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Frauentag im Wellnesszentrum

In den letzten zehn Jahren hatte ich so meine Erfahrungen gemacht, als Frau, die versucht in einer von Männern besetzten Branche Karriere zu machen. Nach dem Studium verschiedener wirtschaftswissenschaftlicher Fächer versuchte ich einen Job als Geschäftsführerin zu ergattern, aber bei den wirklich interessanten Betrieben war das so gut wie ausgeschlossen. Immer wurden mir irgendwelche Männer vorgezogen, obwohl ich große Zweifel hatte, dass sie besser qualifiziert waren als ich. Mein Verhältnis zu Männern war überhaupt sehr von Skepsis geprägt, auch privat waren meine Erfahrungen nicht die besten. Ohnehin hatte ich mich schon seit langem als bisexuell definiert und war genauso gern bereit, eine Beziehung mit einer Frau einzugehen, wie mit einem Mann. Für mich war die Persönlichkeit entscheidend, also ob mein Partner oder meine Partnerin reflektierte Menschen waren und ob sie bereit waren, ihr kleines Ich zuweilen zurückzustellen und über den Horizont ihres egozentrischen Daseins hinwegzuschauen. Aber solchen Menschen begegnete ich selten.

 

Bei den Dates benutzte ich ein Register verschiedener Testfragen, um herauszufinden, ob mein Gegenüber sich politisch informierte, welche Einstellung er hatte und ob er die Not anderer Menschen sehen konnte. Wenn jemand von diesen Dingen keine Ahnung hatte oder mit irgendwelchen festgefahrenen Meinungen daherkam oder überhaupt offenbar nur an sich oder seine Karriere dachte, dann ging bei mir schon ein Vorhang runter. Dann gab es garantiert kein zweites Treffen mehr.

 

Damals, kurz vor dem Abitur, hatte ich mein erstes gleichgeschlechtliches Verhältnis gehabt, nämlich mit einem Mädchen aus meiner Klasse, Jasmin. Wegen ihrer Schönheit war sie von den Jungen an der Schule heiß umworben, außerdem hatte sie sehr reiche Eltern, und manch einer von den Jungen erhoffte sich wohl hier eine glänzende Partie. Ich schaute anfangs dem Treiben belustigt zu, stellte mir aber dann nach einer Weile die Frage, warum alle Jungen, die versuchten, sich an sie ranzumachen, bei ihr abblitzten. Bald sollte ich erfahren, warum. Wir waren eine Gruppe von Mädchen, die sich auf das Abitur vorbereiteten, indem wir uns zu Hause trafen und verschiedene Aufgabenstellungen durchgingen. Da ich die Beste in Mathematik war, hielten sich viele an mich, um das Nötige zu lernen, das sie durch die Prüfung bringen konnte.

 

An einem Abend waren Jasmin und ich schließlich allein, und während ich versuchte, Jasmin eine Aufgabe zu erklären, legte sie plötzlich ihre Hand auf meine Hand. Ich war noch nie von einem Mädchen so berührt worden, und das erzeugte plötzlich Gefühle in mir, die mir unbekannt waren. Ich schaute in Jasmins schönes Gesicht, in ihre dunkelblauen Augen, betrachtete ihren lächelnden Mund, ihre wohlgeformten, vollen Lippen, und bekam Lust, sie zu küssen. Aber ich zögerte.

 

Jasmin schaute mich liebevoll an und ahnte wohl, was in mir vorging. Dann kam sie mit ihrem Gesicht langsam näher, legte vorsichtig ihre Lippen auf meine Lippen, und in dem Moment war es mir, als würde ein warmer Strom von unseren Mündern nach unten fließen. Ich fühlte in meinem Schoß eine Welle von Wärme und Verlangen, die den ganzen Unterleib ergriff, sich aber dann zwischen meinen Beinen konzentrierte. Ich fühlte, was ich bei einem Mädchen nie zuvor gefühlt hatte, nämlich, dass ich sie haben wollte, hier und jetzt.

 

Und ich bekam sie. Die Liebesnacht mit Jasmin war voller Zärtlichkeit, aber auch voller Leidenschaft. Ich hatte die Empfindung, mich in einer Weise hingeben zu können, wie ich es bei einem Jungen nie hätte tun können. Es war wohl das Vertrauen, das sich zwischen uns entwickelt hatte und das bewirkte, dass alle Arten von Barrieren niedergerissen wurden.

 

Diese Nacht war ein unvergessliches Erlebnis, mein erstes Erlebnis mit einer jungen Frau, die sich ausdrücklich als Lesbe definierte, und es blieb nicht bei dem einen. Doch nach dem Abitur zog sie fort. Sie ging ins Ausland, um dort eine Ausbildung zu machen, während ich nach Hamburg ging, um mit Wirtschaftswissenschaft anzufangen. Dadurch verloren wir uns aus den Augen. Jede von uns war viel zu beschäftigt, um den Kontakt aufrechterhalten zu können, und, na ja, man wird halt erwachsen und schaut auf die Gefühle seiner Jugend wie auf etwas, was nicht ganz gilt, was gewissermaßen nur Ausdruck eines unsicheren Suchens war, halt eine Jugendliebe.

 

Jetzt, wo ich schon auf die Dreißiger in meinem Leben zuging, fühlte ich allmählich so etwas wie eine Torschlusspanik. Immer noch hatte ich niemanden gefunden, mit dem ich hätte zusammenleben wollen, weder eine Frau, noch einen Mann. Lag das an mir? War ich nicht attraktiv genug? Oder war ich zu anspruchsvoll?

Das erste würde ich verneinen, denn wenn ich mich im Spiegel betrachtete, war ich durchaus zufrieden mit dem Bild, das sich mir bot: Marion, eine junge Frau mit einem hübschen Gesicht, langen, schwarzen Haaren, eine schöne, weibliche Figur, eher schlank, als füllig, aber nicht von der krankhaften Magerkeit der Models, die man in den Modezeitschriften sieht.

Was das zweite betrifft, Ansprüche, ja, die stellte ich schon. Und die wurden mit der Zeit grösser, besonders nachdem ich eine Anstellung als Geschäftsführerin bekommen hatte in der Organisation „Cohabite“, welche Flüchtlingen hilft, Unterkunft und Arbeit zu finden, und welche auch Öffentlichkeitsarbeit betreibt, um auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam zu machen. In diesem Job bekam ich so viel zu sehen, das mich tief erschütterte, so viele konkrete Schicksale von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren, und zugleich so wenig Bereitschaft von Seiten unserer Gesellschaft, diesen Menschen zu helfen oder an den zugrundliegenden Problemen zu arbeiten, dass ich allmählich zu einer erbitterten Gesellschaftskritikerin wurde. Wenn ich je einen Partner oder eine Partnerin würde haben können, so musste das jemand sein, der sich von den Konventionen dieser Gesellschaft befreit hatte, der nicht sein Lebensziel in Eigenheim, Auto und Reisen sah, sondern jemand, der selbstkritische Fragen stellen konnte und dem das Wohlergehen fremder Menschen genauso wichtig war wie sein eigenes.

 

Es überraschte mich sehr, als ich plötzlich einen Anruf von Jasmin bekam. Als ich ihre Stimme hörte, war es mir, als ob sofort die alten Gefühle wieder aufflammten. Ich vergaß, dass inzwischen zehn Jahre vergangen waren, und befand mich plötzlich, angesichts der Möglichkeit, sie wiederzusehen, wie in einer Art erotischer Vorfreude. Leider wohnte sie in München, ich in Hamburg, und das Wiedersehen würde einige Organisation erfordern. Wir einigten uns schließlich darauf, uns auf halbem Wege zu treffen, nämlich in Berlin. Sie sagte, sie wolle sich um die Hotelzimmer kümmern, außerdem hätte sie noch eine Überraschung für mich, aber die würde ich erst an Ort und Stelle erfahren.

 

In den folgenden Wochen, der Zeit bis zu unserem Wiedersehen, war ich einem Wechselbad von Gefühlen ausgesetzt: Erotik, Ekstase, Angst, alle drei in stetem Wechsel. Würde sie denn noch so sein wie früher? Würden wir an die Gefühle von damals anknüpfen können? Was, wenn ich ihr nun nicht mehr gefiel? Oder vielleicht hatte sie eine Partnerin und war besetzt, und wir würden nur im Restaurant sitzen und reden und hatten gar nicht die Freiheit, uns so zu lieben wie damals! Ich beschloss, überhaupt nichts vorauszusetzen, sondern das Ganze so anzugehen, als ob wir uns zum ersten Mal sehen würden. Schließlich waren zehn Jahre vergangen, jede von uns hatte sich sicherlich verändert, und falls wir unsere Beziehung fortsetzen wollten, so mussten wir sie neu erfinden.

 

Der Tag war gekommen, an dem wir uns in Berlin wiedersehen sollten. Jasmin hatte mir mitgeteilt, dass wir uns im „Café Einstein“ treffen sollten, weil unsere Unterkunft in der Nähe läge. Schon vor dem verabredeten Zeitpunkt traf ich dort ein. Es war ein schönes Café mit ruhiger Atmosphäre, in dem ich mich sofort sehr wohl fühlte. Nach einer Weile kam sie herein. Ich war erstaunt über ihre Erscheinung. Es sah so aus, als ob sie grösser geworden wäre und schlanker, überhaupt damenhafter. Ihr Outfit sah sehr edel aus. Ich kam mir ein bisschen „underdressed“ vor, weil ich kaum Gedanken darauf verschwendet hatte, wie ich erscheinen sollte. Ich dachte, sie muss mich nehmen, wie ich bin, und ich bin nun mal jemand, der keine Lust hat, die Extravaganzen der Mode mitzumachen. Ihr Kostüm aber, oder wie man das nennen sollte, was sie anhatte, war offenbar ein edles Stück von „Dolce & Gabbana“. Am meisten aber nervte mich die Tasche, die von der Marke „Gucci“ war. Dieses ganze Theater mit der teuren Markenkleidung war mir zutiefst fremd. Ich hatte nur Jeans an und ein weißes T-Shirt, und die Tasche, die meine Sachen enthielt, war eine alte, braune Stofftasche, die ich mal von meinem großen Bruder geerbt hatte.

Ich stand auf, um sie zu begrüßen. Wir umarmten uns herzlich, und sie drückte mir einen Kuss auf die Wangen. Dann redete sie gleich los:

„Ach, ist das herrlich, dich wiederzusehen. Du siehst gut aus, Marion. Wie geht es dir?“

Aber ich kam gar nicht dazu, drauf zu antworten, denn sie plapperte gleich weiter:

„Weißt du, ich habe folgendes gedacht. Ich meine, du hast mir ja überlassen, was wir heute machen, und das ist gut so, denn jetzt kommt die Überraschung, die ich für dich habe: Ich habe für uns einen halben Tag im Wellnesszentrum bestellt, denn heute ist dort Frauentag. Da können wir uns richtig erholen und entspannen, und dann können wir uns unterhalten und uns alles erzählen, was wir so erlebt haben die letzten Jahre. Einverstanden?“

„Wellnesszentrum, du meinst sowas mit Spa und so?“

Ich muss gestehen, dass ich noch nie in so einem Wellnessding drin gewesen war. Dafür mein Geld auszugeben, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Na ja, aber in Anbetracht dessen, dass es hier um das Feiern eines Wiedersehens ging, konnte ich das ja schon mal mitmachen. Ich nickte also und tat so, als ob ich mich freute.

 

Wir saßen nicht allzu lange im Café. Immerhin gelang es mir während dieser halben Stunde, herauszufinden, dass Jasmin als Reiseleiterin arbeitete und dass sie offenbar schon viel in der Welt herumgekommen war. Na, der Beruf passte zu ihr. Sie sah sehr gut aus, und die Touristen waren sicherlich mindestens so sehr an ihr interessiert wie an den Sehenswürdigkeiten, die sie präsentierte.

 

Wenig später betraten wir, in weiße Bademäntel gehüllt, den Innenraum des Wellnesszentrums. Es handelte sich um eine recht große Halle mit mehreren Bassins und zahlreichen Seitenräumen, wo Wellness auf verschiedenste Weise praktiziert wurde. Es gab Massageräume, Saunen aller Art, Solegrotten, Ruheräume und vieles mehr. Durch die zahlreichen Kaskaden und Fontänen, wo das Wasser in allen Richtungen spritzte, plätscherte und blubberte, herrschte in der Halle eine dichte und feucht-warme Atmosphäre, etwa so wie man es sich im Dschungel vorstellt. Selbst der Bademantel wurde sofort als zu warm empfunden, weshalb viele Frauen ihn auch bereits abgelegt hatten und nackt durch die Halle spazierten.

 

„Jetzt gönnen wir uns erst mal eine Massage“, schlug Jasmin vor.

„Du bestimmst das Programm“, antworte ich, „ich wüsste ohnehin nicht, womit ich hier beginnen sollte.“

 

Sekunden später befanden wir uns in einem separaten Raum, wo zwei erhöhte Massagebänke standen. Jasmin nahm ihren Bademantel ab und legte sich auf die eine der Bänke. Ich zögerte einige Sekunden. Jasmins plötzliche Nacktheit war so etwas wie ein Schock für mich. Immerhin hatten wir uns zehn Jahre nicht gesehen, und eine solche Intimität wie diese hier konnte sie nicht so einfach zwischen uns voraussetzen. Aber ich hatte keine Wahl. Dieses Spiel musste ich mitmachen, obwohl ich es als unbehaglich empfand. Jasmin hatte sich auf den Bauch gelegt, also tat ich es ihr nach. Den eintretenden Masseusen die Rückseite zu zeigen, war nicht so schwierig, als wenn ich mich gleich zu Beginn auf den Rücken hätte legen müssen.

 

Die junge Frau, die mich massierte, war sehr sympathisch, und ich empfand ihre Hände auf meinem Rücken als sehr angenehm. Ich muss gestehen, als sie dazu überging, meinen Po zu massieren, waren die entstehenden Gefühle mehr als angenehm. Irgendwann mussten wir uns umdrehen. Das empfand ich als den zweiten Akt der Entblößung, und mein Inneres schwankte zwischen Scham und Exhibitionismus. Allmählich begann die zweite Art von Empfindung zu überwiegen, und als die Hände der Masseuse weiter nach unten wanderten und meine Oberschenkel bearbeiteten, war das unbestreitbar erotisch.

 

Von allem, was mir währenddessen Jasmin von ihrer beruflichen Tätigkeit erzählte, bekam ich nicht sehr viel mit. Nur als sie Dubai erwähnte, wo sie neulich eine Woche zugebracht hatte, horchte ich auf. Denn Dubai war für mich eine neokapitalistische Metropole, die auf der Ausbeutung der Erde und der Menschen basierte, und ich hatte kein Verständnis für Leute, die mit einer gewissen Faszination von ihrem Aufenthalt in Dubai erzählten.

 

Nach etwa einer Viertelstunde war die Massage beendet, und fast bedauerte ich, die Hände dieser sympathischen Masseuse nicht länger auf meinem Körper fühlen zu können. Aber der nächste Punkt stand auf dem Programm, und das war Schwimmen.

 

Jasmin stürzte sich mit einem eleganten Kopfsprung in das nasse Vergnügen. Kopfsprünge waren allerdings noch nie meine Sache gewesen. Außerdem wollte ich erst die Temperatur des Wassers testen und benutzte daher die vorhandene Leiter, auf welcher ich vorsichtig hinabstieg. Das Wasser war allerdings so warm, dass es keine Überwindung kostete, hineinzutauchen.

 

Inzwischen war Jasmin schon etliche Meter voraus und begann, in einem sehr professionell wirkenden Kraulstil die gesamte Länge des Bassins Runde um Runde zu durchmessen. Ich begnügte mich mit ruhigem Brustschwimmen, denn immerhin hatten wir uns nicht zum Training hier eingefunden, sondern zum Zweck der Entspannung.

 

Zehn Minuten später tauchte Jasmin, schwer atmend, neben mir auf und sagte:

„Komm, jetzt haben wir uns genug angestrengt. Jetzt zeig ich dir mal mein kleines Geheimnis.“

Ich folgte ihr schwimmend durch verschiedene Kanäle in ein anderes Bassin, wo Kaskaden, Fontänen und Düsen das Wasser so in Bewegung und Aufruhr brachten, dass man den Boden des Bassins fast nicht sehen konnte. Jasmin führte mich zu einer Reihe von Düsen, die sich an einer der Seitenwände befanden und etwa sechzig Zentimeter unter der Wasseroberfläche das Wasser mit starkem Druck herauspressten.

 

„Stell dich mal so hin!“ sagte sie zu mir und machte es mir vor. Sie stand, der Wand zugewandt, in etwa einem halben Meter Abstand davor und ließ sich von dem Wasserstrahl massieren, wobei sie offenbar nach einer Weile die optimale Stellung gefunden hatte.

„Ich sag dir, niemand kann das besser“, sagte sie, leicht stöhnend, „probiere es mal.“

 

Ich verstand allmählich, worauf das hinauslief, und brachte mich ebenfalls vor einer dieser Düsen in Position. Zugegeben, es war ein sehr intensives Gefühl, welches dieser Wasserstrahl in meinem Unterleib erzeugte, aber jetzt hier zum Orgasmus zu kommen, wo wir doch nicht ganz ungestört waren und wo jederzeit irgendeine andere Frau schwimmend vorbeikommen konnte, erschien mir dann doch nicht ganz passend.

 

Jasmin hingegen hatte keine Bedenken und, wie ich an ihrem verzückten Gesicht, ihren geschlossenen Augen und ihrem heftigen Atem erkennen konnte, hatte sie binnen kurzem ihren Höhepunkt erreicht.

„Nun, war das nicht herrlich?“ sagte sie anschließend lächelnd zu mir.

„Herrlich!“ pflichtete ich ihr bei und hoffte, dass sie den Mangel an Überzeugung in meiner Stimme nicht bemerken würde. Aber das Geräusch des sprudelnden, zischenden und plätschernden Wassers auf allen Seiten ließ ohnehin keine Feinheiten der Kommunikation zu.

 

„Jetzt sind wir reif für die Sauna!“

Das war Jasmins Kommando, die nächste Stufe der Wellness zu erklimmen, wobei sich in mir, ohne es zugeben zu wollen, allmählich eine Art Widerstand gegen diese Zwangsentspannung aufbaute.

 

Als wir die Sauna betraten, saß dort etwa ein Dutzend nackter Frauen. Diese geballte Fleischlichkeit erzeugte in mir unwillkürlich eine Abwehrreaktion. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht. Aber Jasmin zog mich gnadenlos dort hinein. Es war unerträglich, nicht nur die Hitze, sondern auch der schweißgeschwängerte Dunst, der mich an irgendeinen unbestimmbaren Geruch erinnerte, sowie die Geräuschkulisse, die von den sich unterhaltenden Frauen erzeugt wurde.

 

Wir bekamen noch einen Sitzplatz an der Seite, von wo aus ich eine Überschau über die zahlreichen Varianten weiblicher Formgebung hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich vor lauter Brüsten, Bäuchen und Schenkeln einzelne Individuen wahrnehmen konnte. Umgekehrt als in dem bekannten Sprichwort, sah ich vor lauter Wald keine Bäume mehr, das heißt, vor lauter Frau keine Frauen. Allmählich erst löste sich mein Blick von den Einzelheiten und ich sah die Personen, indem ich in dem allgemeinen Stimmengewirr einzelne Stimmen identifizierte und den Körpern zuordnete. In meiner Nähe saß ein jüngeres Paar, wovon die eine lässig ihr Bein auf die Sitzbank gestellt hatte, während das andere auf dem Boden stand. Dadurch hatte ich freien Blick auf die zarte Spalte zwischen ihren Beinen. Ich betrachtete die junge Frau etwas näher. Sie war durchaus eine Schönheit, wobei ihr weißer Teint und ihr schwarzes Haar in einem auffälligen Kontrast standen. Ich musste sofort an „Schneewittchen“ denken. Sie war wohlgeformt und hatte kleine, mädchenhafte Brüste. Sie gefiel mir. Ich versuchte, dem Gespräch zwischen den beiden zu lauschen, konnte aber nur einzelne Fetzen auffangen. Irgendwie war die Rede von einer dauerhaften Wimpernverlängerung, weil – wie die eine von den beiden bemerkte – das Wimpernankleben des Morgens so viel Zeit in Anspruch nähme. Sie hätte deswegen schon mit ihrem Mann Probleme bekommen, weil er morgens nicht rechtzeitig ins Bad käme. Die andere erwähnte daraufhin eine neue Technik, sogenannte „OneByOne Lash-Extensions“. Die würden dann sechs Wochen halten. Von diesem Thema kamen sie dann weiter auf irgendwelche „flesh tunnels“ zu sprechen und ob diese an den Ohren wieder zuwachsen würden. Allmählich begriff ich, dass hier von Piercing die Rede war, eine Sache, die ich verabscheute.

 

Überhaupt, zu Make-up hatte ich ein sehr kritisches Verhältnis. Für mich war das Schminken eine Form der Lüge. Schade, dass mein Schneewittchen nicht begriff, wie schön sie war, auch ohne alle diese künstlichen Verschönerungsmaßnahmen. Ich hätte sie reizend gefunden, wenn sie nicht diese Oberflächlichkeit an den Tag gelegt hätte, die sich in ihrem Geschwätz über künstliche Wimpern und Piercing zeigte.

 

Mein Blick wanderte zu den anderen Frauen hin, großen und kleinen, üppigen und mageren. Eines Tages würden alle diese Körper im Grabe liegen. Da halfen kein Make-up, kein Mascara, keine künstliche Bräunung, kein Silikon, kein Fitness-Training, kein Spa und keine noch so teuren Kleider von Dolce & Gabbana oder Bottega Veneta, mit denen man seine körperlichen Unzulänglichkeiten bedecken konnte. Am Ende würden sie alle die Erde von unten ansehen. All die Stunden, die diese Frauen vor dem Spiegel zu Hause, im Fitness- und Wellness-Zentrum, in den Modehäusern und Boutiquen verbracht hatten, was hatten sie ihnen am Schluss eingebracht? Waren sie davon glücklicher geworden?

 

Ich dachte an meine armen Flüchtlinge, sah das Bild einer weinenden Frau aus Eritrea vor mir, die ihr Leben riskierte, um in einem unsicheren Boot über das Mittelmeer zu gelangen, auf der Flucht vor Diktatur und Unterdrückung, in der Hoffnung, in Europa ein sicheres und würdiges Leben führen zu können. Es gab so viele arme Menschen auf der Welt, die nichts hatten als ihr nacktes Leben, das sie einsetzen mussten in diesem ungerechten Spiel, wo die Reichen stets gewinnen und die Armen stets verlieren. Plötzlich wurde mir schlecht und ich musste die Sauna verlassen.

 

Marion stürzte mir nach und fragte:

„Hat es dir nicht gefallen da drinnen?“

„Doch, doch“, antwortete ich „es war mir nur zu heiß.“

„Dann lass uns doch in den Ruheraum gehen. Da kannst du dich erholen.“

Dem stimmte ich zu.

 

Im Ruheraum herrschte tatsächlich eine angenehme Stille. Wir waren zunächst die einzigen darin. Es roch nach einem würzigen Aroma, welches eine erfrischende Wirkung auf mich hatte, besonders nach dieser eigentümlichen Geruchserfahrung in der Sauna. Eine Wand dieses Raums war mit Mosaiken ausgelegt, und ein Projektor warf verschiedene Farben auf diese Wand, so dass immer wieder andere Figuren des Mosaiks, je nach Farbe, hervorgehoben wurden. Das war schön anzusehen.

 

Doch kurz darauf kam eine Frau herein und legte sich auf eine der Liegen vor uns. Sie hatte Tätowierungen auf ihrem Körper, an den Beinen, an den Armen und über ihren Brüsten. Das Arschgeweih über ihrem Po durfte natürlich auch nicht fehlen. Ich wusste nicht, was die eintätowierten, verschlungenen Figuren auf ihrer Haut darstellen sollten, vielleicht langobardische Flechtmuster oder eher Würmer, die sich ineinander verknäuelten, nein, ich wusste es nicht. Auf jeden Fall wiederholte sich auf ihrer Haut dasselbe Spiel wie an der Wand, indem je nach Farbe, in welche der Raum getaucht wurde, mal der eine Wurm, mal der andere hervorgehoben wurde. Je länger ich hinschaute, desto lebendiger erschienen mir die Würmer, die mal hier, mal dort auftauchten und andere unter sich schlangen. All das farbige Geschlängele und Gewürme wurde mir schließlich so widerwärtig, dass ich den Blick gewaltsam abwenden musste.

 

Ich verstand beim besten Willen nicht, warum Menschen sich ihre Körper mit diesen hässlichen Tätowierungen verschandelten. Es konnte nur durch einen totalen Mangel an ästhetischem Sinn oder einen totalen Verlust des Gefühls für alles Natürliche erklärt werden.

Es ist mit den Körpern wie mit der Erde: Wenn der Mensch erst Hand anlegt, verschandelt er beides. Die Erde wird ausgeraubt und zerstört, die Körper werden verunziert, deformiert und entstellt. Arme Menschheit!

 

„Lass uns gehen!“ sagte ich schließlich.

„Ja, es ist vielleicht an der Zeit, einen kleinen Bissen zu sich zu nehmen. Ich verspüre nämlich Hunger. Lass uns also gehen!“

 

Inzwischen war es Abend geworden. Ich rechnete damit, dass wir nun in irgendein Restaurant gehen würden, aber nein, Jasmin meinte, wir sollten uns erst unsere Unterkunft anschauen.

 

Wir hatten nicht sehr weit zu gehen, da standen wir vor einem der ehrwürdigen Häuser, wie sie in Berlin-Schöneberg üblich sind. Aber ein Hotel war es nicht.

 

„Hier wohnen wir!“ sagte Jasmin lächelnd, als sie bemerkte, dass ich unschlüssig stehen blieb. „Komm!“

Das Ganze erschien mir rätselhaft, aber ich folgte ihr gehorsam.

 

Eine Minute später öffnete sie in dem ersten Stock dieses Hauses die Tür zu einer Wohnung.

„Wo hast du die denn her?“ fragte ich.

„Es ist eine Ferienwohnung“, antwortete sie, „ich dachte, zwei separate Hotelzimmer, das wäre doch merkwürdig gewesen in Anbetracht dessen, dass wir Freundinnen sind. Ich geh jetzt in die Küche und mach uns was Schönes zu essen. Schau dich solange um!“

 

Sehr viel sich umzuschauen gab es allerdings nicht. Von dem schmalen Korridor, der gerade groß genug war, um sich seiner Jacke und seiner Schuhe zu entledigen, gelangte man zu meiner Überraschung direkt ins – es war nicht zu glauben – ins Schlafzimmer. Es war ein kleiner Raum, der fast vollständig von einem Doppelbett ausgefüllt wurde. Es blieb ein schmaler Gang neben dem Bett, welcher zur Küche hinführte.

 

Ich stand am Rande des Bettes und traute meinen Augen nicht. Da hatte sie also statt zweier Hotelzimmer diese Ferienwohnung hier gemietet, die aus fast nichts anderem bestand als diesem Doppelbett. Hier hieß die Botschaft also: Hinein ins Bett und fick mit mir!

 

Aber das war doch eine Okkupation. Hier hätte sie doch erst meinen Konsens einholen müssen! Sie konnte doch nicht einfach voraussetzen, dass ich nach zehn Jahren, die wir uns nicht gesehen hatten, nicht die geringsten Hemmungen haben würde, mit ihr ins Bett zu gehen. Ich war empört. Das war schlicht eine Frechheit. Welche Ahnung hatte sie von menschlichen Gefühlen? Glaubte sie, dass sie gewissermaßen ein ganzes Jahrzehnt konserviert werden konnten?

 

Ich wusste nicht, ob ich unmittelbar umkehren und die Wohnung verlassen sollte, oder ob ich meinen Missmut bekämpfen sollte und erst einmal mit Jasmin sprechen sollte. Ich entschied mich für das zweite. Der Grund war, dass wir eigentlich den ganzen Tag noch keine richtige Zeit gehabt hatten, miteinander zu reden. Weder wusste ich, wer sie war, noch wusste sie, wer ich war und was ich so trieb. Sie hatte den ganzen Tag nicht ein einziges Mal die Frage nach meiner beruflichen Tätigkeit gestellt! Einem solchen gegenseitigen Kennenlernen wollte ich doch wenigstens Raum geben.

 

Also begab ich mich in die Küche und setzte mich auf den einen von den zwei Stühlen. Da die Küche wirklich winzig war, passte dort nicht mehr hinein als ein Tisch und zwei Stühle. Die eine Wand war von einer kleinen Einbauküche in Anspruch genommen, die andere von einer Tür, die offenbar zum Bad führte.

 

Während Jasmin das Essen vorbereitete, kamen wir allmählich ins Gespräch. Was natürlich am allerwichtigsten war, war die Frage, ob wir gebunden waren oder nicht. Es zeigte sich, dass auch Jasmin gerade ihre letzte Beziehung beendet hatte und, wie sie sagte, auf der Suche war. Beim Essen stellte sie dann endlich die Frage, auf die ich schon lange gewartet hatte.

„Sag mal, was machst du eigentlich beruflich?“

„Ich bin Geschäftsführerin in „Cohabite“. Das ist eine Organisation, die Flüchtlingen hilft.“

„Hilft? Ja, in welcher Weise?“

„Wir helfen ihnen bei der Integration, also Papiere, Wohnung, Arbeit, eigentlich bei allem, was sie so brauchen.“

„Ja, ist das denn nicht schwierig. Kriegen die überhaupt eine Arbeit?“

„Das kommt darauf an, welche Ausbildung sie haben.“

„Na ja, die meisten lungern dann am Ende doch nur in Straßen rum. Sag mal, meinst du nicht, dass wir schon genug Immigranten in Deutschland haben?“

Als ich diese Frage hörte, musste ich erst mal schlucken.

„Tatsächlich glaube ich“, erwiderte ich, „dass wir noch nicht genug Immigranten haben. Du musst bedenken, dass es hochmotivierte Menschen sind, die die Not kennengelernt haben und die alles tun, um sich da herauszuarbeiten. Außerdem kommen sie oft aus Ländern, wo individuelles Unternehmertum viel höher geschätzt und auch üblicher ist. Weißt du, dass der Anteil Menschen, die eine unternehmerische Tätigkeit ausüben, in Bangladesh bei 75 Prozent liegt, in den USA aber nur bei 7,5 Prozent?“

„Ja, wenn das so ist, warum sind es dann so viele von diesen Ausländern, die unser Sozialsystem in Anspruch nehmen und weiter nichts tun?“

„Weil man sie nicht lässt. Weil unsere Gesellschaft so von Misstrauen gegen alles Fremde geprägt ist, dass man ihnen keine Chance gibt.“

 

Jasmin schwieg eine Weile. Dann sagte sie:

„Wenn das so wäre, wie du sagst, dann müsste es Bangladesh und ähnlichen Ländern ja ausgezeichnet gehen? Warum sind die Leute dann trotzdem so arm?“

„Weil Unternehmertum allein nicht ausreicht. Es muss Zusammenarbeit hinzukommen, damit größere Betriebe und Funktionseinheiten entstehen, und das wiederum setzt voraus, dass die Infrastruktur da ist, nicht nur die physische so wie Straßen und so, sondern auch die rechtliche und politische. Daran hapert es zumeist in diesen Ländern.“

„Dann sollen sie doch da aufräumen, statt einfach zu uns zu kommen und unsere Asylantenheime zu füllen.“

Ich schaute sie an und wunderte mich. Dann machte ich einen letzten Versuch.

„Wenn du zum Beispiel in Eritrea leben würdest, Jasmin, einem Land, in dem ein gnadenloser Diktator herrscht, der sein Volk unterdrückt, manipuliert, ausspioniert und weder Wahlen, noch irgendeine Form von Opposition zulässt, wo die Leute für nichts in Gefängnisse geworfen werden, wo sie gequält und gefoltert werden, dann würdest du auch fliehen.“

„Ach, Marion, wir können doch nicht allen helfen. Wir müssen selber sehen, wie wir zurechtkommen, und die müssen sehen, wie sie zurechtkommen. Ich finde nicht, dass ich eine Verantwortung habe für das, was in Bangladesh, Eritrea oder sonst wo geschieht.“

„Natürlich hast du eine Verantwortung. Mit jeder deiner Handlungen bewirkst du irgendwas. Indem du zum Beispiel so eine Scheiß Tasche von Gucci kaufst oder so einen Fetzen von Dolce & Gabbana, unterstützt du nur die kapitalistische Ideologie, die besagt, dass einige reich sein und immer reicher werden müssen, damit der Armut in einem Land entgegengewirkt werden kann. Deutschland ist ein Paradebeispiel für eine ungerechte Steuerpolitik. Die größte Steuerlast tragen die unteren Schichten, während die Reichen mit einem Bruchteil dieser Steuerlast davonkommen.“

„Ich hab nichts dagegen, dass es Reiche gibt, solange es mir einigermaßen gut geht und ich mir ab und zu was leisten kann. So eine Tasche von Gucci ist doch ein unschuldiges Vergnügen.“

„Das ist kein Vergnügen, das ist ein Krampf. Du kaufst diese Tasche aus demselben Grund wie alle anderen, nämlich weil diese fünf Buchstaben da drauf stehen und nicht weil sie schön oder praktisch ist.“

„Ach, komm“, sagte Jasmin beschwichtigend, „lass uns nicht anfangen zu streiten. Wir sind doch aus einem ganz anderen Grund zusammengekommen. Freundschaft kann auch bestehen, wenn man verschiedene politische Meinungen hat, nicht wahr? Und …“ dabei legte sie ihre Hand auf meine, so wie damals bei unserer ersten Begegnung, „das einzige, was zählt, ist doch die Liebe, oder?“

 

Sie stand auf, umarmte mich und küsste mich zärtlich auf den Mund.

Dann ging sie zu dem Doppelbett und zog sich langsam aus, während sie immer wieder zu mir hinüberschaute.

Mein Herz begann zu klopfen. In meinem Kopf lieferten sich der Verstand, die Zuneigung und die Erotik einen heftigen Kampf. Kurz darauf lag Jasmin nackt auf dem Bett und bot mir die ganze unverhüllte Schönheit ihres Körpers dar.

Ich konnte nichts mehr denken. Ich konnte nur noch meinen Füssen folgen. Diese führten mich an dem Doppelbett vorbei durch den schmalen Korridor zum Ausgang. Ich sprang die Treppe hinunter, dann hinaus ins Freie und atmete erst einmal tief durch.

„Nein, sie ist es nicht“, dachte ich, „soll sie mit ihrem Wellness-Quatsch und ihrer Gucci-Tasche glücklich werden. Aber ohne mich!"

 

Und wieder war ich frei.

 

© JHD Spreemann 2015

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2015

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