Ein Filmdokument wie ein Donnerschlag, der den Betrachter betäubt und plötzlich alles Eigene als kleinbürgerliche Denk- und Sorgenküche erscheinen lässt.
Ein Film in Kinolänge, über das nordkoreanische Arbeitslager „Camp 14“. Das Portrait eines jungen Mannes, der 1983 im Lager geboren wurde und mit der Folter, den Hinrichtungen, dem bedingungslosen Gehorsam, der tagtäglichen Schinderei und Erniedrigung, dem ständigen Hunger aufgewachsen war und daher nichts anderes kannte. Die Welt außerhalb des Lagers musste so sein wie hier, wo das menschliche Leben Dreck wert ist. Unvorstellbar, dass es irgendwann irgendwo unter dem weiten Himmel anders zugehen könnte.
Mit vierzehn hatte Shin Dong-hyuk im Camp seine Mutter und seinen Bruder verraten, da diese sich offenbar mit Fluchtgedanken trugen. Beide wurden hingerichtet, vor seinen Augen, er hatte nichts empfunden, denn er hatte seine Pflicht getan, darin bestehend, andere, auch die nächsten, zu belauschen und zu überwachen, so wie man selbst von den anderen belauscht, bewacht und verraten wird. Trotzdem wird auch er gefoltert und grässlich gequält, sieben Monate lang, sein Körper ist noch heute von Narben übersät, seine Arme sind krumm gewachsen, wie es in seinem Kopf und in seinem Herzen aussieht, können wir nur erahnen, nein, nicht einmal das können wir, wir vermuten nur in den langen Pausen, die er zwischen die einzelnen Sätze setzt, den Abgrund einer tiefschwarzen Leere, einen wasserlosen Brunnen, auf dessen Grund das Dynamit der Erinnerung liegt, auf den Funken wartend und ihn fürchtend.
Mit 23 ist ihm die Flucht aus dem Lager gelungen, über den toten Körper eines Mitflüchtlings hinweg durch elektrisierten Stacheldraht hindurch, es folgt ein Irrweg durch Nordkorea, über den vereisten Fluss nach China, das Flüchtlinge zu der Zeit noch nicht ausgeliefert hatte.
Der Regisseur hat Zeugnisse von zwei Schlächtern eingebracht, denen ebenfalls die Flucht nach Südkorea gelungen ist. Der eine war der Kommandant der Wächter eben jenes Camps 14, der andere Offizier im nordkoreanischen Geheimdienst. Beide sprechen von dem alltäglichen Horror, den sie begangen haben, mit einer Offenheit, Sachlichkeit und Präzision, als gälte es, ungeschminkt die Mechanik einer Maschinerie zu beschreiben, deren alleiniger Sinn das Töten unwürdigen Lebens ist. Der ehemalige Geheimdienstoffizier fürchtet nun die Vereinigung von Nord- und Südkorea. Die Angst des Täters, überlebenden Opfern zu begegnen.
Vielleicht sind diese beiden Geständnisse, vorgetragen von krawattentragenden, kettenrauchenden Männern, die verunsichert in die Kamera blicken, das Bedrückenste an dieser Dokumentation: augenscheinlich Menschen wie Du und Ich, sind sie in der Lage, ohne mit der Wimper zu zucken Leben wie ein schädliches Insekt auszutreten. Unmenschliche Monster. Unmenschlich? Oder gehört auch das zum „Menschenmöglichen“? Und ist die Tatsache, dass wir nicht auf der Täterseite stehen, nur das Glück, hier und nicht dort geboren und aufgewachsen zu sein? Ist der Trennstrich zwischen Gut und Böse nicht mehr als eine Laune des Schicksals, das mit uns Würfel spielt?
Der Kommandant der Wächter erzählt, wie er sich, weil ihm danach ist, eine Frau unter den Häftlingen aussucht, sie schwängert und die werdende Mutter, die sich vielleicht Vorteile erhofft, totschlägt. Einfach so. Die nächste bitte…
Wie kann man angesichts solchen Grauens –in Nordkorea oder an anderen Orten, an denen die Welt aus den Fugen gerät – geduldig beim Bäcker um Brot anstehen, freundliche Worte mit dem Postboten wechseln, mit den Nachbarn an dem Wetter hadern oder gefällige, unterhaltsame Geschichtchen schreiben? Sogar die blutrünstigste Vampirstory nimmt sich gemessen an solch einer Wirklichkeit lächerlich harmlos und flach aus. Für einen Moment wird die Sprachlosigkeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verständlich, als man sich der unsäglichen Gräueltaten in den Konzentrationslagern bewusst wurde. Wenn mit jedem dergestalt grausam gemordeten Menschen ein Wort aus unseren Sprachbüchern ausradiert worden wäre, unsere Langenscheidts, Duden, Wahrichs aller Sprachen hätten schon seit langem nur noch leere Seiten.
Und doch essen, plaudern, arbeiten, lieben, lesen, schreiben wir weiter. Das Leben will es so. Auch wenn wir zuweilen Scham empfinden, Mensch zu sein.
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2014
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