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Geschafft!


Er hatte es endlich geschafft!
Der erste Durchbruch war ihm zwar schon vor ca. einem Jahr gelungen, aber jetzt hatte er es endgültig geschafft! Über ein Jahr lang hatte er Parameter definiert, wieder und wieder Testreihen durchlaufen lassen, und natürlich alles penibelst genau dokumentiert, um das ganze Projekt später seinen Fachkollegen und der Öffentlichkeit präsentieren zu können.
Das war vor zwei Wochen. Sicherheitshalber hatte er noch eine Testreihe angehängt, dann noch eine.
Sicherheitshalber…
Dann hatte er, so wie jede Woche, mit seinen Eltern in Indien telefoniert.
Und seither hatte Arjun Bhadraksh schlichtweg Angst. Angst um seine Erfindung, aber noch vielmehr Angst um sein Leben. Zu tief hatte es sich in sein Gehirn eingeprägt, wie es einem Berufskollegen von ihm ein paar Jahre zuvor ergangen war.
Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass "Besuch" da gewesen war. Vier unauffällig gekleidete "Beamte" waren bei ihm zu Hause aufgetaucht, hatten seinen Eltern irgendwelche Ausweise unter die Nase gehalten, und Informationen über ihn gesammelt. Sie machen sich also nicht einmal mehr die Mühe, verdeckt zu ermitteln, von welcher Behörde sie auch immer kommen.
Angefangen hatte das mit seiner Erfindung alles in Indien, wo er, Arjun Bhadraksh, zur Welt gekommen war, und wo er auch mit seinen Studien begonnen hatte. Er lehnte sich im Sessel zurück und überlegte, wann er eigentlich auf die Idee gekommen war den Raum zu krümmen, um dadurch große Entfernungen im Bruchteil einer Sekunde zu überbrücken. Der Auslöser war höchstwahrscheinlich diese Fernsehserie, die er sich vor einer halben Ewigkeit mit seinen Studienkollegen im Studentenheim der Universität Jawaharlal Nehru (JNTU) angesehen hatte. Da an der Universität vorwiegend Englisch unterrichtet wurde, hatte man sich köstlich über die indische Synchronisation amüsiert, wobei er jedoch viel mehr über die rustikalen Ideen der Sternreisenden von damals lachen musste.
Danach hatte es ihn nach Wien verschlagen, wo er seine Forschungen erstmals gezielt in diese Richtung lenkte. Und dafür von seinen Kollegen ausgiebig belächelt wurde. Wie lange war das her? Sieben Jahre? Acht?
Wie in Trance startete er die nächste Testreihe.
Hätte er gleich nach den ersten Erfolgen feiern sollen? Als es ihm gelungen war, richtige Gegenstände von einem Ort zum anderen zu teleportieren? Dann hätten sie sich alle an seine Fersen geheftet, all die Geier, denen es an Phantasie fehlte, ein derartiges Projekt selbst durchzuziehen. Und er wäre in der Öffentlichkeit bekannt geworden, zumindest einem kleinen, interessierten Kreis.
Aber noch wusste niemand davon, nur er und sein Assistent. Sam war es auch, der die ersten Bedenken in ihm geweckt hatte, ihn darauf hingewiesen hatte, wie grundlegend die Umwälzungen in der Gesellschaft sein würden. Und was das Militär mit seiner Erfindung alles anstellen könnte. Das Militär würde sich einfach nehmen, was es wollte und brauchte, es war nur die Frage, welcher Geheimdienst als erstes vor seiner Tür stehen würde.
Und ob er es überhaupt merken würde.
Die Kollegen im Forschungszentrum bezeichneten seine Arbeit als Beamen, was es aber nicht wirklich war. Beim Beamen wird ein fester Gegenstand in Energie umgewandelt, in seine Bestandteile zerlegt, dann mittels Funk übertragen, um danach anderswo wieder seine ursprüngliche Form anzunehmen (so die Theorie).
Das was er machte, bzw. woran er arbeitete, unterschied sich grundlegend davon. Er beschrieb es meistens damit, dass man durch eine Tür einen Raum verlässt, aber nicht im nächsten Raum wieder aus dieser Tür tritt, sondern fünf Räume weiter, oder fünf Gebäude, oder fünf Städte. Und die Zeit, die dabei verging, war nicht länger, als ob man nur in den nächsten Raum gegangen wäre.
Zu Beginn hatte er nur mit leblosen Gegenständen experimentiert, alles was ihm im Büro so untergekommen war, und mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Bauch war er dann dazu übergegangen, Lebewesen zu transportieren. Es verschaffte ihm eine unglaubliche Genugtuung, dass bei all diesen Experimenten niemals einem der Testtiere ein Schaden entstanden ist, und es sprach für seine Transportmöglichkeit, dass selbst bei den Langzeittests keinerlei Veränderungen an den Tieren bemerkt werden konnte.
Lange Zeit hatte er sich auch darüber den Kopf zerbrochen, was passiert, wenn am Zielort zu wenig Platz für einen vollständigen Transport ist. Verschmilzt der transportierte Körper mit den Gegenständen die im Weg sind? Oder verschwindet der Körper überhaupt im gekrümmten Raum?
Wie so oft hat ihm der Zufall geholfen und ihm eine langwierige Testreihe mit viel Kopfzerbrechen erspart. Er hatte sich beim Transport eines Kaffeebechers nicht einmal verrechnet, sondern war mit seinen Ziel-Koordinaten zu nahe an eine Vase geraten, die auf dem Tisch am Zielort im Nachbarlabor stand. Über die Auswirkungen war er ziemlich verblüfft, obwohl sie bei näherem Nachdenken durchaus logisch erschienen. Der Kaffeebecher kam postwendend zurück und fiel in seinem Labor von der Transporter-Plattform.
Natürlich war der Becher kaputt, was jedoch seiner Freude über die gewonnenen Erkenntnisse keinen Abbruch tat.
Das ganze Ereignis war umso erstaunlicher, weil es sich bei seiner Vorrichtung ausschließlich um einen Ein-Weg-Transporter handelte. Es war wie ein Fall von einem Stockwerk in ein darunter liegendes.
Wollte man den transportierten Gegenstand wieder zurückholen, ging dies nur wenn er auf die gleiche Weise von einem zweiten Transporter wieder zurücktransportiert wurde, man musste ihn wieder "Fallen" lassen
Das wirklich Überraschende daran war jedoch, dass der ganze Vorfall an der beteiligten Vase spurlos vorüber gegangen war. Um völlig sicher zu gehen, wiederholte er den Test wieder und wieder, variierte die Zielkoordinaten minimal, doch so lange für den transportieren Gegenstand nicht genug Platz vorhanden war kam er jedes Mal postwendend zurück.
Natürlich musste er auch richtige Rückschläge einstecken, wie jeder andere Forscher, der sich mit seinen Ideen auf Neuland wagt. An einen dieser Rückschläge konnte er sich noch sehr genau erinnern, der Schock von damals saß noch immer tief in seinen Knochen.

Langsam macht er sich Gedanken, welche Auswirkungen seine Entdeckung haben würde, und sofort fiel ihm ein Kollege ein, der vor ca. zehn Jahren einen Weg gefunden hatte, die Gravität zu umgehen, bzw. die Kräfte für sich zu nutzen.
In diese Entdeckung wurden von Beginn an sehr große Erwartungen gesetzt, und letztendlich musste er gestehen, dass diese Erwartungen noch übertroffen wurden. Gleichzeitig waren aber auch die Veränderungen in der Gesellschaft weit jenseits aller Vorstellungen.
Angefangen von naheliegenden Dingen wie dem Transport von Personen oder Gütern, hatten sich auch Bereiche wie die Energiegewinnung oder die Entsorgung von Problemstoffen sofort auf die neue Technik gestürzt, und auch aus dem gesamten Gesundheitswesen war Antigrav nicht mehr wegzudenken.
Und jetzt stand er kurz davor, der Menschheit erneut derartig grundlegende Änderungen aufzuzwingen, und zwar in Bereichen, die sich eben erst grundlegend geändert hatten.
Plötzlich wurde ihm übel, alles fing an sich zu drehen. Von welcher Organisation waren die Männer, die seine Eltern "besucht" hatten? Würde man zulassen, dass seine Erfindung sich ebenso etablierte wie Antigrav? Er wusste nur zu gut, wie viele gute Erfindungen im Erdöl-Zeitalter in diverse Schubladen verschwanden, und viele der Erfinder hatten nicht einmal das Glück, dass man ihnen ihre Erfindungen abkaufte.
Er war versucht seinen Kollegen Ismael Ushtinjov anzurufen und ihm alles zu erzählen, schließlich hatten seine Forschungsergebnisse bezüglich Gravität zu seinen eigenen Erfolgen maßgeblich beigetragen. Er hatte seinen Communicator bereits in der Hand, ließ es aber dann bleiben – wer einfach so bei ihm zu Hause herumschnüffeln konnte, konnte auch seine Gespräche abhören.
Besser war ein Gespräch unter vier Augen…
Er speicherte die Datei, an der er gerade gearbeitet hatte, wodurch sie automatisch auch gleich verschlüsselt wurde. Arjun war immer schon darauf bedacht gewesen, stets die neuesten Verschlüsselungsmethoden anzuwenden, einerseits, um seine Ideen und Forschungsergebnisse vor Diebstahl zu schützen, hauptsächlich aber aus den Gründen, die ihm gerade so großen Kummer bereiteten.
Wie sollte er der Welt seine Erfindung präsentieren?
Wann sollte er das tun?
Sollte er noch weitere Tests durchführen, ganz sicher gehen, dass er auch jede Eventualität bedacht hatte? Konnte er das überhaupt?
In Wirklichkeit war er schon seit zwei Wochen so weit, weitere Tests würden nur das Unausweichliche noch länger hinauszögern.
Und außerdem, er konnte nicht an alles denken. Genau so wenig, wie er auf jedes Atom Einfluss nehmen konnte, das auf dem Weg zwischen ihm und der Zukunft lag.
Denk nicht so viel darüber nach – mach es einfach.
Leichter gesagt als getan. Wie viele Personen durfte er im ersten Schritt einweihen, wie viele brauchte er, um eine richtige Präsentation überhaupt durchführen zu können?
Er setzte den Mechanismus in Gang, der seine sämtlichen Daten von den Datenträgern im Labor zu einem Server transferierte, von dem er nicht einmal selbst genau wusste, wo er sich befand. Danach wurden sie automatisch von seinen Datenträgern gelöscht. Zusätzlich wurden eine Kopie sämtlicher Daten auf ein Speichermedium gespeichert, das in seinen Unterarm transplantiert worden war. Er wartete auf das Aufblinken der Diode, sie signalisierte, dass der Kopiervorgang abgeschlossen war.
Nur so konnte er sicher sein, dass man auch bei einem Einbruch in sein Labor nichts von Wichtigkeit finden konnte. Im Notfall musste er nur an ein Lesegerät herankommen, das die Daten aus seinem Unterarm auslesen konnte.
Und noch eine Vorkehrung hatte Arjun getroffen!
Er hatte einen Fluchtweg konfiguriert. Sollte es wirklich notwendig werden, würde ihm seine eigene Erfindung die Flucht ermöglichen und ihn nach Wien bringen, in sein altes Labor.

Laborbedingungen


Tim Cosman hatte sein Team wie immer gut im Griff. Der Einsatzleiter des fünfköpfigen Teams, ließ sich ein letztes Mal von seinen Männern bestätigen, dass jeder auf seinem Platz und einsatzbereit war. Eigentlich war das Ganze ein Routineeinsatz, Erstürmung eines Objektes und Sicherstellung eines Datenträgers.
Man hatte es zuerst natürlich mit der einfachen, unauffälligen Methode versucht. Zwei Mal war man in das Labor eingedrungen, hatte sämtliche Datenträger kopiert, von Spezialisten untersuchen lassen. Aber man hatte nichts gefunden, nur Dateifragmente, völlig unbrauchbar, da zusätzlich verschlüsselt. Die Datenträger waren offenbar gelöscht und formatiert worden, deshalb hatte man es ein zweites Mal versucht, gleich nachdem Arjun sein Labor verlassen hatte, mit dem gleichen Erfolg.
Und das erforderte drastischere Maßnahmen, wie zum Beispiel den Einsatz von Tim Cosman und seinem Team. Die Widerstände der Geschäftsleitung von CERN waren schnell aus dem Weg geräumt, es genügte, ein paar Mal das Wort "Terrorismus" einfließen zu lassen.
Nebensächlichkeiten, wie das dafür eventuell notwendige Abtrennen eines Unterarmes, waren für Männer wie Tim noch nie ein Problem. Im Gegenteil, man setzte derartige Flexibilität sogar voraus.
Das Zielobjekt war bereits im Gebäude, alle warteten auf den Assistenten. Zum Einen, um mit ihm ohne Aufsehen in das Bürogebäude zu kommen, zum anderen, um ihn daran zu hindern, frühzeitig Alarm zu schlagen. Von Seiten seiner Auftraggeber wurde zwar nicht mit besonders viel Aufsehen gerechnet, aber Tim hatte seine eigenen Regeln, und eine davon war, nicht aufzufallen.
Ins Gebäude zu kommen war kein Problem, jeder hatte eine eigens ausgestellte Zugangskarte. Cosman kannte den Auftraggeber nicht, aber es musste jemand von ganz oben sein. Und er musste mächtig sauer sein, so viel war klar.
"Er kommt. Zweites Parkdeck. Alleine." mit einem statischen Knacken verstummte der Knopf in seinem Ohr.
"Bleibt an ihm dran. Hank geht mit in den Lift."
Sam störte sich nicht daran, nicht alleine im Aufzug zu stehen. Einen Fremden im Lift zu treffen war an sich nichts Besonderes, stutzig machte ihn nur, dass er Fremde keine Etage gedrückt hatte und mit ihm in den 9. Stock fuhr. Außer den Labors und ihren Büroräumen gab es dort nichts, und Besuch wurde grundsätzlich angekündigt.
Sam wollte sich nicht von Arjuns Paranoia anstecken lassen, aber sie hatten für derartige Eventualitäten ausgemacht, eine Nachricht via Communicator abzusetzen. Er schaffte es noch, unauffällig die SMS abzuschicken, im nächsten Moment sah er aus den Augenwinkeln, dass sich sein Begleiter bewegte.
Danach spürte er nur noch einen Schlag gegen den Hals. Das Knistern des Elektroschockers nahm Sam nur noch entfernt war, sein Nervensystem war sofort auf "Panic" und schaltete ab. Er spürte nicht mehr, wie er hart auf den Liftboden fiel.
Als die Kabine im 9. Stock anhielt warteten die übrigen Teammitglieder bereits auf Hank Schuller. Tim Cosman gab das Zeichen, und die Tür zum Labor flog mit lautem Krachen auf. Sofort stürmte das Team in den Labortrakt, sicherte einen Raum nach dem Anderen, auf der Suche nach dem Wissenschaftler. Ein großer Gegenstand krachte zu Boden, ließ die Köpfe des Teams herumfahren. Eine Granate wurde geworfen, detonierte mit lautem Knall, die Wucht der Explosion ließ die Glas-Zwischenwände aus den Rahmen bersten, tausende Splitter flogen durch das Labor.
Sie hatten ihn erwischt, sie MUSSTEN ihn erwischt haben, keiner konnte das überleben. Zumindest lag er paralysiert in einer Laborecke, zitternd wie ein Nervenbündel.
Aber so lange sie die Räumlichkeiten auch durchsuchten, sie konnten Arjun Bhadraksh nicht finden, er war vom Erdboden verschwunden…

Drüben


Arjun sah die Textnachricht auf seinem Communicator und versuchte seine Panik zu unterdrücken. Er hatte gewusst, dass es so kommen musste, sie waren also tatsächlich hinter ihm her.
Keine Sekunde zu früh sprintete er los, die Apparatur war zwei Räume weiter, musste erst in Gang gebracht werden, musste eine Verbindung aufbauen. Er startete das dafür notwendige Programm, als die Tür zum Labor aus den Angeln gesprengt wurde, hörte die hastigen Schritte von Raum zu Raum huschen.
Er musste sich mehr Zeit verschaffen, wenigstens ein paar Sekunden. Der Laborschrank aus Blech stürzte um, als er ihn vor die Tür schieben wollte. Als er durch die Pforte in seine Apparatur trat hörte er aus weiter Ferne ein leises Klicken, die darauf folgende Explosion hörte er nicht mehr, aber die Druckwelle schleuderte ihn aus der Apparatur und er prallte gegen seinen alten, im Boden verankerten Labortisch. Er versuchte sich auszumalen, was sie mit Sam gemacht hatten, gab den Gedanken aber gleich wieder auf. Er musste sich eingestehen, dass es für ihn keine Rettung mehr gab.
Genauso wenig, wie es für ihn eine gegeben hätte, hätten sie ihn erwischt. Würden sie ihm nach Wien folgen? Er war sicher, dass seine Apparatur funktioniert hatte, und er in seinem alten Labor in Wien stand. Aber von wem wurde er verfolgt, wer trachtete ihm nach dem Leben?
Aber irgendetwas war falsch. Irgendetwas störte ihn, er konnte es nur nicht zuordnen. Er stolperte durch sein Labor, was daran störte ihn, was war daran so falsch?
Und dann wusste er es.
Es war der Lärm.
Der Lärm, der von der Straße durch die geschlossenen Fenster drang. Wie konnte das sein? Auch in Wien gab es keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr, als er in die Schweiz ging, woher also kam der Straßenlärm?
Abermals überkam ihn Panik, diesmal aber richtig.
Arjun fuhr herum, auf der Suche nach einem Telefon. Seine Apparate hatten ein Display, auf dem auch Datum und Uhrzeit angezeigt wurden.
Er starrte auf das Display, dann fiel er auf die Knie, kauerte sich zwischen Laborschrank und Wand auf den Boden. Instinktiv legte er seine rechte Hand auf den linken Unterarm, versuchte, die darin befindlichen Daten zu schützen.
Seine Gedanken begannen zu rasen. Was konnte noch schief gegangen sein? Wie würde sich das alles auf seine Forschungen auswirken. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, als er sich bewusst machte, dass hinter ihm alle Brücken abgebrochen waren.
Arjun zog sich hoch und übergab sich in ein Waschbecken. Am ganzen Körper zitternd ließ er das kalte Wasser laufen und kühlte damit sein Gesicht.
Er musste einen klaren Gedanken fassen, musste seine nächsten Schritte genau überdenken.
Lt. dem Telefonapparat war er auf den Tag genau sechs Jahre in die Vergangenheit katapultiert worden. Kurz dachte er an die Auswirkungen, die eine derartige Möglichkeit für seine Forschungen bedeuten würde.
Er musste unbedingt an seine Daten kommen. Die Daten in der Zukunft waren unwiederbringlich verloren, sein Server war so eingestellt, dass er sämtliche Daten löscht, wenn nicht alle 48 Stunden etwas gegenteiliges verfügt wird, was ihm nun definitiv nicht mehr möglich war.
Aber wie sollte er die Daten aus dem Datenträger in seinem Unterarm auslesen? Die Technologie dafür würde erst in zwei oder drei Jahren auf dem Markt erscheinen. Und wie sollte er danach die Daten entschlüsseln? Er musste sich eingestehen, dass dieser Schritt noch schwieriger sein würde, als überhaupt an die Daten heran zu kommen.
Die Übelkeit wurde immer schlimmer, Arjun musste sich wieder übergeben. Während sich vor seinen Augen alles zu drehen begann stellte er mit Entsetzen fest, dass er Blut erbrochen hatte.
Bei dem Transport musste doch mehr schief gegangen sein, als er ursprünglich gedacht hatte, aber was war der Grund für die Fehlfunktionen? Bei all seinen Tests war nie etwas Ähnliches passiert, die strukturelle Integrität seiner Objekte war nie beeinträchtigt worden, egal ob tote oder lebende Materie. Auch der Faktor Zeit hatte nie eine Rolle gespielt.
Hatte es mit der Explosion zu tun?
Er zog sich am Labortisch hoch, öffnete eine Lade nach der Anderen, bis er es gefunden hatte. Während er in das Diktiergerät sprach, versuchte er sich auf die essentiellen Fakten zu beschränken, es wurde immer schwerer für ihn, seine Gedanken in geordneten Bahnen zu halten.
Seine Erinnerungen verblassten, immer öfter war er für ein paar Sekunden bewusstlos, dann für Minuten.
Hatte er überhaupt die Aufnahmetaste gedrückt, hatte er wirklich alles Wichtige aufgenommen?
Arjun sank in sich zusammen. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich zum Waschbecken hoch zu ziehen, schließlich hatte er auch nicht mehr die Kraft zu atmen.
Irgendetwas war schief gelaufen…

Billy


Billy war angespannt. Sehr sogar. Er hatte alle Hände voll zu tun, sein System abzusichern, ohne es ganz vom Netz nehmen zu müssen.
Er war auf etwas gestoßen, auf etwas Großes. Anders konnte er sich den Aufwand nicht erklären, mit dem versucht wurde, den Datenverkehr zu verschleiern.
Wie fast jeden Abend saß er an seinem Computer und hatte seine Ohren und Augen "am Netz". Er beobachtet die "Matrix", sagt er immer im Scherz, wenn ihn jemand fragt, was er an seinem PC macht, wenn er sich ganze Nächte um die Ohren schlägt.
Im Grunde machte er das wirklich. Er beobachtete Datenflüsse, versuchte, auf Besonderheiten oder Anomalien zu stoßen, und wenn etwas auffälliges bemerkte, ging er dem nach. Bis er irgendwann aufgehalten wurde, von einer Firewall oder ähnlichem. Das passierte immer, früher oder später.
Und genau dann wurde es für ihn interessant. Bei 98 % der Abwehrmechanismen hatte er keine Mühe sie zu umgehen, das wichtige dabei war, selbst keine Spuren zu hinterlassen. Wirklich spannend wurde es bei den verbleibenden zwei Prozent, da konnte es schon sein, dass die Sitzung die ganze Nacht andauerte.
Nicht so in diesem Fall. Er war vor vier Tagen darauf gestoßen, hatte eine ganze Nacht gebraucht, um herauszufinden, dass die Spur nicht nur in eine Richtung führte, sondern auf mehreren Wegen im Netz umherschwirrte. Der Datenstrom war nicht gleichmäßig, und auch niemals vollständig, es wurden immer nur unzusammenhängende Fragmente übermittelt.
Und sie führten alle ins Nichts. Was umso erstaunlicher war, da es sich um eine sehr große Datenmenge handeln musste.
Also hatte er sein Vorgehen geändert. Er begann, nach der Quelle zu suchen was ihn eine weitere Nacht kostete, und überraschender Weise zu CERN führte. Und die dort gemachte Entdeckung bereitete ihm zunehmend Kopfschmerzen.
Schon von Anfang an, seit er begonnen hatte, im Netz herumzustöbern, war er immer wieder auf "geheime" staatliche Organisationen gestoßen, die wie er ihre Augen und Ohren am Netz hatten. Sehr früh hatte er damit begonnen, Dossiers anzulegen, immer wenn er glaubte, einen neuen "Global Player" aufgestöbert zu haben.
Mittlerweile kannte er sie alle. Bis auf diesen hier. Und er hatte ihn aufgeschreckt.
Billy war gut organisiert, konnte seine Spuren sehr gut verwischen, aber letzte Nacht blieb ihm nichts anderes übrig, als den Not-Stopp zu betätigen. Sie hatten ihn bis vor seine Haustüre verfolgt.
Nicht, dass er deshalb eine schlaflose Nacht gehabt hätte, diese Haustüre befand sich immer noch auf einem anderen Kontinent, aber er war vorsichtig genug, sich gleich nach dem Hochfahren seines Systems dort umzusehen, natürlich aus einer anderen Richtung.
Sie waren nicht weiter gekommen, aber er zog es vor, sich gleich wieder zurück zu ziehen, sicher würden sie die Haustüre beobachten, dort auf ihn warten. Er musste seine Pläne ändern.
Was war so wichtig, dass es derartiges Interesse hervorrief? Er war sicher, dass er nicht von einem "Kollegen" aufgescheucht wurde, auch nicht von einer staatlichen Organisation, einem Geheimdienst. Es musste jemand anderes sein, jemand, der unbegrenzte Mittel zur Verfügung hat, sich aber nicht an Vorgaben halten muss.
Da ihm im Moment der Weg in beide Richtungen versperrt war, beschloss er, etwas sehr riskantes zu unternehmen, er hatte vor, die Aufgestöberten Fragmente zu identifizieren und einzusammeln. Vielleicht ergab der Blick auf das Ganze ein klareres Bild.
An die Fragmente heranzukommen war nicht so einfach, aber er hatte herausgefunden, dass sie speziell gekennzeichnet waren, durch einen Fingerprint, sozusagen.
Billy startete den Prozess, und konnte seinen Augen nicht trauen. Augenblicklich wurde sein System von Terabyte an Daten überschwemmt, er musst sofort Schritte einleiten, um die gesammelten Daten wieder auszulagern, sie woanders in Sicherheit bringen.

Arjun Bhadraksh


Der Sicherheitsdienst hatte ihn angerufen, ihn am Wochenende seiner wohlverdienten Freizeit beraubt. Aus seinem Labor auf dem Campus waren Geräusche hörbar gewesen, missmutig hatte er zugesagt, selbst vorbei zu sehen.
Als er mit seinem Rad am Einkaufszentrum vor dem Stadion vorbei kam, versorgte er sich mit Kaffee, mit ausreichend Kaffee. Wenn er schon am Wochenende in sein Labor musste, konnte er auch gleich ein paar Dinge erledigen, und dafür am Montag ordentlich ausschlafen.
Am Labor angekommen stellte er fest, dass die Tür völlig unbeschädigt war. Seltsam – hatte der Sicherheitsdienst nicht etwas von einem Einbruch gesagt?
Sollte er auf die Security warten?
Vorsichtig öffnete er die Tür, um sie gleich hinter sich wieder ins Schloss zu drücken. Er wartete, konnte aber nichts Verdächtiges hören, weshalb er langsam durch die einzelnen Laborräume ging.
Was war das für ein Geruch? Wie nach einem Gewitter. Auch sehr seltsam.
Als Arjun in den Hauptraum kam prallte er zurück. Er konnte nur die Beine sehen, der Rest des Körpers wurde vom Labortisch verdeckt. Es war also doch jemand eingebrochen.
"Hallo? Wie sind sie hier herein gekommen?"
Er bückte sich ein wenig, sah die verkrümmte Haltung der Person, worauf er vorsichtig um den Labortisch ging, immer bereit, den Raum fluchtartig zu verlassen.
Und dann traf es ihn wie ein Hammerschlag.
Die Person, die dort auf dem Boden lag sah so aus wie er. Etwas älter vielleicht, aber sonst…
Mit zitternden Knien ging er zu dem leblosen Körper, streckte vorsichtig die Hand aus, um nach einem Puls zu fühlen. Da war nichts, nur wieder ein seltsamer Geruch, aber anders als zuvor. Wie nach einer Explosion.
Arjun sah das Diktiergerät. Er nahm es hoch, tippte auf dem Touch-Display etwa auf die Mitte der Zeitleiste und startete die Wiedergabe.
Nur Husten zuerst, dann ein kurzes Röcheln. Dann hörte er die Stimme. Seine Stimme. Das war eindeutig seine Stimme. Nur dieser komische Dialekt. Er saß da und grübelte. Vor ungefähr einem halben Jahr hatte er eine Bewerbung abgeschickt – in die Schweiz. An das CERN, um genauer zu sein.
Ein Wort tauchte ganz hinten in seinem Gehirn auf, wurde immer lauter, drängte sich immer mehr in den Vordergrund.
Zeitreisen.
War er ein Zeitreisender?
Seit seiner Studienzeit in Indien beschäftigte er sich mit so genannten Wurmlöchern, aber Zeitreisen? OK, er schlug der Zeit ein Schnippchen, weil er weniger davon in Anspruch nahm, um große Entfernungen zurückzulegen, aber dabei die Zeitachse zu durchbrechen?
Oder hatte er seine anfänglichen Forschungen abgebrochen, weil sie keinen Erfolg versprachen?
Oder nichts von all dem.
"Ganz ruhig. Denk einfach mal logisch nach." versuchte er sich zu beruhigen. Wer war der Tote überhaupt? Er sah zwar aus wie sein Ebenbild, aber was sagt das aus? Oder anders gefragt: wenn er das wirklich selbst war, aus der Zukunft und so, wie konnte er hier und jetzt überprüfen, ob das stimmt?
Arjun sprang auf und lief zu dem Schrank mit den medizinischen Geräten, kam mit einem Skalpell zur Leiche zurück. Zuerst zerriss er das linke Hosenbein des Toten, legte den Oberschenkel frei, dann ritzte er seine eigene Hose an, zerriss sie ebenfalls bis ganz nach oben. Für das, was ihm vorschwebte erschien der Oberschenkel noch am ungefährlichsten.
Und dann jagte er sich die Spitze des Skalpells in den Muskel. Völlig fasziniert beobachtete er, wie am Oberschenkel des Toten plötzlich eine Narbe sichtbar wurde, im selben Augenblick. Aber als ob das als Beweis noch nicht reichte, zog er die Klinge durch seinen Muskel, beobachtete, wie die Narbe immer länger wurde.
Diese ganze Situation war so absurd, dass er den Schmerz irgendwie ausblendete. Bis er sich dann doch bis in sein Gehirn ausbreitete. Er riss sich los und drückte eine der bereitgelegten Kompressen auf die Wunde. Dann saß er da und versuchte das eben erlebte zu verarbeiten. Zum Glück hatte er den ganzen Vorgang gefilmt. Jetzt, wo die Schmerzen da waren, wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, sich das Skalpell noch einmal ins Bein zu jagen.
Irgendetwas war in der Zukunft schief gelaufen, aber was? Irgendwie musste er an Informationen kommen, was garnicht so einfach war, da diese aus der Zukunft kommen mussten.
Das Diktiergerät!
Er schnappte sich das Teil und lief in sein Büro. Während er seinen Rechner bootete schloss er das Gerät an die USB-Schnittstelle an. Er loggte sich ein, war gerade dabei, die Sound-Datei vom Diktiergerät auf seinen Datenträger zu ziehen, als er den Vorgang abbrach.
Was war in der Zukunft schief gegangen? Was, wenn die Ereignisse bereits in seiner Gegenwart einen Anfang genommen hatten? Wenn er die Datei auf den Datenträger des Servers im Labor kopierte, hatte er keinen wirklichen Einfluss mehr darauf, konnte nicht verhindern, dass auch noch andere sie zu Gesicht bekamen.
Arjun startete seinen Laptop, kopierte das File auf die Festplatte und zusätzlich auf einen Speicher-Stick – für alle Fälle. Dann kramte er ein Headset hervor, um sich die Aufnahme anzuhören.
Es wurde bereits finster, als Arjun das Diktiergerät wieder zur Seite legte. Wie oft hatte er sich die Aufnahme jetzt angehört?
Bis auf die letzten paar Minuten war der gesamte Inhalt einwandfrei verständlich, und auch die letzten Teile konnte man sich durchaus zusammen reimen. Nur aus dem Inhalt konnte er sich keinen Reim machen.
Hauptsächlich war von Zahlen die Rede, von Formeln, langen Zahlenreihen. Er sprach auch von einem Überfall, dass er zwar wusste, dass er in der Vergangenheit gelandet war, jedoch nicht, weshalb.
Und er sprach von einem Datenspeicher in seinem Arm. Diese Aussage war unmissverständlich, aber für den Arjun in der Jetztzeit mindestens so utopisch wie die Zeitreise selbst.
Und dann kam ihm der Gedanke, der ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte – er musste etwas wegen seiner Leiche unternehmen. Zuerst musste er den Unterarm untersuchen, nach dem Datenspeicher suchen. Vielleicht sollte sich auch ein Arzt den Körper genauer ansehen, nur, wie sollte er die Umstände erklären?
Es musste eine andere Lösung geben, aber auf jeden Fall musste Arjun mehr über "sich" in Erfahrung bringen.

Senator "Who?"


"Bei Ihrem Einsatz ist es zu einem schwerwiegenden Zwischenfall mit der Schweiz gekommen, Ihnen ist schon klar, dass sie dafür die Konsequenzen tragen müssen? Die Sache hat das Potenzial, sich zu einem Desaster zu entwickeln, und dabei sind die Vorfälle während des Einsatzes noch nicht einmal das Schlimmste. Wer ist auf die idiotische Idee gekommen, eine Granate zu werfen? Einmal abgesehen davon, dass Sie das vermutliche Ziel, Bhadraksh unschädlich zu machen, verfehlt haben, haben Sie auch noch die gesamte Anlage zerstört. Unsere Techniker sitzen seit Tagen, und versuchen, daraus schlau zu werden, was schon schwierig genug wäre, wenn wir die Anlage intakt in die Finger bekommen hätten. Aber so…"
"Wir haben einen Hinweis erhalten, dass sämtliche Daten regelmäßig aus dem Labor zu einem externen Server transferiert werden, dem gehen wir nach. Es gibt da nur einen Zeitfaktor, angeblich zerstören sich die Daten nach einem vorgegebenen Zeitraum. Wir sind am Ball. Aber Sie brauchen mich nur zu informieren, wenn Sie es vorziehen, uns den Auftrag wegzunehmen."
"Von 'uns' kann gar keine Rede sein. Wenn Sie keine zufriedenstellenden Ergebnisse vorweisen können rollt Ihr Kopf, das hat mit Ihrem Team nur marginal zu tun. Die sollen uns gefälligst nicht noch einmal enttäuschen."
Als Tim Cosman den Büroleiter des Senators verließ musste er sich zusammennehmen, um nicht mit der Faust gegen die nächste Wand zu schlagen. Soll der Herr Senator seine Drecksarbeit doch selbst erledigen, er war aus der Sache raus. Aber das würde er nicht auf die große Glocke hängen.

Impressum

Texte: Günter Gruber
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

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