ringsum, bis alle Männer ihre Frage gestellt und beantwortet bekommen hatten. Ida hätte gern gewusst, was der Inhalt dieser Sätze war, aber ganz gegen ihre Gewohnheit traute sie sich diesmal nicht zu fragen.
Nachdem diese heilige Handlung beendet war, begann das eigentliche Fest. Unter der Esche wurde Honigwein ausgeschenkt, und Kreistänze wurden begonnen. Dabei erklangen uralte Reime, die den beiden Schwestern unverständlich waren. Die Alte, offensichtlich eine Priesterin, war hingegen ebenso plötzlich im Nichts verschwunden, wie sie aus diesem gekommen war.
So fremd dieses Wodansfest für die Schwestern am Anfang gewesen war, so vertraut wurde ihnen dann der folgende Teil, wo niemand sich die Gelegenheit entgehen ließ, sich nach Herzenslust zu vergnügen. Auch Ida stürzte sich in den Trubel, tanzte und lachte und belustigte sich. Hella hielt sich eher etwas abseits und suchte das Gespräch mit den Älteren, die auf der Wiese saßen und dem Treiben zuschauten.
Sie hatte eine Weile dort gesessen und sich mit den Alten unterhalten, als plötzlich Ida aufgeregt auf sie zu gerannt kam.
“Hella, schnell, komm, da sind zwei Männer, die sich prügeln!”
Und tatsächlich erblickte Hella unter der Esche eine große Menschenmenge, die sich offenbar um irgendetwas Aufsehenerregendes geschart hatte. Hella eilte hinzu. Sie drängelte sich durch die Menschen und erblickte in der Mitte auf dem Boden zwei Männer in heftigem Ringkampf, der eine, ein junger Mann mit dem Namen Sarolf, der bekannt war für sein hitziges Temperament, der andere, Rudolf, ein Mann mittleren Alters, groß und kräftig, aber keineswegs streitsüchtig.
“Holt doch den Dorfältesten!”, riefen einige Frauen, denn es sah so aus, als ob der Kampf immer ernster wurde und am Ende tatsächlich der eine den anderen totschlagen würde. Gerade hatte Rudolf seinen Gegner auf den Boden gezwungen, so dass dieser unter ihm auf dem Rücken lag, und zückte nun sein Messer, als genau in diesem Augenblick der Dorfälteste erschien und laut “Halt!” rief.
“Lasst voneinander ab! Es soll nicht unnötig das Blut eines der unseren vergossen werden!”
Der Dorfälteste ging hin und trennte die zwei voneinander.
“Was ist denn der Grund eures Streites?”, fragte er.
Da wiesen die beiden mit ihren Armen stumm auf Ida, die im Kreise stand und dem Geschehen mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen zugesehen hatte. Als nun auf sie gezeigt wurde und die Augen aller Umstehenden sich auf sie richteten, lief sie purpurrot an, wandte sich um und lief fort.
Der Dorfälteste ermahnte die Kampfhähne, jetzt Frieden zu bewahren und das Fest nicht weiter zu stören. Die anderen aber forderte er auf, das Ganze zu vergessen und weiter zu feiern. Er werde sich um die Sache kümmern.
Hella eilte nach Hause und hoffte Ida dort zu finden. Glücklicherweise war sie dort. Sie saß in ihrem Zimmer in einer Ecke und weinte.
“Was ist denn los, Ida?”, fragte Hella, “Was ist geschehen?”
“Ich weiß nicht. Es war eigentlich alles schön. Erst war ich mit Sarulf zusammen, später mit Rudolf. Und gerade als ich mit Rudolf tanzte, kam Sarulf und fing an zu streiten. Er meinte, ich gehöre ihm.”
“Wie kann er das meinen?”
“Na ja, ich habe halt … “
“Was hast du?”
“Ich habe mit ihm geschlafen, vor etwa zwei Wochen.”, antwortete Ida, immer noch weinend.
“Und wieso hat Rudolf nicht nachgegeben? Er ist ja sonst nie an Streit interessiert.”
“Er meinte halt auch, ich gehöre ihm.”
“Und warum meinte er das? Hast du etwa mit ihm auch …?”
“Ja, letzte Woche!”, stieß Ida schluchzend hervor.
“Oh, Ida! Was tust du? Das kannst du doch nicht machen! Du kannst doch nicht die Männer hier gegeneinander aufbringen!”, schimpfte Hella.
Und nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, sagte sie:
“Du kannst hier nicht bleiben, Ida. Du musst wieder zurück, nach Hause!”
Ida war todunglücklich darüber, dass sie fortgehen sollte. Als aber am nächsten Morgen der Dorfälteste erschien und sie ebenfalls aufforderte, das Dorf zu verlassen, hatte sie gar keine andere Wahl.
Ida verließ unter Tränen diesen Ort, den sie so liebgewonnen hatte. Hella ermahnte sie, vorsichtig zu sein auf dem Wege. Da keiner von den Männern im Dorf bereit gewesen war, Ida auf die andere Seite des Sees zu fahren, von wo der Weg hinauf in das Gebirge führte, bat Hella ihren Mann, ihr diesen Gefallen zu tun. Guntwin
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1668-6
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