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„Alles wird, sobald es gelebt ist, zur Fiktion.“

So stand es als handgeschriebene Widmung auf der ersten Seite der in Leder gebundenen Kladde, auf deren Deckblatt die Noten eines Klavierstückes von Mozart gekerbt waren. Ein Tagebuch. Großmutter hatte mir zu meinen 21. Geburtstag ein Tagebuch geschenkt! Unzählige, zartblau linierte leere Seiten, die von mir beschrieben werden sollten.

Warum schenkt eine Frau – sie war damals siebzig Jahre alt - einem jungen Menschen, gerade erst erwachsen, ein Tagebuch? Weil jetzt, wie die Eltern gemeint hatten, der Ernst des Lebens beginne? Und warum dann diese mysteriöse Widmung, ein Zitat aus einem Buch, dessen Titel Großmutter mir nie nennen wollte? Sie sagte, sie hätte den Autorennamen und den Titel vergessen. Nur, dass es eine Frau gewesen sei, das wusste sie noch. Eine Frau, für die die Erinnerung an gelebtes Leben nur Fiktion ist. Nur Fiktion? Oder zur Fiktion erhoben? Quasi als Veredelung des Erlebten, indem ihm, dem Leben, etwas hinzugeschrieben wird, wovon es in Wirklichkeit nichts hatte? Funktionieren wir so?

Am Vortag hatte ich beim Verlassen des Hofes um ein Haar meine Katze überfahren. Sie war mir, als ich langsam anfuhr, miauend nachgelaufen, und hätte ich beim Abbiegen in die Seitenstraße nicht scharf gebremst, weil ich sie plötzlich seitlich am Kotflügel sah, wäre sie jetzt zweifelsohne tot. Eine Erinnerung. Was an ihr war wahr, und was Fiktion? Sekunden lang war ich mir nicht mehr sicher, ob ich sie tatsächlich gesehen hatte, rechts neben dem Kotflügel. Und ob es nicht eine innere Eingebung gewesen war, der ich gehorcht und die ihr das Katzenleben gerettet hatte. War auf den Wahrheitsgehalt unserer Erinnerung so wenig Verlass?    

Oder hatte Großmutter erwartet, dass ich mir den Inhalt des Tagebuches, das Buch der Erinnerungen an mein Leben, erfinde?

Ich weiß noch, wie ich in meiner Studentenbude gehockt hatte, das leere Tagebuch vor mir, fest entschlossen, endlich anzufangen. Ich hatte mir zur Auswahl einen Federhalter, einen Kugelschreiber, einen Bleistift zurechtlegt. Was ich schreiben wollte, wusste ich nicht. Ich hatte ja alles bereits in mir, hatte ich gedacht, ich müsste nur die erste Seite aufschlagen, den Stift heben, einige Sekunden lang die Augen schließen und in mich hineinblicken. So einfach war es. Doch wenn ich dann schließlich ein Bild vor mir hatte, mit dem ich anfangen wollte, und sich die Federspitze mit dem ersten Wort Millimeter dem Papier näherte, wischte mir Großmutters Zitat eben jenes erinnerte Bild aus dem Sinn. Als scheute sich etwas in mir, mit der Tatsächlichkeit einer banalen Vergangenheit das auf mich wartende Papier zu beschmutzen.

So ging es Abend für Abend, jedes Mal mit dem gleichen Resultat. Ich wurde wütend auf das Tagebuch, wütend auf die Widmung, wütend auf Großmutter, auf mich, auf das, was ich erlebt hatte und was nicht in dieses verfluchte Tagebuch wollte. Nach jedem missglückten Versuch hatte ich es mit einem Knall zugeklappt, mich auf das Bett geworfen und mich in das Buch eines anderen vertieft. In ein richtiges. Mit einer richtigen erfundenen Welt.

Ich las sehr, sehr  viel zu dieser Zeit. So viel, dass mir das Gelesene heimischer wurde als das Leben vor meiner eigenen Tür. Eigentlich las ich - so sehe ich das heute - in erster Linie, um mir das Scheitern an meinem Tagebuch zu ersparen. Bis ich es eines Tages in ein Bücherregal stellte, es unbeschrieben zwischen den Zauberberg und Krieg und Frieden klemmte und den Entschluss fasste, mich fürs Erste ausschließlich der Schaffung der Rohstoffes zu widmen. Dem des Lebens. Der Rest, die Aufbereitung in ein edleres Produkt, hob ich mir für später auf.      

Nehme ich ihre Widmung beim Wort, so ist Großmutter heute selbst eine Fiktion. In ihrem Heim hat sie beim morgendlichen Stuhlgang zu heftig drücken müssen, wie uns die nach Naphthalin riechende Schwester halblaut erklärte, als wir den braunen Fleck an Großmutters Stirn hinterfragten. Sie sei vornübergefallen, der Kopf habe die Klopapierhaltung mitgerissen. Sie musste schon tot gewesen sein, bevor  ihr Körper in dieser verqueren Stellung zur Ruhe kam: Halbnackt, in Embryohaltung auf dem braunen Kachelboden des Bades, zwei Meter abgerolltes, rosa Lotus-Doppelblatt unter sich.

Wir gingen durch den angrenzenden Wohnraum, betrachteten den abgewetzten Sessel – eine Louis XVI Imitation mit klobigen Holzverzierungen-, aus dem sie fern gesehen hatte, mit ihren riesigen Kopfhörern, damit sie zu nächtlicher Stunde die anderen Heimbewohner nicht störe. Auf einer Ablage seitlich des Sessels lag ein Papierblatt, mit einem Bleistift in ihrer kritzeligen Handschrift beschrieben. „Cézanne auf dem Sterbebett: Schade, ich hatte gerade erst begonnen, zu verstehen.“

So lange wollte ich nicht warten. Auf dem Heimweg fuhr ich zu schnell. Immer wieder musste mich Nathalie zur Langsamkeit ermahnen. Mich hatte plötzlich die panische Befürchtung eingeholt, ich hätte von all dem, was in den letzten dreißig Jahren geschehen war, nichts behalten. Als wäre das vergangene Leben nicht mehr als eine Folge von Einweg-Erlebnissen gewesen, von denen nur die Überschriften geblieben wären, unter denen ich bislang den Textkörper vermutete, welchen es in Wahrheit jedoch nie gegeben hatte. Weil er nie geschrieben worden war.

Zu Hause angekommen, eilte ich ins Wohnzimmer und suchte nach dem Zauberberg und dem alten Tolstoi. Der Lederband stand immer noch zwischen den beiden Monstern und wartete auf mich. Als ich ihn aufschlug, klebten die inzwischen gelben Seiten zusammen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, nahm einen Kugelschreiber und lehnte mich in den Stuhl zurück. Unruhig schloss ich die Augen und suchte nach dem Textkörper unter der Überschrift. Als ich ihn erst verschwommen, dann immer deutlicher sah, beugte ich mich über die erste Seite und setzte die Spitze des Kugelschreibers aufs Papier.

Ich atmete tief durch. Da war es, das erste Wort.

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Tag der Veröffentlichung: 12.11.2013

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