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Diesmal half selbst Ritzen nichts. Nerai legte das Messer weg und betrachtete ihren geschundenen Arm. Das Blut quoll aus den Schnittwunden. Egal wie tief sie schnitt, ihre Gefühle blieben unverändert: sie fühlte rein gar nichts. Sie war leer, leer und langweilig. Für niemanden etwas Besonderes. Sie schlug mit der flachen Hand gegen die Toilettenwand des Mädchenklos. Mit dem Blut von ihrem Arm schrieb sie ´ICH HALTE DAS NICHT MEHR AUS` an die dreckige Wand. Lange starrte sie auf die Schrift. Oh verdammt, warum fühlte sie sich so taub, wie eine Puppe? Und wie lange verließ dieses Gefühl sie nicht, war ihr ständiger unerwünschter Begleiter? Ewig lange, zu lange! Sie verhielt sich immer seltsam still. Und warum? Wegen diesem verhassten Gefühl, das immer in ihr war, ja sie selbst war. Eine Zeit lang hatte sie Drogen genommen. Dann war es zwar kurz besser, nur um danach stärker den je zurückzukehren. Nein, dieses Gefühl wollte sie nicht verlassen, es wollte sie quälen, sie zerreißen und zerstören...
„Ich gebe ... mich geschlagen. Du hast ... gewonnen!“, stieß sie leise wimmernd hervor und Tränen, Tränen, die sie selbst nicht wahr nahm in ihrem Schmerz, rannen ihr über die Wangen.
Sie stand langsam auf. In den Unterricht würde sie ganz bestimmt nicht zurückgehen. Allein schon wegen ihrem blutenden Arm hätten alle nur lästige Fragen gestellt. Sie wusste wohin sie gehen würde.
Sie verließ das Schulgebäude und fuhr mit der Bahn in die Innenstadt. Alle starrten auf ihren blutdurchtränkten Pullover. Ja, schaut nur, dachte sie verbittert, das ist schließlich das erst und auch das letzte mal, dass ihr mich wahrnehmt. Dann war sie da. Vor ihr ragte ein riesiges Hotel auf. Sie wickelte sich ihren weißen Schal wie eine Schlinge um ihren blutenden Arm und trat in die Empfangshalle ein.
Mit einem lieben, verzweifelten Lächeln wartete sie bis die Frau hinter dem Schreibtisch den Hörer beiseite legte. In dieser Zeit konnte sie einen Blick auf das Buch mit den Personen, die hier ein Apartment gemietet hatten, werfen.
Sie merkte sich Gabriela Fahlbrook, Zimmer 456.
„Guten Tag. Ich habe meine Mutter in der Stadt aus den Augen verloren. Sie heißt Gabriela Fahlbrook und trug mir auf in einem solchen falle in unserem Apartment zu warten. Leider habe ich keine Schlüssel.“
Die Frau musterte Nerai misstrauisch und sagte schließlich: „Okay, Mikel wird dir mit einem Ersatzschlüssel das Zimmer aufschließen.“
„Dankeschön“, erwiderte sie höflich, doch in ihrem Inneren fühlte sie nichts, nur diese vertraute taube Leere.
Nerai wollte Mikel gerade folgen als die Frau ihr hinterher rief: „Schätzchen, ich habe ganz vergessen zu fragen wie du heißt!“
Ohne zu zögern antwortete Nerai: „Mein Name ist Myra.“
Dann ging sie mit Mikel bis zu Zimmer 456 und trat ein. Es war noch nicht hoch genug. Sie wartete fünf Minuten, dann schlüpfte sie wieder hinaus und sah sich um. Links den Flur entlang befand sich ein Fahrstuhl, mit ihm fuhr sie auf das Dach des Hotels. Es war der neunte Stock. Sie war neun Jahre alt. Es ist Schicksal, dachte sie sich, ein trauriges Schicksal.
Auf dem Dach wehte ein kalter Wind. Sie löste den Schal und hielt ihn in der Hand. Schritt für Schritt ging sie immer dichter an das Geländer.
Ihr stockte der Atem angesichts der Höhe. Bebend lehnte sie sich gegen die Mauer und schnitt sich erneut in den Arm, neun Mal. Sie presste den Schal auf die Wunden damit er sich rot färbte. Weshalb wusste sie nicht.
Sie stellte ihre Schultasche ab. Nun war sie bereit.
Vorsichtig stieg Nerai auf das massive breite Steingeländer. Der Wind brachte sie ins Schwanken. Kurze Zeit stand sie so da. Doch das taube, leere Gefühl verließ sie nicht. Es haftet an mir, dachte sie.
Dann würde sie eben....
Noch bevor sie zu Ende gedacht hatte, verlor sie das Gleichgewicht.
...fallen!
Sie breitete die Arme aus und der Schal wehte hinter ihr her.
Niemals, niemals in ihrem Leben hatte Nerai etwas derartiges gefühlt. Ja, sie fühlte etwas. Dafür war es wert zu sterben. Nur für diese kurze Zeit hatte sie gelebt. Die Angst verließ sie und sie schrie vor Freude.
Unglaublich! Ich... bin glücklich!, dachte sie.
Der Boden kam rasend schnell näher. Schade, dass der Moment schon fast vorbei war. Die rauschende Luft trieb ihr Tränen in die weit aufgerissenen Augen.
Ich werde erlöst sein, versprach sie sich. Dann kam der Boden. Nerai prallte mit einer unglaublichen Wucht auf und war auf der Stelle tot.
Doch sie war glücklich gestorben...
Es war ein schöner Tod, besonderer Tod...
Denn für ihre Gefühle war sie bereit zu sterben gewesen....

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Tag der Veröffentlichung: 06.11.2010

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