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Wir vergessen nichts, pflegt Marcia zu sagen. Ob Farben, Laute, Gerüche, Gegebenheiten, Menschen, Dinge, oder eine einzelne Sternschnuppe - alles bliebe für immer in uns, sobald es einmal gewesen sei.  Ob dem tatsächlich so ist, kann ich nicht mit Gewissheit bestätigen. Ich will gerne annehmen, dass wir (womit sie mich meint) die Summe dessen sind, was uns begegnet und widerfahren ist, und was wir getan haben (plus genetisch bedingter Veranlagungen, aber das denke ich für mich, um ihr nicht auf die Füße zu treten). Doch wenn dem so ist, warum schlummert dann, wenn nicht alles, so doch das Meiste von uns in irgendwelchen gedankenlosen Tiefen und meldet sich nicht zu Wort, wenn es gefragt ist?

 Dieser Gedanke kommt in mir auf, während ich auf der Suche nach, nach… - ja wonach eigentlich? - in der untersten Schublade meines ehemaligen Wandschrankes krame, der nun ausgedient in der Garage steht und neben Wergzeug, Nägeln unterschiedlicher Stärke und Länge, Schmieröl, Fahrradflickzeug und Gartenhandschuhen – allesamt Dinge, die nur sporadisch, und wenn, dann auf Betreiben Marcias Anwendung finden („Senne, jetzt bring doch endlich mal die Gardinenstangen an!“) - auch vollkommen ausgediente Dinge beherbergt. „Ausgedient“ in dem Sinne, dass sie aus Gründen einer unerklärlichen Anhänglichkeit – ist es Wehmut? - den Weg von einer nachgewiesenen Nichtsnutzigkeit zur Mülltonne nicht gefunden haben.

Der Inhalt der besagten Schublade spricht in dieser Hinsicht Bände. Brillengestelle, minenlose Kugelschreiber, Adressbücher, taube Handys, zersplitterte Fieberthermometer, Präservative in Originalverpackung, abgelaufene, viergeteilte Kreditkarten, eine falsche, aber täuschend echt aussehende Rolex, ein Eisernes Kreuz der Klasse II, ein Gehafüller, drei mit Bleistiftskizzen vollgekritzelte Notizbücher, ein Ehering aus Feingold mit Innenstempel, einige ausgelaufene Rezepte, ein Brief in einer mir fremden Handschrift und und und. 

Sie haben alle eine Geschichte, jedes Ding für sich. Das gibt ihnen ihren Sinn. Untereinander jedoch verbindet sie, soweit ich es erkennen kann,  nichts, das Fieberthermometer kennt die Armbanduhr nicht, der Brief nicht die Präservative, usf.

 Worauf ich hinaus will? Auf die stummen Erinnerungen natürlich, die in Kopf und Seele offenbar einen ewigen Winterschlaf halten und denen ich, selbst wenn ich sie wie den gesammelten Krimskrams in der untersten Schublade betrachte, das Leben nicht zurückgeben kann.

 Obschon – eines ist natürlich möglich. Wäre mir die Zeit vergönnt, könnte ich mich auf der Stelle hinhocken, mir ein Ding nach dem anderen vornehmen, und, was ich natürlich nicht täte, ohne vorher die verfluchten Gardinenstangen angeschraubt zu haben, wie ein Archivar seine Geschichte niederschreiben. „Die Geschichte der Dinge.“ Die des Fahrradflickzeugs, zum Beispiel (und mit ihr die der Narben an meinem rechten Unterarm).  Oder jene, die dazu geführt hatte, dass ich an einem vernebelten Novembertag in einem kleinen Optikerladen eines gottverlassenen Nestes in den Alpen eine randlose Brille erstanden habe, obwohl ich eigentlich kein Brillenträger bin und nie einer war.   

 Wem wäre damit gedient? Niemandem!  Selbst mir nicht. Denn ich weiß ja, wie alles war, ich weiß, wie alles geworden ist oder nicht. Wozu gut, mir eine solche schriftliche Mühsal aufzuladen? Ausrangiert wie sie sind, lebe ich in Frieden mit ihnen.  Basta.

 Anders hingehen steht es mit den Dingen der mittleren Schublade.  Ich nenne sie „die rätselhaften Waisendinge“, weil sie sich jeglicher Geschichte (Marcia nennt das in ihrem Unijargon „Kontextualisierung“) verwehren.  Sie sind einfach fehl am Platz. Hier der Kamm zum Beispiel; oder dort die abgerissene Kinokarte mit cyrilleschen Schriftzeichen; oder die zwei handtellergroßen Plastikkrebse – ein roter und ein grüner (dem grünen fehlt die linke Zange) -; oder dieser Adapter für 110-Volt Steckdosen (er hat sich sogar in einen meiner libidinösen Träume eingeschlichen!); oder die zwei Kopfhörerpaare mit dem Logo einer brasilianischen Fluggesellschaft …  Nehme ich diese Dinge gedanklich auf, um Marcias „Kontextualisieren“ an ihnen auszuprobieren, so schwirren sie wie verirrte Meteoriten in meinem Kopf herum; und bekomme ich sie endlich einzeln zu fassen, so kann ich sie drehen und wenden, wie es mir beliebt – sie gehören nirgendwo hin, sie entziehen sich mir und sind mir auf einer seltsam schmerzlichen Art fremd.

Schlimmer noch - versuche ich, sie wegzuschieben, so gelingt es ihnen immer wieder, sich neugierig in mein Wachsein vorzudrängeln, für einen kurzen Augenblick, als wollten sie mich wie zu kurz gekommene Kinder daran erinnern, dass, so heftig ich auch das Gegenteil wünsche, auch sie ein Recht auf ihre Geschichte haben, und ich Trottel mir ja nicht einbilden sollte, sie so einfach ins Vergessen wegdrücken zu können.    

 Die oberste Schublade ist wie erwartet verschlossen. Ich versuche mich mit einem Schraubendreher, einem schmalen, halb verrosteten Spachtel, einer verbogenen Büroklammer – nichts zu machen, sie lässt sich nicht öffnen. Als der Wandschrank noch nicht ausgedient hatte und sperrig in unserer Wohnstube thronte (Marcia war er von Anbeginn ein stechender Dorn im Auge), barg die oberste Schublade – unerreichbar und verschlossen für neugierige Kinderhände -  die amtlichen Bestätigungen unserer Identitäten – Reisepässe und Personalausweise, Scheidungsurteil, Geburts- und Heiratsurkunden, Stammbuch, Abmeldungsbescheinigungen verlassener Adressen. Heute ruhen die verbrieften Zeugnisse unserer Existenz zusammen mit Schul- und Universitätsabschlüssen in einer feuersicheren Schatulle aus Stahl im Schlafzimmerschrank (letzterer ist mein Dorn im Auge!) und würden uns, so der Garantieschein aus dem Baumarkt, im Härtefall überleben.   

 Was zum Donnerwetter habe ich in dieser Garage verloren? Warum stoße ich mir meine Finger an diesem albernen Schloss wund? Warum wühle ich in diesen vergangenen Dingen, egal, ob nun mit oder ohne Geschichte? Und wie komme ich auf die hirnverbrannte Idee, in diesem unzugänglichen Oberstübchen könnte ich etwas finden, wovon ich nicht einmal weiß, was es ist? „Du hast sie nicht alle“, sagt Marcia oft. Wenn sie wüsste, wie recht sie hat, obschon sie es anders meint.

 Weißt du, was ich am heftigsten befürchte, Marcia? Nicht etwa, dass in dieser verschlossenen Schublade irgendein geheimes Buch läge, in der eine Wahrheit stünde, vor der wir uns ein Leben lang gefürchtet und gewehrt hätten. Eine, die mit deiner, mit meiner Sprache nichts zu tun hätte, weil das, wofür wir Worte haben - für Dinge und ihre Geschichten - das klaffende Loch in uns zukleisterte, damit wir dorthin nicht hinabsteigen könnten, um uns auf den Grund zu gehen.

 Nein. Viel größer ist meine Befürchtung, dass die Schublade leer ist. Einfach leer! Dass sie nie etwas anderes beherbergt hatte als unsere amtlich verbrieften Existenzen, die uns überdauern werden.  Und dass wir es irgendwie gewusst haben mussten, als wir den Schlüssel wegwarfen oder ihn achtlos verloren hatten.

 Ich solle mir gefälligst was einfallen lassen, hat Marcia gesagt. Unsere  buchstäblich letzte Chance. Sie will nicht länger ihr Leben mit einem Buch mit sieben Siegeln teilen. Jetzt endlich wäre der Zeitpunkt gekommen, dass er sich an die Arbeit mache, sein Inneres nach Außen kehre und ihr, Marcia, aus ihm, Senne, vorlese.

 Ich werde wohl mit den Gardinenstangen anfangen. Und fortfahren mit den Geschichten der Dinge der untersten Schublade. Das geht einfach von der Hand und dauert. Mit der so gewonnenen Zeit kommt Rat, insbesondere jener, wie ich die „Waisendinge“ an- und fantasiereich verpacken kann. Und am Ende, wenn alles ersichtlich Vordergründige erzählt und notfalls erfunden ist, und ich ins lähmende Stocken komme, und der eilig herbeigerufene Schlüsseldienst die Bühne betritt, um die oberste Schublade zu knacken, werden sich vielleicht neue Seiten auftun und eine Wahrheit ans Tageslicht bringen, für die mir bislang die Sprache fehlte. Oder es bleibt ein erbärmlich leeres Loch, das mir höhnisch entgegengähnt: „Du bist nichts weiter als die Summe der Geschichten deiner Dinge.“

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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Bildmaterialien: @ Lothar Gunter
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2013

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